Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Wozu ärgern? dachte Kai und warf das Heft, das sich rasch zublätterte, auf den Tisch zurück. All das ist Paukergeschwätz oder Seich, Neid. Die Eins gibt er mir – und dann sein Hohn? Warum?

Er warf sich in den Langstuhl, brannte eine Zigarette an. Den Rauch wolkig ausstoßend, dachte er weiter: Im Grunde hat er so unrecht nicht. Natürlich war der Aufsatz stark beeinflußt. Aber mir das so aufzutischen vor der ganzen Blase von Konpennälern: »Eine wackere Leistung, Goedeschal, wir haben Wilde gelesen. Gut nachempfunden« – darin lag die Gemeinheit!

Er stand unruhig auf und zerdrückte die Zigarette im Becher. Alles Einbohren, Erwägen half zu nichts, der Stachel blieb. Und es war umsonst, sich einreden zu wollen, daß diese zwei, drei Sätze von Tappert belanglos und zufällig gewesen seien. Eine geheime Feindschaft hatte aus ihnen geklungen.

Kai Goedeschal fuhr hoch. Mit den Fingern sein Haar strählend, ein wenig Pose, sagte er halblaut: »Er hat mich demütigen wollen. Als er diesen Aufsatz las, den ich in einigen Nachtstunden glühend und zitternd schrieb, spürte er wohl die Auflehnung: ich, Obersekunda, ein Name mit einer grüngoldenen Schülermütze, verstattete ihm in etwas Einsicht, ohne zugleich zu bemerken: ›Das verdanke ich Ihnen.‹ Nein. Indem er meinen einsamen Wanderungen zuschaute, in denen nichts war als das Rascheln von Blättern, der Wind, irgendwo oben in Bäumen, manchmal ein weiter Blick oder der Ton eines jener Jagdhörner, die Eichendorff so liebte, – fühlte er, wie stark ich ablehnte, was er, schwach, verfälscht, verwässert gelehrt. Hier war Revolution, Neuland, Eigenes. Gab er mir uneingeschränkt die Eins, erkannte er diese Auflehnung an. So schrie er: ich kenn das auch! Wie des Swinegels Fru: ick bin all do! – Nachempfunden! Wer hat ihn mehr, wer fühlt ihn tiefer: Tappert oder Goedeschal? Es ist und bleibt eine Schweinerei, daß es immer nur heißt: Lehrer – Schüler, nie: Mensch – Mensch.«

Im Spiegel fing Kais Blick die Bewegung der Lippen, wie sie sich unter den letzten Worten auseinandertasteten, wölbten. Er beugte sich vor, Zittern stieg in ihm auf. Dieses beinahe dreieckige, gelbliche Gesicht, von vier, fünf eintönigen Linien umzogen, war entfärbt durch die Glut eines breiten, seltsam dem Zittern von Libellenflügeln gleichenden Mundes. Aufgebogen, fleischig aus den Innerlichkeiten des Leibes mündend, mit einem fast blutendem Rot, dessen Struktur an rohes, hautloses Fleisch mahnte, bildete er einen Gegensatz zu der noch unbeschriebenen Leere der Gesichtsflächen, zu dem verschwimmenden, unsicheren Blick der Augen, einen Gegensatz, den Kai dunkel fühlte. Ein plötzlicher Impuls, den er erst in seinem Bewußtsein merkte, als er ihm schon gefolgt, ließ ihn den Zeigefinger der Hand heben und deutend auf diese Lippen weisen. So stand er sich selbst gegenüber, den eigenen Blick meidend, in die Betrachtung seines Mundes versunken, der, eine phantastische Blüte, auf der Spitze seines Fingernagels zu tanzen schien, blieb stehen, hob dann die Augen, begegnete einem Blick, der fremd und undurchdringlich war, lachte mit einem Achselzucken verlegen auf und trat eilig vom Spiegel fort.

Im Stuhle sitzend, das Gesicht in den Händen vergraben, während die Finger in den Haaren wühlten, mußte er unvermittelt an seine Berliner Schulzeit denken, nun drei, vier Jahre zurück. Wieder sah er sich, Untertertianer, verschüchtert, scheu, kraftlos, ohne Gegenwehr, zitternd in der griechischen Stunde aufstehen, vortreten, irgend etwas deklinierend, was er eben noch gewußt und schon völlig vergessen hatte, stotternd, fehlerhaft, ohne jede Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit der Arbeit zuzuwenden und die Bruchstücke des Gewußten wiederzufinden. Denn da waren die Augen der andern, immerzu hingen sie an ihm, warteten, der Blick des Lehrers, den er seitlich in seinen Schläfen, brennend in den Augenhöhlen fühlte, wartete, er selbst, auch er wartete, bis dann das Schluchzen kam, die Tränen, die lieben Tränen, jede griechische Stunde, bei jeder Frage.

Er weiß, daß Wetten auf ihn abgeschlossen werden, vor der Stunde drängen sie ihn: »Goedeschal, nur heute einmal halte dich. Tu ihm nicht den Gefallen.« Aber dann wieder, wenn er vorn steht, erhöht, allein, belauert von allen, dann spürt er dunkel die Machtlosigkeit allen Wehrens, er tut nichts dazu, ganz von selbst schon steigt es in ihm empor, in seiner Kehle verfängt es sich, seine Finger beben, und nun ist es da, und schon im Weinen seltsam erleichtert, denkt er: Es ist wieder da!

Kai Goedeschal fuhr hoch. »Kann ich nie vergessen? Ich will nichts mehr von jenem Berliner Kai wissen. Warum schmerzt das noch so frisch? Nein, ich würde heut nicht mehr weinen. Vielleicht anders, anders und doch das gleiche.«

In ruhelosem Auf und Nieder suchte er vergebens die Quelle zu finden, aus der diese Gedanken strömten. Brennend wie einst glühten die Augen, verzweifelnd wie früher floh er die Spottreden der andern, die seine geflickten Hosen verachteten. Der gefüllte Schulhof, die Glocke inmitten, – kein Fleck, wo Ruhe war. Aus den Gängen durch den Zuruf des Lehrers verjagt, stand er wieder draußen, zitternd, bemerkt zu werden, schon bemerkt, schon verhöhnt.

Er riß sich herum. Dem Spiegel näher tretend, ging er in seinem Gesicht jener Spur nach, die ihn zum noch nicht Vergessenen geführt hatte. Er fand sie nicht, er fand nicht den schmerzlichen Widerspruch, der zwischen der Erblühtheit eines fleischigen Mundes und dem trübe Farblosen stets fliehender Augen bestand. Er zuckte die Achseln.

