Angela von Gatterburg

Ein Engel im Mondlicht

Roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0360-1

 

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Oktober 2011

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Erstausgabe erschien 2011 bei Rütten & Loening,

einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

 

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Umschlaggestaltung Henkel/Lemme

unter Verwendung eines Motivs von Pixmann/

getty-images und © Chuwy/iStockphoto

 

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Inhaltsübersicht

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

EPILOG

|5|KAPITEL 1

Es war in einer funkelnden Winternacht, als der Engel auf die Erde fiel. Seine silberne Kapsel flog am Firmament entlang durchs Weltall, sie drehte sich schnell und lautlos durch die Dunkelheit, vorbei an großen und kleinen Planeten. Der Engel, festgegurtet wie ein Astronaut, reiste mit bangem Herzen. Er wusste nicht, was ihn erwartete am Ziel seiner Reise.

Normalerweise wurde jemand wie er mit einem klaren Auftrag entsandt. Natürlich nur, wenn man ihn für reif genug befunden hatte und der Ansicht war, er sei dem Auftrag gewachsen. Ich hingegen, dachte er, bin von niemandem für reif genug befunden worden. Ganz und gar nicht. Ich habe mich unerlaubt von meinem Arbeitsplatz entfernt. Es bekümmerte ihn, dass er seinen Vorgesetzten gegenüber ungehorsam war. Aber er konnte nicht anders. Musste man manchmal nicht ungehorsam sein, um das Richtige zu tun? Er jedenfalls hatte seine Aufgabe erkannt und sich mit brennendem Herzen auf den Weg gemacht.

Es war sein erster Ausflug zur Erde, und er hatte Angst. Ganz anders ging es den Gestirnen, an denen er vorbeirauschte; sie hielten seinen Anblick für eine staunenswerte, glückbringende Angelegenheit. Ein Engel auf Mission zur Erde – wenn das nicht ein Grund zum Feiern war! Die Sterne strahlten um die Wette und schickten der Kapsel lange Lichtschweife hinterher. Zu viel Lichtgewitter, dachte der Engel nervös. Ich komme noch vom Weg ab. Er schluckte und versuchte sich zusammenzureißen. Um sich mit der Kapsel und ihren Flugeigenschaften vertraut zu machen, hatte er nicht genügend Zeit gehabt. Hektisch drückte er nun auf einen der blauen Bremsknöpfe. Doch die Sternenkapsel drehte sich |6|schneller, und es klang einen kurzen Moment lang so, als würde sie Luft holen. Dann hörte der Engel ein heulendes Geräusch und merkte zu seinem Entsetzen, dass seine Fahrt sich weiter beschleunigte. Während er hektisch sämtliche Knöpfe drückte, öffnete sich plötzlich eines der großen Seitenfenster, und ein harter Windsog brachte die Kapsel in Schräglage. »Hilfe!«, schrie er voller Furcht. Seine Gedanken überschlugen sich. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, sich allein und ohne Erlaubnis aufzumachen. Vielleicht bin ich ganz und gar ungeeignet für diese Aufgabe, dachte er. Ganz. Und. Gar. Ungeeignet …

Die Kapsel raste jetzt so schnell, dass er nichts mehr denken konnte. Und er war nicht sicher, ob er jemals auf der Erde ankommen würde, und wenn ja, in welchem Zustand.

 

Währenddessen ging im Himmel alles seinen Gang. Dort herrschte schönstes Sommerwetter, und Engel Octavio kehrte den Hof vor seinem Haus. Er überlegte gerade, was er zum Abendessen kochen sollte, als einer seiner Kollegen um die Ecke kam, Oberengel Servatius, eine hochgestellte Persönlichkeit im Engelreich. Mit ihm war nicht zu spaßen, und jetzt machte er ein besonders ernstes Gesicht.

»Irgendetwas passiert?«, fragte Octavio, der für seine Gelassenheit bekannt war.

