Der Autor

Maik Teriete ist Sozialpädagoge mit Weiterbildungen in systemischer Einzel-, Paar- und Familientherapie sowie systemischer Supervision. Den Bereich Autismus kennt er seit mehr als zwanzig Jahren. Zunächst in der Förderung von Menschen mit Autismus tätig, führte er später auch Fachberatungen und Fortbildungen durch. Zudem übernahm er die Leitung zweier Förder- und Beratungsstellen. Heute ist er in freier Praxis als systemischer Supervisor, Coach, Fachberater und Fortbilder in verschiedenen Arbeitsfeldern in Berlin tätig.

Maik Teriete

Systemische Beratung bei Autismus

Ressourcen aktivieren, Lösungen finden, einfach helfen

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034242-2

E-Book-Formate:

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Vorwort

 

 

 

Warum dieses Buch?

Der Entschluss, dieses Buch zu schreiben, kam nicht »über Nacht«, sondern entstand eher nach und nach. Mehrere Jahre war ich skeptisch gewesen, ob sich die Arbeit im Bereich Autismus überhaupt mit dem systemischen Ansatz vereinbaren ließe. Machte ich diesbezüglich in meinen Förderungen mit Menschen mit Autismus unterschiedliche Erfahrungen, so gelang die Übertragung der systemischen Methoden in die Supervision in diesem Bereich ohne Probleme. »Rückenwind« bezüglich der Vereinbarkeit erhielt ich durch positive Rückmeldungen von Teilnehmenden meiner Fortbildungen zum Thema Autismus hinsichtlich meiner offensichtlich systemischen Beschreibungen oder meiner Betrachtungsweise des Themas. Ein weiterer »Prüfstein« war meine Abschlussarbeit der Weiterbildung »systemische Supervision«, die ich ebenfalls zum Thema Autismus schrieb.

In der Praxis werden die Grundlagen und die Methoden der systemischen Therapie und der systemischen Supervision bereits seit vielen Jahren breit angewandt. Literatur zum Thema »systemische Therapie im Bereich Behinderung« gibt es bisher wenig. Schon gar nicht im Bereich Autismus. Dabei gibt es hier m. E. zahlreiche Ansatzpunkte, die beispielsweise in den Förder- und Beratungsangeboten durch die Integration systemischer Methoden verbessert werden könnten. Es wäre sehr schön, wenn das Buch einen Anstoß geben könnte, die systemische Arbeit im Bereich Autismus voranzubringen. Konkrete Vorschläge hierzu finden sich in den einzelnen Kapiteln.

Dieses Buch soll eine Grundlage sein für Therapeuten, Psychologinnen und Supervisoren, die sich der Thematik Autismus neu, weiter oder intensiver zuwenden wollen. Es soll die Professionalisierung in der Beratung in diesem Bereich unterstützen und als Grundlage für neue Ideen und konkrete Beratungsangebote dienen.

Zur Form dieses Buches

In diesem Buch finden sich allgemeine Informationen und Hintergrundwissen zum Thema Autismus, kombiniert mit konkreten Erfahrungen, die ich während meiner langjährigen Arbeit in diesem Bereich machen durfte ( Kap. 2.1, Kap. 3.4). Auch Kommentare und Zitate von Menschen mit Autismus werden integriert. Jegliche Praxisbeispiele sind vollkommen anonymisiert, sodass ein Rückschluss auf etwaige Personen aus dem realen Leben nicht möglich ist. Als weiteres Element werden Fragetechniken und Tools beschrieben, die in der Beratungsarbeit in diesem Bereich direkt eingesetzt werden können. Ziel des Buches ist es, dem Thema einerseits in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit gerecht zu werden, und andererseits durch konkrete Praxisbeispiele und Anregungen die Verbindung zum Arbeitsalltag zu ermöglichen.

Als Online-Zusatzmaterial stehen darüber hinaus eine Liste mit ausgewählten deutschlandweiten Angeboten für Menschen mit Autismus und ihre Bezugspersonen, weiterführende Informationen (z. B. Auswahl hilfreicher Materialien, Webseiten u. ä.) sowie die Vorlagen zweier Arbeitsblätter (Tools »Von 0-10« und »Eisbergmodell) zum Download zur Verfügung.

