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© Piper Verlag GmbH, München 2020
Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München
Covermotiv: Joohner Images/Alamy
Innenfotos: Carmen Rohrbach
Karte: Anneli Nau, München
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
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Unbekanntes zu erforschen ist der physische Ausdruck einer intellektuellen Leidenschaft… du wirst belohnt werden, und sei es nur mit einem Pinguinei.
Der patagonische Wind rüttelt an den Tragflächen. Wie bei einer Achterbahn fällt die Propellermaschine tief hinab, steigt wieder auf, aber der Wind ist überall. Die späte Nachmittagssonne taucht die Erde in plastisches Licht, vergoldet das öde Land, lässt die lehmbraunen und sandgelben Farben leuchten. Nichts deutet darauf hin, dass dort unten Menschen leben. Weder Städte noch Dörfer, keine Straßen oder Pisten sind sichtbar.
Sechs bis acht Stunden braucht das Flugzeug von Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens, bis zu meinem ersten Reiseziel: die 3400 Kilometer entfernte, am weitesten südlich gelegene Stadt der Erde Ushuaia, die größte Ortschaft auf Feuerland. Ich will mir ein halbes Jahr Zeit nehmen, um die Insel zu durchqueren und anschließend durch Patagonien zu wandern, wenn möglich, will ich auch reiten und größere Entfernungen mit einem Mietwagen zurücklegen.
In früheren Jahrhunderten, zur Zeit der Entdeckungen, war eine Reise nach Feuerland ein entbehrungsreiches, abenteuerliches und gefährliches Vorhaben, eine Fahrt ins Ungewisse, die nur wenige Weltumsegler, Forscher, Pioniere und Abenteurer wagten. Heute ist es eine Reise wie jede andere – realistisch gesehen. Im Kopf aber lebt der Mythos fort vom »Ende der Welt«, webt die Fantasie grandiose Bilder von sturmumtosten Küsten, windzerzausten Landschaften, von grenzenloser Einsamkeit und unberührter Natur.
Als Jugendliche war Tierra del fuego, wie Feuerland auf Spanisch heißt, für mich ein Begriff, der mich entflammte. Da wollte ich hin! Unwiderstehlich zog mich das raue Land an. Wenn man mich fragte, was um Himmels willen ich dort am Ende der Welt denn wolle, wusste ich eine einfache Antwort: beobachten, entdecken, erforschen, alles anschauen und darüber berichten. Das ist meine Begründung fürs Reisen bis heute geblieben.
Inzwischen ist der Süden des amerikanischen Kontinents kein weißer Fleck mehr auf der Landkarte. Also das Ende der Illusion? Obwohl ich weiß, dass es das Feuerland meiner Jugend nicht mehr gibt, kann ich diese Tatsache doch nicht akzeptieren. Ich werde es schon finden, »mein« Tierra del fuego, davon bin ich überzeugt. Dennoch ist mir klar: Die Abenteuer und Entbehrungen früherer Zeiten, die die Entdecker damals erlebt und erlitten haben, kann ich mir nur in der Fantasie ausmalen.
Von Europa kommend, mussten sie zuerst mit dem Schiff den Atlantik überqueren. Eine gefährliche Reise, die viele Wochen dauerte. Ich hingegen rase im Flugzeug die Strecke von München nach Buenos Aires über fünf Zeitzonen hinweg, einen Tag und eine Nacht lang. Und dann in nur wenigen Stunden über nahezu die gesamte Länge Argentiniens.
Keine Wolken behindern die Sicht, und ich kann während des ganzen Fluges die Erde unter mir sehen. Da taucht schon die Magellanstraße auf, diese fjordartige Wasserfläche, die Feuerland vom patagonischen Festland trennt. Und welche Überraschung, die gelbbraune Ödnis der wüstenartigen Steppenlandschaft verschwindet, wird abgelöst von grünen Farben. Plötzlich sind da Wälder und Wiesen, dazwischen schimmern blaue Seen und schneeweiße Berggipfel. Das Ende der Welt scheint ein grünes Paradies zu sein.
Noch einmal packt der Wind das Flugzeug mit Gewalt. Über dem Beagle-Kanal wird es auf und nieder geschleudert. Wir fliegen so tief, dass ich die Schaumkronen des aufgepeitschten Meeres sehen kann. Völlig unerwartet für mich, da an meiner Fensterseite kein Land sichtbar war, setzt die Maschine auf. Sehr nahe am Rand der Wasserfläche befindet sich die Landebahn von Ushuaia.
Der Raum zwischen Meer und hochragendem Gebirge ist schmal, und dennoch hat sich hier eine große Stadt entwickelt. Im Abendlicht wirkt die Szene futuristisch. Massenhaft drängen sich Häuser am Uferstreifen eng zusammen. Unwirklich, dass hier am »Ende der Welt« so viele Menschen leben. Zahlreiche Schiffe ankern im Hafen, darunter ein roter Eisbrecher.
Gleich hinter Ushuaia steigt das Gebirge steil an, die DarwinKordillere, ein Ausläufer der Anden, mit immerhin 2300 Meter hohen Gipfeln. In der beginnenden Dunkelheit leuchten ihre Gletscher besonders weiß, und über den bizarren Bergen zwischen drohend blauschwarzen Wolken spannt sich ein Regenbogen. Ein Anblick, der mir den Atem nimmt, eine unwirkliche Vermischung von wuchernder Zivilisation und ungezähmter Wildnis. Wind fegt über das Rollfeld, eisig und schneidend, obwohl dem Kalender nach der Sommer beginnt.
Ich hatte geglaubt, es wäre einfach, in Ushuaia eine Unterkunft zu finden, doch alle Quartiere sind besetzt, denn gleich mehrere Kreuzfahrtschiffe haben angelegt. Eine Wirtin erbarmt sich meiner und ruft eine Bekannte an. Eigentlich vermiete diese nicht mehr, aber eine einzelne Person finde sicherlich noch Platz, tröstet sie mich. So gelange ich zu Familie Andrade mit ihren sechs Kindern. Sie bewohnen ein zweistöckiges Holzhaus mit blau-gelb-grünem Anstrich und haben kräftig eingeheizt, denn zwischen Fensterrahmen und Wand klaffen Spalten von mindestens einem Zentimeter.
»Das macht doch nichts!« Roberto Andrade lacht. »Heizöl ist spottbillig, und so haben wir immer frische Luft, ohne die Fenster öffnen zu müssen.«
Die Kinder, zwei Mädchen und vier Buben zwischen einem und 13 Jahren, staunen erst einmal über den fremden Gast, bevor sie wieder lautstark durch die Wohnung toben.
