In Erinnerung an Otto Dunkelberg
1900 bis 1964
Domorganist in Passau
1927 bis 1945
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
eBook-Version 2019
© 2017 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel
Umschlaggestaltung: +CHRISTOWZIK SCHEUCH DESIGN
(Iowa City, IA, USA, University of Iowa, School of Music,
Clapp Recital Hall, Johannes Klais Bonn 2016. Foto: © Archiv Klais)
Lektorat: Jutta Schmoll-Barthel
Korrektur: Daniel Lettgen, Köln
ISBN 978-3-7618-7142-3
DBV 188-07
www.baerenreiter.com
eBook-Produktion: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Einleitung
Kapitel 1
Vorgeschichte
Von Orgeln vor der Orgel
Ingenieurskunst
Philosophen, Historiker und Theologen
Abbildungen und Funde
Byzantinische und arabische Automaten
Geschenk-, Spionage- und Auftragsorgeln
Vor dem Neustart
Kapitel 2
Orgelbau
Von Registern, Windladen und nationalen Stilen
Kloster, Kathedrale, Stadtkirche
Vom Blockwerk zur registrierbaren Orgel
Erfindungen über Erfindungen
Die italienische Orgel
Die spanische Orgel
Die französische Orgel
Die niederländische Orgel
Die englische Orgel
Die norddeutsche Orgel
Die mitteldeutsche Orgel
Die süddeutsche Orgel
Neue Orgelautomaten, neue Orgelgeschenke
Die orchestrale Orgel
Elsässische Orgelreform und deutsche Orgelbewegung
Stilorgel, Universalorgel
Restaurierung
Kapitel 3
Orgelbauer
Von Wanderschaft, Privilegien und immer neuen Tüfteleien
Am Anfang Wanderschaft
Niederlassung und Schulbildung
Die Folgen der Konfessionalisierung
Schnitgers Privilegien
Silbermann als kurfürstlich-königlicher Hoforgelbauer
Außenseiter
Bücher über den Orgelbau
Eberhard Friedrich Walcker
Aristide Cavaillé-Coll
Konkurrenz
Im »Dritten Reich«
Wiederaufbau in Deutschland
Rundgang durch Europa
Orgelland USA
Von der Kinoorgel mit Autohupe und Schlittengeläut zur elektronischen Orgel
Die Orgel der Zukunft
Kapitel 4
Organisten
Von Diensten, Virtuosentum und kompositorischen Ambitionen
In höfischen Diensten
Stadtorganisten
Johann Sebastian Bach
Klassische Abstinenz und romantischer Zugriff
Das Aufkommen des Virtuosen
Der Organist im kirchlichen Dienst
Pariser Orgelszene
Orgelsinfonie
Max Reger
Orgelmusik in Zeiten technischer Reproduzierbarkeit
Albert Schweitzer auf Spendentour
Organisten in den USA
Zwischen Kunst und Kirche
Kapitel 5
Orgelmusik
Von Medienpräsenz, Filmen und Romanen
Die Orgel im Rundfunk und im Internet
Die Orgel im Roman und im Film
Was nun?
Anhang
Literatur
Register
Bildgeber
Dank
Charles-Marie Widor, 1870 mit 25 Jahren Organist an der großen Cavaillé-Coll-Orgel von Saint-Sulpice in Paris geworden, berichtete über ein für ihn traumatisches Erlebnis. Während des Aufstands der Pariser Kommune, ein Jahr nach seiner Ernennung, war die Kirche besetzt worden. Gottesdienste fanden nicht mehr statt, man hielt auf der Kanzel politische Reden oder spielte Karten. Einer der Kommunarden hatte damals den Gedanken, dass man auf die berühmte Orgel nicht zu verzichten brauche, Widor solle auf ihr die Marseillaise spielen. Der lehnte mutig ab, und es ist nicht schwer, seinen Grund zu verstehen. Für Widor war die Orgel in diesem Raum ein liturgisches Instrument. So hatte er sie immer verstanden, und so hatte er sie immer eingesetzt. Der Revolutionär gab nach, es kam zu keinem Zwischenfall, Gewalt wollte er denn doch nicht anwenden.
Aber das Kapitel »Kirche und Marseillaise« ist damit nicht zu Ende erzählt. Fast genau 100 Jahre später, am 12. November 1970, war General de Gaulle gestorben und erhielt in Notre-Dame in Paris sein feierliches Totenamt. Diesmal saß wieder einer der ganz Großen an der Orgel, Pierre Cochereau. Und diesmal kam es zu dem, was für Widor undenkbar schien. Am Ende des Gottesdienstes, beim Auszug des Klerus, improvisierte Cochereau über die Marseillaise. Niemand protestierte. De Gaulle war zum Symbol für Frankreich geworden, für den Wiederaufstieg nach dem Krieg. So erschien die Marseillaise als angemessener Dank. Wer nun glaubt, hier habe es sich um eine einmalige Ausnahme oder gar Entgleisung gehandelt, irrt. Am 15. November 2015 fand wiederum in Notre-Dame ein Gedenkgottesdienst statt, diesmal für die Opfer des terroristischen Anschlags zwei Tage zuvor. Und was spielte der diensttuende Organist, Olivier Latry, zum Offertorium, der anderen bedeutenden Stelle für eine Orgelimprovisation während des Gottesdienstes? Es war die Marseillaise.
Ist das nun ein Zeichen für fortschreitende Säkularisierung, die vor nichts haltmacht? Man kann es auch anders deuten. Noch gehört die Orgel gerade in Frankreich zur Kultur, kann Gefühle aufgreifen und ihnen einen würdigen oder jedenfalls von vielen akzeptierten Ausdruck verleihen. Natürlich, die Orgel ist das Instrument der Kirche, die Stütze der Liturgie. Damit ist sie groß geworden im lateinischen Westen im Gegensatz zum griechischen Osten. Aber die Orgel hat sich Raum erobert, das Repertoire erweitert, neue Möglichkeiten eröffnet wie zum Beispiel im Konzertleben. Auch dabei kann es zu Überraschungen kommen. Als Marcel Dupré im Warenhaus Wanamaker in Philadelphia am 8. Dezember 1921 die damals größte Orgel der Welt vorführte, ließ er sich Melodien für eine Improvisation geben. Es waren durchweg gregorianische Motive. Heraus kam dann die Symphonie-Passion mit Einzelsätzen von der Erwartung des Erlösers bis zur Auferstehung. Kaum nachzuvollziehen, wie die Zuhörer das dritte Stück empfunden haben werden: die Kreuzigung mit der Improvisation über das bekannte Stabat mater dolorosa. Denn diese Zuhörer saßen nicht in einer Kirche, sondern eingeklemmt zwischen Wäscheständern und Parfümerieauslagen.