Die Zusatzmaterialien1 können Sie unter folgendem Link herunterladen: https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-034242-2

In diesem Buch wird für Helfende und Beratende in der Regel die weibliche Schreibweise gewählt, für Klienten die männliche. Eine passende Form, die alle Geschlechter und Geschlechtsidentitäten einbezieht, konnte leider nicht gefunden werden, wofür wir uns an dieser Stelle entschuldigen möchten.

1     Wichtiger urheberrechtlicher Hinweis: Alle zusätzlichen Materialien, die im Download-Bereich zur Verfügung gestellt werden, sind urheberrechtlich geschützt. Ihre Verwendung ist nur zum persönlichen und nichtgewerblichen Gebrauch erlaubt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Vorwort
  2. 1   Was ist Autismus?
  3. 2   Was bewirkt Autismus?
  4. 2.1   Was bewirkt Autismus bei den Betroffenen?
  5. 2.2   Was bewirkt Autismus bei Familien?
  6. 2.3   Was bewirkt Autismus bei Fachleuten?
  7. 3   Unterschiedliche Kontexte
  8. 3.1   Autismus in der Kita
  9. 3.2   Autismus in der Schule
  10. 3.3   Autismus in Wohnstätten
  11. 3.4   Autismus in Förder- und Beratungsstellen
  12. 4   Autismusspezifische Förderung
  13. 4.1   Finanzierung und methodisches Vorgehen in Förderstellen
  14. 4.2   Auswahl unterschiedlicher Methoden
  15. 4.3   Welche Methode passt zu welchem Menschen mit Autismus?
  16. 4.4   Evaluierung der Förderung
  17. 5   Systemische Therapie
  18. 5.1   Entstehung und unterschiedliche Richtungen
  19. 5.2   Theoretischer Hintergrund
  20. 5.3   Systemische Sicht auf Probleme
  21. 5.4   Systemische Therapie bei Menschen mit Behinderung
  22. 6   Autismus-Therapie und systemische Therapie
  23. 6.1   Gemeinsamkeiten und Unterschiede
  24. 6.2   Umgang mit Diagnosen
  25. 6.3   Unterschiedliche Sichtweisen innerhalb der systemischen Therapie
  26. 6.4   Hilfe für die Einzelne und/oder für das gesamte System?
  27. 6.5   Entstehungsgeschichten
  28. 6.6   Der Stellenwert von Kommunikation in der Autismus-Therapie und in der systemischen Therapie
  29. 6.7   Umsetzung der systemischen Therapie in der Autismus- Therapie
  30. 6.8   Entlastung von Therapeutinnen durch die systemische Sichtweise im Bereich Autismus
  31. 6.9   Grenzen der systemischen Therapie im Bereich Autismus
  32. 6.10 Systemische Therapie und Autismus-Therapie im Wandel
  33. 7   Systemische Beratung
  34. 7.1   Hintergrund Supervision
  35. 7.2   Systemische Supervision
  36. 7.3   Abgrenzung Therapie und Supervision
  37. 7.4   Abgrenzung Fachberatung und Supervision
  38. 7.5   Fachberatung im Bereich Autismus
  39. 7.6   Abgrenzung systemische Beratungsarbeit
  40. 7.7   Supervision im Bereich Autismus
  41. 7.7.1   Wie kann Supervision im Bereich Autismus wirksam sein?
  42. 7.7.2   Was wirkt lähmend?
  43. 7.7.3   Fragetechniken
  44. 7.7.4   Methoden in der Supervision
  45. 7.7.5   Tools zur Fallbearbeitung
  46. 8   Die gelungene Verbindung autismusspezifischer Arbeit und systemischer Beratung
  47. 8.1   Die Haltung
  48. 8.2   Der Rahmen
  49. 8.3   Die Umsetzung
  50. 8.4   Geteilte Verantwortung in der Unterstützung
  51. Literaturverzeichnis
  52. Stichwortverzeichnis

1          Was ist Autismus?

 

 

 

»Ich gehöre zum Spektrum Mensch« (Gee Vero, 2017)

Seit der ersten Erwähnung des Begriffs Autismus 1911 durch Eugen Bleuler und den Forschungen von Leo Kanner sowie Hans Asperger Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre, hat sich die Sicht auf Autismus stark verändert – ein Prozess, der bis heute anhält.

