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© Piper Verlag GmbH, München 2002
Redaktion: Susanne Härtel, München
Umschlaggestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München
Umschlag- und Innenteilfotos: Carmen Rohrbach
Kartografie: Margret Prietzsch, Gröbenzell (Seite 6/7) und GEO-Grafik (Klappkarte im Bildteil), Quellen: Wasserwirtschaftsamt und andere, entnommen aus GEO-Special München 2/2003
Litho: Lorenz & zeller, Inning am Ammersee
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Aus Felswänden tropft Wasser, sickert zwischen Moosen und Farnen, sammelt sich zu einem Rinnsal und fällt schließlich als dünner Strahl in die Tiefe einer Schlucht. Auf meiner Spurensuche habe ich ihn entdeckt, den Ursprung, die Quelle der schönen grünen Isar.
Um ihr einige Geheimnisse zu entlocken, habe ich mich auf den Weg gemacht, von der Quelle in den Alpen bis zur Mündung in die Donau – meist zu Fuß, aber auch mit dem Floß, dem Fahrrad oder im Winter auf Skiern, zu allen Jahreszeiten und bei jedem Wetter. Über ein ganzes Jahr verteilt habe ich so versucht, mich der Isar zu nähern, ihre Persönlichkeit zu erforschen.
An ihren Ufern habe ich seltene Pflanzen gesehen und scheue Tiere entdeckt, habe die einzigartige Landschaft mit ihren unverwechselbaren Dörfern und Städten erlebt und mir viel Zeit gelassen, mit Menschen zu reden, die am Fluss leben und von ihm leben. Ihre oft abenteuerlichen Geschichten habe ich aufgeschrieben und ihren Anekdoten gelauscht.
Natürlich konnte ich nicht übersehen, dass auch die Isar, wie die meisten Flüsse in Europa, von gewaltsamen Eingriffen nicht verschont geblieben ist. Weil man ihre Wasserkraft nutzen wollte, wurde begradigt, eingedämmt, aufgestaut, kanalisiert. Seitdem bringt ihre gebündelte Energie die Turbinen von – man glaubt es kaum – 28 Kraftwerken zum Rotieren. Darüber hinaus hat sie die Abwässer der Klärwerke zu verdauen und nicht zuletzt die Hitze von Atomkraftwerken herunterzukühlen.
Trotz allem, ich habe den Fluss nicht unbedingt als »kastrierten Wildfluss« erlebt, wie es ein Isarfreund sarkastisch formulierte. Im Gegenteil – selbst nach diesen gravierenden Verbauungen ist die Isar an vielen Stellen immer noch ein wildes Gewässer. Es war beruhigend für mich zu beobachten, wie sie immer wieder versucht, ihr Korsett aus Stahl und Beton zu durchbrechen, und es ihr gelingt, wilde Tiere und Pflanzen in die Millionenstadt München zu schmuggeln. Noch an der Mündung gestaltet sie eine Urlandschaft, die in Deutschland einzigartig ist.
Das über den Kies rauschende Wasser, so scheint es mir, will ein Geheimnis verkünden. Ich weiß, das Unerklärliche lässt sich schwer in Worte fassen, aber vielleicht gelingt es mir in diesem Buch, den geheimnisvollen Gesang der Isar erklingen zu lassen.
Für »meinen« Fluss kann ich mir keinen passenderen Geburtsort vorstellen als das wilde Karwendelgebirge in den Alpen. In vier langen Bergketten erstreckt es sich von Ost nach West und schließt drei Täler ein.
Das Felsenreich duldet nur zeitweise Gäste: im Sommer die Bergwanderer und den Almauftrieb des Viehs, im Winter einige verwegene Skitourengeher. Die Bergketten aus lichtgrauem Kalkgestein können nur geübte Wanderer überschreiten, und der schroffe Felsaufbau mit seinen schwindelerregenden Abstürzen, Spitzen und Pfeilern ist sowieso nur etwas für die Spezialisten unter den Felskletterern. So entzieht sich das Karwendel auf natürliche Weise den Aktivitäten der Menschen und blieb bis heute eines der ursprünglichsten Gebiete der Alpen.
Quellensuche – ein aufregendes Spiel. Irgendwo in diesen Bergen entspringt die Isar, aber wo genau? Der Streit um die einzig richtige Isarquelle ist alt. Die Scharnitzer hatten im Hinterautal, in einer Gegend, die von alters her »Bei den Flüssen« heißt, eine Tafel angebracht mit der Aufschrift »Isar-Ursprung«. Das Schild war wenig später verschwunden und weiter oben im Gebirge am Halleranger, das schon zu Tirol gehört, tauchte ein neues auf: »IsarQuelle«.
Als wolle sie sich von Anfang an mit einem Geheimnis umgeben, macht es uns die Isar schwer, ihren Geburtsort genau zu bestimmen. Kann es eine spannendere Voraussetzung für meine Quellensuche geben? denke ich, als ich an einem sonnigen Tag im Juli in Scharnitz aus dem Zug steige und den Rucksack schultere. Mein Plan ist einfach: Ich will dem Flusslauf hinauf in die Berge folgen, bis dorthin, wo das Wasser erstmals ans Licht kommt.
Vom Bahnhof aus gehe ich geradewegs durch den Ort und suche meinen Fluss. Nachdem ich ein paar Straßen überquert habe, stehe ich auf einer Brücke – eine Inschrift zeigt an, dass sie in den Jahren 1963/64 erbaut wurde – und blicke hinab auf ein schnell fließendes, weiß schäumendes Gewässer, kein Bach mehr und doch noch zu schmal, um bereits ein Fluss zu sein. Trotzdem, es ist schon die Isar. Die Erwartung kribbelt in mir. Wie mag die Stelle aussehen, an der sie zum ersten Mal an die Erdoberfläche tritt?