»Wozu noch daran denken! Ich will nicht. Dort die Bäume. Straßen. Menschen. Fenster. So vieles andere zu bedenken.«

Sein Blick erfaßte das Heft. »Ja so, der Aufsatz.« Er blätterte. Aber nun, da er diese Zeilen las, die schon durch ihre Farbe strafenden, roten Randbemerkungen des Lehrers überflog, schien all dies bereits verstaubt, lang vorbei. »Immerhin habe ich die Eins. Wieder einmal der Beste. Man kommt voran.«

Zehntes Kapitel

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Dann, ehe noch die Weckuhr schepperte, war in seinem Halbschlaf der Wind vor den Fenstern und das schräge Stricheln des Regens auf die großen Scheiben. Und ein wenig Schule trat in seinen Traum und das Graue, das mit Nassem abgewischte Kalte – Sallust, »Bellum Catilinae« (»so sterben! so sterben!«), und nun der Wind (»mutterwindallein«), aber schon war dies blässer geworden, die lockeren Gedanken vergingen, eine Wärme stieg auf, sein Bett war erfüllt von Hitze, seine Arme und Beine lösten sich und hoben sich irgendwie auf, einen Augenblick war ein Druck von innen gegen die Stirn da, die Augäpfel drehten sich unter den Lidern ganz um, als wollten sie nach innen schauen. Und während ein Kreisen begann aus vielen Farben, ein Summen wie von der fern durch den Sommer sausenden Trommel einer Dreschmaschine, gingen Blüten in seinen Lenden auf, fleischige, rot verknorpelte Blüten, die zu atmen schienen. Nun lockte es, sie mit den Fingern zu betasten, doch verkrampfte eine Angst die Hände zu einem unlöslichen Knoten, denn diese runden, fleischigen Blumen –

Der Wecker klingelte, schrie, bellte. Ein plötzlicher Schwung warf Kai im Bett herum, so daß er, auf dem Rand sitzend, um sich tastete. »Still du! Der Tag ist wieder da. Wieder ein Tag!«

Vor den Fenstern kaum ein Dämmern. Die Bäume auf dem Schmuckplatz am Hause verwaschen, trostlos. Ein halb abgerissener Ast hing mit gespreizten Fingern zur farblosen Erde, eine weiße, lange Wunde, von geschlitzter Rinde umhängt, war stumpf wie der Geschmack an seinem Gaumen.

»Wieder in die Penne. Das da draußen, vorhin die Träume, und wieder in die Penne. Gestern abend, die Nacht, Ilse, die Erschrockene, meine Flucht, der Spiegel – nun, da eine Nacht darüber hinging, sind sie schon so weit fort. Nichts blieb. Keine Änderung? Keine Änderung!«

Die Grauheit dieses Morgens, diese Trostlosigkeit, die Kälte, die mit einer wie gerupften Haut die ihm noch vorhin zu eigen geschenkte Wärme verhöhnte, ließen sein Gesicht schwer werden. In seinen Augen lastete ein Druck. Während er sich anzog, dachte er: »Nur Ziele könnten über solche Morgen helfen. Ziele. Etwas tun. Leben beweisen. Sich selbst. Wo sind die Ziele der Penne? Weg, weg, draußen, irgendwo, ich sehe sie nicht.«

Trostlosigkeit, Trauer um nichts, die Wunde am Baum, graue, stichlige, irgendwie verfettete Kleider, die bei Berührung in den Fingerspitzen schmerzten – eine Lust überkam ihn, ein Bein auszurecken, strecken, dehnen, wie er es auf dem Bild einer Tänzerin gesehen, daß er aufrisse, aufspalte zwischen den Beinen, ein neuer Mund, atmend, blutig, Leben. Er trat ans Fenster. Ein zerstreutes Licht fiel durch die Wolken auf den Platz, es wurde heller, ein herausfahrender Windstoß jagte in der Ecke am Tor einen Haufen verwelkter Blätter auf, trieb sie auseinander und wirbelte sie die Straße hinab. Ein weißer Spitz lief rasch auf drei Beinen über die Rasenfläche, zwängte sich unter dem Gitter durch und verschwand in einer offenen Haustür. Die Schritte der Vorübergehenden schienen fester, ihre Bewegungen entschlossener und stärker.

»Was nutzt es, heute das Pennal zu schwänzen! Besser, ich gehe. Es kommen noch so viele Tage. Und es wird auch heller.«

Elftes Kapitel

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Staatsrat Goedeschal, noch im Bett liegend, drehte sich zum Waschtisch um, an dem seine Frau stand, und sagte, indem er auf die Zimmerdecke wies: »Er ist schon wieder auf. Halb Sieben. Jeden Morgen früher. Das geht nicht, der Junge braucht seinen Schlaf.«

Sie, das Gesicht über die Waschschüssel gesenkt, antwortete nicht.

»Wenn er um Viertel acht aufsteht, kommt er zeitig genug zur Schule. Hast du ihn gefragt, was er so früh schon treibt, Margrit?«

Sie schwieg. Dann, das von Wasser überströmte Gesicht ihm zukehrend: »Er sagt, er kann morgens am besten arbeiten.«

Das Gehen der Schritte oben wurde lauter. Kai hatte wohl seine Schuhe angezogen.

»Er arbeitet! Das ist etwas anderes. Ich glaube mich zu entsinnen, als junger Mensch lernt ich auch morgens am besten.«

Sie wandte ein: »Wenn er aber abends auch so lange arbeitet. Gestern mit Arne ...«

Er hörte nicht darauf. »Das ist recht. Das freut mich, daß er selbständig zu dem Entschluß gekommen ist. Selbständigkeit ist Hauptsache. Und überrascht mich eigentlich bei ihm. Er ist sonst so unfertig, kindlich. Immerhin – wir wollen ihn deswegen nicht mehr behelligen. Ernst werden! Die Wichtigkeit der Pflichterfüllung erkennen! Das ist ein großer Schritt vorwärts!«

Frau Goedeschal setzte das Wasserglas beiseite. »Kindlich, sagst du? Kai – kindlich?«

»Was denn anders, Margrit? Wie unfertig ist er mit seinen sechzehn Jahren! Wenn ich mich auch nicht mehr genau zu erinnern vermag, wie ich in dem Alter war, so vergleiche ich ihn doch mit seinen Freunden. Nimm zum Beispiel Arne, der schon etwas ausgesprochen Männliches hat. Und Kai – noch vor beinahe einem halben Jahr diese Puppengeschichte! Wenn das nicht kindlich ist!«