Wie ist es zu diesem Instrument mit dieser Breite an Möglichkeiten gekommen? Um so viel vorwegzunehmen: Kein Instrument hat eine kompliziertere Geschichte, keines hat so sehr seine Gestalt gewechselt, um zuletzt in wiederum unvergleichlicher Weise eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu bieten. Die Welt ist heute voll von Orgeln, wirklich die Welt, denn nicht nur Amerika oder Russland, auch der Ferne Osten haben sie sich längst angeeignet. Moderne Orgeln entstehen jeden Tag. Und neben ihnen existieren historische, die restauriert wurden und nun ein Klangbild (das äußere sowieso) bieten wie in fernen und manchmal fernsten Zeiten. Die Orgel – das will ich sagen – gehört zur Weltkultur. Noch kann man sich jedenfalls schlecht vorstellen, dass das Musikleben auf sie verzichten sollte. Warum? Sicherlich die schwierigste Frage. Die Zeiten sind vorbei, in denen man sich mit dem Hinweis auf die Königin der Instrumente begnügen konnte. Wäre es nicht Mozart gewesen, der den schon damals alten Slogan (er reicht, wie wir noch sehen werden, mindestens in die Zeit um 1600 zurück) verbreitet hat, würde man ohnehin ungnädiger mit ihm umgehen. Nein, Königin lenkt nur ab, zielt noch am ehesten auf die typische Vielfalt der Orgel, die Zusammenfassung der verschiedenen »Stimmen«, die von einem einzelnen »regiert« werden.
Noch viel problematischer der andere Slogan, der die Orgel zum »Orchester« macht. Tatsächlich hat man die Orgel in Zeiten der Romantik der damals wirklichen »Königin« in der Musik, dem Orchester, anzupassen versucht, die Orgel als Orchesterersatz genommen. Aber Einsichtige haben immer gewarnt und sind trotzdem missverstanden worden. Louis Vierne, wiederum einer der großen Organisten an Notre-Dame in Paris, sprach in Bezug auf die Orgel von »cet autre orchestre« (»diesem anderen Orchester«) und wollte damit gerade nicht die Ähnlichkeit mit dem Orchester betonen, sondern die Unähnlichkeit: die Orgel als grundsätzlich andere Art von Orchester. Dabei ist durchaus klar, worin diese andere Art besteht. Die Orgel kann Instrumente nachahmen und tut es bis zu einem gewissen Grade, was sich am besten zeigt, wenn einzelne Register solistisch verwendet werden. Aber eines kann sie nicht, was beim Orchester selbstverständlich ist: Sie kann diese Instrumente auf einem Manual oder Pedal bei vollem Spiel nicht getrennt voneinander ertönen lassen. Jede Taste, die der Organist drückt, lässt ja immer alle gezogenen Register zusammen erklingen. Um es noch konkreter am Beispiel der Oboe zu sagen: In jedem Akkord ertönt auf der Orgel die Oboe nicht wie im Orchester nur in der Höhe, im Diskant, sondern auch in der Tiefe, im Bass.
Weil der Punkt so wichtig ist, noch eine weitere Anmerkung. Man hat sich daran gewöhnt, die Orgelregister nach ihrer Bauart in vier große Gruppen zu teilen: Drei davon, die Prinzipale (die Pfeifen mit »normalem« Durchmesser), die Flöten (mit weitem Durchmesser) und die Streicher (mit engem Durchmesser) bringen ihre Töne nach dem Prinzip der Blockflöte als Lippenstimmen oder Labiale durch Brechung der Luft an einem Kern hervor. Die vierte Gruppe, die Zungenstimmen oder Linguale, benutzt zur Tonerzeugung ein schwingendes Metallblatt. Dann beginnt rasch die Übertragung aufs Orchester. Aber sie kann nicht falscher ausfallen, als wenn man naiv den Bezeichnungen folgt. Vor allem die Streicher im Orchester haben wenig mit den streichenden Registern der Orgel zu tun. Beim vollen Spiel übernehmen in der Orgel auf jeden Fall die Prinzipale die Funktion, die im Orchester den Streichern zukommt – sie bilden die Grundlage des Ganzen. Orgelklang ist immer zunächst einmal Prinzipalklang. Und dieser Prinzipalklang wird weiter geprägt durch etwas, was es im Orchester überhaupt nicht gibt: durch die Aliquoten, die statt des Grundtons Obertöne erklingen lassen, also Quinten, Terzen, Septimen usf. Aufs Orchester übertragen wäre dies so, als ließe der Dirigent einige Violinen eine Quint, Terz oder Septime höher stimmen und auf diese Weise mit den anderen Violinen zusammenspielen – nicht auszudenken. Und es geht mit den Unterschieden ja weiter: Die Flöten oder Trompeten mögen solistisch gespielt den Flöten oder Trompeten im Orchester ähneln. Beim vollen Spiel ergeht es ihnen wie den Streichern: Sie werden zu Farben im Gesamtklang. Flöten und Streicher sättigen ihn, Trompeten verleihen ihm Glanz.
Der Orgelklang ist also völlig anders aufgebaut, kommt völlig anders zustande als im Orchester. Der Klang der Orgel ist einmalig, Orgeln sind Orgeln – man kann es nicht genug betonen. Die Schönheit eines Orchesters kann die Orgel nie nachahmen, aber umgekehrt gilt genau dasselbe. Der Farbenreichtum der Orgel, übrigens auch der reine Tonumfang von bis zu zehn Oktaven, geht über den des Orchesters hinaus, in einer Großorgel wie etwa in Notre-Dame in Paris oder im Passauer Dom sind die Möglichkeiten der Kombination geradezu unerschöpflich. Aber alle diese Möglichkeiten sind Möglichkeiten der Orgel, gebunden letztlich an Pfeifen, die man dick oder dünn, zylindrisch oder konisch, offen oder gedeckt gestalten, darüber hinaus mit Labien oder mit Zungen ausstatten kann. Spätromantische Komponisten wie César Franck oder Max Reger gewannen der damaligen »orchestralen« Orgel durchaus orgelmäßige Musik ab, brachten die orchestrale Fülle orgelmäßig zur Geltung. Sie alle haben für Orgel und Orchester komponiert, aber niemand hat die Orgelmusik auf das Orchester übertragen oder umgekehrt. Werke für Orgel und Werke für Orchester waren vielmehr strikt voneinander geschieden, weil Orgel und Orchester völlig andere Möglichkeiten bieten.
Und noch ein weiterer Slogan, der viel Verwirrung anrichtet, soll möglichst früh angesprochen werden. Es ist die meist als Vorwurf gemeinte »Starrheit« des Tons, an dessen Überwindung ganze Orgelbauergenerationen sich abgearbeitet und immer neue Lösungen erfunden haben: vom Schwellwerk über den Tremulanten bis zum Registercrescendo (bei dem immer mehr und immer lautere Register »automatisch« hinzugefügt werden). Als wenn diese Starrheit nicht gerade das Besondere der Orgel wäre, das Orgelmäßige, das kein anderes Instrument nachahmen kann! Gewiss liegt unendlich viel Musikalität in der Geschmeidigkeit des Tons, wie sie etwa die Violine hervorbringt. Aber es gibt eben auch diese andere Form der Musikalität, die der über jede menschliche Möglichkeit hinausgehende anhaltende und unveränderliche Ton bietet. In diesem Fall merkt man es weniger beim »orchestralen« als beim solistischen Spiel. Es gibt unendlich tonschöne Stimmen, die man, einmal gehört, stets in Erinnerung bewahrt – in meinem Fall die Portunalflöte im Zürcher Großmünster etwa oder die Gambe in der Altenburger Schlosskirche. Bei den Kinoorgeln der 1930er-Jahre war es ein geflügeltes Wort, angesichts einer besonders gelungenen »gedeckten« (oben geschlossenen und deshalb besonders »weichen«) Flöte von »a tibia to die for« zu sprechen, von einer »Tibia zum Sterben schön«.