Für die Weltgesundheitsorganisation gehört Autismus zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Das heißt, Autismus beginnt früh – schon vor der Geburt bzw. bis zum dritten Lebensjahr. Autismus als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung zu betrachten heißt auch, dass Autismus komplex ist und sich auf alle Bereiche der Entwicklung auswirkt. Der Grad der Beeinträchtigung schwankt dabei von Mensch zu Mensch teilweise erheblich. Auch die Frage, ob Autismus einen gewissen Leidensdruck erzeugen kann, ist durchaus unterschiedlich zu beantworten ( Kap. 2.1). Bei den autistischen Menschen, die schwer geistig beeinträchtigt sind und die sich nicht verbal äußern können, ist die Beantwortung dieser Frage zusätzlich erschwert.

Symptomatik

Sowohl in der Diagnostik als auch in der Förderung und Therapie werden drei Hauptbereiche oder Schwerpunkte unterschieden: Kontakt, Kommunikation und Interessen bzw. Handlung. Diese Begriffe sind Vereinfachungen der diagnostischen Kriterien »Störungen der Interaktion«, »Störungen der Kommunikation« und »stereotype, repetitive Verhaltensweisen« (Vogeley, 2016, S. 127 ff.).

Bei aller Unterschiedlichkeit der Menschen mit Autismus treten bei der Mehrzahl Schwierigkeiten in diesen drei Bereichen auf. In letzter Zeit gerät zudem zunehmend das Thema Stress bei Menschen mit Autismus in den Fokus der Förderung.

Diagnostikmanuale ICD und DSM

In den üblichen Manualen, nach denen Diagnosen international gestellt werden, gibt es unterschiedliche Entwicklungen. Wurde bislang in unterschiedliche Unterdiagnosen unterteilt ( Kasten), geht man heute immer mehr dazu über, von »Autismus-Spektrum-Störung« zu sprechen und auch die Diagnose entsprechend anzupassen.

Aktuelle Klassifikation nach ICD-10 (Dilling et al., 2015)

•  F 84.0 Frühkindlicher Autismus: Menschen mit Autismus und geistiger Behinderung, oft auch ohne verbale Sprachentwicklung

•  F 84.1 Atypischer Autismus: Menschen mit »ungewöhnlichem« Autismus, bei denen einer der Hauptbereiche nicht mit betroffen ist und Informationen fehlen, um eine andere Diagnose stellen zu können aus dem Bereich Autismus

•  F 84.5 Asperger-Syndrom: Menschen mit Autismus und normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz, die verbal kommunizieren und deren Sozialverhalten unterschiedlich stark beeinträchtigt ist

In der aktualisierten Version der »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-5; American Psychiatric Association, 2013), ist der Begriff Autismus-Spektrum-Störung bereits enthalten.

Die neue Version des alternativen Diagnostikmanual »International Classification of Diseases«, (ICD), auf dessen Grundlage in Deutschland Diagnosen aufgeschlüsselt werden, befindet sich aktuell in der Überarbeitung. Der Begriff Autismus-Spektrum-Störung wird in die ICD-11 übernommen werden.

Autismus-Spektrum-Störung

Autismus folgt dann keiner kategorialen Diagnostik mehr, in der nach »normal« und »abnormal« unterschieden wird, sondern einer dimensionalen Diagnostik, die zwischen einer schwachen und starken Ausprägung bestimmter vorliegender Merkmale unterscheidet. Alle Menschen mit Autismus werden folglich zusammengenommen und nicht mehr einer der – ohnehin schwierig voneinander abzugrenzenden – Unterkategorien »zugeordnet«. Zudem kann auf diese Weise eine Einschätzung bezüglich des Schweregrades der Störung sowie im Hinblick auf den Grad des Unterstützungsbedarfes getroffen werden ( Abb. 1.1).