»Wegen der Kinder vermieten wir nicht mehr«, meint Olga Andrade entschuldigend. »Den Krach können wir keinem Gast zumuten, vor allem seit das Jüngste da ist. Die Kleine weint nachts oft.«
Tapfer, denn was bleibt mir anderes übrig, sage ich, so seien Kinder halt, mir mache der Lärm nichts aus.
Die Andrades leben seit fünf Jahren in Ushuaia, angelockt von hohen Löhnen, geringen Steuern und anderen Vergünstigungen. Ihren Entschluss haben sie nicht bereut. Sie hätten sich zunächst für drei Jahre verpflichtet, wollen jetzt aber für immer bleiben.
»Wir können uns hier mehr leisten und unseren Kindern ein besseres Leben bieten als in Rosario, wo wir herkommen. Rosario liegt am Río Paraná, nördlich von Buenos Aires«, sagt Olga und begleitet mich in das obere Stockwerk, um mir mein Zimmer zu zeigen, das Jungmädchenzimmer ihrer ältesten Tochter. Meinen Einwand entkräftet sie: »Dana ist einverstanden. Sie schläft gern mal bei ihren Geschwistern.«
Das Abendessen nehme ich zusammen mit der Familie am großen Tisch ein. Olga hat leckeren Fisch gebraten und serviert Reis dazu. Später spaziere ich durch das nächtliche Ushuaia. Roberto und Olga hatten mir erzählt, dass die Ortschaft eine Bevölkerungsexplosion erlebt habe, die atemlos mache. Vor 30 Jahren lebten hier nicht einmal 6000 Menschen, heute sind es 60000, angelockt von großartigen Versprechungen der Regierung. Eine rasante Entwicklung, wenn man bedenkt, dass Ushuaia hundert Jahre lang nur ein einsamer Vorposten der Zivilisation gewesen war. Die Besiedlung begann, wie so oft in der Geschichte, mit einer Missionsstation. 1870 kam Reverend Thomas Bridges von der britischen Südamerikanischen Missionsgesellschaft in die Bucht. Als einziger Weißer ließ er sich dort nieder, baute sich eine Hütte in der Nähe der Feuerlandindianer und predigten ihnen den christlichen Glauben.
Dann errichtete der argentinische Staat einen Marinestützpunkt und entdeckte die Region als ausbruchssichere Verwahranstalt für Häftlinge. Zwischen 1884 bis 1920 waren Kriminelle und politische Gefangene zuerst auf der Isla de los Estados, der »Staateninsel«, eingekerkert, die südöstlich vor Feuerland im Atlantik liegt. Als das Gefängnis in Ushuaia im Jahr 1920 fertig gebaut war, wurden die Gefangenen dorthin gebracht. Damals war Ushuaia noch keine Stadt, nur eine gottverlassene Ansammlung armseliger Hütten.
Den eigentlichen Anstoß zum Bevölkerungsboom gab der noch immer schwelende Konflikt zwischen Chile und Argentinien. Seit Beginn der Staatenbildung versuchen sie, sich gegenseitig Territorien abzujagen. 1978 waren schließlich beide Länder bereit, den Verlauf ihrer Grenzen mit Waffengewalt zu »diskutieren«. Da mischte sich doch tatsächlich der Vatikan friedensstiftend ein. Konkret ging es um drei kleine Inseln südlich von Ushuaia im Beagle-Kanal, an sich völlig unbedeutende Eilande, aber der Konflikt liegt viel weiter südlich – die Antarktis.
Der rohstoffreiche Eisschrank weckt Begehrlichkeiten. Der Antarktisvertrag von 1961, eine internationale Übereinkunft zwischen den Mitgliedstaaten, hat diese Gebietsansprüche »eingefroren«, bis die technischen Voraussetzungen für eine Nutzung der Bodenschätze geschaffen sind. Inzwischen ist der sechste Kontinent auf Kartenplänen wie ein Kuchen in einzelne Segmente aufgeteilt, aber nur Staaten, die an der Erforschung der Antarktis beteiligt waren oder durch vorgelagerte Inseln eine direkte natürliche Fortsetzung der Südpolargebiete darstellen, wie Chile und Argentinien, haben Anspruch auf eine zukünftige Ausbeutung der Rohstoffe. Je größer das eigene Territorium, umso größer ist auch der Anteil an der Antarktis, so die Regelung. Wer also die Inseln im Beagle-Kanal sein Eigen nennt, besitzt auch ein größeres Stück vom antarktischen Kuchen.
England zum Beispiel, das eigentlich nicht an die Antarktis grenzt, begründet seinen Anspruch mit den Falklandinseln. So erklärt sich, warum Margarete Thatcher so eisern um »ihre« Falklandinseln hat kämpfen lassen und warum Argentinien diese Inseln ebenfalls besitzen will, ihnen demonstrativ mit Malvinas einen eigenen Namen gibt und sie auf Karten provokativ in den argentinischen Landesfarben abbildet.
Zurück zum Vatikan. Der Papst und seine klugen Berater dachten sich einen salomonischen Kompromiss aus: Die drei Inseln im Beagle-Kanal wurden laut päpstlichem Dekret Chile zuerkannt. Die Bodenschätze des dazugehörenden Stückes Antarktis sollten jedoch beide Staaten gemeinsam ausbeuten. Chile war sofort einverstanden. Argentinien zögerte lange, lehnte dann ab. Seitdem liegt der Konflikt auf Eis. Die strittigen Inseln gehören jetzt zu Chile, aber wer wie viel Anteil an der Antarktis haben wird, muss zukünftig noch ausgefochten werden.
Argentinien änderte vorerst seine Strategie. Statt Waffen setzt es auf Massen und versucht, so viele Menschen wie möglich im Süden anzusiedeln. Mit dem sich erhöhenden Bevölkerungsdruck will man Chile aushebeln.
Zuerst schlendere ich die Avenida Maipu an der Bucht entlang mit ihren Reihen bunt angestrichener Holzhäuser. Im Wasser ankern Containerschiffe und Passagierdampfer, im Jachthafen schaukeln Katamarane und Schnellboote. An der Pier grüßt die Besucher eine Holztafel in vier Sprachen: »Willkommen in der südlichsten Stadt der Welt«. Dieses Attribut ist nicht unumstritten, denn der chilenische Ort Puerto Williams auf der Insel Navarino liegt entscheidende sechs Kilometer näher am Südpol.