Ein einzigartiges, unvergleichliches, manchmal rätselhaftes Instrument also: Wie soll man seine Geschichte erzählen? In diesem Buch wird ein Weg gesucht, der die Orgel mit der Kultur in Zusammenhang bringt, in der sie entstanden ist und sich entwickelt, ja immer wieder neu erfunden hat. Insofern handelt es sich nicht um eine Geschichte der Orgel, wie sie die zuständige Fachwissenschaft hervorbringt, die sagen will und sagen muss, was wo von wem gebaut wurde und wie sich dieses Bauen auswirkte, fortsetzte, Tradition schuf. Man wird keine einzige »Disposition« finden: die genaue Verzeichnung der Register und ihrer Verteilung auf Manuale und Pedal, die dem Spezialisten viel über den inneren Aufbau, auch die Klangmöglichkeiten verrät. Es geht stattdessen bevorzugt um das Umfeld, in dem Orgeln entstanden, um den »Alltag«, der in kulturgeschichtlichen Darstellungen auch sonst die entscheidende Rolle als Energiespender oder auch -dämpfer spielt. Die Frage ist nicht so sehr, welche technischen Details jeweils kennzeichnend sind, sondern warum sie auftreten und wie sie zu neuen Möglichkeiten führen.
Dies zeigt sich bereits in der Grobgliederung des Buches, die die Geschichte der Orgel gewissermaßen dreimal durchläuft und dabei den Orgelbau, die Orgelbauer und die Organisten je für sich in den Blick nimmt – wenn man so will: je für sich mit den kulturellen Strömungen in Zusammenhang bringt, die die unterschiedlichen Zeiten bestimmten. Beim Orgelbau wirkt sich dies besonders gravierend aus, sofern der Start ins Spätmittelalter ge- bzw. verlegt, die antike und frühmittelalterliche Orgel als Vorgeschichte behandelt wird. Denn erst das Spätmittelalter stellt die Technik zur Verfügung, die die Orgel dann für alle Zeiten als Instrument der Mehrstimmigkeit geprägt hat. Während sich die Renaissance noch mit verhältnismäßig ein fachen »Blockwerken« ohne Registriermöglichkeit begnügt, wachsen rasch die Anforderungen mit der Folge weiterer technischer Innovationen. Dies geschah in den verschiedenen Regionen Europas auf jeweils eigene Weise, sodass sich nationale Stile unterscheiden lassen. Eine italienische oder französische Orgel des Barockzeitalters sieht anders aus und klingt auch anders als eine englische oder norddeutsche. Im 19. Jahrhundert, nach Industrialisierung und Wandlung des musikalischen Geschmacks in Klassik und Romantik, entstand die orchestrale Orgel, was nun heißen soll: das wirkliche Großinstrument mit enormer Klangfülle und subtiler Steuerbarkeit, das mit seinem Crescendo und Decrescendo sinfonische Qualitäten entwickelte, ohne dabei die orgelmäßige Typik abzulegen.
Hinter dieser Entwicklung im Orgelbau aber stehen Orgelbauer mit ihren Visionen, eingebunden in die politischen und sozialen Gegebenheiten ihrer Zeit. Die ersten, auf die wir stoßen, waren regelrechte Wanderarbeiter, die kreuz und quer durch Europa zogen. Erst die wachsende Größe ihrer Instrumente machte sie sesshaft, ließ sie Werkstätten und auch Schulen bilden, ehe wir dann den bedeutenden Gründergestalten im Barockzeitalter und noch einmal im industriellen 19. Jahrhundert begegnen. Wo sich die einen mit Zunftordnungen und Privilegien herumschlagen mussten, kämpften die anderen mit Zollschranken und schließlich mit einer Konkurrenz, die den Export notwendig machte und die einst bescheidene Orgelwerkstatt zur Fabrik mit weltumspannender Tätigkeit umformte. Die Erfolgreichen verdankten ihren Erfolg dabei Innovationen, die das Potenzial ihrer Epoche ausschöpften, und ermöglichten mit ihren Instrumenten erst die Musik, die die Organisten an diesen Instrumenten regelrecht entdeckten und in ihren Kompositionen zur Verfügung stellten.
Damit sind wir schon bei der nächsten und letzten Spezies, ohne die eine Kulturgeschichte der Orgel nicht denkbar ist. Auch die Organisten hatten ihre Schicksale, fügen sich der musikalischen und sozialen Umwelt ein. Überraschend die früh umjubelten Stars in der Renaissance, denen dann eine breite Spur der braven Kirchendiener folgt, wie wir sie in den beiden großen Konfessionen kennen. Aber darunter finden sich auch die ganz Großen, Sweelinck in Amsterdam etwa oder Bach an seinen verschiedenen Wirkungsstätten. Das 19. Jahrhundert bringt dann die Virtuosen hervor, die Paganini oder Liszt erlebt haben und den Reiz ihres Spiels in die Kirchen wie in die neuen Konzerthallen hineintragen. In Paris entsteht eine Orgelszene, in der Komponisten, die selbst Organisten sind, für die Orgel »Sinfonien« schreiben. Auch Deutschland besitzt seinen bedeutenden Vertreter, der vielen wie eine Wiederkehr Bachs in expressionistischem Gewand erschien: Max Reger. Und nicht nur Europa ist zu nennen. Die USA haben nicht nur ihre ständig neuen »größten Orgeln der Welt« gebaut, sie brachten auch Organisten von Format hervor.
Eine Kulturgeschichte der Orgel also, die nicht zuletzt ein Loblied auf die Orgel sein soll, auch eine Beschwörung, die mit ihr verbundene Kunst weiter zu pflegen. Wer nach der Zukunft der Orgel fragt, wird sowohl den Orgelbau mit seiner technischen Seite wie das wirtschaftliche und soziale Umfeld der Orgelbauer in den Blick nehmen müssen. Er wird weiter nach ihrer Präsenz in der Gegenwart fragen, wobei vor allem die Medien ins Blickfeld rücken: die Einbeziehung der Orgelmusik in Literatur und Film, weiter in Rundfunk und Internet – darauf geht ein Schlusskapitel ein. Am meisten aber hängt letztlich ab von denen, die die Orgel spielen – von den Organisten. Als 2016 die neue Rieger-Orgel in der Pariser Philharmonie eingeweiht wurde, haben vier Könner gezeigt, wie man ein Publikum begeistern kann: mit Orgelmusik von Dieterich Buxtehude über Manuel de Falla bis Charles-Marie Widor. Zum größten Applaus aber kam es ganz zum Schluss, als Wayne Marshall eine Improvisation über den Cancan von Jacques Offenbach vortrug, die den Zuhörenden den Atem verschlug.