Der Beobachtungstest CARS-2 (Schopler, van Bourgondien, Wellmann & Love, 2010) bietet eine Erklärungsmöglichkeit in Form einer Art »Koordinatensystems« an mit den zwei Achsen »Autismus-Ausprägung« (mild–schwer) und »kognitive Fähigkeiten« (beeinträchtigt–intakt) ( Abb. 1.2). Bei einer milden Form von Autismus beeinträchtigen soziale und verhaltensbezogene Schwierigkeiten die Anpassung nur minimal, bei einer schweren Form sind die Auswirkungen schwerwiegen. Beeinträchtige kognitive Fähigkeiten zeigen sich durch eine intellektuelle Behinderung und fehlende verbale Fähigkeiten wohingegen Personen mit intakten kognitiven Fähigkeiten einen (über)durchschnittlichen IQ und verbale Kompetenzen aufweisen. Je nach Ausprägung auf den beiden Achsen lassen sich unterschiedliche Personen bildlich gesprochen wie »Koordinatenpunkte« auf dem Spektrum abbilden.

Abb. 1.1: Grundbereiche der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung nach DSM-5

Abb. 1.2: Das autistische Spektrum in Anlehnung an die Childhood Autism Rating Scale (CARS)

Veränderung des Verständnisses von Autismus und Verschiebung des Hauptfokus innerhalb des Spektrums

Menschen mit hochfunktionalem Autismus, die Partnerschaften führen und einem Beruf nachgehen, werden innerhalb des Autismus-Spektrums »miterfasst«. Die Grenze zum »Anders-sein« in Bezug auf die entsprechenden Besonderheiten ist insgesamt fließend.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich die Aufmerksamkeit in Bezug auf das autistische Spektrum geändert hat. Standen früher Menschen mit Autismus und geistiger Behinderung besonders im Fokus der Aufmerksamkeit, hat sich diese Aufmerksamkeit aktuell stärker in Richtung des Asperger-Syndroms verschoben, d. h. auf Menschen mit normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz. Die aktive Teilnahme an der Diskussion um das Thema Autismus durch selbst betroffene Menschen ist hier als ein möglicher Grund zu nennen.

Unabhängig davon, welche »Diagnose« genau vergeben wird bzw. wo sich ein Mensch mit Autismus auf dem Spektrum vielleicht auch selbst einordnen würde, bleibt unbestritten, dass Autismus mit Beeinträchtigungen oder Belastungen einhergeht, z. B. aufgrund von Besonderheiten in der Wahrnehmung. Die Suizidrate innerhalb der Gruppe der Menschen mit Autismus ist erhöht (Bölte, 2017). Auch treten komorbide Störungen wie Depression, Angststörungen oder Psychosen gehäuft auf, was durchaus nahelegt, Belastungen weiter als eine mit dem Thema Autismus allgemein eng verknüpfte Thematik zu betrachten ( Kap. 2.1).

Häufigkeit

Zur Häufigkeit von Autismus gibt es unterschiedliche Schätzungen ( Tab. 1.1). Weltweit geht man je nach Quelle davon aus, dass bis zu 1 % der Menschheit betroffen sein könnte. Laut den Angaben von »Autismus Deutschland« (o. D.) gibt es keine genauen Angaben zur Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen in Deutschland. Die entsprechenden Schätzungen beruhen auf Untersuchungen in Europa, Kanada und den USA.

Tab. 1.1: Geschätzte Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen (Autismus Deutschland, o. D.),

Autismus-Spektrum-StörungenHäufigkeit in Deutschland (in Personen)

Die Zahl der Autismusdiagnosen wächst (Vogeley, 2016; Bölte, 2015). Dieser Anstieg kann unterschiedliche Gründe haben. Einer davon ist sicherlich, dass es bessere Diagnosemöglichkeiten für die Betroffenen gibt, als noch vor zehn Jahren (Vogeley, 2016). Darüber hinaus stimmen die meisten Fachleute »darin überein, dass es keine gute Erklärung dafür gibt, dass die tatsächliche Zahl autistischer Störungen zunehmen könnte » (Vogeley, 2016, 156).