»Ach, das spielt doch keine Rolle«, erklärte mir Roberto. »Puerto Williams kann mit uns nicht konkurrieren, das ist doch ein Dorf, da leben nicht einmal zweitausend Leute!«
Die Straßen von Ushuaia sind rechtwinklig und schachbrettartig angeordnet. Von der verkehrsreichen Maipu wechsle ich auf die parallel verlaufende, ebenso belebte und quirlige San Martín. Auch in dieser Straße erinnert nichts mehr an das abenteuerliche Flair einer Pionierstadt. Stattdessen drängen sich Pizzastuben, Cafés, Restaurants, Supermärkte, Souvenirläden, Sportgeschäfte, Banken, Agenturen und Reisebüros in dichter Folge aneinander – eine Antwort auf die stetig wachsende Besucherzahl. Was wird da nicht alles angeboten, um den Reisenden das Geld abzuknöpfen: Kajak- und Skiverleih, Segeltörns, Rundflüge, Gletschertouren, Mountainbiking. Geradezu überschwemmt wird der naturbegeisterte Sportler mit Angeboten für Wander- und Trekkingtouren. Überall Werbefotos in den Fenstern der Reiseagenturen mit glücklich lächelnden Touristen und bunten Landschaftsaufnahmen, eine romantischer als die andere.
In der Nacht schlafe ich ruhig und fest; wenn das Baby geweint hat, habe ich es nicht gehört. Meine Wirtsleute müssen schon sehr früh aus dem Haus gegangen sein. Olga hat mir einen Zettel hingelegt mit guten Tipps, zum Beispiel beim Weggehen unbedingt warme Kleidung mitzunehmen, denn das Wetter könne in wenigen Minuten umschlagen.
Zunächst brennt die Sonne so heiß, dass ich im ärmellosen Shirt herumspaziere, doch dann erlebe ich in wenigen Stunden alle Jahreszeiten mit Regen und sogar Graupelschauern. Plötzlich bläst der antarktische Wind Schneestaub heran und pudert die Erde weiß. Gut, dass ich Olgas Ratschlag beherzigt und nicht nur Pullover und Anorak, sondern auch eine Wollmütze eingesteckt habe.
Mein Blick schweift über die Stadt. Im Zentrum überwiegen zweigeschossige Holzhäuser mit Flachdächern, zwischen die sich hochgezogene Betonklötze zwängen – ein Flickwerk, das nicht zusammenpasst. An den Rändern franst die Stadt aus, unkontrolliert, wie es scheint. Einfamilienhäuser, manche winzig, andere voluminös und von uneinheitlicher Architektur, wurden planlos in die Gegend gesetzt, mal aus Stein, mal aus Schiefer oder Holz, oft sogar ist jedes Stockwerk aus einem anderen Material. Daneben Wohnblocks, die in grellen Farben prunken: Laubfroschgrün, Zitronengelb, Tintenblau oder Giftigpink. Faszinierende Hässlichkeit, wäre da nicht die wildgezackte Andenkette im Hintergrund mit ihren Schneegipfeln und den mit Wäldern bedeckten Berghängen oder die sanfte Meeresbucht, in die sich Ushuaia schmiegt.
Bei der Touristeninformation bekomme ich einen Plan, in dem ein Stadtrundgang mit historischen Gebäuden eingezeichnet ist, wie etwa die hundert Jahre alte Kirche »Iglesia de la Merced«. Der Friedhof rührt mich an mit seinen alten, tief im Erdboden versunkenen Gräbern, überwuchert von Lupinen, die wild ausgesamt sind und den ganzen Totenacker in Besitz genommen haben. Mehr als einen Meter hoch flammen sie in Gelb, Orange, Blau, Violett oder Rot. So wird auf dem alten Friedhof die Vergänglichkeit vom Leben besiegt.
Die Kirche wurde von Häftlingen gebaut, ebenfalls die Straßen und andere Gebäude, sogar das Gefängnis. Eigentlich war dort nur Platz für knapp 400 Gefangene, doch doppelt so viele wurden in dem düsteren Gemäuer zusammengepfercht. Heute befindet sich im Obergeschoss der Gefängnishalle eine Ausstellung über die Erforschung der Antarktis mit maßstabsgerechten Modellen berühmter Schiffe. Die sternförmigen unteren Trakte, teils renoviert, andere noch im Originalzustand, können besichtigt werden.
Neugierig betrete ich die Zellen hinter den dicken Mauern. Ich kann nicht verhindern, dass mich die Erinnerung an meine eigene Gefangenschaft überfällt, auch wenn sie schon mehr als drei Jahrzehnte zurückliegt. Wer einmal unmenschlicher Behandlung, Willkür und Unrecht unterworfen war, wird immer und überall mit Leidensgenossen mitfühlen, sich identifizieren und solidarisieren. Dieses alte Gefängnis hier am Ende der Welt mit seiner Dunkelheit, der Kälte und dem muffig-feuchten Geruch ruft quälend das Bild der ebenfalls überbelegten Burg Hoheneck hervor, wo ich zwei Jahre eingesperrt war. Allerdings – so grausam wie hier wurden wir Republikflüchtlinge nicht behandelt.
Fotos zeigen Strafgefangene mit Eisenringen und Ketten an Händen und Füßen. Schwerstarbeit bei jedem Wetter, selbst im Winter bei Sturm und antarktischer Kälte, Mangelernährung und Schikanen sadistischer Wärter sind dokumentiert. Die Bilder ähneln den Aufnahmen von Sträflingen in den sibirischen Gulags. Es erschüttert mich immer wieder, dass überall auf der Erde furchtbare Grausamkeiten geschehen konnten und noch immer geschehen. Ein Trost bleibt: Es heißt, dass dieses Gefängnis wegen jahrelanger öffentlicher Proteste 1947 geschlossen werden musste. Es lohnt also, sich gegen das Unrecht zu verbünden!
Zwei Figuren lassen mich zusammenzucken; aus einiger Entfernung sehen sie wie lebendig aus. Es ist ein Wärter, der einen Gefangenen durchsucht. Die Kleidung des Häftlings ist gelb-schwarz gestreift und lässt mich an eine übergroße Hornisse denken. Die echt wirkende Darstellung ist geradezu makaber, auch den lebensgroßen Wachsoldaten in Uniform mit geschultertem Gewehr, der neben dem Eingangstor salutiert, finde ich nicht lustig.
Im renovierten Teil des Gefängnistraktes sind Nachbildungen ehemaliger Insassen aufgestellt, wie Professor Ricardo Rojas, der 1934 wegen eines versuchten Staatsstreiches eingesperrt wurde, oder Mateo Banks, ein Mörder, der eine siebenköpfige Familie auslöschte. Der wohl Prominenteste ist der russische Anarchist Simon Radowitzky. Seine schlimmen Erfahrungen in zaristischen Gefängnissen hinderten ihn nicht daran, auch in Argentinien für seine Ideale zu kämpfen. 1909 sprengte er den Polizeichef von Buenos Aires in die Luft mit dem Ruf: »Es lebe die Anarchie!« Radowitzky gelang sogar die Flucht aus dem als ausbruchssicher geltenden Gefängnis. Weit kam er nicht. Ringsum nur Wasser oder Wildnis, wohin sollte er sich retten? Erschöpft und halb erfroren fing man ihn ein. Für fast alle Sträflinge wurde Ushuaia zu einem Ort ohne Wiederkehr.
