Hawaii-Saga
Band 1: Weit hinterm Horizont
Dunkle Wolken über dem Paradies
Hawaii, 1914: Die junge Lani Elkart träumt davon, eines Tages das alte Europa kennenzulernen, die Heimat ihrer Mutter Clara. Doch als der Erste Weltkrieg ausbricht, rückt dieser Wunsch in weite Ferne. Auch auf Hawaii wird die Gefahr spürbar, als das deutsche Kriegsschiff »Geier« in der Bucht von Honolulu vor Anker geht. Aber Lanis Neugier ist stärker als ihre Furcht vor den Wirren des Krieges. Sie lernt den Marineoffizier Paul kennen, der ihr Leben aus den Angeln hebt. Lani verliebt sich in den geheimnisvollen Draufgänger – doch die Zeichen der Zeit sprechen gegen ihre Liebe …
Tara Haigh schreibt seit vielen Jahren Drehbücher für große TV-Unterhaltung und als Tessa Hennig amüsante Frauenromane, die bereits erfolgreich verfilmt und SPIEGEL-Bestseller wurden. Sie erzählt in ihren historischen Romanen spannende Liebesgeschichten an exotischen Sehnsuchtsorten. In ihrer gefühlvollen Hawaii-Saga thematisiert sie die historische Verbindung zwischen Deutschland und Hawaii. Diese fasziniert sie in besonderem Maße, weil sie einen Aspekt deutscher Geschichte zeigt, der kaum bekannt und doch so schillernd ist.
Homepage der Autorin: http://www.tessa-hennig.de
Der Feind,
den ich liebte
Roman
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Angeblich bin ich ein Geschenk des Himmels, zumindest sehen meine Eltern das so. Sie hätten mich sonst wohl kaum Lani genannt – in meiner Muttersprache der Himmel. Halb Hawaii ist damit gesegnet, denn der Name ist hierzulande alles andere als selten. Um ein Haar wäre aus mir allerdings eine Lani-Anna geworden, um die beiden Welten zu vereinen, die in meinem Herzen schlagen. Mutter hatte sich jedoch durchgesetzt, obwohl sie der deutsche Teil der Mischehe ist. Vermutlich liegt das an ihrer Liebe zu Hawaii.
Dem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto nach zu urteilen, das die erste Seite meines Fotoalbums ziert, passt der Name auch sehr gut zu diesem kleinen Wesen, das meine Eltern voller Stolz in den Armen halten. Niedlich und possierlich, auch wenn so gut wie nichts außer meinen großen braunen Mandelaugen davon übrig geblieben ist.
Was für ein komisches Gefühl, wenn einundzwanzig Jahre gebunden in Leder vor einem liegen und man darin durch die Kindheit blättern kann – Vaters Idee und ein grandioses Geburtstagsgeschenk mit goldenen Verzierungen an den Kanten. Darin jede Menge Fotos und Zeitungsartikel, liebevoll mit handschriftlichen Notizen ergänzt. Gleich nach den morgendlichen stürmischen Glückwünschen, Umarmungen und Küssen meiner Eltern musste ich es erkunden, eine Zeitreise durch mein Leben, das 1893 im Queen’s Hospital begann – ausgerechnet einen Tag nach dem Putsch der Amerikaner. Das goldene Zeitalter der Monarchie, von dem Mutter heute noch schwärmt, habe ich knapp verpasst. Schon im Sommer des darauf folgenden Jahres wurde Hawaii zur Republik ausgerufen. Ein entsprechender Zeitungsausschnitt klebt auf der zweiten Seite. Angeblich hat Mutter die entmachtete Königin unterstützt, wo sie nur konnte. Sogar auf eine Reise nach Washington hat sie Lili’uokalani begleitet – vergeblich. Wen kümmerte schon ein kleines Inselkönigreich mitten im Pazifik, dessen »Land von Amerikanern konfisziert« wurde – so lautet die Überschrift des Artikels.
Mama muss mich ganz schön herumgereicht haben. Auf einem Foto sitze ich auf dem Schoß der ehemaligen Königin. Lani, die kleine Prinzessin.
Auch mit vier hat man noch kaum Erinnerungen an seine Kindheit. Fotos unseres Zuckerrohrfelds, auf dem viele Chinesen arbeiten, zeugen von der »gelben Flut« – eine von vielen, die aus Hawaii einen Vielvölkerstaat machten. Und auch der Fortschritt hielt in diesen Jahren Einzug. Papa steht in einem der ersten Paternoster Honolulus, seine kleine Prinzessin Lani im Arm. So wie der Wonneproppen strahlt, muss das ein Heidenspaß gewesen sein. Mittlerweile gehört Aufzugfahren zur Normalität des modernen Lebens – des »American Way of Life«. Seit 1898 sind wir nämlich alle Amerikaner – per Annexion, wie man in der Schule lernt. Irgendwo flattert von nun an immer eine amerikanische Fahne auf den Fotos, auch auf dem Königspalast, vor dem ich mit Mutter posiere. Die Hawaiianer sind in ihrem eigenen Land nur noch geduldet, die hier lebenden Deutschen aber auch heute noch hoch angesehen.
An das rauschende Fest bei Hackfeld kann ich mich sogar noch vage erinnern. Da war ich sechs und saß bei meinem heutigen Arbeitgeber auf dem Schoß – wieder einmal – und inmitten der feinen Gesellschaft: Diplomaten, amerikanische Offiziere und reiche Geschäftsleute, die in Gummi, Reis und Ananas machten. In Zuckerrohr natürlich auch. Mutter ist aber immer noch die alleinige »Zuckerrohrbaronin Hawaiis«. Den Spitznamen wird sie wohl nie mehr los.
Von nun an kann ich mich an so gut wie alles erinnern, an die erste elektrische Straßenbahn gleich zu Beginn des neuen Jahrhunderts oder die ersten Spanier und Puerto Ricaner, die Hawaii noch bunter machten.
Auf dem nächsten Foto, etwa in der Albummitte, halte ich einen Telefonhörer in der Hand – eines der ersten automatischen Telefone. Der erste Zoobesuch mit zwölf. Auf der Aufnahme erkennt man mich schon, zumindest mein Gesicht, denn der Rest sieht noch aus wie ein Junge. Mit dreizehn das erste Mal Kino in der Fort Street und danach sofort unsterblich in Felipe verliebt, einen süßen Spanier aus meiner Klasse. In dieser Zeit wurde aus mir ein richtiges Mädchen, dessen zarte Knospen anfingen zu blühen.