Sie blieb dabei. »Grade diese Puppengeschichte –« Aber er fiel ihr ins Wort: »Was heißt das: grade diese Puppengeschichte? Überlege doch, Margrit: seine Schwestern merken, daß in der Plättstube die Kästen mit ihren alten Spielsachen durchstöbert sind. Die Puppen, Kleider et cetera fehlen. Sie passen auf, suchen und entdecken –: daß Kai seine Kommodenschieblade als Puppenbett eingerichtet hat! Der große Junge spielt mit Puppen!! Ich begreife nicht, wie du da sagen kannst: grade diese Puppengeschichte!«

Sie murmelte: »Sie lief böse genug ab!«

Staatsrat Goedeschal wurde ärgerlich. »Warum lief sie böse ab? Weil ich auch da noch den Jungen überschätzte! Ich dachte, es ist eine verdrehte Jungensdummheit; ich zeige ihm kühl und klar, wie unsinnig für einen Obersekundaner, der Homer liest, derartiges ist, eine Kinderei, über die man nur lachen kann. Sollte ich es etwa ernst und tragisch nehmen? Dann hätte ich ihm vor allen Vorhaltungen über die einbrecherische Entwendung der Spielsachen seiner Schwestern machen müssen. Also, ich denke, nun wird sich der Junge, vernünftig geworden, über die Hänseleien seiner Schwestern hinwegsetzen. Statt dessen wirft er in sinnloser Wut nach Lotte mit dem Messer! Bei Tisch! In meiner Gegenwart! Wie ein kleines Kind, das überhaupt noch kein Verantwortungsgefühl hat. Daß ich da nun streng eingreifen mußte, ihm das Verbrecherische seines Tuns klarmachte man greift nicht zur Selbsthilfe, in Notlage wendet man sich an die zuständige Autorität, also mich! – und ihn schließlich mit Zimmerarrest bestrafte, war gegeben. Ich denke aber, er hat sein Unrecht eingesehen: er ist seitdem viel ruhiger geworden.«

Frau Goedeschal kämmte am Toilettentisch das Haar. Den Arm mit der Bürste sinkenlassend, war sie mehrmals im Begriff gewesen, ihren Mann zu unterbrechen, besann sich dann und schwieg.

Eine Weile war es still, dann fuhr er fort: »Also kindlich, oder, daß ich besser sage, kindisch ...«

Aber nun sprach sie rasch: »Ja, Heinz, was soll ich sagen? Ich weiß doch nicht! Sieh diese Puppengeschichte. Ob wir da so richtig vorgegangen sind? Vielleicht hätten wir grade das Kindliche stützen sollen. Du sagst: ›Warum hat er sich nicht an mich um Hilfe gewendet?‹ Aber grad, weil du's so obenhin verlachtest ..., ich weiß nicht, ich bin selber so gar nicht klar ...« Sie atmete rascher. Schließlich: »Es ist furchtbar schwer mit Kindern! Es ist so lange her, daß wir jung waren. Und ich war auch anders.«

Sie schwieg wieder. Auch Staatsrat Goedeschal sagte nichts, er sah sie an, aber sie vermied seinen Blick. Er fühlte, daß sie Wichtigeres noch verschwieg, und um ihr zu Hilfe zu kommen, sagte er endlich: »Du hast etwas auf dem Herzen, sprich!«

Frau Goedeschal machte eine ungeduldige Bewegung. »Da liegst du und sagst: ›Sprich‹, als wenn es wer weiß wie leicht wäre.« Schon verwusch Weinen die Worte. »Und sitzt dabei auf deinem Richterstuhl und willst im Grunde nur das hören, was deiner Meinung recht gibt, und ändern ... Grad, als wär ich angeklagt ...«

Er richtete sich im Bett auf. »Aber Margrit, ich verstehe dich nicht! Ich will doch nur sein Bestes. Du sagst: es ist schwer mit Kindern. Gewiß ist es das. Aber du machst es mir zum Vorwurf, wenn ich ruhig überlege. Wir müssen doch Vertrauen haben!«

Schon hatte sie sich besonnen. »Sei nicht bös. Aber natürlich habe ich Vertrauen, es ist nur schrecklich schwer, ich ängstige mich so um den Jungen. Man hat ja den besten Willen ... Du meinst: ruhiger ist er geworden. Ja, ruhiger, er redet kaum noch ein Wort, was wissen wir denn noch von ihm? Die Wochenzensuren! In Griechisch ist er auch wieder schlechter. Aber, die Hauptsache ist, er redet nichts. Kein Wort. Es war schon immer nicht leicht mit ihm, das rechte Vertrauen war nie da. aber seit diesen Puppen ... Vor dir nimmt er sich noch zusammen, aber bei mir ...«

»Mault er? Tückscht er?«

»Das wäre viel besser, das ginge vorbei, aber es ist einfach, als wären wir Fremde für ihn. Ich mag ihn noch so sehr fragen: ›Kai, was hast du? Ich sehe doch, daß du etwas hast, sprich dich aus.‹ Aber dann sagt er nur: ›Was soll ich haben? Gar nichts!‹ und geht raus. Und scheint sogar manchmal, als höhnte er: ›Mir geht's ausgezeichnet. So ausgezeichnet, davon hast du keine Ahnung!‹ Und sieht dabei aus, als wollte er weinen. Und wenn man seine Hand nimmt und ihn streicheln will, reißt er sich los, als haßte er mich. Es ist, als liebte er uns überhaupt nicht mehr ...«

Staatsrat Goedeschal hatte immer erregter zugehört. »Gut, daß du sprichst! Das kann so nicht weitergehen, darf nicht. Wir müssen etwas tun ...«

Aber sie unterbrach ihn. »Und morgens arbeitet er auch nicht! Das weiß ich genau.«

»Ja, aber was dann?«

»Er ist im Keller.«

»Im Keller?« fragte er verständnislos. »Was tut er denn da?«

»Ich weiß nicht, ich habe ihn gefragt. Er sagt, er müsse den Kessel nachsehen.«

»Und du hältst das für ausgeschlossen?«

»Ich bitte dich, jeden Morgen eine Stunde! Gerad er, der so gern lang schlief.«

»Aber was dann?«

»Ich sage dir doch – ich weiß nichts. Und der Schlüssel zum leeren Kellerzimmer ist auch verschwunden!«

»Und du meinst ...?«

»Ich weiß doch nicht! – Ich bitte dich um eins, Heinz, sei nicht erregt, erschrecke ihn nicht.«

Schritte, die man schon auf der Treppe gehört, tasteten leise an der Zimmertür vorüber. Staatsrat Goedeschal rief laut: »Kai!« Die Schritte wurden still, aber niemand kam. Er rief wieder: »Kai!« Nichts rührte sich. Er machte eine Bewegung zu seiner Frau. »Bitte, sieh nach!«

Auf dem Gang stand Kai, die Schultern hochgezogen, das Gesicht halb zurückgewendet. »Bitte, Junge, komm rein. Sag uns guten Morgen!«

Er trat ein. »Guten Morgen, Papa! Guten Morgen, Mama!« Und er gab jedem von beiden einen Kuß, dem Vater auf die Stirn, der Mutter auf die Wange.