Der Beagle-Kanal ist nicht, wie die Bezeichnung vermuten lässt, künstlich angelegt, sondern eine natürliche, fünf bis 13 Kilometer breite Wasserstraße, benannt nach dem Schiff, auf dem Charles Darwin auf Entdeckungsreise ging. Er verbindet den Atlantik mit dem Pazifik und ist kürzer als die gefürchtete Passage um Kap Hoorn.
Wochen, gar Monate konnte es dauern, bis ein Segelschiff vom Atlantik kommend und gegen den Westwind kreuzend die äußerste Südspitze Amerikas endlich bezwungen hatte. Kein Ort der Weltmeere ist häufiger beschrieben und verflucht worden als Kap Hoorn: Teufelskap, Kap der Stürme, Grab der Seeleute wurde es genannt.
Die holländischen Kapitäne Willem Cornelisz Schouten und Jacob le Maire waren 1616 die Ersten, die mit ihren beiden Schiffen das Kap auf der Suche nach einer neuen Handelsroute umsegelten. Sie benannten es nach ihrem Heimatort Hoorn.
200 Tage im Jahr herrschen dort Stürme, die sich zu Orkanen steigern können. Durch die Nähe zur Antarktis entstehen extreme Temperaturunterschiede, die wiederum Tiefdruckgebiete mit rasenden Winden erzeugen. Durch das Aufeinanderprallen von Pazifischem und Atlantischem Ozean bäumen sich die sturmgepeitschten Wasser zu Monsterbergen auf. Wellen von 20 Meter Höhe sollen schon beobachtet worden sein. Schätzungsweise 10000 Menschen haben am Kap Hoorn ihr Leben verloren. Mehr als 800 Wracks liegen am Grund des Meeres, dem größten Schiffsfriedhof der Welt. Für heutige Schiffe, ausgerüstet mit moderner Technik wie Echolot, Radar, Satelliten-Navigationssystemen, ist die Gefahr natürlich nicht mehr so groß wie für Segelschiffe früherer Zeiten, doch plötzliche Wetterstürze, tobende Orkane, Strömungen und Wirbel bedeuten noch immer ein unberechenbares Risiko.
Außer dem Panamakanal gibt es nur drei Wasserwege, um vom Atlantik in den Pazifik zu gelangen: die Magellanstraße, den Beagle-Kanal und Kap Hoorn. Und alle drei werden von Chile kontrolliert. Ein Ärgernis für Argentinien, das immer wieder fordert, die Hoheitsrechte in den Südgewässern neu zu regeln. Ein Ausflug von der argentinischen Küste zum Kap ist so gut wie unmöglich; da müsste ich schon auf die chilenische Seite wechseln.
Am Ufer des Beagle-Kanals stehend, blicke ich auf vorgelagerte, kahle Felsinseln. Schaumkronen tanzen auf den Wellen. Blitzschnell zieht eine Sturmfront heran. Irgendwo dort draußen liegt windumtost die kleine Insel mit dem Kap. Ich stelle mir vor, wie der südlichste Leuchtturm der Erde seine Blinkzeichen über die aufgewühlte See schickt und wie an der äußersten Kante, wo der 430 Meter hohe Fels steil ins Meer abfällt, in der Tiefe die Brandung tobt. Dort erhebt sich aus Metall die silberglänzende Silhouette eines Albatros. Ein Denkmal für alle Seeleute, die vor Kap Hoorn ihr Leben ließen. Auf einer Marmorplatte sind die Verse der chilenischen Dichterin Sara Vial gemeißelt:
Ich bin der Albatros, der auf dich wartet am Ende der Welt.
Ich bin die vergessene Seele der toten Seeleute,
die über alle Meere kamen, Kap Hoorn zu umsegeln.
Aber sie sind nicht gestorben im Wüten der Wellen.
Sie fliegen auf meinen Schwingen für alle Zeit
im letzten Wellental der antarktischen Winde.
Unser Hauptanliegen wird immer sein, die Anzahl der Indianer zu erhalten und zu erhöhen.
Der Shuttlebus startet morgens um neun Uhr in Ushuaia. Zwei Stunden braucht er für die 85 Kilometer nach Harberton, Feuerlands ältester Estancia, wie die Farmen hier genannt werden. Sie wurde im Jahr 1886 von Thomas Bridges erbaut, und ich will mich für ein paar Tage dort einquartieren. Vielleicht gelingt es mir, Pferde für eine Tour zu mieten. Mein Plan ist es, von Haberton zur Ostküste von Feuerland zu reiten.
In lang gezogenen Kurven geht es am Ufer des Beagle-Kanals nach Osten. Die Straße ist gut ausgebaut. Als sich der Konflikt zwischen Chile und Argentinien zuspitzte, hat man die ursprünglich von Häftlingen angelegte Straße verbreitert und neu befestigt, um im Ernstfall schnell Truppen und Nachschub transportieren zu können.
Wälder versperren mir zunächst die Sicht. Nach etwa 40 Kilometern treten die Bäume zurück, und ich erblicke eine hügelige Landschaft im Sonnenlicht. Beidseits der Straße, die jetzt eine Schotterpiste ist, erstrecken sich Viehweiden.
Die Estancia liegt an einer von sattem Grün eingerahmten Bucht. Über die Wiesen watscheln Gänse, Hühner picken, und Schweine wühlen in der feuchten Erde. Eine Pferdeherde grast in der Ferne, Hunde und Katzen streunen umher oder liegen in der Sonne. Rings um die Stallungen und Wirtschaftsgebäude blühen Lupinen in blauen, gelben und roten Farben. In einem Gemüsegarten gedeihen Kartoffeln, Mohrrüben und Gewürzkräuter. Das Wohnhaus aus Kiefernholz ist außen zum Schutz mit Wellblech verkleidet, das man weiß gestrichen hat – ein reizvoller Kontrast zu den grünen Fensterläden und dem roten Dach. Vor den Fenstern hängen Kästen, in denen Petunien ihre Blütenpracht entfalten. In einer Cafeteria werden dem Gast Tee, Kaffee und Kuchen angeboten.
»Ja, natürlich können Sie in Harberton übernachten«, sagt Natalie Goodall, die mit ihrem Mann die Estancia bewirtschaftet, und bietet mir ein Zimmer im umgebauten Schäferhaus an.
