Roman
Saga
Jeder Mann liebt Ursula
German
© 1932 Robert Heymann
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711503805
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Heute, an einem Herbstabend, der Wind sauste durch die Straßen, die Bäume standen schon beinahe kahl, saß Ursula im Theater. Ihr Atem setzte manchmal aus, ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihre Finger zerknüllten erregt das Taschentuch. Sie war krampfhaft bemüht, in den Pausen ein gleichgültiges Gesicht zu zeigen. Was ging sie das schon an, was sich da oben abspielte! Schieber und Schleicher gingen über die Bühne, einsame Herzen wurden zertreten ... ja, nun, wo werden keine Herzen zertreten? Ist es nicht lächerlich, darüber zu vergessen, daß Tränen die Tusche von den Wimpern wuschen! Aber das Stück war doch sonderbar: Ein Mensch, der das Gute will, der allen Menschen das Glück bringen will, solch ein Mensch stieß sich den Schädel an den steinharten Kanten der lieben Seelen ein ...
Na schön! Wenn schon!
Ursula betrachtete kritisch ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel auf der Innenseite der kunstledernen Handtasche. Sie tupfte rosafarbenen Puder auf die Nase, die immer ein wenig glänzte, und zog den runden Mund mit dem Lippenstift herzförmig nach. Dabei schielte sie mit einem halb zugekniffenen Auge auf den Herrn in der nächsten Reihe. Was der Fatzke mich immer anzustarren hat? Wenn ich dem bloß mal die Zunge zeigen dürfte ...
Ussi war ein Mädel wie tausend andere aus der Armee der Arbeit, und doch wieder war sie anders. Freilich, sie trug die Uniform der Fräulein ihrer Zeit, äußerlich und innerlich. Das billige seidene Fähnchen spannte sich fest um nur angedeutete Hüften, das blonde Haar war sorgsam onduliert, ihre Gedanken waren auf das Leben, auf Reichtum und Liebe mit den gleichen Schlagworten eingestellt wie das Leben ungezählter anderer kesser kleiner Angestellten, mit den gleichen Sorgen und den gleichen Träumen. Dabei schaute Ussi aus wie eine junge Dame von Welt. Nur wer ihr einen zweiten Blick zuwarf, der sah wohl die vielen kleinen Unterschiede zwischen ihr und jenen Damen, die keine oder nur sehr geringe Sorgen hatten, hinter deren glatten und weißen Stirnen sehr klare Vorstellungen von der Welt und dem Leben wohnten. Wenn man aber bedachte, daß Ussi im Berliner Norden geboren war und in der Gegend rund um die Fruchtstraße aufgewachsen ist — wenn man sich überlegte, daß Ussi aus einem dieser in ewigem Schatten versunkenen Hinterhöfe hervorgegangen war, dann mochte man über das Wunder staunen, das Ussi an sich selbst vollzogen hatte.
Für ihre Bildung hatte sie alles getan, was in dieser Zeit für ein Mädel ihrer Art nötig war. Sie hatte die Augen und Ohren offen gehalten, sie hatte für jedes Problem, das die Welt bewegte, eine schnoddrige Groschen-Weisheit bereit.
Sonntags ging sie entweder ins Kino oder in die Volksbühne. Der Eintritt kostete sie nichts, sie bekam Freikarten, denn Rolf Sonntag, ein kleiner Schauspieler, ist der Freund ihrer Schwester Martha. Martha ist Näherin, sie zog das Kino vor, im Sommer aber paddelte sie lieber mit Rolf oder machte Touren mit Erwin vom Jugendbund. Martha hatte ein Dutzend Flirts, aber keine große Liebe, die Jungens sagten, sie wäre ein „Vamp“.
Ussis Gedanken kehrten wieder zu dem Stück zurück. Es regte auf. Aber das war eine ganz andere Erregung, die ihr Blut peitschte, als wenn sie im Kino über Greta Garbo weinte.