Verhältnis Männer und Frauen mit Autismus

Autismus betrifft mehr Männer als Frauen. Vogeley schreibt hierzu: »Im Erwachsenenalter überwiegen Angaben zur Geschlechtsverteilung im Bereich von 2:1, während im Kindesalter Verhältniszahlen von 4:1, im Fall von Kindern mit Asperger-Syndrom sogar Verhältniszahlen von bis zu 11:1 berichtet wurden« (2016, S. 160).

Die Ungleichheit bei den Diagnosestellungen in Bezug auf das Verhältnis zwischen Männern und Frauen könnten für Vogeley darauf zurückzuführen sein, »dass Mädchen im Kindesalter und/oder Männer im Erwachsenenalter ›übersehen‹ werden.« (Vogeley, 2016, S. 162). Über die Gründe dieser Ungleichheit kann nur spekuliert werden. Vogeley nennt als möglichen Grund für eine höhere Zahl von Diagnosestellungen bei erwachsenen Frauen, dass sie erst spät auffielen, wenn sie kein Interesse für die »klischeehaft typisch genannten ›Frauenthemen‹ (Partnerschaft, Kinder, äußeres Erscheinungsbild) aufbringen könn[t]en« (Vogeley, 2016).

Ursachen von Autismus

Aktuell geht man davon aus, dass es nicht eine, sondern mehrere Ursachen für Autismus gibt. Genetik spielt hierbei eine Rolle (vgl. auch Bernard, 2018). Bei 95,7 % eineiiger Zwillingspaare sind beide Geschwister betroffen (Dzikowski, 1996). So gibt es Familien, in denen mehrere Kinder und auch ein Elternteil Autismus haben können. In anderen Familien wiederum ist es nur ein Erwachsener oder ein Kind, alle anderen sind nicht betroffen.

Eine weitere Komponente sind hirnorganische Besonderheiten. Die Informationsverarbeitung läuft bei Menschen mit Autismus nachweislich anders ab. Autismus ist eine Reiz- und Informationsverarbeitungsstörung. Die Gehirne von Menschen mit Autismus »funktionieren« oft anders. Informationen werden in anderer Weise verarbeitet bzw. gelangen in Zentren, in denen eigentlich andere Informationen verarbeitet werden sollten und können folglich auch nur unzureichend ausgewertet werden.

Neuropsychologische Untersuchungen

In der Neuropsychologie sind im Zusammenhang mit dem Thema Autismus vor allem drei Konzepte und Modelle wichtig: Die »Theory of Mind (ToM)«, das Konzept der »schwachen zentralen Kohärenz« und das Modell der »Exekutiven Funktionen (EF)«.

Theory of Mind

Unter dem Begriff »Theory of Mind « versteht man die Fähigkeit, sich gedanklich und emotional in andere Menschen hineinversetzen zu können. Dziobek und Bölte beschreiben dieses Modell als »das bislang einflussreichste neuropsychologische Modell zur Erklärung autistischer Symptomatik« (Dziobek & Bölte 2015, S. 132). Schwierigkeiten empathisch zu denken und zu handeln sind also laut dieser Theorie die Ursache dafür, dass Menschen mit Autismus häufig selbstbezogen handeln und durch andere als wenig rücksichtsvoll erlebt werden.

