Wo der Bergwald des Melzergrundes steil zur Höhe emporklettert, wo der Eulengrund ins Böhmerland hinüberführt, liegt im Talkessel zu Füßen der Schneekoppe das Gebirgsdorf Wolfshau. Als ob die Hand des Berggeistes Rübezahl willkürlich die Häuschen zwischen Matten und Waldungen über das Gelände ausgestreut habe, ist es in malerischer Unregelmäßigkeit eingebettet zwischen Bergtannen, Föhren und Lärchen. Keine Autohupe stört den Frieden des idyllischen Dörfchens, kaum Wagengeratter. Abseits von der großen Gebirgsstraße Krummhübel-Brückenberg träumt es unbewußt seiner Schönheit wie ein Kind, unberührt von dem fortschrittlichen Verkehr.
Ein munterer Bergbach stürzt sich über Felsgestein und Geröll in den samtgrünen Grund, windet sich zwischen Wiesen und Waldungen durch das Örtchen. Da, wo der Bach das Birkengehölz umschlängelt, liegt ein bescheidenes Häuslein. Vier Stuben und die Küche im Erdgeschoß, ein Mansardenstübchen, ein paar Dachkammern, Ziegen- und Hühnerstall, das ist alles. Ein Dorfhäuschen wie alle andern. Und doch hat es etwas Besonderes, das kleine Haus. Das »Rosenhäusel« heißt es. Feuerrote Rankrosen umklettern es zur Sommerzeit bis hinauf zu dem braunen Schindeldach – eine wahre Pracht. Auch in dem Gärtchen vor dem Hause blüht es während des ganzen Sommers in üppiger Fülle, Rosen über Rosen. Mutter Kleinert hat eine glückliche Hand. Jeder Steckling, den sie setzt, schlägt Wurzel und gedeiht.
Jetzt war es noch kahl, das Gärtchen. Der Rasen war noch feucht vom kaum geschmolzenen Schnee. Die Rosenbäumchen schliefen noch in schützenden Hüllen ihren Winterschlaf. Und doch war der Frühling schon vom Hirschberger Tal bis nach Wolfshau hinaufgewandert. Bärbel spürte ihn mit jedem Atemzug. Wie weich und lind die Luft heute ging. Und dabei der herbe Erdduft, der neues Keimen, neues Werden kündete. Mit kräftigen Armen warf das etwa dreizehnjährige Mädchen die Erdschollen auf. Das Gartenbeet war bereits umgegraben. Fruchtbare Muttererde vom Komposthaufen hatte Bärbel aufgeschüttet. Nun kamen die Rabatten, die den schmalen Weg besäumten, heran. Aufatmend richtete sich Bärbel empor. Frühlingswind spielte in ihrem dunklen Haar.
Wie warm die Sonne heute schien, bis in das Herz hinein leuchtete sie. Die Lippen des Mädchens taten sich auseinander, sie tranken das würzige Wehen. Während die fleißigen Hände wieder zum Spaten griffen, strömte all das Frühlingsglück, das Bärbel erfüllte, in einem Lied aus:
»Wenn's Mailüftl wehet,
Vergeht auf den Bergen der Schnee,
Dann heben die Blauveilchen
Die Köpflein in die Höh.«
Wie Lerchenschlag so hell und rein klang die junge Stimme. Drüben an einem Nachbarhaus öffnete sich ein Fenster. Schuster Hensel spitzte die Ohren. Aha, die Kleinert Bärbel! So wie die sang keine andere.
Inzwischen hatte Bärbel eine Entdeckung gemacht. Die Blauveilchen blühten ja alleweil schon. Dort im geschützten Mauerwinkel schimmerte es blau aus bräunlichem Erdreich und – »Großmuttel, die Veilchen tun halt blühn!« – Jubelnd eilte Bärbel mit den ersten Lenzboten ins Haus.
In der Küche am warmen Herd saß die Großmutter und schälte Kartoffeln. Aus dem schwarzgehäkelten Kopftüchlein, das sie ständig trug, schaute ihr runzliges Gesicht freundlich der Enkelin entgegen.
»Nu, es wird ooch Zeit, Mädel, tu ich meinen, daß der Frühling zu uns in die Berge 'nauffindet. Lang genug hat er halt uff sich warten lassen.«
»Drunten in Hirschberg, spricht der Opitz Hermännel, da sind die Sträucher schon grün und die Kastanien haben schon Knospen«, berichtete Bärbel eifrig weiter, die Katze krauend, die wie die Großmutter ihren Stammplatz am Herd hatte.
»Nu jo jo, nee nee, der Herr Riebezahl, der tut halt hier oben im Gebirge nä 'nausfinden aus seinen Schnäbetten«, kopfnickte die Alte.
»Auf der Koppe hat's noch viel Schnee, Großmuttel und – –«
»Bärbel, mach zu, kumm ooch, Mädel!« erklang die Stimme der am Waschfaß stehenden Mutter dazwischen. »Die Hemden vom Vatel missen haußen uff de Leine, daß die Sonne sie noch trocknen tut. Der Vatel geht morgen frieh ins Gebirge. Da muß er halt frisches Zeug mitnähmen.«
»Gäht's schon wieder los mit a Arbeet uff a Kamm?« erkundigte sich die Großmutter, während Bärbel im Verein mit der achtjährigen Friedel das Wäschekörbchen auf die Wiese hinaustrug.
»Nu freilich«, nickte Frau Kleinert. »Der Hoserweg zur Prinz-Heinrichs-Baude 'nauf muß halt wieder ausgebessert werden.«
»Da kummt er erscht zum Sonntag wieder heeme, der Karle?« erkundigte sich die alte Frau, die Kartoffeln ans Feuer setzend.