Das kann man nicht jeden Tag bieten. Aber die Orgeln sind da, um es jeden Tag zu versuchen. Sagen wir es in dieser Einleitung etwas schwungvoll: Die Orgel gehört zur DNA unserer Kultur wie jedes andere Instrument auch. So viel an Unterschied darf man aber wohl hervorheben, ohne zum Musikchauvinisten zu werden: Die Orgel ist von allen Instrumenten das mit Abstand größte, nach seinem Bau aufwendigste, anspruchsvollste. Man kann andere Instrumente vorziehen, die Monumentalität sowohl ihres Klangs wie ihrer Prospekte ist konkurrenzlos.
Für die Erfindung der Musikinstrumente hält unsere Kultur einen Mythos mit einigermaßen abstoßenden Zügen bereit. Danach schuf Athene die »Doppelflöte«, den Aulos. Er ist oft auf antiken Vasen abgebildet, zum Beispiel auf dem sogenannten Glockenkrater mit Bankettszene aus Cumae um 340 v. Chr. Die Töne werden allerdings nicht nach Flötenart durch Luftbrechung an einem Kern, sondern nach Oboen- oder Klarinettenart von einem Rohrblatt erzeugt und mittels Grifflöchern abgewandelt. Athene warf diesen gerade erfundenen Aulos jedoch genervt weg, als sie im Wasserspiegel sah, wie das Spiel auf ihm ihr Gesicht verzerrte. Da kam der Halbgott Marsyas im Gefolge der trommelnden Kybele vorbei, fand das Instrument, erlernte es und forderte höchst übermütig den Gott Apollon zum Wettbewerb mit dessen Kithara, einer Art Harfe, heraus. Als die richtenden Musen zunächst Marsyas den Preis zuerkannten, ließ sich Apollon schäbigerweise etwas einfallen, verschärfte die Bedingungen und forderte, dass zum Spiel zu singen sei. Das entschied natürlich, Marsyas unterlag. Weil zuvor auch noch ausgemacht war, dass der Überlegene mit dem Unterlegenen nach Belieben verfahren könne, zog Apollon Marsyas die Haut ab. Auch davon gibt es zahlreiche Abbildungen des ebenso brutalen wie ekligen Ergebnisses – Die Schindung des Marsyas von Tizian zum Beispiel.
Man hat den Mythos schon im Altertum so gelesen, dass in ihm die Überlegenheit der Götter und die Dummheit all derer demonstriert werden sollte, die diese Überlegenheit nicht anerkennen. Wir können ihm aber auch etwas schlichter die Erfindung der drei Instrumentengattungen entnehmen: der Schlaginstrumente (mit der Trommel), der Blasinstrumente (mit dem Aulos) und der Saiteninstrumente (mit der Kithara). Aus dem ersten Schlaginstrument entwickelte sich alles, was anschlagbar ist – bis hin zur Glocke. Aus den Blasinstrumenten entwickelte sich alles, was blasbar ist – Trompeten zum Beispiel. Aus den Saiteninstrumenten entwickelte sich alles, was zupf- und streichbar ist – die Gitarre wie die Geige. Wozu, bitte schön, gehört dann unsere Orgel?
Natürlich ist sie ein Blasinstrument. An ihrem Anfang steht irgendwie Athene mit ihrer »Flöte«. Wenn man sich diese Flöte als Panflöte denkt, deren verschiedene Töne sich anstelle der Grifflöcher der Doppelflöte verschieden langen Pfeifen verdanken, liegt die Entstehung der Orgel auf der Hand. Sie ist eine Art vergrößerte Panflöte, auf der nur niemand mehr blies, sondern bei der die Luftzufuhr auf technischem Wege erfolgte. Wobei die Entstehung der Panflöte, im Griechischen »Syrinx«, wieder ihren eigenen Mythos besaß. In diesem Fall verfolgte der für seine Geilheit berüchtigte Halbgott Pan (der mit Marsyas übrigens oft verwechselt wurde) die Nymphe Syrinx, die sich zu ihrer Rettung lieber in ein Schilfrohr verwandeln ließ. Als der frustrierte Pan streichelnd in das Gewächs hineingriff, entstand ein wunderschöner Klang. Darauf schnitt sich der immer noch Verliebte etwas Schilfrohr ab und fertigte daraus die bekannte Panflöte, die fortan sein Zeichen wurde.
Nur verdeckt auch dieser Mythos, wenn wir nach dem Ausflug in die Mythologie wieder zu unserm Ausgangspunkt zurückkehren, etwas für die Orgel außerordentlich Wesentliches. Die Orgel scheint nämlich überhaupt nicht als Musikinstrument entstanden zu sein. An ihrem Anfang steht vielmehr ein Automat, man könnte auch von einer rein technischen Spielerei sprechen. Es kam bei ihrer Erfindung nämlich nicht auf die Töne an, sondern auf die Erzeugung des Tönens. Die Geschichte oder vielleicht besser: die Vorgeschichte des Musikinstruments Orgel führt jedenfalls in das antike Ingenieurswesen. Wer nach den Ursprüngen der Orgel sucht, muss diese zwischen komplizierten Baumaschinen und bedrohlichem Kriegswerkzeug suchen. Dafür gibt es unwiderlegliche und erstaunlich präzise Quellen.
Am Beginn steht dabei ein Grieche aus Alexandria mit Namen Ktesibios, der im 3. Jahrhundert v. Chr. lebte und ein Werk über Pneumatik (den technischen Einsatz von Druckluft) verfasst hat, das leider verloren ging. Aber Ktesibios hatte einen Schüler, Philo von Byzanz, der über das Werk berichtete, wovon immerhin Fragmente existieren. Zwei weitere antike Experten haben nun entweder Ktesibios selbst oder Philo ausgewertet – und deren Schriften sind erhalten. Dabei handelt es sich einmal um Vitruv in seinem Buch De architectura, um 30 v. Chr., zum andern um Heron von Alexandria mit gleich zwei Werken: den Pneumatica und den Automata, beide um 50 n. Chr. In allen diesen Quellen gibt es nun Berichte über ein Instrument mit dem griechischen Namen »organon hydraulikon«, latinisiert »organum hydraulicum«, später zitiert auch als »hydraulica«, »hydraulis«, sogar »hydra«. Und in allen spielt es die gleiche Rolle. Es handelt sich um einen Automaten, der Töne hervorbringt.