Der Ernst des Lebens, wie Mutter ihn stets nannte, hielt erst 1909 Einzug. Ich hatte lange genug auf der Farm ausgeholfen, und im Anbau von Zuckerrohr liegt keine Zukunft. Fünf Firmen kontrollieren auch heute noch drei Viertel des Anbaus – die Farm meiner Eltern ist zu klein, um mithalten zu können. Da war es viel vernünftiger, für Hackfeld in der Stadt zu arbeiten, im Handel. Ein Foto vor dem imposanten Eingangsportal zeigt mich an meinem ersten Arbeitstag. Honolulu ist sowieso »the place to be«. Dort gibt es eine Oper – sogar klimatisiert. Hackfeld importiert die Ventilatoren, die hinter Eisblöcken kühle Luft hineinblasen. Aufregende Zeiten. Die ersten Autos. Angeblich schon über zweitausend in Honolulu. Und dennoch spielt sich das Leben in London, Paris oder Berlin ab, wie man in den Zeitungen liest, die bei Hackfeld für die Führungsetage ausliegen und somit auch für eine Assistentin wie mich zur Verfügung stehen – leider, denn das weckt Sehnsüchte und Begehrlichkeiten.
Wie schade. Das Album ist nur drei viertel voll. Wer weiß, vielleicht füllt es sich auf unserer Reise. Endlich Mamas Heimat sehen, das deutsche Kaiserreich. Hoffentlich verbleibt etwas Zeit für eine Bahnfahrt nach Berlin. Aber von nun an bestimme ich, welche Fotografien in mein Album kommen …
Die Diskussionen darüber, ob man nun Knie zeigen durfte oder nicht, wollten seit Beginn ihrer Atlantiküberquerung einfach nicht abreißen. Es gab zwei Fraktionen: die Alten und die Jungen. Mutter gehörte, obgleich sie bereits schnellen Schritts auf die fünfzig zuging, noch nicht zu den alten Schabracken, die sich doch tatsächlich über ihr Badegewand noch einen kniebedeckenden Rock anzogen, der einen erheblich beim Schwimmen behinderte. Damit konnte man bestenfalls bequem am Strand flanieren. Für ein Schwimmbad war er gänzlich ungeeignet. Lani fand es ungerecht, dass die Männer unbescholten Knie zeigen durften, die Frauen nicht. Ob ein kniefreier Badeanzug unschicklich für eine junge Dame war, darum scherte sich Lani aber nicht. Sie genoss es, täglich vor dem Frühstück kniefrei ihre Bahnen zu schwimmen, zwar nicht in Salzwasser, wie sie es von zu Hause gewohnt war, aber immerhin in einem angenehm temperierten Becken und in einem Ambiente, das sie eher an ein römisches Thermalbad als an das Schwimmbad eines Ozeanriesen erinnerte.
Richtig amüsant war es, die Damen in den Umkleidekabinen zu beobachten. Wie genant sie sich mit Handtüchern verhüllten. Wer auf Hawaii aufgewachsen war, für den war es befremdlich, wenn jemand seinen Körper versteckte und vor Schreck bleich wurde, wenn aus Versehen ein Handtuch zu Boden ging. Einmal hatte Lani es während der Überfahrt sogar gewagt, sich nackt zu duschen. Das war so lange gut gegangen, bis sie nicht mehr allein in den Duschräumen gewesen war. Wie eine Aussätzige hatten sie zwei Mitreisende der zweiten Klasse angestarrt, ein »Pfui« in den Augen und mit sichtlich aufsteigendem Unbehagen. Seither redete man über sie. Die kleinen Sticheleien reichten von »Was kann man auch anderes von einer Wilden erwarten« bis hin zu »Andere Länder, andere Sitten«, auch wenn sie damit sicher »Unsitten« meinten.
Das Schwimmbad im pompejanischen Stil, wie der Bademeister ihr erklärt hatte, reichte über drei Decks. Gleich zwei Treppen führten in ein gefliestes Becken. Das Karomuster des Bodens fand sich an den geriffelten Säulen wieder, zwischen denen Steinbänke zum Ausruhen oder Beobachten einluden. Letzteres nahmen für gewöhnlich Willi und Hans in Anspruch, und wen sie beobachteten, war klar: die »schönste Blume Hawaiis«, wie Willi sie schon kurz nach dem Auslaufen aus New York genannt hatte. So ein Charmeur und seines Zeichens Fabrikant. Mit seiner Hamburger Möbelmanufaktur, die sich auf Nussbaum- und Jugendstilmöbel spezialisiert hatte, hätte er sich gar nicht brüsten müssen, um bei ihr Eindruck zu schinden. Seine Prahlerei war aber typisch für Männer, die sich hinter Schnurrbärten versteckten. Er sah trotzdem gut aus und war ein recht geistreicher Zeitgenosse. Das reichte doch, oder etwa nicht?
»Moin, moin, Fräulein Lani. Wie geht es Ihnen heute Morgen?«, kam prompt, als sie das andere Ende des Beckens erreicht hatte und vor ihm die exotische Meerjungfrau gab.
»Bestens, Willi«, gab sie zurück.
Vor sich hatte Lani schöne und gepflegte Füße, die zu kräftigen Waden und trainierten Oberschenkeln gehörten. Er verdankte sie regelmäßigem Radsport. Willi hatte ihr das unaufgefordert bei ihrer ersten Begegnung im Schwimmbad erzählt, weil sie wohl auffällig lange auf seine Beine gestarrt hatte. Natürlich nicht, weil sie so wohlgeformt und muskulös waren oder man sich vom Wasser aus nach oben blickend ausmalen konnte, dass sich Imposantes im Schritt hinter dem eng anliegenden gestreiften Badeanzug verbarg. Seine weiße Haut hatte sie fasziniert, die dunklen Haare, die darauf lagen. Das gab es in ihrer Heimat nicht.
»Was ist los mit Ihnen? Warum schwimmen Sie nicht?«, wollte Lani wissen, weil ihr aufgefallen war, dass er heute noch kein Wasser abbekommen hatte.
»Ach, ich konnte mich noch nicht aufraffen«, erklärte er.
»Wie wäre es mit einem kleinen Wettschwimmen?« Unzählige hatten sie ja bereits hinter sich.
Willi zuckte etwas ratlos mit den Schultern.
»Sie sind doch nicht etwa krank?«, fragte Lani verschmitzt.