Die könnten doch auch mal was anderes spielen, wo keine Liebe vorkam? Aber vielleicht wäre es dann nicht so interessant. Die Liebe ist schon eine merkwürdige Angelegenheit. Mal geht es schief — (sehr oft geht es schief!) — mal wird die Liebe belohnt — (um welchen Preis!) — Das ist eine Frage des Charakters und einer robusten Gesundheit, dachte Ursula.
Ich könnte nicht so viel leiden, um glücklich zu sein! Was ist das denn schon? Man hat einen Mann, vielleicht Kinder ... ich mag die Göhren gar nicht! Paula, die jüngste Schwester, ärgerte mich mehr, als man Freude an ihr hatte! — Aber ich würde vielleicht einen so armen Kerl wie den da oben in dem Theaterstück von der Bühne weg heiraten. —
Nein, würde ich doch nicht! Aber einen Kuß könnte ich ihm geben, mitten auf seinen verkümmerten Mund, und dann liefe ich davon, er könnte sich ja den Kopf zerbrechen, wer ihm diesen einzigen Kuß versetzt hatte!
Unter solchen Gedanken ließ Ussi die Szenen auf der Bühne bald entsetzt, bald innerlich protestierend, an sich vorbeigehen. Das alles hatte immer irgendwie etwas mit dem Elend ihrer Klasse zu tun. Das waren vertraute Bilder, und doch ist das Leben da oben im Licht der Rampen verzerrt, übermalt. Das ist so im Theater wie im Kino. Ussi fühlte plötzlich körperlich die Schminke auf ihrem blassen Gesicht. Wir wollen eben immer etwas anderes gelten als wir sind. Ich auch, natürlich!
Es war wieder Pause. Sie ließ hochmütig eine Braue hochsteigen. Die Menschen um sie her sollten nicht denken, daß sie gerührt war ... und der Affe dort vorne starrte sie noch immer an!
Dann wurde es wieder dunkel, und Ussi war wieder mitten drin in dem Elend der Menschen, die so verschieden waren und, statt sich gegenseitig zu helfen, einander mit den tollsten Mätzchen betrogen.
Sie kam nicht los, wenn auch das Hirn rebellierte. die Tragödie marterte ihr Herz. Es ist schon so! Immer war es so! Das bißchen Liebe — und so viel Jammer und Geschrei! Zum Kuckuck, ich werde mich niemals verlieben! Mir kann die Liebe gestohlen bleiben. Wie käme ich dazu, das Elend meiner Mutter zu wiederholen? Sie hatte elf Kinder geboren! Aber was hatte das schon mit Liebe zu tun? Nun, vielleicht hatte es schon allerhand damit zu tun!
Aber nun war das Spiel aus, die Lichter erloschen, die Stimmung zerrann. Ursula ging befreit zum Ausgang. Draußen auf dem großen Bülowplatz blieb sie verblüfft stehen.
Eine Kette Autos rollte zur Anfahrt wie am laufenden Band. Knallend flogen die Türen zu, schillernde Frauen, gleichgültige Männer verschwanden. Da sprang ein junger Mensch zu dem und jenem Auto hin, kaum daß es hielt, öffnete den Schlag vor den Einsteigenden, schloß ihn wieder, streckte die Hand aus ... und wenn er nichts bekommen hatte, wenn die Hand leer blieb, stand er noch sekundenlang da wie eine Statue, umkreist von Lampenlicht, das zittrig den Dunst der Stadt durchdrang. Aber es waren mehrere junge Menschen, nicht nur einer! Freilich sah einer wie der andere aus, Marionetten, alle aus derselben Fabrik, mit den eingekrusteten Schlacken der Arbeit auf den abgetragenen Röcken. Die Hosen schlenkerten ihnen um die Beine, als ob sie Stelzen hätten. Aber dieser eine Mensch da ... dieser eine Mensch, der sich jetzt vor dem anfahrenden Wagen aus der gebeugten Stellung zurückschnellte ... das ist doch Peter, Peter — der Bankbeamte Peter Lange — dachte Ursula. Dieses Zurückspringen des geduckten Körpers ... und der Kopf mit dem langen strähnigen Jungenshaar (das trug er noch immer. Aber er war ja sicher noch immer so ein Junge.) Nur: Wie kam Peter hierher? Arbeitslos? Ja, aber — Trinkgelder — ein ehemaliger Bankbeamter — und wie elegant war er immer gewesen!