Der kleine Ort Scharnitz liegt bald hinter mir und ich steige auf breitem Forstweg hinauf ins Gebirge. Die Isar ist von diesem Weg aus nicht sichtbar und so verlasse ich ihn, schlage mich durch den Wald, bis ich vor einer Abbruchkante stehe und in eine enge Klamm blicke. Tief unten rauscht sie, die Isar. Sie hat den Felsriegel durchbrochen. Türkisblau leuchtet sie zwischen senkrechten Wänden.
Ein Raunen schwingt durch die Luft – der Wind hält Zwiesprache mit den Blättern. Auf Moospolstern malen Sonnenstrahlen goldene Kringel, es riecht nach moderndem Holz und nach Pilzen. Im Schatten des Waldes gedeiht blauer Schwalbenwurzenzian und dort, zwischen braunem Laub, lockt mich eine rote Blüte. Ich knie mich nieder und staune: ein wildes Alpenveilchen! Blumenläden quellen über von gezüchteten Alpenveilchen, und wohl niemand denkt bei seinem Namen daran, dass es ursprünglich aus den Alpen und anderen Hochgebirgen stammt, niemand schätzt es als besonders wertvoll ein. Weil diese zarte Blütenpflanze aber wild und frei hier im Gebirgswald wächst, ist sie für mich wie ein kleines Wunder und ein gutes Omen gleich zu Beginn meiner Isarwanderung.
Am fließenden Wasser dem Ursprung entgegenzugehen ist einfacher gesagt als getan. Nach wenigen Kilometern entstehen Zweifel, denn von links schnellen Wassermassen in die Felsenklamm und vereinigen sich mit der Isar. Es sind nun zwei Quellbäche. Welchem soll ich folgen? Mittels Wanderkarte klärt sich das Problem: Es ist der Karwendelbach.
Zwei Kilometer später wieder ein wild schäumendes Wasser, diesmal von rechts, der Gleirschbach. Wäre ich in einem unerschlossenen Gebiet, müsste ich den drei Quellbächen folgen und sie vermessen, um den längsten und damit die Quelle meines Flusses festzustellen. Aber Kartografen und Hydrologen haben diese Arbeit längst vollbracht. Trotzdem bleibt die Suche nach der Isarquelle für mich reizvoll.
Bisher habe ich von oben in die Schlucht hinabgeblickt. Mehr als fünf Kilometer lang ist dieser Felsriegel, den die Isar zerteilt hat, beharrlich wie nur Wasser es vermag. Am Ende der letzten Eiszeit vor 11000 Jahren war es endlich so weit – die Isar hatte den Fels bezwungen und sich ihren Durchgang frei gespült, gewissermaßen war es ihre Geburt.
Dann weitet sich die Schlucht zu einem Talgrund, dem Hinterautal, und ich kann am Ufer entlangwandern. Glockenblumen nicken mit hellblauen Blüten im Wind, als wollten sie mit unhörbarem Klingen in das murmelnde Wasser einstimmen. Zart sehen diese Pflanzen aus, aber ihre unterirdischen Ausläufer sind zäh und verankern das lockere Geröll.
Ungehindert kann die Isar in der weiten Ebene ihren Lauf wählen. Sie breitet sich aus, teilt sich in immer neue Rinnsale, sammelt sich wieder zu einem munter springenden Gebirgsbach, der seine kalkweißen Kiesel über das Tal verstreut.
Das kristallklare Wasser ist hier noch keineswegs isargrün, sondern eisblau und beißend kalt. Dennoch macht es mir Vergnügen, barfuß hindurch zu waten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rette ich mich auf eine Kiesfläche und genieße es, wie sich meine Beine vom Kälteschock erholen. Doch kaum sind sie warm, verlockt es mich wieder, in das eisige Nass zu steigen. Es ist aber nicht nur die Kälte, die mich fasziniert, sondern auch die ungestüme Kraft der jungen Isar. Obwohl mir das Wasser nur bis zu den Waden reicht, brandet es wütend an, droht mich umzuwerfen und mit sich zu reißen.
Sonnenstrahlen zeichnen ein netzartiges, sich dauernd veränderndes Muster auf den steinigen Untergrund. Ich kann mir kaum vorstellen, dass in diesem eiskalten und nährstoffarmen Wasser Tiere existieren können. Neugierig wälze ich einige Steine zur Seite und werde tatsächlich fündig. Seltsame Wesen hocken in den Mulden oder haften an Steinen: die Körper platt gedrückt, die Köpfe glupschäugig, pinselartige Ausstülpungen beidseits des Hinterleibs und drei gespreizte Schwanzborsten. Nur wenige Millimeter messen diese urigen Tiere. Wären sie größer, würden sie furchterregenden Monstern gleichen.
Es sind die Larven von Eintagsfliegen. Ihre Jugend verbringen sie oft über Jahre hinweg bei niedrigen Temperaturen im reißenden Wasser. Als fertiges Insekt leben sie nur Stunden, tanzen als Wolke über dem Wasser, suchen und finden einen Paarungspartner.
Quer über der Isar liegen modernde Baumstämme, Naturbrücken für Marder, Füchse und andere Wildtiere. Auch ich balanciere ohne Mühe von einem Ufer zum anderen, schlage mich durch ein Dickicht und folge einem weiteren Zufluss bis zu einem Sumpf. Ich lausche den blubbernden Geräuschen und sehe Wasser, das sich seinen Weg ans Licht bahnt.
Jetzt wäre es Zeit für ein ergreifendes Gefühl – denn ich befinde mich am offiziellen Isar-Ursprung »Bei den Flüssen«. Aber war da nicht noch dieses andere Schild mit der Aufschrift »Isar-Quelle«, einige Kilometer weiter oben im Gebirge, beim Halleranger?
Ich denke mir, »meine« Isar ist eben von Anfang an etwas Besonderes. Mit nur einer Quelle gibt sie sich nicht zufrieden. Wen stört es da, dass dieses zweite Quellwasser oben am Halleranger zunächst Lafatscherbach heißt?