»Noch nicht. Könnte aber bald sein. Es betrifft einen deiner Ausbildungsengel. Bislang saß er in der Registratur. Dort gehört er auch hin.« Servatius schnaubte. »Sobald er zurückkehrt, wird er zur Putzkolonne strafversetzt.«

Octavio dachte an seine Schutzbefohlenen und seufzte. Gab es nicht immer Ärger, wenn Servatius auftauchte?

»Was ist schiefgegangen?«, fragte er. »Um wen handelt es sich?«

»Registraturengel Nummer neunzehn. Unerlaubt vom Dienst ferngeblieben. Ohne Marschbefehl zur Erde aufgebrochen |7|vor wenigen Stunden. Undercover unterwegs. Keine Ahnung, was er dort vorhat. Offenbar ist er völlig durchgedreht.«

»Nummer neunzehn«, sagte Octavio nachdenklich und drehte sich kurz zu einem seiner Rosenbüsche. Also war Nr. 19 wirklich gestartet. Wie er es angekündigt, nein, angedroht hatte.

Weil niemand auf ihn hören wollte. Weil man seine Einwände übergangen hatte. Weil er an Gerechtigkeit glaubte. Und an die Liebe.

Natürlich würde Servatius den Vorgang anders beurteilen. Also sollte er jetzt wohl besser den Mund halten und so bald wie möglich versuchen, seinem Schüler zu helfen. Andererseits gefiel ihm die selbstgefällige Art von Servatius nicht.

Er drehte sich um. »Nummer neunzehn. Prima Kerl, wenn du mich fragst. Allerdings war er noch nie auf der Erde.«

»Richtig, Nummer neunzehn. Natürlich war er noch nie auf der Erde. Er ist einfach nicht geeignet dafür. Wie man sieht, ist er offenbar bereits mit der Anreise überfordert. Er ist einfach, nun ja, zu unbedarft.«

Octavio zog die Augenbrauen hoch. Unbedarft, so bezeichnete Oberengel Servatius alle Lehrengel, von denen er nichts hielt. Und, wie Octavio ahnte, Servatius mochte Nr. 19 nicht. Er hatte nichts übrig für leidenschaftliche, glühende Himmelsboten. Er setzte auf Dienst nach Vorschrift. Auf Gehorsam. Anpassung. Octavio seufzte. Servatius hingegen hatte Nr. 19 gern, gerade weil er so wahrheitsliebend und engagiert war. Aber ob er damit auf der Erde weiterkam?

»Erzähl mir, was genau passiert ist.«

»Nummer neunzehn hat sich in eine Silberkapsel gesetzt, die er nicht fliegen kann. Die Kapsel ist vom Flugkurs abgekommen und rast jetzt viel zu schnell. Und wird nicht da landen, wo sie landen soll. Das ist passiert.« Servatius schüttelte den Kopf, als hätte er keinerlei Verständnis dafür, dass jemand den Weg verfehlte.

|8|»Das kann ja mal vorkommen«, sagte Octavio.

»Das darf nicht vorkommen! Ich kann mir vorstellen, was er vorhat und wohin er genau will. Was uns Sorgen macht, ist, dass er immer mehr beschleunigt. Könnte sein, dass er beschädigt auf der Erde landet. Und du weißt ja, was das bedeutet.«

Octavio nickte. Ja, er wusste, was das bedeutete. »Wo wird er voraussichtlich landen?«

»Irgendwo in Bayern, auf dem Land. Jedenfalls nicht in der Landeshauptstadt.«

»Ich behalte ihn im Auge«, versprach Octavio.