»Nu«, war die zustimmende Antwort. »Da hat man schon im Winter mähr von seinem Manne als in a Summer. Wenn und er gäht im Winter mit a Hörnerschlitten uff a Bauden, da tut er doch jäden Tag heemekummen. Jetzt hat man ihn halt nur noch an a Sonntag.«
»Er ist halt gar zu fleißig, der Karle«, nickte die Großmutter.
»Nu, wenn und wir wollen weiterkummen, da heißt's halt arbeeten, und noch amal arbeeten.« Damit rubbelte ihre Tochter auf den Wäschestücken herum.
Bärbel hatte indes geschickt die Flanellhemden des Vaters auf die Leine gebracht. Friedel hatte sich zum Fritzel gesellt, der, dreijährig und pausbackig, mit Mohrle, dem kleinen schwarzen Hunde, im Sonnenschein herumkegelte. Bärbel nahm den Kleinen vorsorglich aus dem feuchten Gras auf, ließ das jauchzende Brüderchen durch die Luft fliegen und setzte es dann in das vom Vater eigenhändig zusammengebaute Wägelchen. Das aber nahm Fritzel übel. Das Jauchzen verwandelte sich in empörtes Geheul. Mohrle begann in das Konzert bellend einzustimmen. Er fühlte sich als Kinderfrau des Kleinen für ihn verantwortlich.
»Bschscht, Fritzel, nu sei auch gutt un brüll auch nicht mehr«, versuchte Bärbel den Schreihals zu beruhigen. »Du, der Herr Riebezahl tut dich hören«, – das war die letzte Zuflucht, wenn ein Kind unartig war. Und wirklich – Fritzel hörte mitten im schönsten Heulen auf und sah mit ängstlichen Blauaugen zur Schneekoppe hinauf. Denn da wohnte der Herr Rübezahl, so hatte die Großmutter den Kindern erzählt.
Die Wiese hinter dem Hause fiel zur Lomnitz, den Wolfshau durchfließenden Gebirgsbach, ab. Über das kleine Brücklein, das hinüber zum Birkenwalde führte, kam hochbeladen eine Reisigkarre. Dahinter tauchte Karls Flachskopf auf. Der Elfjährige, der wie sein Vater hieß, ahnte, daß die Kartoffeln gar waren. Sein gesunder, stets hungriger Jungenmagen hieß ihn sich zur rechten Zeit einstellen. Bärbel half dem jüngeren Bruder die Karre über die Wiese hinaufziehen und das Reisigholz in den Schuppen schichten. Die Kinder waren von kleinauf gewöhnt, mit Hand anzulegen und sich, ihren Kräften entsprechend, nützlich in Haus und Garten zu machen.
Das einfache Mittagessen vereinigte die Kleinertsche Familie um den sauber gescheuerten Holztisch. Mohrle saß mit wohlerzogenem Schwanzwedeln daneben. Er wußte, erst wenn der Hausherr aufgegessen, bekam er sein Teil.
Vater Kleinert war ein schmächtiger, aber sehniger Mann, dunkelhaarig und dunkeläugig. Sein Großvater war von jenseits des Gebirges, aus dem Böhmerland herübergekommen. Außer seinem brünetten Aussehen hatte Vater Kleinert auch die Liebe zur Musik von seinem böhmischen Vorfahr geerbt.
Bärbel war das Ebenbild des Vaters. Unter den kräftigen blondhaarigen Geschwistern wirkte sie mit ihren schlanken Gliedern, den dunkelbraunen Zöpfen und dem bräunlichen Hautton ganz fremdartig. In seltsamem Gegensatz zu dem dunklen Haar strahlten ihre leuchtendblauen Augen, das Erbteil von der Mutter. Auch die musikalische Begabung hatte Bärbel vom Vater. Kein Wunder, daß die beiden mit besonderer Liebe aneinanderhingen.
»Vatel, warum mußte denn wieder die ganze Woche ieber ins Gebirge 'nauf? Bleib' auch da, es hat doch hier unten auch Arbeit genug«, bat Bärbel, den Kopf an des Vaters Schulter lehnend.
»Was du nä alles weeßt, Mädel. Schwäre Arbeet hat's ja oben in a Bergen, aber ooch besseren Verdienst.«
»Nu nä, Karle, alles was rechte is, aber du bist ooch gar zu sähre uff's Verdienen«, meinte die Großmuttel.
»Kindersch, wohär soll das Pferdel denn kummen? Ein Pferdel missen mer haben. Da spart man nu schon das dritte Jahr druf. Aber so a Pferdel is teier. Der Winter war schlecht. Der Schnee kam halt zu späte dies Jahr, wenn die Wintergäste schon furt waren. Und was meint ihr? Tagaus, tagein den schwären Hörnerschlitten selber zu a Kamm 'nufziehen und denn nä amal abwärts immer eene Fuhre, nee, Kindersch, das is keen Vergniegen nich. Ja, wenn und mer haben erst unser Pferdel, da tut man gleich von unten in Krummhiebel oder Brückenberg den Fahrgast ufladen. 'nauf und 'nunter, da gibt's halt doppelte Taxe. Das tut schon andersch schaffen.«
»Nu je, Karle, du wirst schon wissen, was du tust«, warf seine Frau dazwischen, die Teller abräumend.
»Und denn kann man ooch balde dran denken, ufs Häusel abzuzahlen«, spann der Vater seine Zukunftsträume weiter. »Bis die Kinder groß sein, ham mersch am Ende geschafft und's Rosenhäusel is unser.«
»Unser Rosenhäusel tut uns doch schon jetzt gehören, Vatel«, verwunderte sich die Bärbel.
»Nu nä, Kind, nu nä! Wird uns ofte schwer genug, die Pacht zum erschten ufzubringen. Aber wenn wir und wir schaffen's, daß unser Rosenhäusel uns geheeren tut, denn habt ihr Kinder ooch amal 'n Daheeme.«
»Und das schönste im ganzen Dorf!« rief Bärbel mit leuchtenden Augen dazwischen.