»Nur etwas melancholisch«, gestand er und lächelte.
Lani ging es genauso, auch wenn sie sich auf Bremerhaven freute. Seine und die Gesellschaft anderer Mitreisender würden ihr sicher fehlen.
»Aber Sie wissen ja, Sie und Ihre Mutter sind jederzeit in Hamburg willkommen«, sagte Willi.
Lani nickte, obwohl sie nicht wusste, ob sie überhaupt Zeit dazu hatten, Hamburg einen Besuch abzustatten. Es wäre aber lohnend, denn Willi hatte ihr in Aussicht gestellt, für ihn zu arbeiten. Dass sie neben Deutsch und Hawaiianisch auch noch Englisch und fließend Französisch sprach und seit einigen Jahren im Handel für Hackfeld tätig war, der über die Grenzen Hawaiis hinaus einen guten Ruf genoss, hatte sich bei abendlichen Tischgesprächen an Bord bereits herumgesprochen. Das preußische Reich war die Welt. Berlin hatte Paris und London schon lange den Rang abgelaufen – so viel wusste Lani aus Zeitungen und Illustrierten. Hawaii hingegen lag am anderen Ende der Welt, auch wenn es ihr dort an so gut wie nichts mangelte – bis auf Abenteuer und Vielfalt, Kultur, Theater und prickelnde Inspiration, wie es sie nur in europäischen Metropolen gab. Im Vergleich dazu war Honolulu doch ein Nest, machte sich Lani wieder einmal klar.
»Lani, Sie sagen ja gar nichts«, stellte Willi fest.
Lani war in Träumereien geraten, wie so oft auf dieser Überfahrt. Am Ende hatte sie auch nur seine Melancholie angesteckt. Das war kein Wunder, denn sie waren nun schon seit Wochen unterwegs. Erst auf der Australia, dem »Fährschiff« von Honolulu nach San Francisco, dann mit der transkontinentalen Eisenbahn quer durch die Vereinigten Staaten. Lani schwirrte in Gedanken daran der Kopf. So viele Eindrücke, so viele interessante Begegnungen. Und wie faszinierend war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie die Amerikaner, allesamt Einwanderer, es nannten. Und doch verblasste selbst eine Metropole wie San Francisco gegen die Aussicht, endlich deutschen Boden zu betreten. Denn dort schlug der Puls der Zeit.
»Lani«, hallte es von den schmiedeeisernen Treppen herunter, die zum Schwimmbad führten.
»Ah, da ist ja Clara«, kommentierte Willi. Auch bei ihrer Mutter hatte er versucht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Dass sie nicht im Badekleid nach ihr Ausschau hielt, erinnerte Lani daran, dass sie eigentlich schon längst zurück auf ihrer Kabine hätte sein müssen, um dann gemeinsam das Frühstück einzunehmen.
»Sehen wir uns zum Lunch?«, fragte Willi. Sein Schnurrbart kräuselte sich für gewöhnlich, wenn er sie anlächelte.
»Vielleicht«, gab sie unverbindlich zurück. »Ja, ich komme«, rief sie dann in Richtung ihrer Mutter und wandte sich von Willi ab, um die letzte Bahn an Bord dieses Schiffs zu schwimmen.
Auch nach knapp zweiwöchiger Überfahrt von New York mit Ziel Bremerhaven hatte Lani sich immer noch nicht an die Größe des Imperator gewöhnt. Es waren recht lange Wege von der Kabine bis zum Speisesaal der jeweils gebuchten Klasse. Auch daran, dass Kaiser Wilhelm II. dem Ozeanriesen wenige Wochen nach dem Untergang der Titanic einen männlichen Namen gegeben hatte und das Schiff entgegen dem Sprachgebrauch auch als männlich anzusehen war, musste man sich gewöhnen. Mehr als nur einmal war Lani »die Imperator« herausgerutscht, was Mutter stets sofort berichtigt hatte. Auch wenn Lani den Kaiser nur vom Hörensagen und aus Zeitungsberichten kannte, passte das größte Schiff der Welt auch Mutters Ansicht nach perfekt zum deutschen Regenten. Es regierte die Weltmeere – Wilhelms Traum. Viertausend Passagiere fanden darauf Platz. Dazu kamen noch über eintausend Mann Besatzung. Um die vierzig Millionen Mark soll es gekostet haben. Dass es nach Auskunft des Kapitäns zweihundertachtundsechzig Meter lang und dreißig Meter breit war, hatte sich Lani schon beim ersten Rundgang erschlossen – vielmehr auf dem Weg durch wahre Irrgärten der vielen Decks, die den Komfort eines Grandhotels boten. Ein Frühstücksbuffet aus dem Hause Ritz-Carlton, das auch am Abend für kulinarische Genüsse sorgte, gehörte genauso dazu wie eine Besatzung, die einem beinahe jeden Wunsch von den Lippen ablas.
»Ich freu mich jetzt schon auf die Rückfahrt«, sagte ihre Mutter auf dem Weg zum Frühstückssaal unvermittelt, auch wenn sie noch vor wenigen Minuten gemeinsam mit Lani an Deck nach Land, ihrer alten Heimat, Ausschau gehalten hatte. Während der ganzen Überfahrt war kein Tag vergangen, ohne dass sie immer wieder sagte, wie sehr sie Hawaii, Komo und ihre Plantage vermisste.
Lani war froh, dass sie ein sogenanntes »Open Return«-Ticket hatten und daher an keinen zeitlichen Rahmen gebunden waren. Auch wenn sie offiziell nur hier waren, um Onkel Friedrichs Erbe abzuwickeln und die Luft der alten Heimat zu schnuppern, liebäugelte Lani damit, länger zu bleiben.
»Ich werde das leckere Frühstück vermissen«, räumte Lani daher augenzwinkernd ein, als sie in einen langen Korridor einbogen, der zum Speisesaal der zweiten Klasse führte.
»Nur das Frühstück?«, fragte Clara spitzfindig nach.
Lani wusste genau, worauf ihre Mutter anspielte. Oft genug hatte sie sie auf ihre Männerbekanntschaften an Bord gleich zweier Schnelldampfer und während der Eisenbahnfahrt angesprochen, obwohl sie selbst ebenfalls nicht wenige Komplimente eingeheimst hatte. Das war auch kein Wunder, weil Mutter trotz erster grauer Haare nach wie vor eine bildhübsche Frau war. Die hohen Wangenknochen und ebenen Gesichtszüge hatte Lani von ihr, die Mandelaugen von ihrem Vater – eine für viele Männer unwiderstehliche Mischung.