»Darum möchte ich auch gebeten haben. Es ist nicht einfach, sich in diesem Teil des Erdenpfuhls zurechtzufinden. Sehr seltsam sind die Menschen dort, raubeinig und eigenwillig. Sie sprechen mit komischem Zungenschlag und ernähren sich von merkwürdigen Erdensnacks: Butterbrezeln. Weißwürsten. Weizenbier.« Servatius schauderte. »Teuflische Verführungen, wenn du mich fragst. Vor allem für einen so naiven Engel, wie Nummer neunzehn es ist.«

»Ein paar Weißwürste haben noch niemandem geschadet. Ich finde sie übrigens köstlich, falls es dich interessiert. Und Nummer neunzehn hat einen robusten Magen.«

»Ich weiß. Aber ein Engel, der sich den Bauch mit Weißwürsten vollschlägt, könnte auffallen. Nummer neunzehn ist schließlich nicht in Menschengestalt unterwegs.«

Das war richtig. Ausbildungsengel begaben sich bei ihren Aufträgen unsichtbar auf die Erde. Der Einsatz in Menschengestalt war nur ganz erfahrenen Engeln vorbehalten. Nr. 19 hatte allerdings weder einen Auftrag noch Erfahrung.

»Ich weiß nicht, was ihn zu diesem Abenteuer getrieben hat«, sagte Servatius streng.

»Weißt du doch«, sagte Octavio. Du sollst nicht lügen, stand geschrieben. Offenbar hatte Servatius vergessen, was geschrieben stand. »Er will einem Menschen helfen, weil hier |9|etwas schiefgelaufen ist. Ein Irrtum des Computers, soweit ich weiß.«

»Der Himmel irrt sich nicht.«

»Ach, wirklich? Warum gibt es uns Engel dann überhaupt? Würde nie etwas schiefgehen, wären unsere Sondereinsätze nicht nötig. War es nicht so, dass ein Verwaltungsfehler passiert ist, aber niemand bereit war, die Verantwortung zu übernehmen?«

Servatius funkelte ihn böse an. »Fehler passieren, ich habe keine Lust, jetzt darüber zu diskutieren. Aber ich mache dich persönlich verantwortlich für das, was Nummer neunzehn anstellt. Wir hoffen sehr, dass er nicht versagt und keine groben Fehler macht. Oder zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das würde der Marketingabteilung nicht gefallen. Sie bastelt gerade an einem neuen Image für uns. Aber das weißt du bestimmt, oder?«

Octavio gab sich alle Mühe, geduldig zu bleiben. »Natürlich. Wer wüsste das nicht. Die machen ja genug Gewese darum.«

Servatius wedelte mit der rechten Hand. Offenbar wollte er sich nicht weiter über die Marketingabteilung unterhalten. »Ich hoffe nur, Nummer neunzehn hat sein Handbuch im Gepäck und versteht sich auf kleinere Wunder.« Servatius blickte weiter streng.

»Bestimmt«, sagte Octavio, der allmählich die Geduld verlor. »Wie ich schon sagte, er ist in bester Absicht unterwegs. Ich denke, du weißt, warum.«

»Ich verbitte mir diesen Ton!«, entgegnete Servatius pikiert und machte sich mit einem wütenden Zischen davon. Servatius bürokratikus, dachte Octavio. Wie bedauerlich, dass manche seiner Kollegen doch ziemlich aufgeblasene Gesellen waren. Obwohl Engel sich doch eigentlich demütig und bescheiden zeigen sollten. Aber es gab immer irgendwelche Wichtigtuer, die sich profilieren wollten. Und diese Imagekampagne der |10|Marketingabteilung ging ihm auch gegen den Strich. Ein Engel war ein Engel, man musste keine Werbung für ihn betreiben, als wäre er ein auf Hochglanz poliertes Auto. Als müsste man den Menschen die Engel aufschwatzen. So ein Quatsch. Die meisten Menschen glaubten an Engel und waren froh, wenn ihnen einer zu Hilfe eilte.

Marketing. Octavio schüttelte den Kopf. Von diesem himmlischen Budenzauber hielt er überhaupt nichts. Aber damit wollte er sich jetzt nicht beschäftigen. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Er schaltete seinen Super-Cielo-Computer ein und sah nach, wo sein Lehrengel abgeblieben war.