»Was! Alles zu Fuß von Scharnitz? Bist du denn narrisch, den ganzen langweiligen Weg bis rauf zur Hallerangeralm zu gehen?«
Verständnislose Blicke mustern mich. Einer der knallbunt gekleideten Biker fragt mitfühlend: »Hast du denn kein Fahrrad?«
Die Radtouristen werden nachdenklich, als sie von meinem Plan hören.
»Das wär mal was – von der Quelle zur Mündung. Gar nicht dumm!«, meint einer mit pinkfarbener Latexhose.
»Wir sind dabei, aber nur mit dem Bike!«, rufen die anderen im Chor. Dann greifen sie sich ihre dick bereiften Räder und schieben sie den steilen Pfad zur Kastenalm hinab. Wegen der lockeren Steinblöcke trauen sie sich nun doch nicht zu fahren.
Von Scharnitz zum Halleranger sind es 25 Kilometer und 800 Höhenmeter. Fünf Stunden Gehzeit wird in der Tourenbeschreibung dafür angesetzt. Zur Kastenalm, 550 Meter weiter unten, ist der 20 Kilometer lange Weg so gut befahrbar, dass ich zu Fuß als Exot belächelt werde. Ich würde aber nicht tauschen wollen. Mit dem Fahrrad ist man zu schnell und fährt an allem vorbei, da hätte ich nicht das Alpenveilchen entdeckt, nicht in die wilde Schlucht hinabgeblickt, nicht den einströmenden Karwendel- und Gleirschbach gesehen, wäre nicht durch eisiges Wasser gewatet und hätte nicht Eintagsfliegenlarven gesucht. Nur zu Fuß hat man die passende Geschwindigkeit, dass sich die Sinne öffnen und die Gedanken frei schwingen können.
Umgeben ist die Hallerangeralm von lichtgrauen Felsgipfeln: Lafatscher, Speckkar, Bettelwurf, Gamskar heißen sie. Ein sanft rieselnder Wiesenbach zieht in zahlreichen Windungen leise plätschernd den Hang hinab – die Isar, alias Lafatscherbach. Die Spannung wächst: Wo mag der Bach entspringen?
Wenige Minuten von der Berggaststätte Hallerangeralm entfernt, verkündet ein Holzschild: »Isar-Quelle«. Aber wie enttäuschend! Trotz der schriftlichen Ankündigung ist das Bachbett trocken, die Kiesel bleichen in der Sonne. Am Ufer wuchert Latschengestrüpp.
Erst hundert Meter almabwärts drückt Wasser zwischen Gräsern nach oben und speist den Wiesenbach. Das Bild will so gar nicht mit meiner Erwartung übereinstimmen. Deshalb steige ich im trockenen Bachbett weiter hinauf. Zunächst führt es mich in Richtung Überschalljoch und zielt dann nach einer scharfen Kehre zur Gamskarspitze.
Der Anstieg in der glatten Bachrinne wird zur Klettertour. Bedrohlich ragen riesige Kalkwände vor mir auf. Überhängender Fels formt eine Grotte. Aus einer Vertiefung tropft es sacht. Wassertropfen um Wassertropfen quillt hervor. Hier – aus dem Fels geboren – beginnt der Lebensweg meiner Isar.
Das Gestein hat Regen und Schmelzwasser aufgenommen, es in Hohlräume gesogen und durch verborgene Spalten und unterirdische Gänge geleitet, bis es als Quellwasser das erste Mal seit seinem Sturz aus den Wolken wieder ans Tageslicht tritt. Die junge Isar rinnt am Fels entlang und füllt ein Steinbecken. Rings um die klare Wasserfläche wachsen Bergblumen. Ein Ort verschwiegener Schönheit, umgeben von mächtigen Bergen.
Ein Zelt aufzubauen im »Alpenpark Karwendel«, dem größten Naturschutzgebiet der Ostalpen, ist verboten, doch ein »Notlager« muss erlaubt sein und so übernachte ich im Schlafsack auf einer winzigen ebenen Fläche am Überschalljoch. Zum Hallerangerhaus, der schon im Jahr 1924 von der Sektion Schwaben erbauten Bergsteigerhütte, sind es zwar weniger als dreißig Minuten, dort aber finde ich nicht, was ich in den Bergen suche. Es freut mich immer wieder, dass ich trotz Massentourismus auch Stille und Einsamkeit im Karwendel genießen kann.
Später glänzt über mir auf samtschwarzem Grund der Sternenhimmel, wie man ihn so klar im Tal niemals sehen kann.
In der Morgenfrühe legt sich die Kälte der Nacht als Tau auf die Spitze jedes Grashalms. Ich kuschle mich tiefer in den Schlafsack und warte auf den Sonnenaufgang.
Als die Sonne endlich ihre Strahlen auf die Erde fallen lässt, werden die stillen Berggipfel in eine Farbenpalette getaucht: Pink, Orange, Zinnober, Purpur – die Farben wechseln in rascher Folge und verglühen in wenigen Minuten. Steigt die Sonne höher, nehmen die Felsen wieder ihren gewohnt grauen Ton an.
Mit dem Fernglas mustere ich die Almwiesen und entdecke ein Murmeltier. Bewegungslos lässt es sich von der Morgensonne die Nachtkälte aus den Gliedern treiben. Dann putzt sich das Mankei, wie es in Tirol genannt wird, gründlich den Pelz und beginnt zu fressen.
Auch seine Familienmitglieder kriechen nun aus den Erdhöhlen. Murmeltiere leben immer zusammen in einer Großfamilie. Besonders die jungen Tiere spielen gern miteinander, sie stupsen sich gegenseitig mit den Nasen an, tollen und toben. Dann rücken sie der Mutter auf den Pelz, klettern ihr auf den Rücken und rutschen hinten wieder hinunter. Geduldig lässt sie ihre Kleinen gewähren. Die Jünglinge vom letzten Jahr dagegen gebärden sich rauflustig. Auf der Suche nach einem Gegner patrouillieren sie durch die Kolonie, wedeln aufgeregt mit ihren buschigen Schwänzen, schlagen sie auf und ab und steigern sich in Erregung.