»Mußt halt den Herrn Riebezahl bitten, Vatel, daß er dir einen Stein in Gold verwandeln tut«, riet der Sohn, der noch den Kopf voller Rübezahlmärchen hatte.
»Nu, Karle, das wär' su was. Das kennt ich mir loben. Ich tu auf einen Stein am Weg herumhämmern, und denn ist's halt blankes Gold. Nu nä, Jungele, so freigiebig ist der Herr Riebezahl nimmermähr. Der hilft halt nur dem Fleißigen«, lachte der Vater.
»Ich werde diesen Sommer fleißig Pilze, Himbeeren und Preiselbeeren sammeln, Vatel. Die Fremden kaufen sie gerne. Und die Rucksäcke können der Karle und ich den Touristen auch in die Berge 'naufschleppen und auf den Tennisplätzen die Bälle aufklauben«, überlegte Bärbel. »Paß auf, Vatel, wenn wir im Sommer gutt vermieten, dann können wir am Ende schon zum nächsten Winter das Pferdel anschaffen. Dann brauchst du nicht mehr selber den schweren Hörnerschlitten ins Gebirge 'naufzuziehen.«
»Du bist halt meine gutte Tochter«, sagte der Vater und ließ einen Augenblick liebevoll die schwielige Hand auf Bärbels dunklem Scheitel liegen. Für mehr Zärtlichkeit war man nicht im Rosenhäusel.
»Vatel, tuste die Zither mitnehmen?« fragte Bärbel erschreckt, als der Vater seine Zither in ein großes, rotbedrucktes Taschentuch einschlug.
»Nu jo jo, sie wullen halt immer gerne abends in a Schutzhütte a Liedel heeren, die Kameraden. Uff a Sonntag spielen und singen wir beeden dann, Bärbele. Wir holen's schon nach, Kind.«
»Nimm ooch ruhig die Musike mit, Vatel«, meinte die ab und zu gehende Mutter. »Wenn und das Mädel hat die Zither alleene für sich, nachhär vergißt sie dir halt alles andere drieber.«
»Ich tu schon meine Arbeit machen, Muttel. Da muß ich halt zum Opitz Hermännel gehn, wenn der Vater die Zither mitnehmen tut. Der Hermännel erlaubt, daß ich mir auf seinem Klavier die Melodien zusammensuche.«
»Und was sagt sein Vatel dazu?« fragte die Mutter. »Dem Herrn Lährer wird's nä rechte sein, wenn du ihm uff seinem Klavier rumhämmern tust.«
»Der Herr Lehrer hat neulich gesprochen, es wär' halt schade um meine musikalische Begabung und er würde mir gerne Unterricht im Klavierspielen geben wie dem Hermännel. Der Hermännel hat mir's wiedererzählt.«
»Da hat der Hermännel halt seinen Spick mit dir gemacht, Mädel. Der wullt' dich zum besten haben. Du und Klavierspielen! Gäh ooch und gib der Ziege frisches Futter und dann spiel die Wäsche unten an a Bache. Das paßt besser fier dich, Mädel.«
»Der Hermännel hält mich nicht zum besten«, behauptete Bärbel, lebhaft den dunklen Kopf schüttelnd. Dann aber kam sie sogleich den Anordnungen der Mutter nach. In der Stubentür drehte sie sich noch einmal zurück: »Vatel, der Herr Lehrer hat heute in der Schule gesagt, er möchte dich halt mal sprechen. In den nächsten Tagen, meinte er – – –.«
»Nu, da spring ooch amal ins Schulhaus mit ran, Bärbele, und sag halt, daß ich jetzt Arbeet in a Bergen habe. Gewiß will er was zurechtegemacht haben, der Herr Lährer. Oder gar eenen Stuhlsitz nei geflochten. Am Sonntag will ich's ihm gerne richten.« Vater Kleinert war ein Tausendkünstler. Er verstand alles. Quirle und Holzlöffel aus weißem Ahornholz zu schnitzen, Stühle und Körbe zu flechten, entzweigegangenen Hausrat wieder brauchbar zu machen. Nicht nur die Nachbarn aus Wolfshau, auch aus Krummhübel und Brückenberg kamen die Leute mit ihren Anliegen zu ihm.
Bärbel gab der Ziege Futter, die ein dankbares »Mä–ä–äh« hören ließ. Dann ging es trap – trap mit dem Wäschezober zum Bach hinunter.
Ujeh – das Wasser war arg kalt. Das war noch Schneewasser, was vom Gebirge herunterkam. Tapfer spülte Bärbel die Wäschestücke in dem über große Felssteine dahersprudelnden Bach. Krebsrot wurden ihre Hände.
»Bist fleißig, Bärbel?« fragte es da vom andern Ufer.
Erfreut blickte Bärbel auf. Drüben unter den noch kahlen Birken stand der Lehrerssohn Hermännel, ihr Freund. Hochaufgeschossen für seine sechzehn Jahre, die bunte Gymnasiastenmütze auf dem blonden Schädel.
»Heut' ist's schön, Hermännel, gelt ja?« Bärbel ließ einen Augenblick die Arbeit ruhn und blickte in das feine Birkengeäst, das zart silberig gegen den violettblauen Gebirgskamm stand. »Warste spazieren?«
»Ich hab' dem Förster-Maxel die Schulaufgaben vom Vater gebracht. Er fehlt schon in der dritten Woche. Der arme Kerl hat Gelenkrheumatismus.«
»Hat meine Großmuttel auch.« Damit schwenkte Bärbel aufs neue die Handtücher in dem schäumenden Gebirgsbach.
»Geh, Bärbel, deine Großmuttel hat doch nicht Gelenkrheumatismus«, lachte sie der Junge aus.