»Na, das sieht doch gar nicht so schlecht aus.«

Dann aber merkte er, dass er auf den ersten Blick etwas übersehen hatte. Die Richtung stimmte nicht. Registraturengel Nr. 19 segelte in die falsche Richtung. Und das in rasantem Tempo.

Ich brauche eine Idee, dachte Octavio. Und zwar schnell.

|11|KAPITEL 2

Der Mond über Bayern sah an jenem Abend aus wie eine goldene Scheibe. Wie ein funkelnder Pfannkuchen, dachte Wilhelm Obermayr, während er ihn betrachtete. Wilhelm Obermayr, den alle nur Willi nannten, stand mit seinem Hund auf der schneebedeckten Veranda seines Hauses und starrte nach oben. »Ja, da legst di nieda«, murmelte er, »nedd zum glaum.«

Willi war Bayer, romantische Neigungen lagen ihm fern. Doch in jener Nacht zog der Himmel seinen Blick magisch an. Das Licht des Mondes, so kam es ihm vor, strahlte heller als sonst und schien alle Dinge zu verzaubern. Es ist eine Nacht, in der alles passieren kann, dachte Willi. Allerdings legte er wenig Wert darauf, dass unvorhergesehene Dinge passierten. Er hatte gern seine Ruhe und zog es vor, dass die Tage gleichförmig dahinglitten.

Doch dieser Mond kündete von etwas Besonderem, so schien es ihm.

Oder lag es am vielen Weißbier, das er getrunken hatte? Willi trank für sein Leben gern Weißbier, für ihn gab es nichts Besseres und Gesünderes. In seiner Heimat waren viele seiner Ansicht und tranken Weißbier bei jeder Gelegenheit: oft schon vormittags, spätestens zum Mittagessen, ganz sicher aber zur Brotzeit und natürlich auch abends.

Willi trank allerdings häufig ein wenig mehr als andere Leute. Manchmal sah Willi nachmittags schon betrunken aus, manchmal war er’s auch. Willi entschuldigte sich damit, dass er das viele Weißbier brauche, weil er mit seinen Erfindungen nicht weiterkam. Er war Erfinder, hatte jedoch manchmal eine Art Blockade. Die Muse küsst mich nicht, dachte er dann und |12|ersetzte die unzuverlässige Muse durch ein Weißbier. Das Bier, sagte Willi gern, würde ihn inspirieren. Tatsächlich beförderte das Bier seine Eingebungen so gut wie nie. Meistens trat das Gegenteil ein, er wurde schläfrig, seine Gedanken verwirrten sich, er starrte dumpf vor sich hin und schlief ein.

Doch der heutige Abend, das fühlte Willi trotz des Bieres, das er in sich hineingeschüttet hatte, war nicht wie alle anderen. Vielleicht würde das Mondlicht ihm die Eingebung bescheren, auf die er schon so lange wartete. Er schlug sich gerade mit seiner neuesten Erfindung herum, einem singenden Toaster. Bis jetzt toastete der Toaster nur, sang jedoch nicht. Trotz des kleinen Chips, den Willi in seinen Boden eingebaut hatte.

»Jennifer, Marie, kommts do amal und schauts euch diesen Mond oa.« Er wandte sich zum Haus und horchte. Ja mei, wo waren diese Weiber nur wieder?

»Kann gerade nicht, Opa«, rief seine Enkelin. Aus dem oberen Stockwerk drangen Musik und klappernde Geräusche.

»Marie, schau dir amal den Mond oa. A Wahnsinn«, rief Willi wieder.

Im oberen Stockwerk öffnete sich ein Fenster.

»Ja, Papa, hab ihn schon gesehen. Er sieht wunderbar aus.« Marie, die aus dem Fenster blickte, winkte ihm zu und sah nach oben in den Himmel. »Wirklich schön«, sagte sie leise. Einen vollkommenen Moment lang war es ganz still, und Willi und seine Tochter betrachteten den Mond.