Für einen näheren Bericht halten wir uns an die überlieferten Quellen, aber es sei auch etwas zu Ktesibios gesagt. In seinem Fall interessiert hier nicht die wohl rein legendenhafte Nachricht aus dem 1. Jahrhundert v. Chr., dass er Friseurssohn gewesen sei und die Kraft der Pneumatik entdeckt habe, als er im Salon seines Vaters einen auf- und abwärts bewegbaren Spiegel konstruierte. Auch die Nachricht, dass er seine Frau als erste Organistin ausbildete, wollen wir rasch übergehen. Denn ihr Name »Thais«, den der Grammatiker Athenaios von Naukratis im 2. Jahrhundert n. Chr. in seinem Gastmahl der Gelehrten bezeugt, ist mehr als verdächtig. Unter Thais verstand jeder Grieche eine Hetäre, sprich: Edelhure, die ihre Gäste auf vielerlei Weise unterhielt. Athenaios wies ihr also auch die Orgel zu, wobei man nicht recht versteht, weshalb er diese Thais zur Ehefrau erklärte. Mit einer Frau lag er durchaus richtig, denn Frauen als Organistinnen sind gut bezeugt. Auf einem noch zu besprechenden antiken Mosaik ist eine ganze Reihe von Instrumentalisten abgebildet, ausschließlich Frauen und darunter auch eine Organistin.
Alles sehr schöne Geschichten, aber uns interessiert an Ktesibios Handfesteres, vor allem das 3. Jahrhundert als gesicherte Entstehungszeit seiner Erfindung. Wir befinden uns damit in der Phase der antiken Geschichte kurz nach dem Tod Alexanders des Großen im Jahre 323 v. Chr. Das Weltreich war an seine drei Nachfolger gegangen: an die Seleukiden in Kleinasien, die Antigoniden in Griechenland und die Ptolemäer in Ägypten. In allen diesen Reichen setzte eine Blüte der Wissenschaft ein, besonders in Ägypten bzw. in der von Alexander noch selbst gegründeten Stadt Alexandria. Dort entstand die größte Bibliothek der antiken Welt mit entsprechenden Forschungen. Nachrichten über Leistungen auf dem Gebiet der Wissenschaften führen regelmäßig in diese Metropole. Im 1. Jahrhundert v. Chr. erbten die Römer den Riesenbesitz auf die übliche Art der militärischen Eroberung, bei der es auch zu Nebenwirkungen wie der kam, dass die Bibliothek von Alexandria in Flammen aufging, weil Cäsar die sonst nicht einnehmbare Stadt einfach angezündet hatte. Aber die Kultur wurde eben nicht zerstört, im Gegenteil: Die Sieger sammelten, lasen, werteten aus, wussten genau, was das griechische Wissen wert war. Vitruv stützte sich auf diese Tradition, Heron war selbst Grieche.
Worauf es hier ankommt: Die Quellen über die Entstehung der Orgel führen zu einem der damaligen Zweige der Wissenschaft, und zwar nicht dem bekannteren theoretischen, sondern dem weniger bekannten praktischen. Wir stoßen mit anderen Worten auf das hoch und immer höher entwickelte Gebiet der Technik. Dazu gehört das Problem der Kraftübertragung mithilfe von Maschinen. Vitruv, unser erster Autor, behandelt Fragen dieser Art in seinem genannten Lehrbuch der Architektur, das er aus Renommeegründen dem damaligen Kaiser Augustus widmete, den er auch immer wieder im Text anspricht. Die heutige zweisprachige Ausgabe umfasst mehr als 500 Seiten. Vitruv behandelt natürlich in erster Linie die Technik, die mit dem Bauwesen zu tun hat: also Fragen der Baustoffe (Ziegel, Kalk, Holz usf.), den Entwurf von Tempeln (mit ihren Säulenordnungen), Theatern, Privathäusern, die Herstellung von Estrich, Verputz, Marmor- und Malerarbeiten. Es folgen Angaben über die Nutzung von Wasser samt dem Bau von Wasserleitungen, eine komplette Astronomie unter spezieller Berücksichtigung der Konstruktion von Uhren und schließlich im zehnten und letzten Buch Ausführliches über Maschinen, wo dann unsere »Orgel« auftaucht.
Es ist nicht unwichtig, den Einstieg in dieses zehnte Buch zu beachten: die Unterscheidung von Maschinen und Werkzeugen. Werkzeuge, so lesen wir, werden von einem einzigen Menschen bedient, Maschinen bedienen mehrere. Dies gilt zum Beispiel für Zug-Hebe-Maschinen, die zur Beförderung großer Lasten dienen und mit Hebeln und Seilen funktionieren. Dazu muss man die Gesetze der Mechanik kennen, wo geradlinige Bewegungen aus kreisenden erzeugt werden wie zum Beispiel im Falle der Mühlen. Neben der Mechanik aber gibt es eine weitere Kraft: die Luft, also das Gebiet der Pneumatik. Und damit ist Vitruv beim »Wasserdruckwerk des Ktesibios«, dem als mehr oder weniger kurioses Anhängsel ein Bericht über die »Wasserorgel« folgt, ehe Vitruv ausführlich über Katapulte, Belagerungsmaschinen und anderes Kriegsgerät (wie die berühmte »Schildkröte«, unter der sich Belagerer an die Stadtmauer vorpirschten) berichtet. Fragen wir zuerst, wie hier Wasser und Luft zusammenhängen, womit viel Verwirrung über die Wasserorgel zu vermeiden ist, die schließlich ihre Töne nicht mit Wasser erzeugt, sondern mit Luft, die durch Wasserdruck komprimiert wird.
Wer in Mechanik unbedarft ist und das Prinzip trotzdem verstehen will, kann einmal eine Schüssel mit Wasser füllen und dann ein Trinkglas mit Öffnung nach unten in die Schüssel halten. Er wird merken, dass das Wasser nicht ins Glas strömt, weil es von der Luft daran gehindert wird. Er wird weiter spüren, dass er Druck benötigt, um das Glas hineinzustoßen. Etwas technischer ausgedrückt: Das Wasser drückt gegen die Luft im Glas, komprimiert sie. Wenn man nun in den Glasboden ein Ventil einbaut, kann man die Luft nach oben ausströmen lassen. Wenn man ein zweites Ventil am Glas anbringt, kann man Luft hineinpumpen und damit die oben entweichende Luft unten nachfüllen. Genau das hat Ktesibios getan und damit sein »Wasserdruckwerk« erfunden. Er hat dann weiter experimentiert und das obere Ventil über Schläuche mit Figuren, zum Beispiel Vögeln, verbunden. Diese Vögel konnten sich dann mithilfe des Luftdrucks bewegen und, ebenfalls mithilfe des Luftdrucks, Töne von sich geben. Vitruv beendet die kurze Ausführung mit dem Hinweis, man könne bei Ktesibios Weiteres über solcherlei Maschinen nachlesen, die der »Unterhaltung« dienten.