»Die werden Spalier stehen, wenn wir von Bord gehen«, fuhr Clara fort.
»Ach was …«, versuchte Lani abzuwiegeln, auch wenn es sie just aus diesem Grund ein wenig vor dem Abschied graute. Schließlich hatte sie die Einladungen und geschäftlichen Angebote, hinter denen ganz gewiss viel mehr steckte, nicht per se abgelehnt. Gerade aus diesem Grund hatte es sich als alles andere als leicht erwiesen, keine Eifersüchteleien zu provozieren, wenn Hans und Willi – neben anderen – in Gemeinschaftsräumen auf sie getroffen waren. Nur der Kontakt zu Hans war unvermeidlich, weil er genau wie sie nur ein Ticket zweiter Klasse hatte und sie sich fast täglich im Speisesaal begegneten. Lani überraschte es daher nicht, dass Hans bereits am Eingang zum Restaurant auf sie wartete, auch wenn er sich, um Beiläufigkeit bemüht, mit zwei älteren Damen unterhielt, die Lani bereits vom Sehen her kannte. Schmuck war er ja, der Mann, der vom Schmied zum Millionär geworden und vor allem in den letzten Tagen damit beschäftigt gewesen war, weiter an seinem Glück zu schmieden – und zu dem gehörte zweifelsohne auch Lani.
»Er hat sich ja ganz schön in Schale geworfen«, kommentierte Mutter, der Hans’ Interesse natürlich nicht entgangen war. »Du brichst dem armen Kerl noch das Herz«, sagte sie dann noch.
Mutter hatte gut reden. Wie man mit Geschäftsleuten umzugehen hatte, die reges Interesse an einem zeigten, war ihr sozusagen in die Wiege gelegt worden. »Männer haben immer Hintergedanken. Man muss sie für eigene Zwecke instrumentalisieren«, hatte es oft genug geheißen. Zumindest galt das für die hohe Gesellschaft Hawaiis, in die sich Mutter emporgearbeitet hatte. Lani musste sich eingestehen, dass sie auch bei Hackfeld von Mutters Erfahrung profitierte. Im Umgang mit zahlreichen Geschäftspartnern aus aller Welt hatte sich gezeigt, dass man sich als Frau, noch dazu als junge Frau, nur dann Respekt verschaffen konnte, wenn man »die Hosen anhatte«. Das schien die meisten Männer zu verblüffen. Sie klebten dann an einem wie die Fliegen, aber nicht alle waren lästig. Und doch war nie der Richtige dabei gewesen … Aber wer war schon »richtig«? Hans war es jedenfalls nicht, auch wenn seine Augen verrieten, dass er in sie verliebt war. Das schmeichelte einem natürlich, und gerade weil sie seine Gefühle nicht erwiderte, hielt Lani es für besser, während der letzten Stunden der Fahrt keine Rührseligkeiten aufkommen zu lassen.
»Guten Morgen, Clara … Lani.« Hans nickte artig und hielt ihnen prompt die Tür auf.
»Na, Hans. Wie geht es Ihnen?«, fragte Mutter, die genau wie sie gerne das Heft in die Hand nahm.
»Ausgezeichnet«, log der adrette Geschäftsmann offenkundig, denn seine Gesichtszüge erschlafften von einem Seufzer begleitet. »Die letzten Stunden. Mit wem soll ich fortan das Frühstück einnehmen? Wer wird mich morgens inspirieren und mich mit Geschichten aus Ihrer wunderschönen Heimat erfreuen?«, fuhr Hans fort.
»Soviel ich weiß, mangelt es Berlin nicht an Kaffeehäusern und sicher nicht an inspirierender Gesellschaft«, erwiderte Lani keck.
Wieder seufzte er. Diesmal jedoch mit einem Augenzwinkern und einer einladenden Geste, die so viel heißen sollte wie »nach Ihnen«.
Lani wunderte sich, dass frühmorgens schon so viele Mitreisende an den Tischen saßen. Das musste daran liegen, dass sie bald von Bord gingen und wohl jeder versuchte, die letzten Stunden, bevor der Imperator in Bremerhaven einlief, aus vollen Zügen zu genießen.
Hans steuerte zielsicher seinen Stammplatz an, der natürlich gleich neben ihrem lag. Obwohl es beim Frühstück keine feste Sitzordnung gab, hatte es sich eingebürgert, dass alle an bestimmten Tischen Platz nahmen – die Macht des Rituals. Dazu gehörte auch, dass Hans ihnen die Stühle zurechtrückte. Ein echter Gentleman.
»Sehen Sie. Nun haben Sie die Fahrt ja doch überlebt«, meinte er. Hans spielte damit sicher auf ihre erste Begegnung beim Frühstück an. Mutter hatte nämlich mitbekommen, dass der Imperator nicht lange nach dem Stapellauf gekränkt war. Ein Feuer war im Hafen von Hoboken ausgebrochen. Hereingepumptes Wasser hatte für eine Schieflage gesorgt. Angeblich war das dem prachtvollen Ozeanriesen unter Hapag-Flagge schon zwei Mal passiert. Die Konstrukteure hatten den Schwerpunkt des Schnelldampfers falsch berechnet. Er sei topplastig vom Stapel gelaufen. Leichte Holzverschalungen ersetzten nun den schweren Marmor, Korbstühle die massive Bestuhlung. Die Schornsteine hatte man verkürzt, um somit den Schwerpunkt des Schiffs niedriger zu legen. Ein gelungenes Unterfangen, denn seither galt der Imperator als eines der sichersten Schiffe der Welt, wobei das Wort »unsinkbar« seit dem Untergang der Titanic niemand mehr gerne in den Mund nahm.
Nachdem sie der Ober mit der allmorgendlichen Frage, was die Damen wünschten, und einem strahlenden Lächeln begrüßt hatte, war klar, dass Hans genau wie Willi das Frühstück dazu nutzen würde, für einen Besuch bei ihm in Berlin zu werben.
»Wie lange gedenken Sie, in Geestemünde zu bleiben?«, fragte er auch schon.
»Das hängt von einigen Amtsgängen ab. Wir haben viel zu erledigen«, eilte Mutter ihr zu Hilfe, doch Hans ließ nicht locker.