Dann rief Marie ihrem Vater zu: »Ich muss mich sputen, ich bin noch verabredet. Jennifer macht sich gerade die Haare im Bad. Das kann dauern.«

»Na, dann net«, brummelte er und schüttelte missmutig den Kopf. Es war nicht einfach, mit zwei Frauen zusammenzuleben. Eigentlich lebten sie nicht richtig zusammen, und vielleicht war das genau das Problem. Er fühlte sich manchmal einsam, und er glaubte, dass es seiner Tochter oft ähnlich ging. Jedenfalls hätte er es schön gefunden, mit ihr und seiner |13|Enkelin den Mond anzusehen. Einfach so. Es kam nicht oft vor, dass sie etwas teilten, von gelegentlichen Mahlzeiten einmal abgesehen. Er starrte weiter den Mond an, der über ihm stand und eindringlich strahlte.

»Na, was moanst, Alex?«

Willis Hund Alex, ein gutmütiger Langhaardackel, heulte den Mond an, als spräche dieser zu ihm. Von Zeit zu Zeit schien der Mond Funken zu sprühen, und Willi hatte das Gefühl, als geschehe in der Dunkelheit vor seinen Augen etwas Geheimnisvolles. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.

Sie standen noch eine Weile auf der Veranda und schauten zum Himmel, bis es Willi zu kalt wurde.

Eine zündende Idee für seine Erfindung war ihm nicht gekommen. Viel Zeit hatte er nicht mehr. Der Toaster war für seinen besten Freund Friedl, mit dem er seit Jahren Stubenmusi machte. Dessen Geburtstag stand in zwei Wochen bevor, bis dahin musste der Toaster funktionieren. Beim Gedanken daran verschlechterte sich Willis Laune augenblicklich. »Kimm nei und jaul net so«, fuhr Willi seinen Hund an und warf einen grimmigen Blick auf den glühenden Himmelskörper. »Und du da droben, mach di net so wichtig.«

Mit einem energischen Ruck zog er die schwere Holztür seines Hauses hinter sich zu, ging in seine riesige Wohnküche, die voller Werkzeuge lag. Er schlurfte zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Bier und goss sich ein weiteres großes Glas ein. »Prost, Alex!«

Alex sah sein Herrchen ergeben an. Willi ließ sich schwerfällig in seinen alten Ohrensessel fallen, löschte die Lampe neben sich und betrachtete den mondhellen Himmel widerwillig durchs Fenster. Er dachte kurz daran, ein wenig an seiner Erfindung zu arbeiten oder zu schnitzen. Dann verwarf er diesen Gedanken wieder und beschloss, vom Fenster aus den Himmel weiter zu beobachten und dabei sein Weißbier zu trinken. Dann wäre es Zeit, zu Friedl zu fahren.

|14|Seine Tochter Marie ging im oberen Stockwerk umher, das sie mit ihrer Tochter bewohnte. Sie fühlte sich eigentümlich an diesem Abend. Es gab so viele Dinge, über die sie nachdenken wollte. Im Radio erzählte ein Mann gerade etwas von dem glühenden Bedürfnis des Menschen nach Transzendenz. Marie fühlte ein glühendes Bedürfnis nach einem schönen heißen Bad. Sie drehte das Radio ab und blickte wieder aus dem Fenster. Der Mond sah anders aus als sonst. Geradezu unnatürlich groß und leuchtend.

»Jennifer, schau doch mal, der Mond«, rief Marie. Nicht, dass sie wirklich eine Antwort erwartete. Jennifer fuhrwerkte im Bad herum und war mit hochwichtigen Verschönerungsmaßnahmen beschäftigt. Keine Zeit, ihrer Mutter zuzuhören.