»Nu freilich«, rief Bärbel bekräftigend. »Sie hat's halt arg in den Gelenken, besonders im Knie. Die Muttel kocht dreierlei Kräutertee für sie, der soll dagegen gutt tun.«
»Deine Großmuttel hat rheumatische Schmerzen, Bärbel. Gelenkrheumatismus ist etwas anderes. Das ist eine böse Krankheit mit Fieber. Und das Herz wird dabei auch oft angegriffen«, belehrte sie der um mehrere Jahre Ältere.
»Du sprichst halt so klug, als wenn du ein richtiger Doktor wärst, Hermännel.« Bärbel blickte mit aufrichtiger Bewunderung zu dem Freund auf.
»Will ja auch mal einer werden«, meinte er, steckte die Hände in die Joppentaschen und begann zu pfeifen. Denn sein künftiges Studium war ein heikles Thema. Der Vater wünschte, er solle Lehrer werden wie er selber. Aber des Sohnes Sinn ging andere Wege. Der Hermann hatte mehr Interesse für den menschlichen Körper als für den Geist. Knochenbrüche wieder einzurenken, Wunden und Krankheiten zu heilen, erschien dem Jungen bei weitem erstrebenswerter.
Bärbel hatte ihr letztes Wäschestück ausgewrungen. Sie begann mit dem schweren Wäschezober die Wiese bergaufzuklettern. Mit ein paar Sätzen war Hermann über die Brücke und neben ihr.
»Gib her, Bärbel, das ist zu schwer für dich«, sagte er und wollte ihr die Last abnehmen.
»Aber nee, Hermännel, nee, laß auch! Was denken die Leute, wenn ein Unterprimaner mit dem Wäschezober geht!« Bärbel hatte ungeheure Ehrfurcht vor der bunten Gymnasiastenmütze.
»Laß sie denken, was sie wollen«, lachte der Freund, »mir geht davon nichts ab.« Ein Kampf entstand um den Spülzober.
Bärbel hatte trotz ihrer schlanken Glieder Kraft in den Armen. Lachend zog einer hüben, einer drüben – o weh – Bärbels Lachen verstummte. Da lag die sauber gespülte Wäsche auf der Erde.
»Wie ungeschickt von mir, Bärbel«, Hermann machte ein schuldbewußtes Gesicht.
»Das war sicher wieder der Herr Riebezahl«, rief eine Jungenstimme dazwischen, »der hat euch halt den Possen gespielt.«
Karl und Mohrle hatten sich zu dem Schauspiel eingefunden. Mit mißbilligendem Gebell umkreiste der Hund die Wäsche.
»Bschscht, Hundel, nu sei auch ruhig, Mohrle«, beschwichtigte Bärbel den aufgeregten Köter, ihre schmutzig gewordene Wäsche wieder einsammelnd. Es tat nicht not, daß die Mutter erst aufmerksam wurde. »Hermännel, mach nicht solch ein Armsündergesicht. Im Bach hat's Wasser genug. Der Schaden ist schnell kuriert«, tröstete Bärbel und machte sich unverdrossen noch einmal ans Werk. Die Jungen übernahmen das Geschäft des Auswringens. Auch der Gymnasiast half. Im Nu war die Wäsche wieder blütenweiß. Diesmal wurde sie fein behutsam droben im Rosenhäusel abgeliefert.
»Wart auch, Hermännel, ich komm mit dir mitte«, sagte Bärbel an der Haustür, als der Freund sich verabschieden wollte. »Ich soll dem Herrn Lehrer eine Bestellung machen vom Vatel.« Sie sprach immer, auch dem Sohn gegenüber, vom Herrn Lehrer. »Dein Vater« zu sagen, wäre ihr unehrerbietig erschienen.
»Bärbel, wie heißt's?« fragte Hermann augenzwinkernd.
Fragend sahen ihn die tiefblauen Kinderaugen an.
»Mitte – würdest du das auch in einem Aufsatz schreiben?« neckte er. »Ich komm mit dir mit, heißt es in gutem Deutsch.«
»Ich bin doch nu halt a Schläsier-Mädel«, lachte Bärbel und gab sich Mühe, ganz besonders schlesisch zu sprechen, denn Hermann versuchte stets, ihr den Gebirgsdialekt abzugewöhnen.
»Muttel, ich spring jetzt zum Herrn Lehrer 'nüber«, meldete Bärbel zur Küche hinein.
»Bring ooch noch a Pfund durchwachsenen Speck vom Schlächter mitte, Mädel, daß der Vatel die Woche ieber was zu seinen Schnitten zu essen hat«, rief die Mutter zurück.
»Mitte« – der schlesische Ausdruck, den sie selbst vorhin gebraucht hatte, fiel ihr jetzt bei der Mutter auf. Sie mußte dem Hermann dankbar dafür sein, daß er ihr besseres Deutsch beibrachte.
Einträchtig zogen die beiden zum Schulhaus nach Krummhübel hinauf, wo auch die Wolfshauer Jugend zur Schule ging. Eine Viertelstunde hatte man noch gut bis dahin. Trotzdem betrachteten sich Hermann und Bärbel als Nachbarskinder. Allzu viel Häuslein standen nicht mehr dazwischen. Mohrle war mit langen Sätzen den beiden voran. Er ließ keine Gelegenheit unbenutzt, sich Bewegung zu machen. Herausfordernd bellte er die in den kleinen Dorfgärten friedlich herumpickenden Hühner an.
»Hermännel – die Störche! Die ersten Störche sind wieder da! Die bringen Glück!« rief Bärbel, erfreut in die Luft weisend.
Hermann blieb stehen und beobachtete die großen weißen Vögel hoch über der Kirchturmzwiebel.
»Die können es noch besser als der Zeppelin. Was sollen sie dir denn für Glück bringen, Bärbel?« erkundigte er sich.