Ich will meinen Aufenthalt nutzen, um die Geschichte von Harberton zu ergründen. Schon am Abend bietet sich dazu Gelegenheit, als ich mit der resoluten Hausherrin bei einem Glas Rotwein zusammensitze. Trotz ihrer grauen Haare wirkt Natalie Goodall jugendlich und voller Energie. Vom ersten Moment an fand ich sie sympathisch, und im Laufe des Abends freunden wir uns an.
Natalie stammt aus Ohio und hat Meeresbiologie studiert. Ihre Forschungsarbeit führte sie vor gut 40 Jahren nach Feuerland, wo sie ihren Mann kennenlernte. Kenntnisreich hat sie ein Buch über die Tier- und Pflanzenwelt Feuerlands, seine Geschichte und Gegenwart verfasst. Am Nachmittag hatte ich das von ihr eingerichtete Museum besichtigt, in dem Säugetiere und Vögel ausgestellt sind; sogar das vier Meter große Skelett des seltenen Hector-Schnabelwals ist dort zu sehen. Er, wie viele andere Tiere auch, werden verendet am Strand gefunden, wenn sich wegen des gewaltigen Tidenhubs das Meer bis zu zwölf Kilometer vom Strand zurückzieht. Oft schaffen es die Tiere dann nicht mehr, rechtzeitig ins offene Wasser hinauszuschwimmen.
Natalie hatte mir noch am ersten Tag meiner Ankunft stolz den Garten gezeigt, wo alle Pflanzen in Spanisch, Englisch und in den beiden feuerländischen Sprachen der Ureinwohner, der Yamana und Alacaluf, bezeichnet sind. Die Sprachen der Ona und Haush sind nicht aufgeführt, da sie weiter im Norden Feuerlands lebten.
Als mich Natalie zum Friedhof führte, berichtete sie mir auch vom Urgroßvater ihres Mannes, Thomas Bridges. Sie hat sich dafür eingesetzt, dass sein Wörterbuch über die Sprache der Yamana wieder aufgelegt wurde, und arbeitet gerade an der Herausgabe seiner Tagebücher.
Thomas Bridges, erzählte sie, war ein Waisenkind aus England; ein Pastor der anglikanischen Kirche adoptierte ihn. Als der Pflegevater zum Missionieren auf die Falklandinseln geschickt wurde, nahm er den zwölfjährigen Zögling mit. Thomas lernte dort die Sprache der Yamana, die auch Kanu-Indianer genannt werden. Ursprünglich waren die Falklandinseln unbewohnt. Die englischen Siedler, die dorthin einwanderten und sich der Schafzucht widmeten, brauchten jedoch Arbeitskräfte, und so verschleppten sie kurzerhand Indianerfamilien von Feuerland auf die Inseln. Um diese Indianer zu missionieren und geistlich zu betreuen, wurde der Pastor zu den Falklandinseln gesandt.
Wie sein Ziehvater wurde Thomas Pastor. Nachdem er geheiratet und seine Frau gerade ein Kind geboren hatte, verlangte die anglikanische Missionsgesellschaft von der jungen Familie, die Falklandinseln zu verlassen und sich im äußersten Süden Feuerlands anzusiedeln, um dort die »Wilden« zu christianisieren.
Als sie mit der erst neun Monate alten Tochter in der Bucht landeten, wo heute Ushuaia liegt, gab es dort noch keine Siedlung. Ihre einfache Hütte war das erste Haus am Ufer des Beagle-Kanals. Die Indianer, die neugierig angepaddelt kamen, waren gewiss sehr erstaunt, als der Fremde sie in ihrer eigenen Sprache begrüßte und sich sogar mit ihnen unterhalten konnte; ein wohl einmaliges Ereignis beim Zusammentreffen zwischen Ureinwohnern und Weißen. Schnell gewann Thomas Bridges ihr Vertrauen. Schon nach wenigen Wochen konnte er seinen Auftraggebern den ersten Erfolg melden: die Eheschließung zweier Yamana nach christlichem Glauben.
Reverend Bridges war geprägt durch seine Zeit und die Erziehung seines Adoptivvaters, doch wichtiger als die »Bekehrung der Heiden« war für ihn, von den Indianern zu lernen und ihnen zu helfen. Er behandelte sie stets rücksichtsvoll, schlichtete Streit und kümmerte sich mit seiner Frau um die Kranken. Doch gegen Masern, Typhus und Tuberkulose konnten beide nichts ausrichten. Die Erreger wurden durch Seeleute eingeschleppt, nachdem die argentinische Regierung in der Bucht einen Marinestützpunkt eingerichtet hatte. Innerhalb weniger Monate starben über die Hälfte der sonst gegen Witterungsunbilden so widerstandsfähigen Yamana.
Das Sterben ging weiter. Als der Reverend nur noch 300 Überlebende zählte, beschloss er, der Zivilisation zu entfliehen. Östlich seines bisherigen Wirkungsgebietes fand er eine fischreiche, windstille Bucht, wo er sich mit seiner Familie niederließ.
Die anglikanische Kirche wollte nicht verstehen, warum die Missionsarbeit sinnlos geworden war. Ein Brief vom Hauptquartier in Brighton ist erhalten geblieben. Thomas Bridges, der 15 Jahre lang mit seiner Familie ein entbehrungsreiches Leben geführt und aufopferungsvoll für die Mission tätig gewesen war, wird in dem Schreiben heftig beschuldigt, sich mehr um das körperliche Wohlergehen der Eingeborenen gekümmert und dadurch zu viel Zeit für die christliche Bekehrung verloren zu haben. Er sei eine Ratte, die das sinkende Schiff verlasse, ein schwacher Mensch, vom Bösen zu seinem Ruin angestiftet.
Hoffentlich war Thomas Bridges über diese verletzenden Sätze nicht allzu betroffen. Natalie kann mir darüber keine Auskunft geben, aber sie weiß, dass der Urgroßvater ihres Mannes einen unbändigen Willen besessen hat. Buchstäblich aus dem Nichts erbaute er die erste Estancia Feuerlands, die er nach dem Geburtsort seiner Frau »Harberton« nannte, rodete Wald, legte Weideland an, betrieb Viehwirtschaft, erforschte im Kanu das weitverzweigte Wasserlabyrinth und führte kartografische Messungen durch. Er unterrichtete seine inzwischen sechs Kinder auch in der Yamana-Sprache und kümmerte sich um die letzten Indianer, die auf Harberton Schutz suchten. Neben all diesen kräftezehrenden Tätigkeiten vernachlässigte er nicht sein Hauptwerk, das Wörterbuch. Ich stelle mir vor, wie er sich nachts beim flackernden Kerzenlicht mit geröteten Augen über seine Schreibarbeit beugte.