»Guten Morgen, mein Junge. Nun, wo pilgerst du schon so früh hin? Wir hörten dich wie einen ruhelosen Geist über uns wandern.«

»Störte ich euch? Verzeiht.«

»Nein, nein, du siehst, deine Mutter ist beinahe schon in Gala.« Staatsrat Goedeschal sah seinen Sohn heiter lächelnd an. Der aber schien die Frage vorhin überhört zu haben, und so mußte sie denn der Vater, schon gezwungener, wiederholen: »Und wo wolltest du jetzt hin, Kai? So leise?«

»In den Keller. Zur Heizung.«

»Aber ...« Er besann sich. »Dazu ist doch der Heizer da!«

»Er kann morgens so früh noch nicht.«

»Und darum stehst du auf?«

Schweigen. Der Vater wartete und sagte dann: »Ich werde mit dem Mann reden. Er geht um sieben Uhr zur Arbeit, da kann er ruhig vorher noch einmal vorbeikommen. Wofür bekommt er sein schönes Geld!«

»Ich bitte dich, Papa ...« Aber Kai schwieg schon wieder.

»Nun, was denn?«

»Ach nichts.«

»Aber ...«

»Ja, wenn du es ihm sagst, machst du ihn nur wütend. Er kommt dann zweimal und bleibt doch wieder fort. Und schließlich platzt wie neulich ein Wasserstandsglas, und wir haben den Keller voll Wasser.«

»Sehr richtig, sehr vernünftig«, und Staatsrat Goedeschal sah befriedigt lächelnd zu seiner Frau hinüber. »Aber deinen Morgenschlaf sollst du deswegen doch nicht verlieren. Weißt du was? –: du lernst Erna an. Das Mädchen kann das ruhig machen.«

»Die findet nie mit den Hähnen Bescheid.«

Der Vater wurde ungeduldig. »Es scheint dir doch sehr viel daran zu liegen, sonderbar.«

»Mir? Gar nichts! Meinetwegen kann es Erna machen, ich reiß mich nicht drum, aber wenn was passiert, ich lehne jede Verantwortung ab.«

»Verantwortung! Ich möchte wissen, wer dir welche übertragen hat!«

»Wenn ich's ihr doch zeigen soll!«

»Junge ...!«

Aber Frau Goedeschal rief rasch und ängstlich: »Ich bitte dich, Heinz!«

»Ja so. Was ich noch sagen wollte – du weißt wohl auch nicht, wo der Schlüssel zum leeren Kellerzimmer hingekommen sein mag?«

»Nein. Ist der weg?«

»Ich sagte dir's schon, Kai«, warf die Mutter ein.

»Ach so, ja. Nein, das weiß ich nicht.«

»Nun, wir werden heute vormittag zum Schlosser schicken, der kann einen neuen machen.«

Der Vater sah seinen Sohn scharf an, aber der zuckte nicht.

»Und nun noch eins, ich wollte dir schon immer eine kleine Freude machen. Dein Griechisch ist zwar nicht sehr vorzüglich. Was meinst du, wenn du einmal ins Theater gingst?«

»Gern, sehr gern. Vielen Dank.«

»Schon gut. Sei nur recht fleißig.«

»Kommt ihr mit?«

»Aber natürlich. Also übermorgen abend: ›Die Räuber‹.«

»Ich danke schön«, und Kai küßte seinen Vater. Dann rascher: »Es fallt mir eben ein ... Nur so eine Vermutung ...«

»Nun, was denn? Sprich immer.«

»Vielleicht hat der Heizer den Schlüssel, er sagte immer, es sei im Kohlenkeller zu naß fürs Holz. Ich werde mal mit ihm reden.«

»Tue das, Kai. Also abgemacht. Du lernst heute und morgen Erna an, und wegen des Schlüssels redest du mit dem Manne.«

»Und der Schlosser? Damit können wir dann wohl warten ...«

»Ja, natürlich. Solche Eile hat das ja nicht.«

Kai ging.

Staatsrat Goedeschal sah seine Frau an. »Siehst du, es ist gar nicht so schlimm. Man muß nur vernünftig mit ihm reden. Natürlich hat er irgend etwas unten im Keller. Wenn er zur Schule ist, schicken wir zum Schlosser, na, es wird schon nichts Schlimmes sein, irgend so eine Jungensdummheit. – Hattest du den Eindruck, daß er sich aufs Theater sehr freute?«

»Eigentlich nein. Er fragte so komisch, ob wir mitkämen.«

»Aber ...!«

»Du, was mir eben noch einfiel: ich sprach neulich auch mit Frau Schütt über Kai, sie mag den Jungen gern. Und sie hat soviel Erfahrungen mit ihren sieben. Sie meinte, es wäre Zeit, ihn aufzuklären.«

»Aufklären? Nein. Ich habe ganz ausführlich mit seinem Klassenlehrer davon gesprochen. Die Jungen bekommen in der Oberprima die nötigen Mitteilungen durch einen erfahrenen Medizinalrat. Er bat mich dringend, dem nicht vorzugreifen. Und ich bin auch sonst dagegen. Warum sind die jugendlich Bestraften immer aus den unteren Volksschichten? Weil die Kinder dort sexuell aufgeklärt sind! Zu frühes sexuelles Wissen ist Verlockung, verleitet zur Haltlosigkeit, zur Genußgier. Und der Weg von da zum Verbrechen ist kurz. Nein, keinesfalls. Was heißt überhaupt Aufklärung! Was soll man dem Jungen sagen! Ich bin da ganz unsicher. Gerade für Eltern ist ihren Kindern gegenüber dies Gebiet mit einem gewissen Odium verknüpft, es muß tabu bleiben. Ich wenigstens könnte es nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Frau Goedeschal.

Zwölftes Kapitel

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Dicht hinter ihm fiel die Kellertür zu. Über das Geländer der Treppe in das Dunkle hinabgebeugt lauschte Kai. Nichts, Ruhe, nur das leise Singen des Dampfes in den Heizrohren. »Noch sind sie mir nicht nach, hier unten bin ich noch allein. Wie selbstgefällig er lachte, wie klug er sich vorkam! Natürlich holt er den Schlosser. – Aber vielleicht war alles nur Bluff, vielleicht war er schon unten, vielleicht ist Hans schon fort?«

Den Kopf zurückwerfend, umkrampfte er mit der Hand das Geländer. »Nein! Nein!«

Er atmete rascher, er stand vor der Tür zum Kellerzimmer, öffnete – und nun war die Ruhe da, die vertiefte Stille, die nichts von einem Draußen wußte, das hasenfarbene Kaninchen, das seinen Kopf freudig schnobernd an das Drahtgitter der Kiste legte, all das einsam Erworbene war wieder da.