Etwas ausführlicher stellt er dann in einem eigenen Kapitel die Erfindung der »Wasserorgel« dar. Es ist letztlich nur die komplizierteste Maschine bzw. das komplizierteste Spielzeug dieser Art. Denn Vitruv berichtet nicht nur über Ventile oben und unten, sondern führt aus, wie die oberen zu Pfeifen gehören, die auf einem Kasten (der »Windlade«) stehen. Vitruv spricht bereits von mehreren Pfeifenreihen mit jeweils mehreren Pfeifen und sagt auch, dass die einzelnen Pfeifenreihen durch Schieber Luft bekommen oder von der Luft abgeschnitten werden. Weiter können die gewünschten Töne aus den Registern über Tasten erzeugt werden, wobei Federn dafür sorgen, dass die Tasten zurückspringen. Ein wichtiger Satz lautet: »Wenn daher die Tasten, von den Händen berührt, unaufhörlich die Schieber vor- und zurückschieben und so die Löcher abwechselnd öffnen und schließen, so bringen sie mit musikalischer Kunst in mannigfaltiger Abwechslung der Weisen die Orgeltöne hervor« (»e musicis artibus multiplicibus modulorum varietatibus sonantes excitant voces«). In zwei Schlusssätzen erklärt Vitruv, dass diese Technik nicht leicht zu verstehen ist – wie wahr!
Wovon genau war also die Rede? Vitruvs Hydraulis besaß drei wesentliche Elemente heutiger Orgeln, wenn man einmal von der etwas umständlichen Windversorgung durch Wasserdruck absieht. Das erste Element sind die Pfeifenreihen (»Register«), die je für sich gespielt werden konnten. Bewegte man – als zweites Element – den Schieber (die »Schleife«) so, dass seine Löcher unter die Pfeifen zu stehen kamen, bekam die entsprechende Pfeifenreihe Wind. Aber es sollten nicht alle zugehörigen Pfeifen gleichzeitig tönen. Also bedurfte es des dritten Elements: Zu jeder Pfeife gehörte ein Ventil, das man ein- oder ausschalten konnte. Man konnte demnach einerseits ganze Register ein- und ausschalten und andererseits einzelne Töne der jeweiligen Register zum Klingen bringen. Genauso ist es noch bei jeder heutigen Orgel. Es gibt die Register sowie die Züge, mit denen man einzelne Register zieht, und es gibt die Klaviatur, auf der man einzelne Tasten drückt, die dann die Pfeifenventile öffnen. Auch auf der Hydraulis konnte man also eine Melodie spielen oder auch mehrere Töne als Klänge zusammenstellen. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied, den Vitruv fast im Vorübergehen erwähnt, der aber die antike von der neuzeitlichen Orgel grundsätzlich unterscheidet: Die einzelnen Tonreihen der Register bildeten verschiedene Tonzusammenstellungen (sogenannte Tetrachorde, Hexachorde, Oktachorde, also die Abfolge von vier, sechs oder acht Tönen), sozusagen verschiedene Tonarten.
Um es noch deutlicher zu sagen: Die verschiedenen Tonreihen wurden nicht miteinander kombiniert, wie es in der späteren Orgel nicht nur der Fall ist, sondern womit die Orgel ja zu dem orchesterähnlichen Instrument wird, das sich von allen anderen Instrumenten unterscheidet. Die Hydraulis war demgegenüber ein Melodieinstrument, das allenfalls zum Melodie- einen weiteren Begleitton innerhalb desselben Registers ermöglichte. Man zog also nicht »alle Register«, womit alle Töne erklingen, die zu einer bestimmten Taste gehören. Das hätte aufgrund der unterschiedlichen »Stimmung« zu einem üblen Gequietsche geführt. Man entschied sich vielmehr dafür, welche »Tonart« für ein Stück gewünscht war, zog das entsprechende Register und legte los. Danach konnte man eine andere Melodie in einer anderen Tonart spielen. Das aber entspricht sehr genau dem, was wir ansonsten über antike Musik wissen. Denn für diese Musik waren »Tonarten« im Sinne einer bestimmten Anordnung der Ganz- und Halbtöne entscheidend. Über diese Tonarten wird immer wieder berichtet, ja philosophiert. Platon etwa handelt davon und bezeichnet bestimmte Tonarten als männlich und empfehlenswert (dorisch oder phrygisch), andere als unmännlich und verwerflich (lydisch oder äolisch). Wir können uns das heute sehr schwer vorstellen. Aber auch wir bevorzugen für den Ausdruck der Trauer Moll, für den der Freude Dur – allerdings ohne eine der beiden Varianten aufzugeben.
Jedenfalls macht all dies die Konstruktion der Hydraulis im Sinne eines Instruments für verschiedene Tonarten sehr wahrscheinlich. Denn wir wissen ja: Die Mehr- bzw. Zweistimmigkeit steht beim Aulos gerade am Anfang der Entwicklung. Allerdings zeigen alle Pfeifen, die man auf Abbildungen und bei Funden entdeckt hat, Flötenform, also »Rohre« mit Labien. Wann man von Rohrblattpfeifen auf solche mit Labium umkonstruierte oder ob am Anfang überhaupt Rohrblattpfeifen verwendet wurden (weil im Wort »hydraulis« nun einmal der »aulos« steckt), ist völlig unklar, aber auch nicht so wichtig. Denn am Prinzip änderte sich ja nichts. Es waren eben Pfeifen, mit denen man verschiedene Arten von Melodien oder Mehrklängen erzeugte. Und dies mithilfe von Automaten, die beliebig lange Luft lieferten, um diese Töne auszuhalten. Vitruv ist ganz gebannt von der technischen Seite und widmet der musikalischen kein einziges Wort – leider! Davon ist allerdings weniger als ein Jahrhundert später die Rede.
Bevor ich darauf zu sprechen komme, noch ein Wort zum zweiten antiken Spezialisten, zu Heron, der das Thema noch ausführlicher und darüber hinaus mit Abbildungen behandelt, also das Problem der Verständlichkeit erheblich abmildert. Nur zeigt sich bei Heron noch mehr als bei Vitruv, dass sämtliche Maschinen ausschließlich der Unterhaltung durch Demonstration des technischen »Wunderwerks« dienen. So gibt es einen automatischen Vogelgesang, der sich einem Röhrchen verdankt, das in ein Wasserbecken gelenkt ist. Bei entsprechender Luftzufuhr erzeugt es Zwitschergeräusche, wie es genauso noch heute bei Orgeln der Fall ist, die einen »Nachtigallenzug« besitzen. Bei Heron sitzt am Rande des Beckens ein Vogel, um die Illusion perfekt zu machen. Wer ahnt schon, dass der Effekt auf der danebenstehenden Vase beruht, deren Öffnung hübsch klein gehalten ist, sodass man das Wasser in ihr nicht bemerkt? Weiter gibt es einen halben Wald mit singenden Vögeln und auch noch einer Eule, die zwar nicht mitzwitschert, sich dafür aber dreht. Außer Vögeln existiert ein Automat, der Pfeiftöne erzeugt, die in Glucksen übergehen, wenn das nachströmende Wasser die Pfeife erreicht. Ein Trompeter ist die nächste Attraktion, dann eine sich öffnende und schließende Tempeltür, bei Bedarf kombiniert mit einer Signaltrompete. Es folgt ein Donnerautomat, bei dem der Wind Kugeln in Bewegung setzt.