»Wenn Sie helfende Hand benötigen … Sie können mich jederzeit erreichen, auch privat«, meinte er Lanis Einschätzung nach aufrichtig und ohne Hintergedanken. Das lag sicher daran, dass Mutter ihm vom Todesfall in ihrer Familie erzählt hatte. Es war sowieso fraglich, ob sich die »Amtsgänge« so schnell erledigen ließen. Friedrich galt offiziell als ihr Großvater, auch wenn er in Wirklichkeit ihr Großonkel war. Mutter trat also offiziell als Friedrichs Tochter das Erbe an. Die Behörden darüber in Kenntnis zu setzen, dass er nicht ihr leiblicher Vater gewesen und sie seine Nichte war, hätte den Amtsweg nur unnötig verlängert, doch man konnte nie sicher sein, ob er zu Lebzeiten die Sachlage geklärt hatte oder ob es am Ende noch ein Testament gab, das ihre Mutter enterbte. Dass sie nach Hawaii ausgewandert war, geflohen vor ihm, hatte er ihr, soviel Lani wusste, nie verziehen.
»Mein Bruder handelt mit Kaffee, Tee und Gewürzen. Das ist lukrativ. Vielleicht lässt sich das Geschäft Ihres Großvaters in Geestemünde ja weiterführen«, fing Hans an.
»Das ist sehr liebenswürdig, aber ich denke, wir werden alles verkaufen«, sagte Clara mit einer Bestimmtheit, die Lani gar nicht nachvollziehen konnte. Was wäre so schlecht daran? Geestemünde und Bremerhaven waren zwar nicht Berlin, aber eine Möglichkeit, in deutschen Landen Fuß zu fassen.
»Sie möchten wieder zurück ins Paradies, nehme ich an«, mutmaßte Hans.
Mutter nickte. Lani nicht, was Hans sofort registrierte. Er sah sie fragend an. Angesichts Hans’ aufrichtiger Art und angenehmer Reisebegleitung entschloss sich Lani dazu, die Wahrheit zu sagen.
»Ich habe bereits des Öfteren darüber nachgedacht, für einige Zeit im Kaiserreich zu leben, aber sollte ich mir die alte Heimat meiner Mutter nicht erst einmal ansehen?«
»Eine kluge Entscheidung.« Hans kam ihrer Mutter zuvor, die schon dazu ansetzte, etwas zu sagen.
Lani war froh, dass der Ober das Frühstück endlich servierte, und sie gedachte, es zügig zu sich zu nehmen. Sosehr sie Hans auch mochte, seine spürbare Melancholie passte nicht zu ihrer Vorfreude auf den alten Kontinent, der zum Greifen nah lag.
»Sehen wir uns später im Wintergarten? Teatime?«, kam noch, bevor Lani sich das letzte Stück ihres Marmeladentoasts einverleibt hatte.
»Vielleicht«, war ihre Antwort, die schon zum Standard an Bord geworden war. Zumindest wusste Lani nun, welchen Raum sie gegen Nachmittag zu meiden hatte.
Das Kabinenmädchen brachte die letzten Sachen, die sie noch zu packen hatten: Unterwäsche, ein Nachthemd und zwei Kleider, natürlich perfekt gebügelt wie auch die Tage zuvor. Dafür hatte sie sich ein ordentliches Trinkgeld verdient. Ob fünf Dollar wohl reichten? Lani wusste, dass das viel war auf Hawaii. Deutsche Mark hatten sie keine. Das Zimmermädchen freute sich dennoch.
»Der gute alte Koffer …« Mutter seufzte, als sie ihren Lederkoffer schloss und ihn mit zwei Riemen fest verzurrte. Soviel Lani wusste, war sie mit ihm vor zweiundzwanzig Jahren ausgewandert. Sie hatte ihn vermutlich aus purer Melancholie mitgenommen. Zwei weitere Gepäckstücke waren abreisebereit. Lani schloss ihre Reisetasche.
»Damit umherreisen? Wenn wir hier wenigstens eine Kutsche hätten«, sagte Mutter und blickte auf die vier Gepäckstücke.
»Gepäckträger gibt es überall. Droschken und Automobile, Busse … Mama. Du suchst doch nur nach einer Ausrede, um die ganze Zeit in Bremerhaven zu bleiben.«
»Unser Budget wird nicht für eine Rundreise reichen«, wandte sie ein.
»Und die Erbschaft?«, gab Lani zurück. Zumindest war das der Plan, denn ihre Ersparnisse hatten allein schon die Tickets für die Überfahrt auf dem Imperator gehörig angegriffen.
»Ich kann dich ja verstehen. Mir ging es früher nicht anders«, meinte Mutter versöhnlich.
»Also fahren wir doch nach Berlin. Vielleicht Paris? Wenn wir schon einmal hier sind. Der Eiffelturm, den wolltest du doch auch mal sehen …« Die Augen ihrer Mutter fingen glatt an zu leuchten – unverkennbar. Oft genug hatte sie ihr davon erzählt, dass sie von jeher davon geträumt hatte, ein Mal im Leben nach Paris zu reisen, um dieses Bauwerk zu sehen.
»Wir werden sehen …«, sagte Clara. Lani interpretierte das jedenfalls als ein »Ja«.
»Und was machen wir jetzt bis zur Ankunft?«, fragte ihre Mutter mit besorgtem Blick nach draußen. Regentropfen fingen sich am Bullauge. Aus dem geplanten Spaziergang an Deck wurde nichts. Der Wintergarten schied aus, auch wenn sich Lani auf der Überfahrt bei schlechtem Wetter dort am liebsten aufgehalten hatte. Vielleicht lag das an den dort in riesigen Blumentöpfen aufgestellten Palmen, die sie an die Heimat erinnerten. Hans würde dort sicher auf sie warten. Außerdem schloss das Restaurant über eine kleine Treppe direkt an den Wintergarten an. Dort speiste die erste Klasse und somit der gute Willi, wenn er es sich nicht gerade im Rauchzimmer gemütlich machte. Obwohl dies an sich kein Männerzimmer war, verirrte sich keine Frau dorthin. Wer wollte sich schon dem süßlichen Duft von allerlei Tabaksorten und den Dunstschwaden aussetzen, die bis hinaus auf den Gang zogen?
»Lass uns ins Lesezimmer gehen«, schlug Lani daher vor, auch wenn sie ihren Vorrat an Büchern bereits gelesen hatte und es sich nicht mehr lohnte, ein neues Buch aus der bordeigenen Leihbibliothek anzufangen. Es lag ja nicht weit von ihrer Kajüte entfernt und war auch für Passagiere der zweiten Klasse zugänglich.