Er zog die Tür hinter sich zu, schob den Riegel vor. Auf den Knien den Hasen, dessen Wärme die Schenkel erhitzte, strich er im gleichen Wechsel mit der Hand über ihn fort, spürte von neuem den raschen, eigensinnigen Druck der beweglichen Nase in seiner Handfläche wie den kuschelnden Federball eines kleinen Vogels, wie das widerwillig und beiläufig erneuerte Geständnis einer nehmenden Liebe. Unter dem lockeren Fell fühlte er die zusammengefallene Reglosigkeit der Glieder.

»Siehst du, mein Hans, wieder bist du da. Wieder kommst du mir entgegen, schmiegst dich ein, bist da, immer wieder da. Ewig wiederholst du deinen Dank, ewig gestehst du deine Liebe. Werden wir nicht beide beieinander hasenstill, und die Welt ist nichts wie solch Einschmiegen?«

Er seufzte; über das Tier fort sah er erschrocken zur Tür, deren Klinke sich regte. Den Rücken zur Wand, spürte er Lockerwerden der Knie. Das Herz klopfte unerträglich laut.

»Kai!« Frau Goedeschal rüttelte an der Tür. »Kai!«

Er antwortete nicht, während das Tier, unruhig gemacht durch das Zittern seiner Beine, den Kopf hob, rasch mit der Nase schnoberte und in lautlosem Satz von seinem Schoß sprang. Bedachtsam und ernst wandte es nach ihm den Kopf, lief in die Ecke zu einigen Kohlblättern und begann zu fressen.

»Kai! Kai! Mach doch auf. Ich weiß doch, daß du drin bist. Habe dich beim Aufschließen gehört.«

Er schlich bis zur Tür. Nur durch die hölzerne Füllung von der Mutter getrennt, murmelte er: »So? Bist du da? War es mit den Puppen nicht genug? Müßt ihr auch dies mit euern Blicken beschmutzen? Spötteln und witzeln? Soll ich alles mit euch gemeinsam haben, die ich hasse? Auch dies hier breitgetreten? Auch dies in den Kreis eurer gütigen Liebe gezogen, die nur ein Aussprechen ist, kein Handeln? – Gehst du! Gehst du weg! Laß mich! Lieber sterben als auch dies geteilt!«

Sie schwieg. Lauschte sie seinen Worten, versengte jene Hitze, die aus dem Nicht-aussprechen-Dürfen hervorbrach, ihre an die Tür gelehnte Wange? Er hörte ihr Seufzen, wie sie sich langsam umwandte und ging.

»So! Weg! Weg! Ganz allein! Ich will euch nicht!«

Sein nicht leises Zurücktreten machte das Geräusch ihrer Schritte verstummen, sie kehrte um und drückte von einer neuen Hoffnung belebt die Klinke.

»Kai! Du bist doch drin! Mach auf! Bitte. Bitte.« Sie rüttelte am Griff.

Er faßte nach ihm. Seine beiden Hände darunterstemmend, zwang er ihn in die Höhe.

»Läßt du den Griff los! Sofort läßt du den Griff los!« rief sie und versuchte mit ihrer ganzen Kraft, ihn hinabzudrücken. Er widerstand, dann, plötzlich loslassend, trat er laut pfeifend zurück, faßte das Kaninchen an den Ohren und warf es zurück in den Käfig.

»Du willst also nicht aufmachen?« Sie wartete. »Dann bleibt nichts, als es Papa zu sagen.« Wieder Stille, dann ging sie, er hörte die Treppenstufen unter ihr knacken.

»Gott sei Dank!« Er schloß langsam auf, blickte den leeren Gang entlang, dann: »Das kann böse werden. – Ach was! Sie sagt ihm nichts. Er wäre sicher nicht einverstanden. Der wollte es klüger machen. – Aber nun dalli!«

Er hob den Käfig hoch, trug ihn in den Kokskeller und verbarg ihn in einer dunklen Ecke. »Hier mußt du schon aushalten, mein Hans, mein Hase, es kommen bessere Tage.« Dann schaffte er schnell die Heu- und Kohlreste fort, schüttete ein paar Arme Holz in die Ecke des Zimmers und schloß befriedigt ab.

Am Frühstückstisch saß nur Kurt. Kai fragte leichthin: »Wo ist denn die alte Dame?«

»Was hast du nur wieder angestellt, Kai! Sie weinte!«

»So ein Quartaner! Willst auch gleich weinen, ja? – Donnerwetter! Donnerwetter! Schon drei Viertel auf acht! Es wird Zeit, daß ich losgehe.«

Auf der Treppe besann er sich. »Was denn noch? Ja so! ›Jettchen Gebert‹! Ilse ist ja auch noch da! Ilse ...«

Dreizehntes Kapitel

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Kai sah Ilse nicht auf seinem Schulweg. Er mußte eilen, um wieder einmal zur rechten Zeit das Gymnasium zu erreichen; über die Treppen hastend, empfand er trüb die fleckige Grauheit der Atmosphäre um sich, die aus Öl und Staub zusammengetrocknete speckige Kruste des Linoleums wollte seinen Schritt hemmen, die ungefügen, plumpen Säulen, deren monotone Bäuche vom Berühren zahlloser Hände schwärzlich beschattet waren, erinnerten ihn an die stumpfe Klebrigkeit seiner Finger, deren fehlende Frische die Länge des vor ihm liegenden Tages ins Unermeßbare ausdehnte. Es schien, als zerrisse in ihm die überspannte Stimmung zu einem flockigen Schleier, der den kleinen Staubballen glich, die man beim Reinmachen in den dunklen Ecken der Schränke findet. Die langen Reihen von Kleiderhaken, an rohe Fichtenbretter geheftet, sagten ihm von neuem, daß er nur einer von vielen sei, die Türen, deren Füllungen, von Trockenheit geborsten und verschoben, gelbe Risse zeigten, waren Barrikaden, so viele schon unter Leiden überklettert, die schlimmsten noch vor ihm liegend.