Und dann der Höhepunkt: eine Hydraulis mit einer einzigen Pfeifenreihe und ausführlicher Beschreibung der Konstruktion der Ventile, nicht allerdings der Windversorgung. Dafür gibt es bei Heron neben der Wasserorgel auch eine Windorgel, die allerdings nicht mithilfe eines Blasebalgs betrieben wird, sondern mithilfe eines Windrades, das als Luftpumpe dient. Auch in diesem Text erinnert rein gar nichts an ein Musikinstrument. Herons Apparate sind wie diejenigen von Vitruv Automaten. Sie bezeugen als pneumatische Maschinen Ingenieurskunst. Die Wasserorgel gerät nicht als Musikinstrument in den Fokus von Spezialisten, sondern als Automat. Aber mit diesen Automaten wurde eben irgendwann von irgendwem Musik gemacht, die über mehr als ein paar Töne oder Vogelgezwitscher hinausging. Um darüber etwas zu erfahren, müssen wir die Quellenart wechseln. Wir finden Näheres nicht bei den komplett unmusikalischen oder jedenfalls musikalisch desinteressierten Vertretern der Ingenieurskunst, sondern bei Philosophen, Historikern und Theologen.
Rund 20 Jahre vor Vitruv und ein ganzes Jahrhundert vor Heron gibt es einen Hinweis, der klar bezeugt, dass Wasserorgeln verbreitet waren und dass sie es als Musikinstrumente waren. Zeuge dafür ist einer der kenntnisreichsten und nebenbei der am vollständigsten überlieferte Autor der antiken Welt: Cicero. Als der sich in den Gesprächen von Tusculum mit seinen philosophischen Kontrahenten herumstreitet, kommt er auch auf seine Lieblingsgegner zu sprechen, die Epikureer. Die vertreten die Auffassung, dass es Götter geben mag, dass diese aber weit weg leben, sich nicht um die Menschen kümmern, weshalb es das Beste sei, sich in den schwierigen Weltläuften zurückzuziehen und möglichst viele Vergnügungen zu nutzen. Später wurde dies als »Lust« übersetzt, was den Epikureern einen ziemlich üblen Ruf beschert hat, zum Beispiel in der wenig schmeichelhaften Vokabel der »epikureischen Säue«.
Cicero reagiert weniger aggressiv, schreibt von Genüssen, die vom Geschmack stammen, vom Liebesgenuss und Hören von Gesängen sowie allem, was den Augen angenehm ist. Aber Cicero ist auch der Ansicht, dass man damit nicht zum »höchsten Gut« als wirklich ernsthaftem Lebensziel vordringen könne, und unterstreicht dies durch den Rat, einem Trauernden lieber ein sokratisches Buch zu geben als eine Delikatesse. Worauf die ganz offensichtlich rhetorische Frage folgt: »Du wirst ihn eher ermahnen, sich eine Wasserorgel (»hydraulis«) anzuhören als die Stimme Platons?« Eben, natürlich nicht. Aber eben auch: Wasserorgeln müssen ganz hübsch geklungen haben, wenn sie zu den Genüssen zählen, die als Alternative infrage kamen. Zu musikalischen Genüssen! Natürlich weiß man damit immer noch nicht, wie eine Wasserorgel geklungen hat. Aber man weiß, dass sie im Privatleben eine Rolle spielte – als Musikinstrument.
Dies bezeugt auch der schon genannte Athenaios im 2. Jahrhundert n. Chr. in seinen Philosophischen Gesprächen. Die Stelle ist kostbar und soll etwas ausführlicher zitiert werden: »Während dieser Unterhaltung hörte man in der Nachbarschaft den angenehmen und entzückenden Klang einer Wasserorgel ertönen, sodass wir alle in unserer Aufmerksamkeit abgelenkt wurden, bezaubert und gefangen genommen von den herrlichen Klängen. Und Ulpian sagte, indem er sich an den Alkeides als Musikverständigen wandte: Hörst du, großer Musikus, diese schöne akkordreiche Musik (»symphonias«), welche uns alle wie durch Zaubergewalt von unserm Thema abspenstig macht und die nicht wie bei euch Alexandrinern euer ewiges einstimmiges Flötengequietsche (»monaulos«) den Zuhörern Ohrenschmerzen anstatt eines musikalischen Genusses verschafft?« Worauf noch der Hinweis auf Ktesibios als Erfinder folgt (samt Hinweis auf dessen Frau als erste Organistin) und eine kurze Erläuterung des Mechanismus unter Verwendung der durch Wasser komprimierten Luft. Klar, dass uns hier der so seltene Aspekt der erklingenden Musik mehr interessiert und uns Genaueres darüber lieber gewesen wäre als die eher schwärmerische Beschreibung. Fest steht auf jeden Fall, dass die Wasserorgel im privaten Umfeld als Musikinstrument eingesetzt wurde.
Daneben ist allerdings ein anderer Einsatz ebenso deutlich belegt. Wir können es nachlesen bei Sueton, dem Verfasser von zwölf Biographien römischer Kaiser von Cäsar bis Domitian, erschienen um 120 n. Chr. Anders als Historiker wie Livius oder Tacitus kam es Sueton nicht auf geschichtliche Zusammenhänge oder gar deren Deutung an, sondern auf Unterhaltsames, Anekdotisches – man könnte auch von Klatsch und Tratsch sprechen. Genau deshalb aber wissen wir etwas über die Verwendung der Wasserorgel in der damaligen Zeit. Denn bei der Darstellung von Nero berichtet Sueton ausführlich über dessen besondere Liebhaberei, die er selbst als höchst ernsthaft ansah: sein Auftreten als Sänger. Nichts habe ihn so aufgeregt wie Spott in dieser Richtung, besonders durch seinen politischen Widersacher Vindex, der ihn bei einem Aufstand militärisch bedrohte. Statt darüber dringend notwendige Gespräche zu führen, habe er seinen Beratern ausführlich neuartige Wasserorgeln (»organa hydraulica«) gezeigt, ihre Technik genau dargelegt und erklärt, er selbst wolle sie zu gegebener Zeit im Theater spielen, falls es – ha, ha, ha – Vindex erlaube. Und noch einmal ist bei Sueton von diesem Vorhaben die Rede. Am Ende seines Lebens habe Nero geschworen, im Falle eines Sieges bei einem entsprechenden Fest selbst als Organist im Theater aufzutreten – allerdings auch als Flötenspieler und Tänzer.
Weil Nero immer wieder für das Auftreten der Orgel im Zirkus geltend gemacht wird (womöglich als Untermalung bei der Hinrichtung von Christen, was natürlich einen ungemein schauerlichen Kontrast zum späteren Auftreten in der Kirche darstellt), hier der Hinweis, dass es eine Quelle gibt, nach der Wasserorgeln tatsächlich auch im Zirkus Verwendung fanden. Diese Quelle ist aber nicht Sueton mit seinem Bericht über Nero, sondern der Dichter Petronius in einer seiner Satiren. Dort ist die Rede von einem etwas merkwürdigen Vorschneider des Bratens, der seine Aufgabe mit allerlei Mätzchen verrichtete – und dann heißt es: »wie ein Gladiator im Zirkus zum Klang der Wasserorgel zu kämpfen pflegte«.