Marie seufzte. Wie sehr sich Kinder doch veränderten und wie schnell. Und manchmal, dachte sie, selbst wenn sie das nie laut sagen würde, in ungewollter Weise. Früher hätte Jennifer die halbe Nacht aufbleiben wollen, um gemeinsam mit ihr den Mond zu bestaunen. Heute konnte Marie froh sein, wenn ihre Tochter überhaupt mit ihr sprach. Na ja, das war vielleicht übertrieben. Aber Jennifer war inzwischen ein Teenager. Sie interessierte sich nicht für Sterne und den Mond, sie interessierte sich für Emily Handerson, die demnächst in der Stadthalle auftreten würde, und für die Jungs von Tokio Hotel. Und womöglich noch für ganz andere Jungs. Solche, die nicht so unerreichbar waren wie diese Popfuzzis, sondern sich in Jennifers Nähe rumtrieben. Die auf ihre Schule gingen.

Marie machte sich Sorgen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Scharen von pickeligen, grabschenden Teenagern, die kaum älter waren als Jennifer und gewisse Dinge im Sinn hatten. Natürlich, dachte sie, wäre alles noch schwieriger, wenn sie in der Großstadt leben würden. Auf dem Land ging alles gemächlicher zu, und die meisten jungen Mädchen hängten sich nicht irgendwelche Ringe in Nase und Bauchnabel. Aber |15|wer weiß, wie lange das so blieb? Die meisten Moden und Trends kamen irgendwann auch in der Provinz an.

Marie wollte keine übervorsichtige Mutter sein, sie wollte ihre Tochter nicht mit Verboten umgeben und mit Fürsorge ersticken. Doch sie fürchtete sich ein wenig vor den nächsten Jahren. Jennifer würde Dinge ausprobieren wollen, wie andere Teenager auch, sie würde experimentieren wollen, vielleicht mit Drogen (hoffentlich nicht), vielleicht mit Piercings (bloß das nicht) und wahrscheinlich mit Sex (unvermeidlich). Marie hatte in einem Magazin gelesen, dass junge Männer heute als die gefährlichste Spezies der Welt galten. Das kam von dem vielen Testosteron, das in ihren Körpern kochte, sie antrieb, umtrieb und unberechenbar machte. Und die jungen Mädchen heute waren auch nicht so wie zu ihrer Zeit. Sie rauchten wie die Schlote und machten häufig mit bei dem, was die Zeitungen indigniert »Komasaufen« nannten.

Jennifer war zwölf Jahre alt. Marie seufzte wieder und betrachtete sich im Spiegel. Und wie alt war sie? 36 Jahre. Aber sie fühlte sich manchmal wie 63, ausgelaugt, irgendwie erschöpft. Vielleicht, dachte sie, verbraucht sich das Gefühl für die eigene Attraktivität mit der Zeit, wenn einem niemand sagt, dass man schön und begehrenswert ist.

Marie hörte Jennifer im Bad singen. Könnte sie doch nur auch fröhlich sein wie ihre Tochter, so voller Tatendrang, Energie, Heiterkeit. Überzeugt davon, dass das Leben schön war. Jennifer war unbekümmert und in vertrauter Selbstverständlichkeit verbunden mit ihrer Freundin Mona, mit der sie heute Abend über eine Stunde lang telefoniert hatte.

Und ich?, dachte Marie. Sie fragte sich, ob je wieder ein Mann nach ihrer Telefonnummer fragen würde, um mit ihr eine Stunde lang zu telefonieren. Oder um sie anzurufen und zu einem Candle-Light-Dinner auszuführen. Diese Art Rendezvous sei wieder schwer im Kommen, hatte kürzlich eine Freundin gesagt. Marie fände bereits eine schlichte Einladung |16|ins »Flamingo« himmlisch. Das war eine gemütliche Bistro-Kneipe, in der köstliche französische Pfannkuchen und kleine Torteletts serviert wurden. Natürlich hatte Marie ihre Verehrer, aber wenn sie in Gedanken die Männer durchging, die sich für sie interessierten, musste sie sich eingestehen, dass sie mit keinem von ihnen einen Abend im »Flamingo« verbringen wollte. Natürlich konnte sie auch mit einem Kollegen dorthin gehen. Aber ein richtiges Date wäre doch etwas anderes.