In dem von Johlen und Schreien strudelnden Klassenzimmer schoß Wellhöhner auf ihn zu und forderte das lateinische Skriptum. Vergessen, natürlich vergessen. »Habe ich Zeit gehabt, daran zu denken? Auch Arne sagte gestern nichts, auch Klotzsch nicht.«

»Hast du das Skriptum, Klotzsch?«

»Natürlich! Du nicht? Au weh!«

Kai schob die Bücher unter seine Bank. Von Lärm umrissen, senkte er den Kopf in seine Handflächen und ließ die Augen über die abgeschliffene Glätte des Pultdeckels gleiten, der von Tinte befleckt die sinnlosen Stricheleien endloser Stunden vorwies. »So viel Entmutigung!«

»Agoraphobie!« schrie Wellhöhner und stürzte klatschend einen Stoß Hefte auf das Pult des Ordinarius. »Ich sage euch Agoraphobie!« Er schwieg, dann rascher, indem er einen sichernden Blick zur offenen Tür warf: »Ich klapperte mit den Schlittschuhen, Scheide riß sich los, schrie: ›Spion!‹ und raste die Straße hinauf. Ich hintennach.«

»Was soll ich tun mit dem Skriptum?« sann Kai, »ich werde sagen, ich war krank. Aber vielleicht war ein Pauker auf dem Ball?«

Wellhöhner strich mit der Hand über sein Kinn. »Seine Frau sagte mir, es sei Wahnsinn, daß ich mit klappernden Schlittschuhen Scheide nach Haus brächte. Ich wüßte, er litte an Agoraphobie. Ich als Primus! Und so weiter. – Nonsens!«

»Was ist Agoraphobie? Muß doch was dran sein«, fragte Thümmel.

»Rindvieh«, schrie Lohmann, »Agora – der Markt, der Platz; Phobos – die Furcht. Platzangst, Verfolgungswahn! Das wußten wir lange.«

»Darum holt ihn die Frau!«

»Oder Wellhöhner muß ihn abliefern.«

»Keinen Schritt geht er allein!«

»Ist er schon je vom Pult heruntergegangen?!«

»Vielleicht ist er heute krank davon –?«

Die Klasse schwieg, sah sich an, grinste. Kai grübelte: »Scheide krank? Das wäre Rettung für mich. Nein, ich will nicht hoffen.«

Am Arm vom Kollegen Bäcker kam Scheide den Gang herauf. Geschwindschritt. An der Tür stehenbleibend, sprach er hastig, überlaut; plötzlich, mitten im Satz, riß er sich los, sprang aufs Pult, deckte den Rücken mit der Schultafel. Bäcker schloß die Tür, und der Unterricht begann, überstürzt rief Oberlehrer Scheide zwei, drei Schüler auf, überhörte die Antworten; dann, ruhiger geworden, ließ er in voriger Stunde Besprochenes sich wiederholen. Seine weißen, zu schmalen Finger fuhren rastlos durch den roten Vollbart. Die blauen Augen durchflogen scharf die verstummte Klasse.

Sorgfältig den Rücken deckend, warf er den wundervoll geformten Schädel zurück, daß die schon gelichteten Haarsträhnen im Zuge flogen.

Kai, zusammengesunken, fragte: »Warum darf ich nicht hoffen? Was wird werden?«

Da, mitten im Fragen, setzte Scheide aus. »Primus«, krähte er laut und bohrte den Zeigefinger begeistert in die Luft. »Gehen Sie sofort ins Konferenzzimmer. Lassen Sie sich die Hefte der Klasse ausliefern. Ich werde die ›Philologische Facharbeit‹ zurückgeben. Sie sollen Ihr Wunder erleben. Los!«

An Wellhöhner vorbei suchte sich Schütt unbemerkt in die Klasse zu drängen. Mit einer Wendung des Kopfes hatte ihn Scheide entdeckt. »He, Schütt! Wo kommen Sie her? Es ist halb neun! Ich werde Sie mit Karzer bestrafen! Was? Ihre elektrische Bahn kam nicht! Gehen Sie früher fort!« Er riß das Klassenbuch auf, während er laut sprach, malte er hinein: »Schütt wird wegen einer halben Stunde Verspätung mit zwei Stunden Karzer bestraft. Was? Sie sind nicht zufrieden! Setzen Sie sich! Was stehen Sie hier, Mensch? Setzen Sie sich!«

Er klappte das Buch zu. »Natürlich werde ich Sie nicht bestrafen. Wenn Sie dumm bleiben wollen, nur zu!«

Mit raschem Griff nahm er Wellhöhner einen Stoß Hefte ab und scheuchte ihn auf seinen Platz zurück. »Charakterisierung von Sallusts ›Bellum Catilinae‹, das war das Thema. Keiner hat's gebracht. Die meisten haben abgeschrieben. Franke, Sie indolenter Mensch, Auszüge aus dem großen Meyer kann ich mir selbst machen. Was, Sie wollen protestieren! Ja, sind wir denn in einer Kleinkinderschule?«

Er sah sich fragend um. »Gewogen und zu leicht befunden. Einwühlen, denken, selber denken, nicht so obenhin. Das ›Bellum Catilinae‹ ist ein Genuß, kein Sibirien. Alles schlechte Noten. Ob Sie sich schämen, weiß ich nicht. Schütt, unterhalten Sie sich in der Pause mit Ihrem Nachbarn. Beste Arbeit hat Goedeschal. Goedeschal, stehen Sie auf!«

›Aber ich will nicht. Was soll ich hier vor den andern? Ans Licht gezerrt stehe ich mit der Gebärde eines sich Vordrängenden.‹

»Sie sollten sich am meisten schämen! Ihren Gedanken fehlt Klarheit. Sie haben nicht gedacht, Sie haben geträumt. Die Klasse hört den Schluß: ›Und doch, wenn wir das ganze Werk noch einmal durchblättern, finden wir nur eine Stelle, in der Sallust wirklich schön und anschaulich schreibt. Und diese Stelle lautet: Catilina wurde weit entfernt von seinen Leuten zwischen den Leichnamen der Feinde gefunden, ein wenig noch atmend, und den trotzigen Sinn, den er im Leben besessen, noch im Tode verratend.‹ – Sie haben das gefühlt, Goedeschal, nicht gedacht. Lächerlich, daß dies die anschaulichste Stelle sein soll. Aber sonst gut. Setzen Sie sich. Was wollen Sie noch? Sie haben Ihr Skriptum vergessen? Bringen Sie es morgen mit. Setzen Sie sich, Mensch. Träumen Sie nicht wieder, setzen Sie sich.«