Schwache zentrale Kohärenz

Menschen mit Autismus weisen eine Tendenz auf, »Reize in der Umwelt eher einzelheitlich, isoliert und detailliert als gestalthaft, geschlossen und ganzheitlich wahrzunehmen« (Dziobek & Bölte, 2015, S. 143). Auch wenn nachgewiesen werden konnte, dass es bei Menschen mit Autismus kein generelles globales Wahrnehmungsdefizit gibt, kann dieses Konzept doch zeigen, dass von einer »natürliche Präferenz für Details« und einer »lokalorientierte Informationsverarbeitung bei ASS« gesprochen werden kann (Dziobek & Bölte, 2015, S. 144). Das Konzept der schwachen zentralen Kohärenz kann also zeigen, wie die Wahrnehmungsverarbeitung bei Menschen mit Autismus in Bezug auf die Reize aus der Umgebung verläuft und warum es für viele schwierig sein kann, ihre detailreiche Wahrnehmung so zu organisieren, dass der Gesamteindruck einer bestimmten Situation durch die vielen Einzelinformationen nicht verloren geht.« ( Kap. 2.1).

Exekutive Funktionen

Das Konzept der »exekutiven Funktionen« (EF) untersucht die Fähigkeit, sich im Alltag auch an unvorhergesehene Ereignisse anzupassen und diese zu meistern. Die EF stellen »ein multidimensionales, uneinheitlich definiertes Konstrukt dar und schließen viele unterschiedliche Funktionen wie kognitive Flexibilität, Reaktions- und Antworthemmung, Arbeitsgedächtnis, Problemlösen und Planen, zeitliche Organisation und Interferenzanfälligkeit ein« (Dziobek & Bölte, 2015, S. 141).

Bei Menschen mit Autismus zeigt sich ein uneinheitliches Bild: Teilweise finden sich durchaus Stärken in den EF, allerdings sind einige Funktionen oftmals auch beeinträchtigt. »Insgesamt legen die Befunde bei ASS ein Profil exekutiver Dysfunktionen mit relativen Stärken der Reaktionshemmung und beim Arbeitsgedächtnis und relativer Schwächen bei kognitiver Flexibilität, beim Planen und der Denkflüssigkeit nahe« (Dziobek & Bölte, 2015, S. 142). Dieses Konzept kann folglich Erklärungen liefern, warum Menschen mit Autismus häufig z. B. mit der selbstständigen Planung bestimmter Aktivitäten und dem vorausschauenden Problemlösen Schwierigkeiten haben ( Kap. 2.1).

Ist Autismus heilbar?

Wenn Autismus als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und somit als Behinderung definiert wird, schließt dies eine Heilung aus. Versteht man unter Heilung »Symptomfreiheit« bzw. die Reduktion von Beeinträchtigungen bei Menschen mit Autismus, die unter den Auswirkungen ihrer Entwicklungsstörung leiden, fände sich hier möglicherweise eine sinnvolle »Umdeutung« des Begriffes »Heilung«. In diesem Sinne sind auch einige Fördermethoden zu verstehen, die später vorgestellt werden ( Kap. 4.1).

Viele erwachsene Menschen mit Autismus berichten, dass ihnen ein Leben im Alter besser gelänge, da sie mehr Möglichkeiten im Umgang mit spezifischen Herausforderungen gefunden hätten. Durch bestimmte Therapie- und Fördermethoden können Menschen mit Autismus ja eben auch mehr oder weniger unauffällig werden in Bezug auf die Auswirkungen ihrer besonderen Wahrnehmung ( Kap. 2.1). Grundsätzlich geht es also darum, mit dem Autismus zu denken und zu handeln und nicht gegen den Autismus.

Selbsthilfe, positive Sicht auf Autismus und »Umkehrung des Betrachter-Blickes«

Viele der weniger eingeschränkten Menschen mit Autismus organisieren sich seit vielen Jahren in verschiedenen Selbsthilfegruppen und steuern ihren Teil zu den Diskussionen bei ( Abb. 1.1). Für viele von ihnen ist es ein zentrales Anliegen, Autismus nicht mehr nur als Störung anzusehen, sondern als eine andere und durchaus besondere Art der Wahrnehmung und des Seins zu begreifen. Sie kehren die Perspektive um und sprechen von Menschen ohne Autismus als sog. »Neurotypische« (NT).