Sie hatte es satt, allein zu sein. Sie sehnte sich nach einem Mann, der ihr seine ganze Aufmerksamkeit schenken und seine Gedanken und Geheimnisse mit ihr teilen wollte.

Nicht wehleidig sein, ermahnte Marie sich. Sie würde heute Abend mit ihrer Freundin Eva ausgehen, und das würde sicher ganz unterhaltsam werden. Vielleicht würde sie ja sogar jemanden kennenlernen in dieser Kneipe, die Eva ausgesucht hatte. Sie hieß »Dicker Mann«, was verheißungsvoll klang, zumindest, was die Küche betraf.

Während Marie ein dunkelgrünes, schmales Wollkleid anzog, musterte sie sich noch einmal kritisch im Spiegel des Kleiderschranks. War sie nach landläufigen Maßstäben attraktiv? Einigermaßen, dachte sie ungnädig. Sie war mittelgroß, schlank, hatte große, braune Augen, die etwas skeptisch in die Welt blickten. Ihr Gesicht hatte jemand mal als »interessant« bezeichnet, na ja, es gab wohl schlimmere Beschreibungen.

Marie platzierte mit sicherer Hand einen Lidstrich. Geht noch, dachte sie. Wo war ihre Wimperntusche? Und die Haarspange?

»He, Jennifer, kannst du mich bitte mal reinlassen?«

Keine Antwort. Außer dröhnender Musik war nichts zu hören.

»Jennifer! Mach bitte die Tür auf. Ich muss mich fertig machen. Ich treffe mich mit Eva.«

|17|Die Tür sprang auf. Ihre Tochter stellte mit leicht genervtem Gesichtsausdruck das Radio leiser und sagte: »Was ist denn?« Sie stand vor dem Waschbecken und betrachtete kritisch die rotbraune Masse, die sie auf ihre Haare aufgetragen hatte.

»Rot?« Marie versuchte, gelassen zu klingen.

»Rot ist cool. Alle bei mir in der Klasse haben jetzt Rot. Ich hoffe nur, es wird nicht zu hell, nicht zu knallig. Was denkst du, wie lange muss ich es drinlassen?«

»Keine Ahnung. Was steht denn auf der Packung?« Marie griff nach dem Karton, aber ihre Tochter winkte ab.

»Danach kannst du nicht gehen, das muss man im Gefühl haben.«

Im Gefühl, dachte Marie. So ein Quatsch. Wie sollte eine Zwölfjährige im Gefühl haben, was dieses chemische Zeug mit ihren Haaren machte?

Sie sagte nichts, nahm die Wimperntusche, die im Regal lag, und begann, sich langsam und konzentriert die Wimpern zu tuschen. »Hast du den Mond gesehen?«, fragte sie.

»Ja. Hab ihn vom Fenster aus gesehen. Sieht super aus. Irgendwie anders als sonst. Galaktisch. Als ob er gleich runterfallen würde. Steht Opa noch draußen?«

»Nein, ich glaube, er ist wieder in der Küche. Es ist ihm wohl zu kalt geworden.« Marie steckte sich die Haare mit einer schwarzen Lackspange am Hinterkopf zusammen. »So. Fertig. Wie seh ich aus?«

Ihre Tochter machte sich nichts aus Kleidern, sie trug fast immer Jeans und Pullover. Jetzt kniff sie die Augen zusammen und musterte ihre Mutter kritisch. »Bisschen bieder. Aber sonst ganz nett.« Sie lachte und gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Mama, du siehst cool aus, wirklich. Allerdings, wenn du mit der verrückten Eva zusammen bist, wird das nichts mit einem neuen Mann. Wenn die Eva sehen, verschwinden die Kerle schneller, als du gucken kannst.« Sie nickte wissend.