»Und doch habe ich recht. Denn ich sehe ihn, nur hier in diesem ganzen Buch sehe ich ihn. Er liegt einsam, erschlagen unter Feinden. Jubelnd stürzte er vor. Es war viel Rot um ihn. Aber nie war der Tod ferner von ihm als in jenem Augenblick, da das Schwert auf ihn zuflog. Dann lag er da, er hatte nicht Zeit gehabt, müde zu werden, feige zu sein. Eben noch stürzte das ganze Leben trunken durch seine Adern. Nun strömt es fort in die Erde, und es ist gut, so dazuliegen mit einem weiten Himmel über sich und der Erde wieder zu schenken, was sie ihm gab. – War ich es nicht, der im Dämmer nach ihm suchte? Zwischen den Stöhnenden irrend, wußte ich, er mußte stumm daliegen. Dann fand ich ihn. Seine Handflächen waren nun weit und plan. Aber sein Mund lächelte trotzig, stolz, verächtlich wie damals, da er den Fackelbrand seiner zerhackten, rasenden Reden in unsere Seelen leuchten ließ. Habe ich nicht an seiner Seite gekniet, in seinem klebrig gewordenen Blut und habe ihm gedankt, daß er mich, schon tot, den Mut lehrte? Ach, wo waren da die andern! Wo war Scheide, Arne, Klotzsch! Einsam kniee ich, fern und allein in der Dämmerung, und seine toten Lippen lächeln mir zu.«

Er senkte den Kopf. Es war schwer, den Rückweg zu finden aus dem durchglühten Aschengrau dieser Sterbestunde zu dem staubtrockenen Grau der Schule. Was lohnte es sich zuzuhören! Sie waren alle weit fort. Er war doch allein. Wenn doch erst der Mittag da wäre!

Vierzehntes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Aber dann klingelt die Glocke viel zu früh. Nun muß er sich mit den andern hinausdrängen, Arne anbetteln, nun muß er wieder einmal erfahren, daß der Schritt bis zum Mittagessen so kurz nicht ist, daß noch drei Stunden vor ihm liegen, drei Stunden Mathematikarbeit, und er kann keine Mathematik!

»Arne, steckst du mir die Lösungen zu?«

»Jaja, natürlich.«

»Wann?«

»Nun, wenn ich fertig bin, so ...«

»Nein, nein, das geht nicht. Lieber Arne ...«

Franke drängt sich dazwischen. »Schütt! Goedeschal! Glaubt ihr, ich lasse mir das gefallen? Die ganze Klasse ist Zeuge. Indolenter Mensch hat er gesagt.«

»Ach geh!« murmelt Kai, »wir haben zu tun.«

Doch Franke beharrt und Arne, Arne hört ihm zu. »Eine Fünf darf er mir geben. Auch Karzer wegen Abschreiben. Aber er hat mich nicht zu beschimpfen! Ich sage es meinem alten Herrn. Was meinst du, Schütt?«

Arne antwortet, sie sprechen beide, Schütt und Franke, ein langes über die Schwere der Beleidigung, über die Art der zu erhebenden Einwände. An die Mauer gelehnt, verfolgt Kai mutlos das Wandern der Zeiger, gleich ist die Pause vorüber, und von Arne hat er nicht mehr als ein »Jaja«. Er sucht Arnes Blick einzufangen. Und dann denkt er daran, daß er diesmal nicht nur eine genügende, nein, eine gute Mathematikarbeit schreiben muß, sonst bleibt er zu Ostern sitzen, und daß er nichts weiß.

»Arne ...«

Aber noch immer hört Arne nicht, und nun fühlt man immer tiefer die Entmutigung, ein schweißtreibendes Entwürdigtsein durch das Hier-Warten, Hier-Betteln, Hier-noch-immer-Stehen. Wie wäre Empörung schön, aber Empörung kann man sich nicht leisten, denn man muß ja die Lösungen der Arbeit bekommen.

Bis wirklich die Glocke anschlägt, bis er dann in der Klassentür abgerissen, schmerzend die Zusage erhält: »Um zwölf. Verlaß dich drauf. Punkt zwölf. Ich verspreche es dir.«

Dann geht man wieder auf seinen Platz, und nun kann man wieder wünschen, daß bald Mittag ist, denn – nicht wahr? – nun hat man ja alles in der Hand, man hat sich gesorgt, bekümmert, aber dann das Schwere aus dem Weg geräumt und sich's teuer genug verdient, leicht zu sein.

Fünfzehntes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Kai schiebt sein Heft von sich. Es freut ihn, diese Gleichungen zu lesen, diese a2 und b2, diese Wurzelzeichen als fremde und ganz neue Dinge zu betrachten, die sich haben eindrängen wollen und die ihn nun doch gar nichts angehen.

Während er seinen Blick sichernd über den wolligen, tiefgesenkten Kopf Professor Bäckers gleiten läßt, blättert er weiter in seiner Kladde, fühlt das glatte Zurückgleiten der Seiten und liest das Gedicht, sein Gedicht, das er im Sieg über diese Stunden für Ilse geschrieben. Mathematikarbeit, aber nein, statt dessen ein Gedicht für Ilse! Dieses in »Jettchen Gebert« hineingelegte Blatt eines Tages findend, wird sie im halb verbotenen Überfliegen glauben, es sei durch Zufall im Buche.

Kai reißt ein Blatt aus seinem Heft, er schreibt die Zeilen ab, und ehe er sie knifft und in den Roman schiebt, liest er noch einmal die letzten Worte:

»Niemand verstand das stumme Flehen meiner Augen,
Und in dem Zittern der verkrampften Hände
Erkannten sie nur die empfangene Spende ...
Das ist mein Leid bei diesem Erdenwandeln.«

»Ja, dies ist alles und doch nicht zu viel. Abgesondert von allen mit traurigen Augen beiseitestehend, kann ich doch nicht – hier wird sie es fühlen – zu den andern treten, der ich so viel mehr bin als sie. Die Melancholie dieser Zeilen wird sie verführen, weich zu sein bei mir, und am Ende werde ich, den Kopf in ihrem Schoß, ausruhen können, meine Sorgen in ihre Hände hineinwachsen sehen und, nun ganz erleichtert, mich vor ihr neigen und ihre Hand küssen dürfen.«

Er sah vor sich. Wacher werdend, ließ er den Blick durch die Klasse gehen, und die Belebtheit der andern, ihr Zurechtrücken, ihr Blättern in Büchern ließ ihn leicht erschreckend zusammenfahren. Aber, da er nun begriff, als er sah, daß sie fertig waren, als die hastig hervorgezogene Uhr ein Viertel auf eins zeigte, hallte der Schreck, wie auf Messingplatten gehämmert, stärker, ein betäubender Lärm brach in ihm aus, er schrak zurück, sein Kopf strudelte, Wasser schien endlos zu stürzen.