Als Thomas Bridges 1889 starb, hatte er 32000 Wörter erfasst. Doch trotz dieses gigantischen Lebenswerks war die Yamana-Sprache bei Weitem noch nicht erschöpfend dargestellt – der damals in Deutschland fast zeitgleich erschienene Duden hatte nur 29000 Wörter archiviert. Natalie glaubt, dass die Yamana-Sprache mehr Wörter beinhaltet als jede europäische Sprache. Wer hätte vermutet, dass »primitive Wilde« sich einer dermaßen differenzierten Sprache mit schier unbegrenztem Vokabular, unzähligen Kombinationsmöglichkeiten, Bilderreichtum ohnegleichen und einer komplizierten Grammatik bedienten? Es war eine Sprache, die es den Ureinwohnern ermöglichte, ihre Umwelt präzise zu beschreiben. Sie besaßen zum Beispiel 60 verschiedene Wörter für Verwandtschaftsbeziehungen, die englische habe dagegen nur 25, sagt Natalie. Um Gefühle und abstrakte Ideen zu formulieren, benutzten sie Geschehnisse in der Natur als Metapher. Monotonie etwa bezeichneten sie als Abwesenheit von Freunden. Für Depression fanden sie das Bild einer Krabbe, die sich gehäutet hat und nun weich und empfindlich in einem dunklen Versteck wartet, bis ihr neuer Panzer hart wird. Ein Ehebrecher ist wie ein Falke, der in der Luft über seinem Opfer rüttelt, bevor er im geeigneten Moment herabstößt. Schluckauf ist ein Gewirr umgestürzter Bäume, das den Durchgang versperrt.
Natalies Begeisterung überträgt sich auf mich. Ich kann verstehen, dass der Reverend von der einmal gewählten Aufgabe nicht mehr lassen konnte.
Yamana heißt übrigens Mensch; als Verb bedeutet yamana: leben, atmen, glücklich sein.
Aber ein Feuer nach dem anderen erlosch. Kein einziger Yamana lebt heute noch. Der letzte starb 1977. So ist das verdienstvolle Werk von Thomas Bridges ein Monument über ein verlorenes Volk.
Als die ersten Europäer Feuerland entdeckten, gab es vier Volksgruppen. Yamana und Alacaluf waren auf dem Wasser in ihrem Element. Mit ihren Kanus paddelten sie durch das Labyrinth der Wasserstraßen und Kanäle, lebten hauptsächlich vom Fischfang. Die Haush und die Ona dagegen bevorzugten das Landesinnere, jagten Guanakos, Nandus und anderes Getier. Dank der verschiedenen Lebensweisen und der Nutzung unterschiedlicher Lebensräume gab es kaum Konflikte. Seit 8000, vielleicht sogar 11000 Jahren teilten sich die vier Indianerstämme friedfertig die Insel.
Es waren wohl die Lagerfeuer der Ona, die Fernando de Magellan, der portugiesische Kapitän in spanischen Diensten, 1420 sah, als er auf der später nach ihm benannten Wasserstraße eine Durchfahrt in den Pazifik suchte. »Tierra de los fuegos« soll Magellan daraufhin die Gegend getauft haben, obwohl das letztlich nicht verbürgt ist. Es heißt, statt lodernder Feuer, sei da nur Rauch gewesen.
Damals interessierte sich niemand für das neu entdeckte, abweisende Eiland. Kalt und grau lag es hinter Hagelschauern und Nebelwänden, Orkane fegten zu jeder Jahreszeit darüber hinweg. An den Küsten türmten sich haushohe Wellen und im Inneren erschwerten Gebirge, Gletscher, Urwälder und Sümpfe das Durchkommen. So dauerte es noch zwei Jahrhunderte, ehe Europa nähere Kenntnis über die Bevölkerung erhielt. Das Urteil war vernichtend. Der gebildete und vielfältig begabte deutsche Naturforscher Georg Forster, der 1772 mit James Cook die Welt umsegelte, war damals gerade 18 Jahre alt und galt dennoch bereits als Genie. In der Zoologie kannte er sich besonders gut aus, entdeckte neue Arten, beschrieb und zeichnete Tiere und Pflanzen detailliert und zugleich kunstvoll, doch die Feuerlandindianer beurteilte er mit der arroganten Voreingenommenheit seiner Zeit: »Elende Geschöpfe, die rohes, halbverfaultes, stinkendes Seehundfleisch fraßen. Ihr einziges Kleidungsstück bestand aus einem Seehundfell, das an einer Schnur um den Hals befestigt war.« Er vermutete, dass es den Ureinwohnern an Verstand fehle, um sich gegen Kälte und Blöße zu schützen. Seinen Bericht schließt er: »Dem Tiere näher und mithin unglückseliger kann wohl kaum ein Mensch sein.«
Weit mehr beschädigte Charles Darwin das Ansehen der Feuerländer. Das geringschätzige Urteil des angesehenen Wissenschaftlers, der mit seiner Evolutionstheorie weltberühmt wurde, prägte maßgebend das Bild der Inselbewohner. Darwin durfte fünf Jahre als unbezahlter Naturforscher auf dem Vermessungsschiff des Kapitäns Fitz Roy mitfahren und schrieb beim Anblick der Feuerländer: »Es waren die erbärmlichsten und elendsten Geschöpfe, die ich je gesehen habe … Wenn man sie betrachtet, so kann man sich selbst kaum zu dem Glauben bestimmen, dass sie unsere Mitgeschöpfe und Bewohner derselben Welt sind.« Unbedachte, oberflächliche Äußerungen eines kaum 23-Jährigen, der wie Forster von Völkerkunde keine Ahnung hatte, weil es dieses Wissensgebiet noch nicht gab.
Nur wer sich den Indianern vorurteilsfrei näherte wie Thomas Bridge, konnte einen Einblick gewinnen, und wer sich bereitfand, mit ihnen zu leben, wie der Missionar Martin Gusinde, erkannte ihre hoch entwickelte Gedankenwelt und ihr tiefes Naturverständnis. Gusinde schuf mit seinen Aufzeichnungen und Bildern eindringliche Dokumente. Seine Fotos rühren an und sind letzte Zeugnisse einer ausgelöschten Menschheitskultur.
Martin Gusinde, 1886 in Breslau und in armen Verhältnissen geboren, trat in das Missionshaus Heiligkreuz ein, wo er eine gute Schulbildung erhielt und später neben Theologie auch Philosophie und Naturwissenschaft studierte. Nach seiner Priesterweihe sandte ihn sein Orden nach Chile.