Es war kein Wunder, dass das sogenannte Schreib- und Lesezimmer zugleich »Damensalon« genannt wurde. Es schien ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass dies ein Refugium für Frauen war. Der Raum wirkte wie ein königliches Schloss. An den Wänden hingen elektrische Chandeliers. Zwischen großzügigen Fenstern, in die Tageslicht fiel, schmückten riesige Gemälde den Raum, in dem unzählige kleine Tische, Stühle und bequeme Sessel kreuz und quer herumstanden. Sie waren so gut wie alle belegt. Anscheinend sammelte man sich hier, tauschte sich noch einmal aus oder sagte »Au revoir« zu netten Reisebekanntschaften, die man auf längeren Reisen zwangsläufig schloss. Soweit Lani das erkennen konnte, waren gerade mal zwei Tische frei. Sie hatten also die Wahl zwischen den Krüger-Schwestern und der alten Pfeifer mit ihrer Tochter. Letztere hatte Lani schon bei der Abfahrt schief angesehen und wollte alles darüber wissen, wie es sich anfühlte, ein Mischlingskind zu sein. Darauf hatte Lani nicht die geringste Lust.
»Zu den Krügers?« Mutter nahm ihr die Worte aus dem Mund, auch wenn sie sich damit zwangsläufig zwei Quasselstrippen aussetzen mussten. So kam es dann auch.
»Nichts ist vortrefflicher als die wilhelminische Gesellschaftsordnung«, tönte Hendrika Krüger, die ältere der beiden Schwestern, eiserne Jungfern, wie Mutter in Erfahrung gebracht hatte. Sie durften Ende vierzig sein, trugen dunkle Kleider mit aufgebauschten Puffärmeln, deren halshoch enge Kragen vermutlich Atemnot verursachten, wenn man nicht unentwegt kerzengerade dasaß und seinen Hals streckte. Sie taten es. Mit Sicherheit trugen die beiden auch noch ein Korsett, das sie aber weder am Atmen noch am Reden hinderte. Es war wohl nicht eng genug. Die beiden Schwestern wirkten wie aus einer anderen Zeit, was heute besonders auffiel, weil um sie herum modern gekleidete Damen saßen – fast ausnahmslos der Tangomode verfallen. Lani liebte die modernen Röcke, die oben an der Hüfte so gefaltet waren, dass sie sich zum Saum hin verengten und, um die Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, zu einem Schlitz aufsprangen, wenn man schneller ging. Es sah einfach gut aus – auch ohne Ausfallschritt dieses lateinamerikanischen Tanzes, den sie vor einigen Abenden im Gesellschaftsraum dargeboten bekommen hatten. Themen wie die aktuelle Mode waren für die Krüger-Schwestern jedoch gänzlich ungeeignet. Der kleinste gemeinsame Nenner waren wirtschaftliche Angelegenheiten. Die beiden reichen Erbinnen eines Bankdirektors ereiferten sich aber noch viel lieber über politische Themen, obwohl diese wohl eher ins Raucherzimmer passten. Die Krügers hätten jeden Mann an die Wand geredet, oder man hätte sie verhaftet wie diese Suffragetten, die in England für ihre Rechte kämpften.
»Clara und Lani. Wie schön, dass wir Sie noch einmal sehen«, begrüßte sie Wilhelmina. Den richtigen Namen hatte sie ja. Es fehlte nur noch der Bart. Auch Hendrika schenkte ihnen ein erfreutes Lächeln – eher ihrer Mutter, denn sie hatte die beiden sichtlich beeindruckt. Eine Frau, die allein in der Fremde ihr Glück versucht, sich gegen das Etablissement stellt und eisern ihren Weg geht, um eine Zuckerrohrplantage zu führen, schindete bei Frauen dieses Formats natürlich Eindruck. Mutters Kontakt zum Königshaus und alles, was mit dem Putsch und dem Imperialismus der Vereinigten Staaten zu tun hatte, fiel bei den beiden auf fruchtbaren Boden. Das Merkwürdige war, dass in deutschen Landen niemand davon Notiz genommen hatte, fast so, als sei es gar nicht geschehen.
»Setzen Sie sich doch zu uns«, bot Hendrika an.
»Ich bestelle uns gleich noch Tee«, sagte Wilhelmina.
Clara vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, ob Lani das recht war.
Sie nickte.
»Sie können es sicher kaum erwarten, die Heimat Ihrer werten Mutter kennenzulernen«, sagte Hendrika.
Und wie sich Lani darauf freute. Einer Antwort bedurfte es gar nicht mehr. Ihr Strahlen genügte.
»Sie werden sehen, in den letzten zwanzig Jahren hat sich viel verändert«, meinte Wilhelmina an Mutter gerichtet.
»Hoffentlich zum Guten«, sagte Clara.
»War es denn so schlecht, als Sie seinerzeit ausgewandert sind?«, wollte Hendrika wissen.
»Den Reichen ging es gut, aber die Arbeiter mussten um ihr Überleben kämpfen. Viele sind nach Amerika.«
»Das war ein Fehler«, konstatierte Wilhelmina, und was dann kam, war zu erwarten – die üblichen Lobeshymnen auf das Kaiserreich: »Mittlerweile ist das Reich die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Wir haben die geringste Arbeitslosigkeit. Breiter Wohlstand. Die Engländer und Franzosen beneiden uns dafür«, referierte sie mit Stolz und Patriotismus.
»Wir sind das fortschrittlichste Land der Welt«, ergänzte Hendrika. Es war klar, dass Mama dies nicht unkommentiert im Raum stehen lassen konnte. In Sachen Fortschritt brauchte sich Hawaii nämlich nicht zu verstecken, und das nicht nur, weil es eines der ersten Länder war, in denen man zum Telefonieren keine Vermittlung seitens des Amts mehr brauchte.
»Aber die Deutschen haben immer noch eine konstitutionelle Monarchie. Das ist doch nicht mehr zeitgemäß«, warf Clara prompt ein. Lani wusste, dass ihre Mutter das nur tat, um die beiden etwas zu provozieren, denn wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte Hawaii auch heute noch eine Königin.