All das ist letztlich sehr wenig, sagt eigentlich nur, dass Wasserorgeln neben ihrem Spiel im privaten Umfeld im Theater und im Zirkus verwendet wurden – immerhin überall dort als Musikinstrument. Wie diese Verwendung genauer aussah, bezeugen die Texte nicht. Dafür gibt es eine interessante Nachricht in einer Inschrift aus dem Jahre 90 v. Chr., die 1881 in Delphi gefunden wurde. Dort ist die Rede von einem Organisten namens Antipatros aus Eleutherna auf Kreta, der aus einem zweitägigen Musikwettspiel als Sieger hervorging. Er erhielt als Preis eine Bronzestatuette, die erwähnte Inschrift am Apollotempel und auch noch eine Art Ehrenbürgerrecht der Stadt, was mit Vergünstigungen beim Befragen des Orakels verbunden war. Was dieser Antipatros auf welcher Art von Orgel gespielt hat, ist völlig offen. Aber wenn die Inschrift irgendeinen Sinn hat, dann doch den, dass sich auf Orgeln mehr oder weniger virtuos musizieren ließ. Mochten Vitruv und Co. über Automaten schreiben: Diese Automaten hatten eine Funktion. Man konnte Kunst mit ihrer Hilfe hervorbringen, musikalische Kunst. Reines Gequietsche kann es nicht gewesen sein. Auch für bloße Sirenentöne hätte es kaum einen Preis gegeben.
Wir sind damit noch immer in der klassischen Antike, im 1. vor- und im 1. nachchristlichen Jahrhundert. Zu ergänzen wäre für diese Zeit noch der Beleg bei Plinius dem Älteren, der in seiner Naturgeschichte (1. Jahrhundert n. Chr.) die Erfindung der Wasserorgel des Ktesibios zu den größten der Antike überhaupt zählt, direkt neben dem Bau des Tempels der Diana in Ephesus oder der Anlage des Stadtplans von Alexandria. Interessant wird der Übergang zum Christentum, weil man sich natürlich die Frage stellt, ob die Hydraulis irgendwie und irgendwann in Kirchen auftaucht. Sagen wir es so deutlich wie möglich: Dafür gibt es nicht den geringsten Beleg. Gerade die frühen christlichen Autoren behandeln die Orgel in völlig anderen Zusammenhängen.
Nehmen wir eine Erwähnung der Hydraulis, die regelmäßig in Grußworten von Bischöfen auftaucht, wenn heutzutage Orgeln eingeweiht werden – gewissermaßen als Beleg für die Anfänge der Orgel in der christlichen Kirche. Aber die schöne Berufung steht auf mehr als wackligen Füßen. Es geht um den frühen lateinischen Kirchenvater Tertullian, der um 150 n. Chr. in Karthago als Sohn eines römischen Offiziers geboren wurde und Karriere als Rechtsanwalt machte. Irgendwie war er Christ geworden, verteidigte in Zeiten der Verfolgung das Christentum in zahlreichen Werken, ohne jedoch ein Amt etwa als Bischof anzustreben oder es zu erhalten. In der heutigen Ausgabe seiner Schriften (Paris 1879) wird er als »Presbyter carthaginensis« geführt. Neben etwas eigenartigen Texten wie dem gegen die Putzsucht der Frauen oder den Theaterbesuch der Männer handelt ein Traktat von der Seele (De anima).
Nachdem Tertullian seine Gelehrsamkeit unter Beweis gestellt hat und brav die verschiedenen Gliederungen der Seele bei den wichtigsten Philosophen wie Platon oder Zenon aufgezählt hat, bekennt er sich zur Fünfzahl der seelischen Vermögen bzw. den fünf Sinnen: also Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen, Riechen. Danach sucht er nach einem passenden Vergleich, wohl um hervorzuheben, dass etwas so Kompliziertes wie die Ausstattung des Menschen mit diesen verschiedenen »Sinnen« durchaus funktionieren kann. Und diesen Vergleich findet er bei der Hydraulis (»organum hydraulicum«). Alle ihre Glieder, Teile, Stücke, alle ihre verschiedenen Stimmen, Töne, Weisen einschließlich der »Schärfe der Flöten« (»acies tibiarum«) würden schließlich »ein Ganzes« (»una moles«) bilden. Die vom Wasser zusammengepresste Luft führe auf ihren komplizierten Wegen zu einem einzigen Ergebnis. Genauso sei es mit der Seele: Wie der Wind im Rohr durch die Höhle, so komme durch die verschiedenen Sinne der Gesamteindruck zustande, nicht zerhackt, sondern in guter Ordnung. Punkt und Ende der Ausführungen. Woraus zu entnehmen ist, dass es am Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. Wasserorgeln gab, die so funktionierten, wie es Vitruv oder Heron beschrieben haben. Wie und wo sie klangen, wird nicht gesagt. Übrigens findet Tertullian die Erfindung der Hydraulis so wichtig, dass er sie nicht dem unbekannten Ktesibios, sondern dem hochberühmten Archimedes andichtet, der ja tatsächlich nicht nur ein genialer Mathematiker, sondern auch ein ausgefuchster Techniker war.
Nicht viel mehr bietet der wesentlich bekanntere lateinische Kirchenlehrer Augustinus, Bischof im nordafrikanischen Hippo. Von ihm gibt es zahlreiche Bibelkommentare, darunter die Enarrationes in psalmos, also eine Psalmenauslegung. In dieser Schrift stößt Augustinus natürlich auf den 150. und letzten Psalm, in dem von der Musik im jüdischen Tempel die Rede ist. Augustinus geht penibel jede einzelne Bemerkung durch: das Gotteslob im Allgemeinen, die Zuhilfenahme von »psalterium« und »cithara«, weiter das Lob mit »tympanum« und »chorus«, schließlich mit »chorda« und »organum«. Dabei erfährt man, dass »psalterium« und »cithara« Saiteninstrumente waren. Zum »organum« aber gibt Augustinus die durchaus richtige Information, dass man darunter alle Arten musikalischer »Gefäße« (»generale nomen est omnium vasorum musicorum«) verstehe. Heutzutage aber, auch dies ist korrekt, gebe es die engere Bedeutung von musikalischen »Gefäßen«, die mit einem Blasebalg funktionierten, was für die betreffende Bibelstelle allerdings ausscheide, weil »organum« ein griechischer Begriff sei, dessen Entsprechung in der hebräischen Bibel man nicht klären könne. In der Bibel sei wohl mit »in chordis et organo« ein Instrument (»organum«) gemeint, das Saiten habe, also gerade keine Orgel. Daran schließt sich ein Lob der römischen Hydraulis an, die trotz komplizierten Aufbaus einen einheitlichen Ton hervorbringe, was irgendwie nach Tertullian klingt.
L’arte organicaOrganographia