2          Was bewirkt Autismus?

 

 

 

2.1       Was bewirkt Autismus bei den Betroffenen?

»Was ist das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können?« »Überraschungen« (Frau mit Autismus)

Die diagnostischen Kriterien legen fest, wann eine Autismus-Störung vorliegt. Wie der DSM-5 von einem Autismus-Spektrum zu sprechen, macht allerdings schon deutlich, dass sich auf diesem Spektrum sehr diverse Menschen finden lassen, die ganz unterschiedliche »Besonderheiten« mit sich bringen.

Aufgrund ihrer hohen Intelligenz und der im Laufe des Lebens wachsenden Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen, sind Menschen mit dem »Asperger-Syndrom«, vor allem im Bereich der sprachlichen Entwicklung, durchaus lern- und anpassungsfähig (Vogeley, 2016). Sie wissen um ihre Besonderheiten und sind oftmals zu bewundernswerten Leistungen in der Lage. Menschen mit »Frühkindlichem Autismus« verfügen hingegen in der Regel nicht über entsprechende Fähigkeiten. Ihre Entwicklung verläuft anders – vor allem in Bezug auf das selbstbestimmte Erlernen von Bewältigungsstrategien für den Umgang mit Herausforderungen.

Wie »schwer« die entsprechenden Menschen beeinträchtigt sind, muss je nach Blickwinkel unterschiedlich beantwortet werden.

Zu berücksichtigen bei der Beurteilung des Schweregrades sind auch die vorherrschenden Vorstellungen darüber, welchen Einfluss die Diagnose auf das weitere Leben hat. Wird dieser als gering eingeschätzt, wird eine Person vermutlich angeben, dass sie »leicht betroffen« ist. Geht die Diagnosestellung mit erheblichen (einschränkenden) Auswirkungen einher – z. B. Schwierigkeiten beim Finden einer Anstellung oder Bedarf an intensiver Unterstützung aus dem Umfeld – könnte dies die Einschätzung »schwer betroffen« zur Folge haben

Allein anhand der Frage nach dem Vorliegen einer »geistiger Behinderung« oder einer »normalen bis überdurchschnittlichen Intelligenz« lässt sich die Einschätzung bezüglich der »Schwere« der Beeinträchtigung durch die Diagnose Autismus also nicht treffen ( Abb. 2.1).

Abb. 2.1: Grundbereiche Autismus plus Wahrnehmung/Stress

Diagnosestellung

Der Impuls zu einer diagnostischen Abklärung kann erfahrungsgemäß unterschiedliche Gründe haben. Eltern von Kindern mit Verdacht auf Autismus entscheiden sich oftmals zu diesem Schritt, weil sie entsprechende Hinweise aus ihrem Umfeld bekommen haben, sie selber Auffälligkeiten im Verhalten des Kindes beobachten oder weil sie einen Antrag auf Unterstützung stellen wollen und die diagnostische Abklärung hierfür Grundlage ist. Meist schwingt die Hoffnung auf Antworten mit – Antworten auf Fragen zu den spezifischen Herausforderungen in ihrem Alltag.

Auch bei erwachsenen Menschen, die bei sich selbst eine Autismus-Diagnose vermuten, ist die Hoffnung auf Einsicht und Klärung eigener Problemstellungen oftmals ausschlaggebend für die Abklärung. Einige lehnen eine diagnostische Abklärung aber auch bewusst ab, z. B. aus Sorge vor etwaigen Nachteilen, die ihnen daraus entstehen könnten oder aber, weil sie keine Einschränkungen im Alltag erleben bzw. keine Unterstützung wünschen.

Grundsätzlich ist zu bemerken, dass nicht alle Personen, die nach Maßstab der gängigen diagnostischen Kriterien Teil des Spektrums wären, auch tatsächlich eine Diagnose erhalten. Neben dem genannten vorsätzlichen Verzicht einer Abklärung, kommt es gerade bei Kindern und Jugendlichen immer wieder vor, dass die Diagnostik ohne entsprechende Expertise erfolgt oder uneindeutig bleibt.

Je nach Verfügbarkeit entsprechender Einrichtungen bzw. Kapazitäten dieser kann der Prozess der diagnostischen Abklärung schnell gehen (direkte Terminvergabe bei der ersten Kontaktaufnahme) oder aber mit längeren Wartezeiten bzw. Kontakt mit verschiedenen Stellen verbunden sein.