»Daß der Vatel bald das Pferdel kaufen kann, und daß hernach das Rosenhäusel unser wird«, erwiderte das Mädchen, ohne sich zu besinnen. »Und du, Hermännel? Was brauchst du für ein Glück?«
»Medizin möchte ich studieren. Aber der Vater hat kein Geld dazu. Und wenn ich Lehrer werde, meint er, könnte er mir leichter ein Stipendium auswirken.«
»Sti–pen–dium? Was ist das?« fragte Bärbel, jede Silbe einzeln wiederholend.
»Das ist eine Unterstützung für Studenten. Studiengelder, die besonders Begabten von der Universität bewilligt werden«, erklärte ihr der Junge.
»Dann mußt du sie kriegen, Hermännel!« sagte Bärbel voller Überzeugung. Für sie war der Opitz Hermann der begabteste von allen Jungen.
Das Krummhübler Schulhaus war ein schmuckes, neues Gebäude. Daneben lag die Dienstwohnung des Lehrers. Weiße Gardinen und blühende Blumenstöcke an den Fenstern zeigten schon dem Vorübergehenden, daß da drin das Behagen zu Hause war. Dieser Eindruck verstärkte sich, wenn man eintrat. Bescheiden, aber geschmackvoll war die Wohnung. Hermanns Mutter war eine feinsinnige Frau, die viel Schönheitsgefühl hatte. Eine Vase mit Tannenzweigen auf dem Tisch, einige recht nette, selbstgemalte Gebirgsbilder an der Wand – Bärbel empfand jedesmal ein feiertägliches Gefühl wie in der Kirche, wenn sie die Opitzsche Wohnung betrat.
Der Herr Lehrer saß am Klavier. Das bedeutete für ihn die Erholungsstunde. Bärbel machte ihre Bestellung vom Vatel, daß er die Woche über droben im Gebirge arbeitete. Wenn der Herr Lehrer irgend etwas zu richten habe, möchte er doch heute noch kommen, oder sich bis zum Sonntag gedulden.
»Ja, zu richten hätt' ich schon was, Kind«, meinte der Lehrer. »Schön, Bärbel, da will ich gleich mit dir mitkommen. Aber erst kannst du mir noch den Pfingstchoral singen.« Er begann das Vorspiel zu dem Choral »O heiliger Geist« auf dem Klavier anzuschlagen.
Mit glockenheller Stimme fiel Bärbel ein. Rein und voll erklang die fromme Weise. Frau Opitz ließ des Sohnes Strümpfe, die sie stopfte, sinken und lauschte voll Andacht. Hermann, der nach oben in sein Stübchen gegangen war, schlich sich auf den Zehenspitzen herzu. Potztausend, konnte die Bärbel singen! Klangvoll, weich und innig zogen die Töne durch das Lehrerhaus.
Der Lehrer ließ die Hände auf den Tasten noch eine Weile ruhen, nachdem er den Schlußakkord angeschlagen. Es war, als ob keiner die Weihe durch ein Wort verscheuchen wollte.
»Ja, Kind, also es bleibt dabei«, unterbrach der Lehrer schließlich die Stille. »Du singst das Solo zum Festgottesdienst. Wir machen noch eine Orgelprobe vor Pfingsten.«
»Was wird aber die Liebig Marthel dazu sagen?« Halb erfreut, halb erschreckt blickte Bärbel den Lehrer an. »Sie ist älter als ich.« Bis jetzt hatte die Tochter des reichen Maurermeisters, der gar viele Landhäuser in Krummhübel gebaut hatte, den Sologesang in der Kirche gehabt.
»Laß sie sagen, was sie will. Halt ärgern wird sie sich, das gönne ich der aufgeblasenen Gans!« meinte Hermann mit Gemütsruhe.
»Deine Stimme klingt voller als die von der Martha Liebig, Bärbel«, entschied der Lehrer. »So, und nun werde ich dich zu deinem Vater begleiten.« Er schloß den Klavierdeckel.
Bärbel zögerte. Bittend sah sie zu Hermann hinüber. Der verstand seine kleine Freundin ohne Worte.
»Die Bärbel möchte sicher noch ein bissel klimpern; gelt, ich hab's getroffen?« lachte er, als das Mädchen freudig bejahend nickte. »Wart', Bärbel, ich bring dir wieder eine neue Tonleiter bei.« Er begann ihr die H-dur-Tonleiter vorzuspielen.
»Ist recht, Bärbel, da gehe ich voran«, meinte der Lehrer einverstanden und griff nach Lederjoppe, Hut und Stock.
Eifrig bemühte sich Bärbel, den Anweisungen Hermanns nachzukommen und die Tonleiter richtig und geläufig zu spielen. Ihre derben, roten Hände, die gewöhnt waren zu scheuern und Gartenarbeit zu machen, vermochten nur schwer ihrem musikalischen Gehör zu folgen. Aber schließlich hatte sie's doch in den Fingern. Und zur Belohnung gab's von der guten Frau Opitz noch einen prächtigen Winterapfel, einen der letzten. Der Hermann aber hatte eine noch bessere Belohnung für die Bärbel. Der lieh ihr wieder eins seiner Bücher. In der einen Hand Uhlands Gedichte, in der andern den rotbäckigen Apfel, lief Bärbel nun eiligst die Krummhübler Dorfstraße zum Schlächter hinab.
Sie ahnte nicht, daß derweil im Rosenhäusel über ihre Zukunft verhandelt wurde.