|18|»Wie kommst du denn da drauf?«

Marie war so überrascht, dass sie sogar versäumte, zu betonen, dass sie keinesfalls auf der Suche nach einem neuen Mann sei, wie sie es Jennifer gegenüber sonst immer tat. Bis dieser Fall eintreten würde und sie auf das gnädige Wohlwollen ihrer Tochter hoffen müsste, sollte Jennifer sich gefälligst nicht damit beschäftigen, wie Frauen auf Männer wirkten. Schon gar nicht sollte sie sich zum Ausgehverhalten ihrer Mutter und deren bester Freundin äußern. Sie war entschieden zu jung für Geschlechterstudien.

Jennifer neigte den Kopf, wie sie es immer machte, wenn sie nachdachte. »Eva ist irgendwie nett, aber zu laut, zu unruhig, kein bisschen anschmiegsam. Aber anschmiegsam ist wichtig, das habe ich in einer Zeitschrift gelesen.«

Marie setzte sich auf den Badewannenrand. »Hör mal«, protestierte sie. »Wir reden hier nicht über einen Hund, sondern über meine Freundin.« Sie verschwieg sorgsam, dass Eva, im Gegensatz zu ihr, dauernd irgendwelche Männerbekanntschaften machte. Wahrscheinlich bin ich zu wenig anschmiegsam, dachte sie. Gut, Evas Bekanntschaften verliefen meist kurz und heftig, aber immerhin lief bei ihr was. »Ich finde Eva erfrischend. Sie ist direkt und sagt meistens, was sie denkt.«

»Genau, Mama, sie ist kein bisschen diplomatisch. Und na ja, so der Kracher ist sie ja nun auch nicht, was ihr Aussehen angeht. Sonst könnte sie sich das vielleicht erlauben.«

»Jeder, der nicht aussieht wie diese blonde Kuh, ist in deinen Augen kein Kracher«, sagte Marie. Natürlich war sie in den Augen ihrer Tochter erst recht kein Kracher. Sie wusste Bescheid. Diese Heidi Klum mit ihrer Show im Fernsehen, die war ein Kracher. War das das Ergebnis aller Emanzipationsbemühungen? Ihre Tochter vergötterte ein blondes Model, das im Fernsehen regelmäßig junge Mädchen zu Weinkrämpfen nötigte. »Ich finde Eva schwer in Ordnung«, sagte sie energisch. »Essen steht auf dem Herd, wenn du noch mal |19|Hunger kriegst. Ich muss jetzt los. Kann spät werden. Geh zeitig ins Bett. Wann hast du morgen Schule?«

»Erst um zehn, da bist du schon weg. Ich treffe mich mit Mona vor der Schule.«

Marie fragte nicht weiter nach. Ihre Tochter hing ständig mit ihrer Freundin Mona zusammen. Vor der Schule, nach der Schule, abends, an den Wochenenden. Und wenn sie nicht zusammen waren, telefonierten sie.

»Gut, mein Schatz. Tschüss.« Marie gab ihrer Tochter einen Kuss in den Nacken, nahm ihren Mantel und stürmte die Treppe hinunter ins untere Stockwerk. Sie klopfte kurz an der Küchentür und trat ein, als keine Antwort kam. »Servus, Papa, ich geh dann. Pass auf, dass die Jennifer nicht so viel Fernsehen schaut. Pfüat di.«

Ihr Vater antwortete nicht. Er lag in seinem Sessel und schlief. Marie schaute auf die Uhr und seufzte. Hatte ihr Vater nicht vorgehabt, später noch zu seinem Freund Friedl zu fahren, um Stubenmusi zu machen? Sie konnte sich nicht genau erinnern. Vielleicht hatte er es vergessen. Auf Zehenspitzen schlich sie zu ihm und legte ihm eine Decke über.

»Servus, Alex, Servus Papa«, sagte sie zärtlich und ging leise hinaus.