In meinem Versteck habe ich gute Sicht auf die lebhaften Szenen und werde wieder einmal belohnt für geduldiges Schauen, denn beim Wandern sieht man meist nur Tiere, die vor einem flüchten.
Ein Murmeltier richtet sich plötzlich auf und pfeift. Blitzschnell verschwinden alle in ihren Höhlen, als Letzter flüchtet der Warner. Oben am Himmel sehe ich einen dunklen Punkt und erkenne im Fernglas den Steinadler. Unglaublich, dass der Wächter den weit entfernten Greifvogel entdecken konnte. Aber er ist nun einmal der gefährlichste Feind der Murmeltiere und da heißt es aufpassen.
Der Vogel lässt sich tief herabfallen und ich bemerke seine hellen Flecken, also ist es noch ein junger Adler. Erst mit fünf Jahren wird das Gefieder dunkelbraun, dann sind Adler erwachsen und können sich fortpflanzen. Nachdem der Mensch die Steinadler unerbittlich verfolgt hat, sind sie jetzt geschützt und kommen im gesamten Alpenraum wieder vor, aber es ist immer noch ein seltenes Glück, einen von ihnen zu sehen.
Der Jungadler streicht die Berghänge entlang. Ob sich wohl ein unvorsichtiges Murmeltier herauswagt? Er dreht ein paar Runden und gleitet, vom Aufwind getragen, ohne Flügelschlag davon.
Ein halbes Jahr später, im Januar, will ich nachschauen, wie es meiner Isarquelle im Winter ergeht. Beim Alpenverein hole ich mir den Schlüssel für den Winterraum des Hallerangerhauses und steige mit Tourenskiern auf. Ich erlebe eine Bergwelt, die unberührt und völlig einsam erscheint. Menschen begegne ich nicht und ich fühle mich wie am fernsten Ende der Welt.
Wintermorgen. In klirrender Eiseskälte schimmert die Sonne blassgelb an einem Himmel voller Schneewolken. Wenig Kraft hat die Sonne so früh am Morgen, aber sie lässt die Schneekristalle glitzern und verheißt den Lebewesen, die während des Winters hier oben ausharren, einen neuen Tag voller Herausforderungen.
Bei der Quelle dampfen Wölkchen in die frostklare Luft. Obwohl von hohen Schneewehen umgeben, ist die Quelle doch eisfrei, wie das Atemloch eines Seehundes im Nordmeer. Der Quellbach führt mehr Wasser als im Sommer und mit reißender Kraft wehrt sich die junge Isar gegen das Erstarren zu Eis.
Die Berge ringsum scheinen ohne Spuren von Leben, nur vom Wind blank gefegter Fels. Aber dort! Etwas hat sich bewegt! Ein dunkelbrauner Körper sucht Schutz hinter einem Felsblock vor dem eisigen Nordwestwind. Tief senkt das Tier seinen Kopf mit den gebogenen Hörnern zum felsigen Grund.
Einmal aufmerksam geworden, entdecke ich eine Herde von acht Tieren. Es sind Steinböcke, die sich dort aufhalten, wo kein Leben mehr möglich scheint. Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie durch übermäßige Bejagung fast ausgerottet, und nur im letzten Moment konnte der Alpensteinbock vor dem Aussterben bewahrt werden. In den Hohen Tauern hatte sich ein kleiner Bestand erhalten, die nun geschützten Tiere vermehrten sich und wurden in vielen Alpengebieten, auch im Karwendel, wieder angesiedelt.
Vom Höhenwind aufgewirbelt, tanzt lockerer Pulverschnee als eisiger Staub in der Luft. Vorsichtig bahne ich mir mit den Skiern einen Weg durch die weiße Welt. In einer Schneemulde hockt ein Tier. Reglos lässt es sich einschneien, nur an seinen schwarzen Ohrspitzen habe ich den Schneehasen erkannt. Auf den Wärmespeicher eines schwarzen Fells muss er verzichten und im Winter ein weißes Tarnkleid anlegen, denn seine Feinde sind gefährlicher als die Kälte. Wird er aber doch einmal von einem Fuchs oder Steinadler entdeckt, kann er sich oft mit einem rasanten Spurt retten, denn an den Pfoten trägt er bürstenartige Haare, die ein Einsinken im Schnee verhindern, so ähnlich wie ich mit Skiern meine Auftrittsfläche vergrößere.
Die Sonne steht jetzt hoch am Winterhimmel und der Schnee reflektiert ihre Strahlen. Mir wird warm und ich stopfe Anorak und Pullover in den Rucksack. Am gegenüberliegenden Hang scharren Gämsen im Schnee nach Nahrung. Wie die Steinböcke begegnen sie der Winterkälte mit dickem Pelz, dunkler Farbe und einer Speckschicht; auch ihre Hufe sind raffiniert ans Klettern angepasst.
Ein leises Knarren dringt durch die hoch gelegenen Kare. Alarmiert werfen die erfahrenen Geißen die Köpfe hoch, während die Junggämsen weiter nach verschneiten Pflanzen suchen. Das unheimliche Geräusch kommt näher, verstärkt sich zu einem gewaltigen Donnern. Die Gämsen ergreifen die Flucht. Schneemassen haben sich vom Berg gelöst und donnern nun als Lawine herab. Tödlich für alles, was sich in ihrer Bahn befindet. Diesmal sind die Tiere schnell genug und können dem weißen Tod entkommen.
Vom Hang gegenüber habe ich den dramatischen Abgang der Lawine erlebt, und obwohl ich hier sicher bin, starre ich noch immer wie benommen auf die Spur der Verwüstung.
Über den Gipfeln kreisen zwei Adler, fliegen in engen Spiralen himmelwärts. Plötzlich stoßen sie zusammen, verschmelzen und fallen zu zweit der Erde entgegen. Bevor es gefährlich wird, lösen sie sich voneinander, schrauben sich wieder hoch, steigen und sinken – das Paarungsspiel der Steinadler an diesem sonnigen Wintertag im Januar.