Vater Kleinert umstrickte einen alten, irdenen Topf, der einen Sprung bekommen, mit Drahtgeflecht, um ihn wieder brauchbar zu machen. Er saß in der Küche neben der Strümpfe strickenden Großmutter und der die Wäsche ihres Mannes bügelnden Frau. Karl und Friedel machten am Küchentisch Schularbeiten. Fritzel spielte auf dem Fußboden mit der Katze. Die Küche war der Hauptaufenthalt der Dorfbewohner. Dort war es warm. Die Stube wurde nur ausnahmsweise geheizt. Brennholz war teuer, obgleich der Wald einem beinahe in die Fenster hineinwuchs. Und das Reisig, das die Dorfkinder mit Berechtigungsscheinen auflesen durften, flog zum Schornstein hinaus und gab keine Wärme. Trotzdem man schon den vierten Mai schrieb, war es in dem Gebirgsdorf nach Sonnenuntergang noch empfindlich kalt.
Vater Kleinert pfiff sich eins bei der Arbeit. Das Rotkehlchen im Bauer am Fenster flötete dazu die Begleitung. Flügellahm hatten es die Kinder als junges Vögelchen im Garten gefunden. Es war wohl aus dem Nest gefallen. Nun führte es in dem vom Vater selbst geflochtenen Bauer ein ganz vergnügtes Dasein. Nur mit der grauen Mieze stand es auf Kriegsfuß.
Fritzel jauchzte über die Sprünge der Katze, der Vater pfiff, das Vögelchen flötete – der Lehrer Opitz mußte zweimal an die Küchentür klopfen, ehe man da drin sein Pochen vernahm.
»Ach, der Herr Lährer – ist mir a Ehre, ist mir halt a große Ehre –.« Vater Kleinert erhob sich von seinem Holzschemel.
Frau Kleinert wischte sich ihre Hand, trotzdem sie ganz sauber war, erst an der Blaudruckschürze ab, ehe sie dieselbe dem Eintretenden reichte. Die Großmutter blickte erfreut von ihrem Strickstrumpf auf. Besuch war eine angenehme Abwechslung in der Einförmigkeit der Tage. Karl sah weniger erfreut dem Besuch des Lehrers entgegen. Während die jüngere Friedel verlegen knickste, überflog er sein ganzes Sündenregister. Irgend etwas hatte er immer auf dem Kerbholz, der Karl. Ein reines Gewissen hatte er nie.
Als der Lehrer sich jetzt zum Vater wandte: »Kann ich Sie wohl mal ein paar Minuten allein sprechen, Herr Kleinert?« da war es für den Jungen Gewißheit – sicher die Taubengeschichte. Mit Knallerbsen hatten die Schlingel nach des Lehrers Tauben geschossen. Oder sollte die Karnickeljagd, die sie neulich mit des Nachbars Karnickeln veranstaltet hatten, etwa der Grund zu dem ungewöhnlichen Besuch sein? Es war nicht herausgekommen, daß er es gewesen, der den Karnickelstall geöffnet hatte, aber – für alle Fälle gab Karl doch lieber Fersengeld, während der Herr Lehrer dem Vater in die Stube folgte.
»A bissel kalt ist's schon hier, Herr Lährer«, sagte Vater Kleinert, sich die Hände reibend. »Nu nähmen Se ooch Platz, nu setzen Se sich ooch.« Er bot seinem Gast einen Platz auf dem buntgeblümten Kattunsofa. »Womit kann ich dienen – ist wull halt wieder amal was in Ordnung zu bringen, gelt?«
»Ja, in Ordnung bringen möchte ich ganz gern etwas«, stimmte der Lehrer lächelnd zu, Stock und Hut ablegend. »Aber diesmal handelt es sich nicht um meine Sachen, sondern um etwas, was Ihnen gehört, Herr Kleinert. Ich komme wegen Ihrer Tochter, der Bärbel.«
»Wegen der Bärbel – wegen mein Bärbele?« verwunderte sich Vater Kleinert. »Das Mädel ist gutt, das Mädel ist brav und fleißig – – –«, er schüttelte verständnislos den Kopf. Was konnte der Herr Lehrer nur gegen sein Bärbele vorbringen?
»Freilich ist sie fleißig, die Bärbel«, bestätigte der Lehrer. »Sie ist meine fleißigste und begabteste Schülerin. Und darum eben will ich mit Ihnen sprechen. Ich möchte der Bärbel eine Freistelle im Töchterlyzeum verschaffen. Es ist schade um ihre gute Veranlagung. Sie kann mehr lernen als unser Volksschulplan umfaßt. Bei ihrer Begabung und ihrem Interesse für die Bücher wird es ihr sicher nicht schwer werden, mal ihr Lehrerinexamen zu machen. Zur Musiklehrerin wäre sie ganz besonders geeignet. Aber das hat ja noch gute Wege. Die Hauptsache, sie lernt erst was Rechtes. Nun, Herr Kleinert, was meinen Sie dazu?«
Vater Kleinert meinte fürs erste gar nichts. Der saß ganz still und paffte dicke Rauchwolken aus seiner Rübezahlpfeife. In Gedanken wiederholte er noch einmal die Worte des Lehrers. Sein Bärbel war brav und fleißig, sie war begabt fürs Lernen – der Herr Lehrer wollte sie in die höhere Schule schicken – was sollte er da anderes tun, als sich darüber freuen?
»Nu jo jo, wenn der Herr Lährer meinen tut und er will's Bärbel was Rechtschaffenes lernen lassen, mir sull's schon rechte sein. Ich bin halt selber immer arg uff jädes Büchel gewäst. Ich tät mich freuen – nu jo jo – wenn und es wird amal was aus dem Mädel. Aber wir wullen die Muttel halt noch befragen, die hat mit Verlaub da ooch noch a Wörtel dazu zu sprechen.« Er öffnete die Stubentür. »Frau!« – rief er hinaus. »Mariele – kumm ooch, der Herr Lährer hat uns halt was zu sagen.«
Frau Kleinert erschien. Ihre ohnedies schon frischen Wangen glühten vom Bügeln und von der Ehre des Besuches.