Noch hoffend, schon verzweifelt, flüsterte er zum Nachbar: »Bist du schon fertig?«

»Längst! Du nicht? Ist doch blödsinnig einfach!«

Kai warf den Kopf herum, sah nach Arne: der blätterte in einem Buche. »Natürlich hat er sie nicht geschickt! Wieder vergessen! Hat gedacht, ich bekäme die Lösungen allein heraus. Aber ich habe doch sein Versprechen ...«

Er fühlte das Näherkommen der Gefahr, noch saß Bäcker mit gesenktem Kopf, aber wie lange noch, dann hörte er das Rascheln, das Rücken, das Atmen, sah auf und begriff.

»Nein, ich muß mich zusammennehmen. Noch ist nichts verloren.«

Er zitterte. »Wie ist es? Die Kubikwurzel aus ...«

Er schob die Kladde zurück. »Ich habe keine Zeit. Ich muß gleich ins reine schreiben.«

Blättern in der Logarithmentafel. »Ich finde nichts.« Dann, die Hände sinkenlassend: »Nein, es geht nicht. Ich bin verloren. Ich kann nichts tun. Mag kommen, was will.«

Er saß rascher atmend. »Kann ich denn mein Heft leer abgeben?! Ostern sitzenbleiben? Die Eltern ... heute früh. Es straft sich.«

Grübelnd: »Es? Was? – Es?«

Schneller: »Nein, das hilft mir nichts. – Müller, laß mich abschreiben. – Ich kann nichts sehen! – Nein, so geht es nicht. Schieb das Heft rüber, weiter! – Wie ist das? – Was heißt das? Sinus α? – Es geht nicht!« »Ich habe noch eine halbe Stunde. Ich schreibe an Arne.«

»Natürlich!«

Er schrieb. Der Zettel wanderte.

»Goedeschal, drehen Sie sich nicht um!«

Es war geschehen, Bäcker war wach geworden!

»Durch mich!«

Die Klasse schwieg, dann fiel ein Lineal rasselnd zu Boden, Zurechtrücken, Bücherklappen. Kai wagte nicht aufzusehen. Aber dann kam die Stimme wieder, und nun schob Kai den Federhalter weg. »Nutzlos!«

»Nun, wieweit sind wir? Hat jemand die ganze Arbeit fertig? Aufstehen!«

Kai überflog sie: Müller, Wellhöhner, Thümmel, Klotzsch, ach, so viele, und, dort hinten, Arne!

»Hat jemand schon vier Aufgaben fertig?«

Wieder.

»Und drei?«

Andere Köpfe, die hochschießen.

»Und zwei?«

(›Ach! Schneller, schneller!‹)

»Und eine?«

Kai sah nicht mehr auf.

»Und gaaaaar keine?«

Es zerrte und schob ihn aus der Bank. Er stand.

Es war ihm, als sei er sehr hoch über der Klasse, in anderer Luft. Und sehr allein. Sein Gehirn war abgestorben. Kraftlos und matt hingen die Hände herab. Kein Laut schien zu ihm zu dringen. Was sagten sie? Lachten sie? Hatte Bäcker gesprochen? Aber dann war die Stimme wieder da: »Goedeschal, bringen Sie Ihre Kladde!«

Das war die einzige Stimme, der einzige Laut, und sonst gab es nichts auf der Welt. Kai griff das Heft. Es suchte sich, zwischen zwei Fingern aufgehängt, ihm zu entziehen. »Was will es? Habe ich etwas vergessen? Nein! Nichts?«

Dann: »Doch, habe ich etwas vergessen! Aber ich weiß nicht mehr.«

Noch immer an seinem Platz fühlte er die kühle Glätte des Papiers zwischen seinen Fingern.

»Doch weiß ich. Aber ich kann jetzt nicht daran denken.«

Er ging auf das Pult zu, er mußte sehr vorsichtig auftreten, sonst zerbrach etwas in ihm. Die Gesichter seiner Kameraden waren gespenstergleich und aufgeblasen an den Seiten seines Weges, unter ihm wie Kohlschosse aufgewachsen. Automatenhaft rollten ihre Augen auf ihn zu. Hier war die Stufe zum Katheder. Ganz hoch auf den Zehenspitzen, versuchte er die Beine anzuziehen, die zu tief unter ihm waren. Bald wäre er doch gestolpert.

»Geben Sie schon her!«

Und nun durfte er es wieder wissen: »Warum habe ich denn die Seite nicht herausgerissen?! Vielleicht hätte ich's doch gekonnt.

Sind noch andre da? Hinten in meinem Hirn wird ein Film abgerollt, aber vorn denkt's: noch kann ich zugreifen, ihm das Heft fortreißen. Alles besser, als daß er die Verse findet. – Ah! ...«

Die Hände hatten aufgehört zu blättern. Kai wußte, was auf der Seite stand. Warum machte niemand in der Klasse Lärm? Kai stampfte mit dem Fuße auf, aber nur ein kleines, dürres Geräusch wie das Knarren einer Sohle kam zu ihm herauf.

Professor Bäcker schloß das Heft. Für einen Augenblick hielt er es in der Schwebe, legte es dann auf den Pultdeckel. Und wieder griffen die Hände zu, die Kai als seltsam zerfressen und in geweitete Haut gesteckt aus dem Augenwinkel sah, schoben es rechtwinklig zum Holzrand. Sie glitten zurück, und nun war alles entschieden.

Professor Bäcker räusperte sich. »Hierüber kann ich nicht befinden. Ich werde mich mit Herrn Direktor ins Benehmen setzen. – Gehen Sie, Goedeschal. Hefte einsammeln, Wellhöhner.«

Aufstürzender Lärm. Pultdeckelschlagen. Die Tintenfässer klapperten. »Herr Professor ... ich ... ich ... Sie ... Sie ...«

»Ich sage Ihnen ja: ich kann nichts entscheiden. Setzen Sie sich.«

Wieder saß er. Der Nachbar flüsterte: »Was ist denn?«

Er zuckte die Achseln. Überall drinnen brachen die Tränen hervor, und in seinem Innern rauschten sie wie endlose graue Vorhänge.

Der Primus zögerte an seinem Platz. »Was war denn los? Karzer?«

Kai reichte ihm das leere Reinschriftheft.

»Auch das kommt noch! Strafe! Karzer! Die Eltern. Endlich triumphiert Mama. Ich muß flehen, betteln, traurig sein, bereuen. – Aber er hat uns betrogen! Bis eins hatten wir Zeit, und um halb eins hat er die Hefte einsammeln lassen. Ich wäre fertig geworden, bestimmt. – Aber nein, ich sage den Eltern nichts, ich kann nicht. Ich flehe ihn an. Gleich nach der Stunde, auf dem Gang.«