Sie beginnen zeitig im Jahr mit der Nachwuchsplanung, tragen schon im Februar Nistmaterial zu ihren Horsten in den Felsnischen. Anfang März, wenn die Berge noch tief verschneit sind, werden die Eier gelegt. Sobald die Nestlinge schlüpfen, brauchen sie viel Futter. Wichtigste Nahrungsquelle sind von Lawinen getötete Tiere. Nach einem schneereichen Winter mit zahlreichen Lawinen können viele Jungvögel überleben, nach schneearmen Wintern dagegen verhungert mancher junge Adler. Lawinen kosten einige Tiere das Leben, anderen aber, wie den Steinadlern, sichern sie ihre Existenz.
Die Geheimnisse der Natur sind für uns Menschen erkennbar, wir müssen nur lange und tief genug hinschauen und Zusammenhänge verstehen lernen.
Wo ich denn herkomme? Welchen Gipfel ich gemacht habe? Der mich so forsch ausfragt, ist der berühmte Toni Gaugg, aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
In Scharnitz gibt es das »Infozentrum Karwendel«. Dort wollte ich mich nach Personen erkundigen, die mir etwas über die Isar erzählen können, vom Hochwasser und vielleicht von früher, als noch Holz getriftet wurde.
Als ich die Tür öffne, sehe ich auf der Wartebank jemand sitzen, auf den meine Wunschvorstellung bestens zu passen scheint. Der Kleidung nach muss der Mann ein Einheimischer sein. Er trägt eine graue Strickjoppe mit Silberknöpfen, eine Hose aus derbem Loden, lange Strümpfe bis zu den Knien und einen Filzhut schräg auf dem Kopf. In seinem vom Wetter gegerbten Gesicht leuchten unternehmungslustige Augen. Dass Toni schon achtzig Jahre zählt, erfahre ich erst später. Er ist immer noch ein fesches Mannsbild mit Schnurrbart, buschigen Augenbrauen und verwegenem Lachen.
Ungeduldig wiederholt er seine Frage, weil ich zunächst meinen Rucksack ablege und den Wanderstock in die Ecke stelle. Dabei überlege ich angestrengt, wie ich ihn dafür gewinne, mir Geschichten von früher zu erzählen, als die Isar noch wild und ungezähmt war. Aber ist er nun wirklich ein Einheimischer oder nur ein zünftig gekleideter Tourist?
Zögernd antworte ich: »An der Isarquelle war ich, weil … ich will nämlich …«
Weiter komme ich nicht. Sofort unterbricht er mich heftig: »Hoffentlich warst du auch an der richtigen! Bei den Flüssen! Warst du bei den Flüssen? Dorthin musst du gehen! Das ist nämlich der Ursprung von der Isar! Oder warst du etwa beim Halleranger?«
»Bei beiden, bei den Flüssen und auch beim Halleranger.«
Er runzelt die Stirn: »Das hättest du dir sparen können, dort ist die Isar nicht. Die vom Halleranger haben unsere Tafel abgeschlagen, die wir geschnitzt haben. Der Stift steckt noch im Fels, den kriegen die aber nicht raus, der bleibt für immer dort. Ha!« Verschmitzt lacht er.
Da bin ich durch Zufall wirklich an den Richtigen geraten, freue ich mich.
»Natürlich kann ich dir was erzählen«, stimmt er freimütig zu.
»Ich bin doch der Erbauer von der Pleisenhütte!«
Da erst begreife ich, wen ich zufällig getroffen habe. So ein Glück! Skeptisch war ich gewesen, ob ich mit Hilfe des Infozentrums Kontakt zu Einheimischen bekommen würde, und da treffe ich hier ausgerechnet Toni Gaugg, das berühmteste Original vom Karwendel.
In Bergsteigerkreisen habe ich viel über ihn gehört. Seine Berghütte unterhalb der Pleisenspitze hat er selbst gebaut und sie als Unterkunft für Wanderer und Bergsteiger geöffnet. Weil er aber nicht den gewünschten Ausblick hatte, beschloss er, die Hütte ein paar Meter zu verrücken, was er tatsächlich mit Hilfe einer Seilwinde schaffte.
»Das war doch gar nichts«, sagt Toni. »Bei einer Blockhütte geht so was ganz einfach.«
Wie man Blockhütten baut, hat er in Sibirien gelernt. Erst 1949 ist er als einer der letzten aus der Gefangenschaft nach Hause gekommen. Wenn er gesund heimkehrt, hatte er sich geschworen, errichtet er auf der Birkkarspitze, dem höchsten Berg des Karwendels, ein Gipfelkreuz. Am 25. Juli 1953 erfüllte er sein Gelübde und trug mit sieben Bergkameraden das von ihm selbst geschmiedete fünf Meter lange Kreuz in nur sieben Stunden auf die 2749 Meter hohe Birkkarspitze. Außerdem mussten noch Zement und Wasser für den Sockel, Blitzableiter und Verankerungsseile hinaufgeschleppt werden. Wer heute den Berg besteigt, sich über den großartigen Rundblick freut und es für selbstverständlich nimmt, dass diesen hohen Gipfel ein Kreuz ziert, ahnt nicht, wie viel Mühe und Schweiß das gekostet hat und dass dieses Gipfelkreuz auch ein Zeichen setzt für
wiedergeschenktes Leben nach einem katastrophalen Krieg.
Im gleichen Jahr verwirklichte Toni seinen Lebenstraum und begann mit dem Bau der Pleisenhütte. Allein, ohne fremde Hilfe, rodete und planierte er den Bauplatz, ein wild verwuchertes Gebirgsplateau. Das Baumaterial schlug er ringsum im Bergwald, anderes aber musste er auf dem Rücken hinaufschleppen. Noch heute weiß er genau die Anzahl der Dachpfannen. 64 Stück seien es gewesen, sagt er und lächelt zufrieden.
Neben seiner Arbeit als Hüttenwirt ließ er sich sowohl zum Lawinenhundeführer als auch zum Bergund Skiführer ausbilden. Toni erhielt das »grüne Kreuz« als Anerkennung für schwierige Rettungseinsätze. Stolz zeigt er mir die Medaille, die er an seiner Joppe trägt.