Der Lehrer wiederholte sein Anliegen. Dann schwieg er, Antwort abwartend. Auch Vater Kleinert paffte stumm. Mutter Kleinert wickelte verlegen die Hände in die Schürze.
»Nu, sieh ooch, Mariele«, begann der Mann, da seine Frau nicht daran dachte, sich zu äußern, »der Herr Lährer tut sprechen, unser Bärbel wär halt seine beste Schülerin. Tät's dich nicht freien, wenn und sie käm' auf die hehere Schule?«
Die Frau schüttelte energisch den blonden Kopf.
»Nu nä – nu nä ooch – wir tun halt scheene danken fier die Ehre, Herr Lährer, aber unser Mädel hat da nischte nich zu suchen uff der hohen Schule. Die Bärbel sitzt mir halt schon viel zu viele ieber die Biecher. Und du, Mann, machst das Mädel vollends dumme mit deinem Zithergespiele. Das taugt nu mal nä fier unsereens. Die Bärbel sull, wenn und sie is ieber's Jahr eingesägnet, in a Dienst wie ihre Mutter. Nach Krummhiebel 'nauf in a großes Logierhaus. Da tut sie was Rechtes lernen.«
Nachdem Frau Kleinert die Verlegenheit erst mal überwunden hatte, sprach sie resolut und bestimmt, wie es ihrer ganzen Erscheinung entsprach.
»Nu nä, Mutterle, nu nä – – –«, ließ sich Vater Kleinert hören. Die Fortsetzung des Satzes ging in Rauchwolken, die er aus der Rübezahlpfeife herausstieß, auf.
»Jeder Stand und jeder Beruf ist gut, wenn man seine Pflicht darin tut«, nahm der Lehrer wieder das Wort. »Aber ich meine, Frau Kleinert, Eltern haben die Pflicht, ihre Kinder auf den rechten Platz fürs Leben zu stellen. Wenn die Bärbel nun mal besonders fürs Lernen ist, da soll man die guten Gaben, die sie von der Natur mitbekommen hat, nicht brach liegen lassen. Auf ein jedes Feld soll man das säen, wozu der Boden sich eignet.«
»Aus Gerschte wird nu amal im Läben keen Weizen nä«, gab die Frau halsstarr zur Antwort. »Mein Mädel braucht halt ooch nischte Besseres zu werden als ihre Mutter. Die Bärbel sull sich amal ihrer Eltern nä schämen.«
»Das tut sie ganz gewiß nä, unser Bärbele, dafür kenn' ich mein Mädel zu gutt«, stieß der Vater zwischen Tabakswolken hervor. Ihm war's nicht recht, daß seine Frau dem Herrn Lehrer entgegen war.
»Sehen Sie, Frau Kleinert«, versuchte es der Lehrer noch einmal, »heute kommt es nicht mehr darauf an, wer man ist, sondern was man leistet. Auch unsern Volksschülern soll die Möglichkeit geboten werden, ihrer Begabung entsprechend etwas im Leben zu erreichen. Freie Bahn dem Tüchtigen! Sie haben nicht das Recht, liebe Frau Kleinert, meine ich, Ihrem Kinde ein Hindernis in den Weg zu legen.« So sprach der Lehrer ernst und eindringlich.
»Nu, wir werden es halt ieberlägen, Herr Lährer, wir werden's mitanander ieberlägen, gelt ja, Mariele?« vermittelte Vater Kleinert. »Heite und morgen braucht ja's Bärbel noch nä uff die hohe Schule.«
»Ich hätte bald eine Eingabe bei der Provinzial-Schulbehörde gemacht, daß man die Bärbel von Pfingsten an in die dritte Lyzeumsklasse überweist. Sie hat die Reife dafür. In Französisch würde ich ihr gern während des Sommers Privatstunden geben, daß sie mitkommt. Aber dann muß es eben bis auf den Herbst bleiben.«
»Franzesisch – unser Bärbel Franzesisch?« Frau Kleinert konnte sich nicht so rasch von diesem Schreck erholen. Der Mund blieb ihr beinahe offen. »Sie meenen's gutt, Sie meenen's sicher gutt, Herr Lährer. Aber was fier een Kind das Rechte ist, das weeß nu amal die Mutter halt doch immer am besten.«
»Auf einen Hieb fällt kein Baum«, meinte der Lehrer lächelnd. »Also überlegen Sie sich's in Ruhe. Die Bärbel braucht ja vorderhand noch nichts von unsern Plänen zu erfahren.« Damit griff Herr Opitz wieder nach Hut und Stock.
Als er die Tür öffnete, gab es einen Krach. Etwas flog mit einem unterdrückten Schmerzenslaut in die dunkle Ecke hinter den großen Schrank, der im Flur stand.
»Ei – ei – der Horcher an der Wand!« sagte der Lehrer tadelnd, war aber nett genug, der Ursache nicht weiter auf den Grund zu gehen. Vater Kleinert gab ihm das Geleit bis zur Gartentür.
»Ein schöner Tag, ein prächtiger Frühlingstag heute nach dem langen Winter«, sagte der Lehrer abschiednehmend.
»Von Wolfshau aus hat man doch den scheensten Blick uffs Gebirge«, stimmte Vater Kleinert zu. »Man mechte sprechen, zum Greifen nahe sind halt heite die Koppenhäusel und's Schläsierhaus.«
Während Karl, der »Horcher an der Wand«, seine schmerzende Stirnbeule rieb, schritt der Lehrer Opitz, in Gedanken versunken, durch den Abendfrieden des Gebirgstals. Letztes Sonnengold lag noch auf den winzig kleinen Forstbauden droben am Schmiedeberger Kamm, während die Häuser von Wolfshau und Krummhübel schon in blaugraue Dämmerung gehüllt waren. Im Hirschberger Tal drunten, das sich weit gegen die Ebene öffnete, entzündeten sich schon hier und da die ersten Lichtchen.