»Ist das denn so viel besser als eine Republik, die letztlich von den Amerikanern wie eine Marionette ferngesteuert wird?« Wilhelmina hatte sich Mutters Ausführungen über die Ereignisse auf Hawaii vor zwanzig Jahren anscheinend gut gemerkt. Diese Karte musste sie ausspielen und traf Mutter damit mitten ins Herz. »Und überhaupt. Wo kämen wir denn da hin, wenn das gemeine Volk über das Schicksal eines Landes bestimmen dürfte«, schob Hendrika noch nach – ein Eigentor. Mamas Motor lief daraufhin warm.
»Das gemeine Volk? Sagt man dem Reich nicht das beste Schulsystem der Welt nach? Volksschule, Realschule. Nur ein Prozent Analphabeten? Die vielen Tageszeitungen und Zeitschriften für jedermann, und wenn ich mir überlege, einundzwanzig Nobelpreise für wissenschaftliche Arbeiten allein an Forscher aus dem Kaiserreich.« Auch Mutter hatte sich, so wie es aussah, jedes Wort von Wilhelmina gemerkt. Das brachte ihr Gegenüber für einen Moment zum Verstummen. Sie nippte etwas pikiert an ihrem Tee.
Lani fiel nun ein, was Wilhelmina noch alles in diesem Zusammenhang vor ein paar Tagen berichtet hatte. Angeblich war Berlin das Weltzentrum der Physik. Hatte Wilhelmina nicht von einer Nation »im Rausch der Erkenntnis« gesprochen und dass die Verbreitung der technischen Wissenschaften jedes Deutschen Pflicht sei? Mutter verkniff es sich oder hatte es wohl nicht mehr parat.
Hendrika lenkte jedenfalls ein. »Wahrscheinlich haben wir früher oder später auch eine Republik. Das ist der Lauf der Zeit«, sagte sie, wofür sie unverzüglich einen vorwurfsvollen Blick ihrer Schwester erntete.
Lani amüsierte sich nach wie vor über diese Art von Gesprächen. Ihre Mutter und Wilhelmina liebten es, sich gegenseitig zu provozieren. Letztlich war aber niemand dem anderen böse, so wunderte es Lani keineswegs, dass Hendrika erst nachdenklich in die Runde blickte und dann versuchte, beide Seiten versöhnlich auf einen Nenner zu bringen.
»Es stimmt schon. Die Deutschen sind mündig, einerseits«, sagte Hendrika mit Blick auf Mutter. »Aber der Deutsche ist der geborene Untertan. Ich glaube, er wäre in einer Republik gänzlich überfordert.«
Wilhelmina nickte, aber schulterzuckend.
Nun wechselte Hendrika das Thema: »Das Gebäck ist vorzüglich.« Der Exkurs in die Politik war somit beendet.
Lani rechnete damit, dass sie sich nun, wie bereits am Vortag, die schönsten Erlebnisse der Überfahrt in Erinnerung rufen würden. Ein schöner Abschluss der Reise. Lani hörte dem gerne zu, auch wenn sie in Gedanken bereits Unter den Linden in Berlin war. Ihr verklärter Blick passte zu den Episoden der Reise, auch wenn er nichts mit Melancholie, sondern der Sehnsucht nach aufregenden Tagen zu tun hatte.
Der Imperator war dem alten Kontinent bereits auf der Fahrt durch den Ärmelkanal nahe genug gekommen, um sich an schier endlose Landmassen zu gewöhnen. Für jemanden, der sonst nur die Anfahrt auf überschaubare Inseln kannte, war das ein einzigartiges Erlebnis. Lani hatte Stunden an Deck verbracht, um Blicke auf die französische, belgische und holländische Küste zu erhaschen – auch auf die schroffen Kalkfelsen Englands, weil sie an Dover vorbeigefahren waren. Vor ihr lag »die Welt«, auch wenn Mutter stets versuchte, ihr klarzumachen, dass das mit »der Welt« relativ zu sehen war. Nicht alles war dort besser. Für Lani schon. Wie weggewischt schienen die vielfältigen und aufregenden Eindrücke der letzten Wochen, ob die endlosen Steppen Amerikas oder die quirligen amerikanischen Metropolen, die sie durchquert hatten. Im Licht der Abendsonne lag die Küste des Kaiserreichs vor ihr. Das war viel aufregender.
Die See war deutlich ruhiger geworden. Der Regen hatte sich verzogen. Es gab so gut wie keinen Passagier, der es unter Deck ausgehalten hätte. Das war aber auf langen Seereisen so üblich. Man sehnte sich nach Land, auch wenn der Imperator einem nie das Gefühl gab, eingeengt zu sein.
Spätestens als sich das Salz- mit Süßwasser vermischte und die Weser die Nordsee küsste, wurde Lani klar, dass sie in einer ganz anderen Welt angekommen war. Keine steilen Felsen, keine schier endlosen Palmenreihen. Das Grün der Wälder war viel satter und dunkler. Hier gab es fruchtbares Ackerland, Bauernhäuser und viel Fachwerk, wie ihr Mutter geschildert hatte. Die Landhäuser sahen einladend aus, die dazugehörigen Gärten, in denen es genauso bunt wie in der Heimat blühte, verspielt und gepflegt.
»Da vorn. Siehst du die Apfelbäume?«, rief Mutter ihr gegen den Fahrtwind zu. Lani kannte sie nur von Gemälden und Fotografien.
»Da möchte ich mir jetzt einen pflücken und reinbeißen …« Mutter seufzte. Obst dieser Art gab es für gewöhnlich auf Hawaii nicht. Soweit sich Lani erinnerte, hatte sie bisher nur wenige Äpfel zu sich genommen – Importware aus Amerika.
»Frische Birnen, Stachelbeeren, Himbeeren, Kirschen … die leckeren Marmeladen …« Mutter redete sich in Verzückung, während ihr Blick an vorbeiziehenden Obstplantagen haften blieb. Einmal kulinarisch eingestimmt, wunderte es Lani nicht, dass die ersten Stadthäuser, aus deren Schornsteinen es rauchte, weitere Köstlichkeiten aus deutschen Landen heraufbeschworen. Schon schwärmte Mutter von Hirschragout mit Preiselbeeren, Kaninchenbraten und Sauerkraut mit Kassler, gepökeltes Schweinefleisch wie ihr Mutter auf Nachfrage erklärt hatte. Lani konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass man Hirsche hierzulande aß, von possierlichen Kaninchen ganz zu schweigen.
Dummerweise hatte sich Hans klammheimlich zu ihnen an die Reling gesellt und Mutters Schwärmereien über die gute deutsche Küche mit angehört.