Noch heute, mit seinen achtzig Jahren, ist er rüstig genug, um Wandergruppen durch sein Karwendel zu führen. Gerade habe er einen Höhenweg von der Pleisenhütte zum Karwendelhaus angelegt und er sei deshalb hier im Infozentrum, um zu erfahren, ob die Wanderer, denen er diesen neuen Pfad empfohlen hatte, wohlbehalten im Karwendelhaus angekommen seien.
Die junge Frau, die im Zentrum arbeitet, ruft schon zum zweiten Mal beim Hüttenwirt oben an. Immer noch Fehlanzeige.
Toni nutzt die Zeit und zeigt mir das Elchskelett. Ein vollständig erhaltenes Skelett hat er gefunden. Dass sein Fund im Infozentrum ausgestellt wird, erfüllt ihn mit Freude und Stolz. Liebevoll hat man im Nebenraum eine Berglandschaft gestaltet mit Grotte, rinnendem Wasser, Moosen und Flechten. Typische Alpentiere, Pflanzen und Gesteine sind auf Bildtafeln zu sehen, daneben Informationen über die Entstehung der Alpen. Ein Videofilm vom Karwendel ergänzt die Einrichtung. »Was hat es mit dem Elch auf sich?«, frage ich neugierig. »Wie kommt denn ein Elch in die Alpen?«
»Und sogar ziemlich hoch hinauf«, sagt Toni. »In 1850 Meter Höhe in der Vorderkarhöhle hab ich den Elch gefunden.«
»Das klingt aber spannend«, motiviere ich ihn, mehr zu erzählen.
»Also, das war so«, beginnt Toni. »Meine größte Leidenschaft ist das Erforschen der Natur. Schon als Bub wollte ich Forscher werden, Entdeckungen machen, als Erster meinen Fuß dorthin setzen, wo vor mir noch kein Mensch war. Ja, das ist das Größte! Weil aber über der Erde bei uns schon alles bekannt ist, hab ich mich mit der Höhlenforschung beschäftigt. Vor allem hatte es mir die Vorderkarhöhle angetan, ein über hundert Meter langes Höhlensystem und mehr als dreißig Meter tief. Da drin ist es so kalt, dass auf der Sohle unten ein Schneekegel liegt. Wieder einmal bin ich in die Vorderkarhöhle hinein, diesmal hab ich mich weiter vorgewagt als sonst. Seitlich vom sechs Meter tiefen Einstiegsschacht bin ich in einen niedrigen Raum von zehn Meter Länge gekrochen und dort lag das Skelett. Natürlich nicht so schön gerichtet, wie du es hier siehst, sondern die Knochen lagen verstreut herum. Ha, war ich aufgeregt! Ich dachte nämlich, ich hätte einen Höhlenbären gefunden. Professor Dehm, der ist Paläontologe in München, hat das Skelett untersucht und gesagt, mein Fund sei noch wertvoller, weil es nämlich das einzige vollständig erhaltene Elchskelett ist, das bei uns jemals gefunden worden ist.«
»Wie kam der Elch denn in die Höhle?«
»Hineingefallen ist er, das beweisen Verletzungen am Kiefer, hat der Professor festgestellt.«
»Was hat das Tier aber im Gebirge in fast zweitausend Meter Höhe gesucht? Sonst leben Elche doch in waldreichen Tälern und Moorgebieten?«, wundere ich mich.
»Der Elch hat vor zehntausend Jahren gelebt, damals war gerade die Eiszeit vorbei und das Klima hat sich schlagartig gebessert. Es war sogar viel wärmer als heute, deshalb lag die Waldgrenze wesentlich höher. Darum sei der Fund auch so wichtig, weil er die Angaben der Klimaforscher beweist, hat mir der Professor gesagt.«
Ich betrachte das Skelett und stelle mir vor, wie das Tier lebend ausgesehen haben mag. Es war ein Elchkalb von vielleicht zwölf Monaten, das mit seiner Mutter durch die dichten Wälder im Karwendel streifte, als sich plötzlich der Boden unter ihm öffnete. Möglicherweise war das Loch im Fels von Zweigen, Blättern und Moos verdeckt gewesen. Das Kalb stürzte in die Tiefe. Trotz seiner schweren Verletzungen suchte es nach einem Ausweg und quälte sich in den Seitengang hinein, wo es erschöpft starb. Oben stand die Elchmutter, äugte hinab in das dunkle Loch und rief verweifelt nach ihrem Jungen. Ein Drama, das sich vor vielen tausend Jahren so abgespielt haben mag.
Noch einmal versucht Toni etwas über seine verschollene Wandergruppe zu erfahren, umsonst. Die junge Frau beruhigt ihn. Bei dem herrlichen Wetter würden die Leute unterwegs gewiss eine ausgedehnte Rast machen. Er werde später noch mal vorbeikommen, sagt Toni, jetzt brauche Arco, sein Schäferhund, Bewegung. Der Hund, der bisher ruhig zu seinen Füßen gelegen hatte, hebt den Kopf und spitzt die Ohren, als hätte er verstanden, wovon zuletzt gesprochen wurde. »Willst du mitkommen?«, fragt mich Toni. »Ich geh mit Arco zur Gleirschklamm, ein bisschen spazieren.«
Na, wenn der Achtzigjährige den steilen Pfad einen Spaziergang nennt, ist er wirklich topfit, denke ich und stimme gern zu. So werde ich Gelegenheit haben, Toni gehörig auszufragen.