Zu den Feuerländern reiste Gusinde zum ersten Mal im Jahr 1918. Monatelang lebte der 32-Jährige bei einer Indianersippe, übernachtete in deren tipiförmigen Hütten aus Ästen und Fellen, begleitete die Männer zur Jagd, nahm an Totenfeiern, Hochzeiten, Initationsritualen teil. Mehrmals besuchte er die Indianer in den folgenden Jahren und wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass er der letzte Zeuge eines sterbenden Volkes war. Viele Indianer waren schon Opfer der eingeschleppten Krankheiten geworden, dann zäunten Schafzüchter riesige Ländereien ein und vertrieben die Ureinwohner aus ihren jahrtausendealten Jagdgründen. Kurz darauf kamen Goldsucher nach Feuerland, und nun begann die Zeit grausamer Kopfjagden. Die Glücksritter verfolgten die Indianer wie Wild, schlachteten ganze Familien ab und bekamen für jedes Ohrenpaar eines ermordeten Einheimischen ein Pfund Sterling von den neuen Landbesitzern.
Angstvoll misstrauten die Gejagten jedem Weißen, nur Martin Gusinde wurde zum Vertrauten. Sie nannten ihn »Schattenfänger«, weil er ihr Leben in Bildern festhielt. Der junge Wissenschaftler und Missionar fotografierte zurückhaltend, jede Aufnahme entstand mit Wissen, Einwilligung und Mitgestaltung der Abgebildeten. Sie wählten die Kleidung, den Schmuck, ihre Körperhaltung und Bemalung. Bei späteren Besuchen brachte er ihnen Fotoabzüge mit.
Martin Gusinde wusste, dass er den Untergang weder der Kanuleute noch der Guanakojäger verhindern konnte, deshalb versuchte er mit seinen Fotografien die Existenz der schönen, stolzen und wetterharten Bewohner Feuerlands im Gedächtnis der Menschheit zu bewahren.
Intensiv betrachte ich die Bilder in einem Buch, das Natalie mir zur Ansicht gegeben hat, versuche in den Gesichtern zu lesen. Ernst und würdevoll blicken die Menschen in die Kamera. Sie strahlen Selbstbewusstsein und Selbstachtung aus. In ihren Mienen spiegelt sich aber auch tiefe Traurigkeit; der unaufhaltsame Untergang ihres Volkes muss ihnen bewusst gewesen sein. In nur 50 Jahren war ihre Gemeinschaft von vielen tausend auf wenige Dutzend geschrumpft. Ein Bild berührt mich besonders. Drei Menschen sind darauf dargestellt. Eine junge Frau, deren prächtiges Guanakofell vom Hals bis zu ihren Füßen fällt, hält in den Armen ihre kleine Tochter, sorgsam in warmen Pelz gehüllt, dicht neben ihr steht beschützend der Mann. Der offene Blick der beiden Erwachsenen, in dem dennoch Skepsis und auch Trotz mitschwingen scheint eine Botschaft zu vermitteln, als wollten sie sagen: Wir sind die rechtmäßigen Bewohner unserer Heimat! Wir wollen leben, unser Volk darf nicht untergehen.
Das Foto stimmt mich traurig. Wo sind sie geblieben, diese schönen, großen, starken Menschen? Was für ein Verlust, dass sie unwiederbringlich von unserer Erde verschwunden sind.
Nach Gusindes Beobachtungen war bei allen vier Völkern der Familienverband die Basis ihrer Gemeinschaft. Zwischen Frauen und Männern herrschte eine feste Arbeitsteilung, besonders rigoros bei den beiden Seenomadenvölkern, den Yamana und Alacaluf. Jeden Morgen bestieg die Familie das Kanu; hinten saß die Frau und paddelte, vorn stand der Mann mit dem Speer in der Hand, um eine auftauchende Beute sofort erlegen zu können. In der Mitte saßen die Kinder, die auf flachen Steinen sorgsam das Feuer hüteten. Es durfte nie erlöschen, denn es war ihre Lebensversicherung, um dem kalten und nassen Klima zu trotzen. Beim Anlegen sprangen die Frauen ins eiskalte Wasser und zogen das Kanu an Land. Nur sie konnten schwimmen. Schon als kleine Mädchen lernten sie, sich im Wasser zu bewegen und zu tauchen, um den Speiseplan mit Muscheln und anderen Meerestieren anzureichern, während die Jungen die geschickte Handhabung des Speers erwarben und ein Leben lang Nichtschwimmer blieben.
Der Forscher war beeindruckt, wie liebevoll die Mütter um ihren Nachwuchs besorgt waren. Beispielgebend erwähnt er das Nabelschnur-Ritual. Vier Jahre lang bewahrten die Yamana-Frauen die Nabelschnüre ihrer Kinder auf, dann fingen sie einen Zaunkönig, dem das kleine Kind seine Nabelschnur um den Hals band und wieder fliegen ließ. Den mythologischen Hintergrund erläutert Martin Gusinde nicht näher, aber er war überrascht von der Fähigkeit der Mütter, trotz des schwierigen Nomadenlebens die zerbrechliche, getrocknete Schnur jahrelang aufzubewahren.
Der Missionar lernte auch den Glauben und das tiefe spirituelle Wissen seiner Gastgeber kennen. Sie verehrten ein höheres Wesen, das sie Watauinewa nannten. Schamanen traten mit mächtigen Naturgottheiten in Kontakt, um Kranke zu heilen, das Wetter zu beeinflussen und den Jagderfolg zu beschwören. Dauerte das schlechte Wetter an, zogen die Männer ihre Felle aus, stellten sich nackt im Kreis auf, mit den Gesichtern nach innen, legten sich gegenseitig die Arme auf die Schultern und tanzten stampfend, bis sie glaubten, dass die Wettergötter sie erhörten. Sie fertigten Masken aus Baumrinde, bemalten ihre Körper mit weißen Punkten, schwarzen und roten Streifen und klebten Vogelfedern auf die Haut, um so die verschiedenen Aspekte der Naturkräfte zu symbolisieren.
Eines der wichtigsten Ereignisse im Leben der Feuerländer war der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenleben, das Initiationsritual, bei dem der Prüfling ethische Grundsätze, Glaubensregeln, praktische Fähigkeiten lernen und beweisen musste. Das Vertrauen der Einheimischen zu dem Fremden war so groß, dass er die Einweihung nicht nur beobachten, sondern daran teilnehmen durfte und nach bestandener Prüfung als Stammesbruder aufgenommen wurde.