Still genießend, wanderte der Lehrer durch das entschlummernde Gebirgsdorf am schäumenden Bache entlang. Er war aus der Ebene gebürtig. Da empfand er immer wieder aufs neue die Schönheit seiner jetzigen Heimat. Beinahe wäre der andächtig Versunkene gegen einen ihm auf schmalem Pfade Entgegenkommenden angerannt; denn auch der Gegenwanderer hatte nicht acht. Er fuhr erst aus dem Buche, in dem er beim Gehen las, hoch, als der Lehrer mit erschrecktem »Verzeihung!« seinen Hut zog. Und dann lachten sie alle beide. Helles Mädchenlachen mischte sich in das des Mannes – der Herr Lehrer und Bärbel hatten sich erkannt.
»Bärbel – was treibst du denn da? Unterwegs beim Gehen lesen und noch dazu in der Dämmerung, das ist nicht gut für die Augen. Und wie leicht kannst du, wenn du nicht aufmerksam bist, einen schlechten Tritt machen und liegst in der Lomnitz, Kind.«
»Da trockne ich halt auch wieder«, lachte Bärbel unbekümmert. »Das Buch, das mir der Hermännel geborgt hat, ist halt zu schön; ich konnt's nicht erwarten, a bissel drinne zu lesen. Zu Hause gibt's anderes zu schaffen. Die Muttel sieht's nicht gerne, wenn ich lesen tu.«
Der Lehrer nahm ihr das Buch aus der Hand. »Des Sängers Fluch«, entzifferte er in dem verschwimmenden Dämmerlicht. Das kleine Dorfmädel las so eifrig Uhland. Er reichte ihr den Gedichtband zurück.
»Wenn du deine Pflicht daheim getan hast, Bärbel, wird die Mutter sicher nichts dagegen haben, wenn du ein Buch vornimmst«, meinte er. »So, Kind, nun lauf – und achte auf den Weg.«
Mit hellem »Guten Abend auch, Herr Lährer« sprang Bärbel davon, während die Gedanken des in entgegengesetzter Richtung Wandernden ihr folgten.
Ein Mädchen, das auf dem Wege Uhlandsche Gedichte las, das hatte Bildungstrieb, das mußte andere Ziele haben im Leben, als Stubenmädel zu werden. Aber er kannte die schlesische Gebirgsbevölkerung hier – sie war gutmütig und freundlich, aber zäh und hartnäckig. Es würde nicht so leicht sein, für Bärbel den Lyzeumsbesuch zu erwirken.
Aus dem Rosenhäusel zitterte schon Lichtschein, als Bärbel heimkam. Die unverhangenen Fenster der Parterrestube leuchteten ihr anheimelnd entgegen. Zitherklänge empfingen sie – aha, der Vatel! Er und seine Zither waren unzertrennlich.
Kaum nahm sich Bärbel Zeit, ihren Speck in der Küche abzugeben und Hermännels Buch droben in ihrem Mansardenstübchen in Sicherheit zu bringen. 's war nicht gerade nötig, daß die Mutter das Gedichtbuch gleich entdeckte. Sie war allem Gedruckten nun mal nicht hold.
Dann schlüpfte Bärbel in die Stube zum Vater. Die ganze Woche über blieb er fort droben in den Bergen. Heute mußten sie noch einmal miteinander singen. Des Vaters Augen leuchteten auf, als Bärbels helle Stimme in den Refrain seines Lieblingsliedes einstimmte:
»O mein liebes Riesengebirge,
Wo die Elbe so heimlich rinnt,
Wo der Rübezahl mit seinen Zwergen
Heut' noch Sagen und Märchen spinnt.«
Die dunkle Männerstimme klang gut zu der glockenreinen Kinderstimme. Mohrle lag als Publikum auf dem Kanapee und hörte verständnisvoll zu. Weit hinaus zog der Sang in das stille Bergtal. Manch einer, der gerade auf dem Heimweg begriffen war, blieb stehen und lauschte. Ja, die Kleinert-Leute, die verstanden's.
Draußen in der Küche rührte Frau Kleinert ärgerlich die Abendsuppe. »Nischte nä als Flausen setzt der Karle dem Mädel in a Kupp. Anstatt die Ziege zu melken und den Fritzel ins Bette zu bringen, tut sie schon wieder singen.«
»Nu laß ooch, Mariele, nu laß ooch. Sie tun ja nischte Unrechtes«, begütigte die Großmuttel. Sie erhob sich mit ihren gichtsteifen Beinen schwerfällig, um den jüngsten Enkel selbst zu Bette zu bringen.
»Nee, Großmuttel, alles, was rechte is. Und da tut der Herr Lährer noch sprechen, wir sollen das Mädel uff die hohe Schule tun. Mecht' halt amal sähen, was denn aus ihr werden tut – denn ist sie halt gor nä mähr zu gebrauchen zur Arbeet.«
»Der Herr Lährer is halt a kluger Mann, man mecht' sprechen, der Herr Lährer is ooch a gutter Mann. Der weeß, wenn und er ratet dazu. Der Herr Riebezahl hat am Ende unser Bärbele zu was ganz Besonderem ausgewählt.« Das alte, runzlige Frauengesicht sah verschmitzt aus dem schwarzen Kopftüchel heraus.
»Na, nu heer aber uff, Großmuttel. Gor noch zu was Besonderem – ich bin halt schon zufrieden, wenn das Mädel und sie macht ihre Arbeet hier im Hause.« Mit energischem Ruck rückte Frau Kleinert die Suppe vom Feuer, dann riß sie die Stubentür auf.
»Dieses schöne Land ist mein Heimatland,
Ist mein liebes deutsches Vaterland«,
klang es ihr zweistimmig entgegen.