»Meine Haushälterin macht den besten Kaninchenbraten von Potsdam«, schwärmte er. Sein Wink mit dem Zaunpfahl fand bei Mutter Anklang.
Lani nahm sich vor, sich Hans’ Angebot gut zu merken, falls ihre Mutter wieder einmal versuchen sollte, ihr eine Reise nach Berlin auszureden.
»Hier hat sich so viel verändert«, merkte Mutter mit Blick auf die Stadt an, die weseraufwärts an ihnen vorbeizog.
»Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit«, meinte Hans, dem Mutter vor ein paar Tagen beim Frühstück von ihrer abenteuerlichen Auswanderung nach Hawaii erzählt hatte.
Lani hatte auch das Gefühl, etwas gänzlich Neues zu entdecken. Ihr waren imposante Steinhäuser nicht neu, aber es gab sie nur in Honolulu, und sie gehörten meist den Geschäftsleuten. Die Häuserfronten hier sahen aber gänzlich anders aus als in der Heimat. Auf den Back- oder Sandsteinhäusern lagen rote Dachziegel. Andere Häuser zierten Kupferdächer. Einige waren sogar mehrstöckig, und je näher sie dem Hafen kamen, desto herrschaftlicher wurden sie. Die Fassaden waren farbig und mit Reliefs verziert. Erker, Türmchen und Schornsteine ließen das eine oder andere Stadthaus wie ein kleines Schloss erscheinen.
»Wo werden Sie wohnen?«, fragte Hans neugierig.
»Im Karlshof«, antwortete ihre Mutter wahrheitsgemäß, vermutlich weil sie wusste, dass dringliche Geschäfte auf Hans in Berlin warteten. Sonst hätte er es am Ende noch als Einladung verstanden und sich dort einquartiert.
Die ersten Kräne des eher schmucklosen Hafenbeckens türmten sich vor ihnen auf. Die Anlegestellen waren mächtig und ragten weit in das Hafenbecken hinein. An ihnen lagen zwei Großsegler und ein Dampfer. Daneben Fischerboote, Kutter und kleine Segler, die sich mit Sicherheit in privater Hand befanden. Etwas abseits sah Lani einen Koloss aus Stahl mit zwei Aussichtstürmen und mächtigen Kanonen.
»Wenn uns das mal nicht zum Verhängnis wird«, sagte Hans, der ihrem Blick gefolgt war.
Lani kannte diesen Schiffstyp aus Honolulu. Man nannte sie Kanonenboote oder »graue Ungetüme«. Sie waren mit Annexion des Inselkönigreichs über Hawaii hergefallen und gehörten mittlerweile zum Hafen wie die einheimischen Fischerboote … Aber was machten die hier?
»Wollen die Amerikaner jetzt etwa auch noch Europa annektieren?«, fragte sie prompt an ihre Mutter gerichtet.
Hans antwortete an ihrer Stelle: »Die Kaiserliche Marine. Kriegsschiffe. Man sagt, der Kaiser sei extrem emotional und geltungsbedürftig«, erklärte er mit sorgenvoller Miene.
»Vermutlich unterwerfen sie damit die Kolonien in Afrika, genau wie die Engländer und die Franzosen«, sagte Clara.
Mutter könnte damit recht haben. Die Zeitungen waren voll mit Berichten über die Kolonien und den Wettstreit um den »Platz an der Sonne«, wie es so schön hieß. Auch Hackfeld profitierte letztlich davon. »Weltweiter Handel« hieß es immer und »günstige Rohstoffe«.
»Ich glaube nicht, dass es diesmal um die Kolonien geht«, sagte Hans.
»Etwa Krieg in Europa?«, fragte Mutter sogleich nach und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Man sagt, Wilhelm will die größte Flotte haben. Den Engländern passt das nicht. Einige glauben, es könnte daher Krieg geben«, erklärte Hans.
»Das ist doch Unsinn. Wer sollte denn Krieg führen wollen und gegen wen?«, wandte Mutter ein.
»Die Deutschen und die Österreicher gegen den Rest der Welt. Auf dem Balkan brodelt es. Das passt den Russen nicht. Der Kaiser nimmt sich einfach zu viel heraus.« Hans’ Miene war dabei ungewohnt ernst geworden.
»Kaiser Wilhelm führt doch keinen Krieg gegen seine beiden Cousins. Die haben doch erst letztes Jahr die Hochzeit von Viktoria Luise gefeiert, Willy, Georg und Niki«, hielt Mutter dagegen.
Lani war sofort im Bilde. Die Hochzeit zwischen der Tochter des deutschen Kaisers und Prinz Ernst August von Hannover war auch auf Hawaii in aller Munde gewesen. Ein wenig beneidete man die Deutschen um das Kaiserreich, erinnerte es doch an gute alte Zeiten. Angeblich sei es eine Liebesheirat gewesen, doch Mutter glaubte, dass sie lediglich der Versöhnung zwischen den Welfen und den Preußen diente, die das Königreich Hannover kurz vor ihrer Geburt annektiert hatten. Mutter war in jener Zeit im Preußischen Reich aufgewachsen und hatte die Auswirkungen der Annexion am eigenen Leib gespürt. Auf makabre Weise hatte sich die Geschichte in der eigenen Familie wiederholt, nur dass Lani die Folgen der amerikanischen Herrschaft in ihrer Kindheit zu spüren bekam. In beiden Fällen hatte dies zum Ende einer Monarchie geführt.
Hans griff Mutters Gedanken auf. Er schien sich auch noch darüber zu amüsieren: »Willy, Georgie und Nicky. Nennen die Amerikaner sie so? Den englischen König und den russischen Zaren? So gesehen werden mir die Amerikaner direkt sympathisch, denn was gerade in der Welt passiert, hat in der Tat etwas von kindlichen Machtspielchen … Ist schon verrückt. Solange Queen Victoria noch lebte, hat sie diesen inzüchtigen Irrenhaufen zusammengehalten … und nun …«
»Inzüchtig?« Hörte Lani da richtig?
»Blaues Blut … Die europäischen Herrscher sind doch alle miteinander verwandt, aber wer weiß, vielleicht bewahrt uns das sogar vor dem großen Knall.«
Hans hatte es geschafft, Mutters Miene erstarren zu lassen. Sie sah unaufhörlich hinüber zum Schlachtschiff der Deutschen. Er konnte einem mit seinem Gerede richtig Angst machen, aber Krieg in Europa? Niemals!