In seinen Aufzeichnungen hat Gusinde detailliert die Zeremonie beschrieben und auch die Gesetze der Yamana aufgezeichnet:
»Betrittst du eine Hütte, setze dich anständig hin, mit untergeschlagenen Beinen, schaue alle Anwesenden freundlich an. Gib dich nicht nur mit einer Person ab, und kehre niemandem den Rücken zu. Geh nicht zu häufig auf Besuch …
Treten viele in deine Hütte ein, und du besitzt zu wenig, um alle zu beschenken, bedenke zunächst die Fremden; von dem, was übrig bleibt, gib an deine Freunde und Verwandten ab …
Plaudere nicht sofort aus, was du anderswo gehört hast. Gar zu leicht wird etwas aufgebauscht. Später werden die Leute genauer nachforschen, wer der Schwätzer gewesen ist; dann werden sie dich ausfindig machen.«
Zwei Reiter bewegen sich wie zwei schwarze Punkte in der weiten Einsamkeit. Ihre Wege führen aufeinander zu… Unruhe regt sich in ihnen, wie immer, wenn sich zwei Reisende auf einem einsamen Pfad begegnen.
Ruben ist 23 Jahre alt und ein guter Reiter, er hat Pferdeverstand, lobt Natalie Goodall. Sein dichtes, schwarzes Haar fällt ihm wild in die Stirn, seine Haut hat eine bronzefarbene Tönung. Über meine Frage, ob es in seiner Familie indianische Vorfahren gebe, lacht er.
»Nein, ich bin nicht auf Feuerland geboren«, erklärt er. »Die Linie meiner Mutter stammt aus Andalusien, die meines Vaters aus Polen.«
In Cordoba, im Norden Argentiniens, hat Ruben Landwirtschaft studiert und absolviert nun ein freiwilliges Jahr auf Haberton.
Mit Natalie habe ich meinen Plan besprochen, Feuerland mit Pferden zu durchqueren. Auf der Karte haben wir die Strecke ausgetüftelt, 230 Kilometer von Harberton zur Ostküste. Es sei ein wildes, unwegsames Gebiet mit Urwäldern, Mooren, Bergen, Schluchten, sagt sie, und ich müsse mit acht bis zehn Tagen rechnen.
Mit der Sierra Lucio Lopez und den Montes Negros sind gleich zwei Gebirgsketten zu überqueren. Die Ausläufer der Anden sind zwar im Süden Feuerlands abgeflacht, kein Berg ist höher als 1500 Meter, dennoch sind sie steil und unzugänglich. Pfade sind nicht vorhanden, zudem wird das raue, stürmische Klima das Vorwärtskommen erschweren. Es gibt zwar einen alten Trail zum Lago Fagnano und weiter zur Estancia Viamonte, die auch der Familie Goodall gehört – auf diesem Weg wurden früher Schafe und Wolle zur Küste transportiert.
Vergeblich versucht sie, mir diese leichtere Variante schmackhaft zu machen, doch der ehemalige Transportweg verläuft zu weit nördlich und nicht durch das Gebiet, das ich gern kennenlernen möchte. Natalie vermietet mir Reit- und Lastpferde. Ruben wird mich begleiten und anschließend die Pferde zurückbringen.
Am Morgen unseres Aufbruchs ist es windstill. Nicht einmal ein Hauch ist zu spüren. So ungewöhnlich ist diese Windstille, als würde sich ein Unheil anbahnen. Doch die Pferde sind gesattelt, die Packtiere beladen, es kann losgehen. Ich reite einen Schwarzen, den ich Negro getauft habe; bei Tagesausritten haben wir uns schon angefreundet. Der sechsjährige Wallach scheint ruhig, zuverlässig und ausdauernd zu sein, neigt aber zu Temperamentausbrüchen und liebt es zu galoppieren. Dazu wird er bei unserer Tour wenig Gelegenheit haben, schließlich wird das Tempo von den Lasttieren bestimmt.
Ruben sitzt auf einem vierjährigen Falben, seinem Lieblingspferd, das er selbst zugeritten habe, wie er mir stolz erzählt. An je einer langen Führungsleine ziehen wir die Lasttiere hinter uns her.
Natalie wünscht uns eine gute Reise, neben ihr stehen die Mitarbeiter der Estancia, und alle winken zum Abschied. Ein Glücksgefühl durchflutet mich, wie ich es schon so oft erlebt habe bei Beginn eines Abenteuers. Es begeistert mich immer wieder, einen Plan zu verwirklichen, der in meiner Fantasie nach und nach konkrete Formen angenommen hatte. Nun wird sich das Ausgedachte in erlebte Wirklichkeit verwandeln.
Seit zwei Stunden sitzen wir im Sattel, aber noch bewegt kein Windhauch die Luft. Was mag diese Stille bedeuten? Ich frage Ruben, doch er wiegt nur leicht den Kopf, er redet nicht gern.
Der Wind, der sich heute irgendwo versteckt, hat aber ganz eindeutig die Landschaft geprägt. Jedes Detail erzählt von ihm, am auffälligsten die Bäume. Zerzaust und gebogen, künden sie von seiner Macht.
Die erste Etappe ist einfach, weil wir einem Pfad folgen, den ich von den früheren Ausflügen während meines dreitägigen Aufenthalts kenne. Nach einigen Reitstunden liegt der See Quintana vor uns. Am Seeufer steigen wir ab, nehmen den Pferden die Sättel ab und fesseln ihnen die Vorderbeine, damit sie grasen, aber nicht davongaloppieren können. Wir hocken uns zu einer Rast nieder und packen aus, was Natalie uns aus ihrer Vorratskammer mitgegeben hat.
Die Umgebung ist traumhaft. Einsam und zeitlos wirkt die Landschaft, als sei sie aus der Betriebsamkeit der Welt herausgefallen. Im klaren Wasser des Sees spiegelt sich der 1150 Meter hohe Berg Quintana, hinter dem die Gipfelkette der Sierra Lucio Lopez in den wolkenlos blauen Himmel ragt. Dunkle Punkte kreisen dort oben. Aufgeregt greife ich zum Fernglas. Meine ersten Kondore? Doch dann sehe ich, dass es Chimangos sind, Greifvögel mit einfarbig braunem Gefieder und rahmgelben Flügelflecken.
Rubens Schweigsamkeit bin ich von unseren bisherigen Tagesausflügen schon gewöhnt. Nachdem er seinen Hunger gestillt hat, legt er sich ins Gras und schließt die Augen.
Kein anderer Laut ist zu hören als das Abreißen der Gräser und das Zermalmen durch die kräftigen Pferdezähne. Mein Blick ruht auf unseren Reittieren, ich liebe es, ihnen beim Fressen zuzuschauen. Ein beglückendes Gefühl von Freiheit breitet sich in mir aus und die Gewissheit, im Einklang mit der Natur zu sein. Weiter schweift mein Blick von den Pferden zum See, dann zu den Bergen, die den Horizont begrenzen, und schließlich zum Himmel. Blau, ohne eine einzige Wolke, wölbt er sich über die Erde.