Besonderheiten im Bereich Autismus

Bereich »Kontakt«

•  Gestaltung von Blickkontakt

•  Erkennen und Einsatz nonverbaler Verhaltensweisen

•  Beziehungsaufnahme zu Gleichaltrigen

•  Spontanes Teilen von Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen

Das soziale Miteinander kann Menschen mit Autismus überfordern. Die »ungeschriebenen Regeln« des zwischenmenschlichen Kontaktes sind für sie nicht klar und werden entsprechend auch nicht beachtet. Soziale Konzepte wie beispielsweise »Höflichkeit« sind nicht ohne Weiteres bekannt. Ihnen fehlt die Fähigkeit, in diesen Bereichen »intuitiv« richtig zu handeln.

Es wäre jedoch falsch, auf Grundlage dessen anzunehmen, dass Menschen mit Autismus keinerlei Kontakt wünschen oder Kontakt grundsätzlich nicht ertragen können. Vielen von ihnen fehlen vielmehr die passenden Konzepte, wie man in Kontakt treten kann oder wie z. B. Freundschaften »funktionieren«.

Besondere Schwerpunkt im Bereich »Kontakt«: Verstehen sozialer Regeln

Das intuitive Nachvollziehen bestimmter Regeln, die wichtig sind für das soziale Miteinander, ist für Menschen mit Autismus oft nicht möglich. Sie müssen diese Regeln unter Umständen mehrmals erklärt bekommen, bis sie sie kennen und entsprechend auch ihr Verhalten darauf abstimmen können.

Bereich »Kommunikation«

•  Verzögerte und ausbleibende Sprachentwicklung

•  Sprachlicher Kontakt zum gegenseitigen Kommunikationsaustausch mit anderen Personen

•  Stereotyper und repetitiver Gebrauch der Sprache

•  Fehlen von entwicklungsgemäßen Rollen- und Imitationsspielen

Einige Menschen mit Autismus entwickeln keine verbale Sprache. Einige von ihnen können jedoch mit Unterstützung erlernen, Kommunikationshilfen einzusetzen, um so auf eigene Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Andere wiederum entwickeln eine stilistisch sehr anspruchsvolle verbale Sprache und können sich sehr genau ausdrücken. Gerade bei Menschen mit Asperger-Syndrom fällt allerdings auf, dass bestimmte Besonderheiten in der Sprache fehlen, was sich durch die Autismus-Störung erklären lässt (Bölte, 2015).

Bei diesen Menschen können Probleme in der Kommunikation auftreten, wenn es z. B. um das Thema »Small-Talk« geht: Bei einem Gespräch mit Mitschülern auf dem Schulhof berichtet ein Mensch mit Autismus beispielsweise sehr ausführlich und detailreich von Themen, die ihn selbst interessieren. Ist jedoch erforderlich, dass er sich auf die Themen der anderen einlässt, fällt ihm das voraussichtlich schwer.

Besonderer Schwerpunkt im Bereich »Kommunikation«: Motivation in Bezug auf Kommunikation

Die Motivation, sich verbal zu äußern, ist bei Menschen mit Autismus unterschiedlich stark ausgeprägt. Geht es um für sie interessante Themen, sind sie mitunter überdurchschnittlich motiviert. Für sie uninteressante Themen werden häufig aktiv abgelehnt.

Schwer beeinträchtige Menschen mit Autismus müssen darüber hinaus zunächst den »Sinn« bzw. die Vorteile von Kommunikation konkret erleben, damit sie eine Motivation entwickeln, sich mitzuteilen ( Kap. 4.1, Kommunikationsförderung durch »PECS«).

Bereich »Handlung/Interessen«

•  Interessen können in Inhalt und Intensität ungewöhnlich sein

•  Festhalten an Gewohntem oder Ritualen

•  Stereotype und repetitive Manierismen zeigen sich z. B. in schnellen Bewegungen von Fingern oder Händen oder im Schaukeln des Körpers

•  Ständige Beschäftigung mit Teilen und Objekten