Wir folgen dem Isarpromenade-Weg. Scharnitz liegt in Österreich an der Grenze zu Bayern. Nach Norden bilden Wetterstein und Karwendel eine natürliche Sperre, nur ein schmaler Durchlass, das von der Isar ausgehöhlte Tal, ist frei. Diese strategisch günstige Lage hatten schon die Römer erkannt. Sie errichteten den Stützpunkt Mansia Scarbia, um den Handelsweg über das Seefelder Plateau schützen zu können. Als Abwehrbastion gegen die Germanen spielte Mansia Scarbia – später Scarantia genannt, das heutige Scharnitz – eine wichtige Rolle. Erzherzogin Claudia von Medici ließ im Dreißigjährigen Krieg am Engpass neue Abwehrstellungen bauen, die nach ihr benannte Porta Claudia. Das Bauwerk bewährte sich. Alle Angriffe aus dem Norden scheiterten an der Festung, die erst 1813 abgerissen wurde. Ob er wisse, seit wann überhaupt Menschen in diesem Gebiet leben, frage ich Toni.
»Da fragst du genau den Richtigen, das ist nämlich mein Spezialgebiet«, sagt Toni selbstbewusst und holt weit aus. »In den Tälern siedelten Menschen schon zur Zeit vom Ötzi, dem Mann aus der Bronzezeit, von dem sie die Mumie oben am Similaungletscher gefunden haben. Aber ins Gebirge wagten sich immer nur wenige Menschen, wie eben der Ötzi. Lange vor den Römern gab es schon einen Fußpfad vom Inntal über den Seefelder Sattel zur Donau. Über den gelangte später ein Stamm von den Rätiern ins Karwendel, die nutzten das Gebiet als Weide fürs Vieh und zur Jagd. Erst viel später sind die Römer gekommen, aber die sind nur durchmarschiert, die haben’s nicht lange in den Bergen ausgehalten.«
Die letzten Häuser von Scharnitz haben wir hinter uns gelassen und den Ort erreicht, wo die Isar aus der Schlucht sprudelt. Bei meiner Quellensuche hatte ich diese Stelle schon gesehen, nur diesmal befinden wir uns am Ufer gegenüber.
Das Leben der Isar als wilder Gebirgsbach endet hier und die Geschichte ihrer Bändigung und Nutzung beginnt. Als wolle man ihr gleich alle Hoffnung rauben, hat man am Talschluss ein graues Kieswerk gebaut. Bagger mit ihren großmäuligen Schaufeln stehen bereit, das Geröll aus ihrem Flussbett zu greifen und über Rutschen und Siebe nach Korngröße zu sortieren.
»Da drüben bin ich als junger Bursch geklettert und hab Sprenglöcher gebohrt«, sagt Toni und weist auf eine senkrechte Felswand.
»Wir haben Steine gesprengt, um das Isarufer zu befestigen.«
Ob es ihn nicht gereut habe, den freien Gebirgsfluss zu verbauen, frage ich.
»Nein, damals nicht! Niemand hat früher so gedacht. Bei Hochwasser haben wir doch gesehen, was die wilde Isar alles anrichtet, und haben nur versucht, uns zu schützen.«
»Wann war das schlimmste Hochwasser?«
»Im Jahr 1937, daran erinnere ich mich ganz genau, da war ich siebzehn Jahre alt. Beim Nachbarn ist das Wasser meterhoch im Haus gestanden. Der Nachbar war Tischler und hat gerade ein paar Särge in Auftrag gehabt. Nie im Leben vergesse ich, wie die Särge durchs Zimmer geschwommen sind.«
Er war elf Jahre alt, als sein Vater starb, erzählt Toni weiter. Als einziger Sohn mit zwei Schwestern war es an ihm, die Mutter zu unterstützen. So musste er schon als Junge beim Triften mithelfen. Damals war es nur auf dem Wasserweg möglich, Holz aus den Bergwäldern ins Tal zu bringen, denn die Wege waren in schlechtem Zustand, zu schmal und steil. Im Winter beförderten die Forstarbeiter das geschlagene Holz auf Pferdeschlitten zu der »Klausn« im Gleirschtal, so nannten die Bergbauern kleine Becken in den Gebirgsbächen. Im Frühjahr, wenn das Schmelzwasser kam, wurde bei der »Klausn« das Wasser gestaut. Die Forstarbeiter »wässerten« das Holz und warteten, bis die Anstauung die richtige Höhe erreicht hatte, dann wurde das Klausntor mit einem Schlag geöffnet und die aalglatten Hölzer schossen mit dem Wasserschwall die Gleirschklamm hinunter und von dort in die Isar talauswärts bis zur Lände.
Verkeilten sich Holzstämme, mussten die Trifter, die Holzarbeiter, in die Schlucht steigen und die Stämme mit langen Stangen und Haken entwirren und wieder in Fließrichtung einrichten. »Fuchs« nannte man das verklemmte Holz. Das Lösen des »Fuchses« erforderte viel Kraft, Geschick und Erfahrung. Das Klausntor war während dieser Arbeit geschlossen und es herrschte »Ebbe« im Gleirschbach, dennoch war es eine gefährliche Arbeit.
Ich versuche mir vorzustellen, wie bei der Holztrift die mächtigen Baumstämme durcheinander wirbelten.
»Vorstellen kann sich das niemand, der das nicht erlebt hat«, sagt Toni. »Die Erde hat gebebt. Es war ein Krachen und Poltern, eine Urgewalt – so als sei der Jüngste Tag angebrochen. Das hat mich schon mächtig beeindruckt, aber meine Welt waren immer die Berge. Als Bub schon bin ich allein aufgestiegen und hab den Schafen Salz gebracht. Einmal wäre ich beinah vom Blitz erschlagen worden, als ein gewaltiges Gewitter in den Bergen tobte. Bevor ich in den Krieg musste, hab ich einen Sommer lang auf der Alm gelebt. Das hat mir gefallen. Das Karwendel ist mein Leben, deshalb hab ich die Berghütte gebaut. Ich bin mit meinem Leben recht zufrieden und ich glaube, ich hab mit meiner Hütte und meinen Bergführungen den Menschen viel Freude gebracht, mehr, als wenn ich große Expeditionen im Himalaja gemacht hätte.«
Der Gebirgsbach Isar, der im Karwendel von Ost nach West plätschert, wird durch das Wettersteingebirge abrupt in Richtung Nord gelenkt, in ein breites, von eiszeitlichen Gletschern ausgewaschenes Tal.
Das Kieswerk am Ausgang der Klamm hat es aber bereits angekündigt: Das freie Leben der Isar ist zu Ende. Von jetzt ab wird ihr Lauf von den Menschen bestimmt, zu deren Schutz und Nutzen. Das Ufer im Ortsbereich von Scharnitz ist mit Steinblöcken befestigt – ein Korsett, das die Ungestüme bei Hochwasser in ihre Schranken weist. Sie ist gezwungen, in diesem geraden Bett zu bleiben, und kann sich ihren Weg nicht immer wieder neu suchen wie früher. Das Tal muss sie sich mit Wohnhäusern, Eisenbahngleisen und Straßen teilen. Brücken überspannen den grünen Fluss. Er hat Zulauf bekommen durch den Gießenbach und das Wasser aus dem Scharnitzer Klärwerk.
Meine Trinkwasserflasche kann ich ab jetzt nicht mehr mit Isarwasser füllen wie zuvor im Gebirge, denn Klärwerke liefern kein vollkommen sauberes Wasser. Dennoch sind diese Reinigungsanlagen ein Segen für die Isar. Wie es ohne sie wäre, sah ich noch vor wenigen Jahren, als Abwässer von Ferienhotels ungeklärt als braune Brühe in die Isar strömten und das kristallklare Wasser auf einen Schlag dunkel färbten. Auch Scharnitz hatte bis 1989 kein Klärwerk.
Am Ortsende schieben die Arntalköpfe ihre Ausläufer vor und bilden den Scharnitzpass. Einst verlief hier die wichtigste Handelsverbindung zwischen Italien und Bayern, die heute zu einer verkehrsreichen Straße ausgebaut ist. Und dort, wo sich auf der Höhe die im Jahr 1633 errichtete Porta Claudia befand, liegt im Tal die Zoll- und Grenzstation zwischen Österreich und Deutschland.
Es ist spät am Nachmittag, als ich mich von Toni Gaugg verabschiede und ihm für seine spannenden Erzählungen danke. Bevor die Sonne hinter der Arntalspitze versinkt, mache ich zum Andenken von ihm und seinem Hund Arco einige Fotos. Und dann überrascht Toni mich zum Abschied noch mit einem Lied, das er selbst komponiert und gedichtet hat. Die Anfangsstrophe habe ich mir gemerkt:
»Wo die Berge in den Himmel ragen, Ihre Gipfel glühn im Sonnenschein,
Nur im Karwendel konnt ich glücklich sein.«
Seine kräftige Stimme klingt nach Weite und Höhenluft und ich fühle mich seltsam berührt und reich beschenkt.
»Wo willst du denn heute übernachten?«, fragt er noch.
»Ach, ich such mir ein ruhiges Plätzchen«, antworte ich.
»Pass nur auf!«, warnt er mich. »Pass gut auf deinen Fotoapparat auf!«
Er wiederholt die Mahnung gleich zweimal. Ich wundere mich etwas, denn der Apparat liegt mir weniger am Herzen als mein eigenes Wohlergehen. Ich hatte mir fest vorgenommen, im besiedelten Gebiet nur in Gaststätten und Ferienhäusern zu übernachten. Aber ich werde wortbrüchig, denn es ist für mich zu verlockend, unter freiem Himmel zu schlafen. Gewöhnt an das ungebundene Umherstreifen im Gebirge, will ich wenigstens noch diese Nacht am Ufer meiner Isar verbringen.
Sechs Kilometer zwischen Scharnitz und Mittenwald fließt sie frei dahin. Keine Uferbegradigung, keine Verbauungen, keine Brücken. Noch einmal kann sie sich ihrer Bestimmung gemäß ausbreiten. Im Bett von einer Seite zur anderen wechseln, sich in zahlreiche Rinnen teilen – ein Geflecht grüner Adern zwischen weißen Kieseln. Je nach Wasserstand füllt sie ihr Bett aus, schiebt Kiesbänke vor sich her, verlegt sich selbst den Lauf und spült sich wieder einen Durchlass frei. Sich ständig ändernd und das Tal gestaltend gibt der Wildfluss eine letzte Probe der schöpferischen Naturkraft des Wassers.
Vor hundert Jahren noch strömten fast alle Flüsse der Erde frei dahin. Doch nur ein Menschenleben später sind die meisten im Stau der Kraftwerke erstarrt und müssen ihre Wasserkraft in elektrische Energie verwandeln lassen. Der Gesang der Gewässer verstummt für immer – jedenfalls solange Menschen leben mit ihren Fähigkeiten und ihren Ansprüchen.
Sechs Kilometer sind keine lange Strecke und wer sie im Auto in wenigen Minuten zurücklegt, wird nie erfahren, welche tier- und pflanzenreiche Wildnis sich jenseits der Straße zwischen Scharnitz und Mittenwald erhalten hat.
Das linke Ufer hat die Isar zu einer weiträumigen Heidelandschaft gestaltet, Riedboden genannt. Latschenkiefern, Weidengebüsch, Vogelbeerbäume, hartlaubige Sträucher, Stauden, Heidekraut und Disteln bilden eine Lebensgemeinschaft. Weiter vom Ufer entfernt erhebt sich ein Wald aus Kiefern, Fichten, Buchen. Der Boden ist hügelig aufgeworfen, ein moosbedeckter Buckel neben dem anderen, kaum finde ich eine ebene Fläche für mein Lager. Diese Buckel sind durch Verkarstung entstandene eiszeitliche Relikte.
Ausgestreckt auf dem Rücken blicke ich hinauf in die Baumkronen, von der sinkenden Sonne werden die Blätter vergoldet. Sie rascheln leise im Wind und dieser Klang mischt sich mit dem fernen Rauschen der Isar. Der Waldboden duftet geheimnisvoll. Zwischen Moos und Bärlapp laufen Waldameisen geschäftig umher und ein Grasfrosch schnappt nach Insekten.