„Peter!“
Ehe Ursula wußte, daß sie gerufen hatte, drehte der junge Mensch sich um und schaute sie an. Da erkannte er sie. Die Hand, die eben noch das Trinkgeld in die Tasche gleiten lassen wollte, stand in der Luft.
„Ursula“, sagte Peter mit schief gestelltem Kopf. Ein Passant riß ihn vor einem anfahrenden Auto weg. Der Schupo griff sich den nächststehenden Kollegen Peters heraus, — sofort verschwanden die elenden Gestalten aus dem Lichtkegel. Auch zu Peter sagte der Schupo:
„Machen Sie, daß Sie fortkommen.“
Ussi dachte: warum soll Peter nicht hier stehen und Autotüren öffnen? Aber da wandte er sich schnell ihr zu.
„Wenn ich dich jetzt nicht leibhaftig sehen würde,“ sagte Ussi, „nein, dann würde ich es einfach nicht glauben!“
Ihre Augen musterten ihn unruhig. Er wurde rot, Ursula sah es nicht, denn sie gingen die Straße entlang, die in einem schmutzigen Halbdunkel lag.
„Ja, Ussi, es war ein weiter Weg von der Deutschen Bank bis — bis hierher. Aber wenn man erst ohne Stellung ist ... und keine mehr bekommt ...“ Plötzlich redete er hastig und atemlos ... „Du mußt nicht denken, daß ich hier die Hände aufhalten und betteln würde, wenn es sich nur um mich handelte. Nein, ich tu’s wegen Mutter ... Herrgott, Ussi, du kannst es dir ja nicht vorstellen ...“ Ihre Hand fuhr wie liebkosend über seinen abgetragenen Rock.
„Ich kann, Peter ... aber du gehst nicht unter! Du nicht! Nur Kopf hoch, weißt du?“
Er nickte und lächelte verloren.
„Ich weiß, Ussi.“
Schön war sie geworden! Unter dem halboffenen pelzbesetzten Mantel das grüne Seidenkleid! „Paßt wundervoll zu deinem hellen Teint mit dem zarten Aprikosenton!“
„Den hab’ ich mir doch angeschminkt!“ Ihr kleiner, koketter Hut saß schief auf dem hellen Haar, eine rote Feder knallte darüber.
„Du hast auch immer noch deine süße Stupsnase“, fuhr Peter fort und ging neben Ursula her.
„Findest du?“ Ussi wurde rot. Eigentlich — frech war das! Ich muß mir noch heute meine Nase im Spiegel besehen. Jetzt sind lange Nasen modern. Man kann dem Fehler ja abhelfen. Für einige hundert Mark kauft man sich beim Schönheitsdoktor eine andere Nase. Nur das Geld muß man erst mal haben!
Sie lachte über ihre eigenen Gedanken, und die Stupsnase lachte mit, dieses Periskop der Sehnsucht, das die Dinge schon hundert Meter voraus spiegelt, ehe die Augen recht bei der Sache sind.
„So ein Zufall!“ sagte Ussi. Peter schwieg ...
„Nun, Peter?“
„Ja, ein großer Zufall! Ich hatte dich gesucht, Ussi, aber leider — nicht mehr gefunden.“
„Ich wohne nicht mehr bei Mutter.“
„Das hat sie mir erzählt. Warum nicht mehr?“
„Ich arbeite in einem Laden in Charlottenburg ... Die Entfernung bis zum Zoo ... ich habe da immer so viel Zeit verloren. Trotz der guten Verbindung mit der U-Bahn.“
„Jawohl“, sagte Peter und schaute sie von der Seite an. Nach einer kleinen Pause: „Aber deine Schwestern wohnen noch bei der Mutter!“
„Martha, Frieda und Paula ... ja! Die wohnen noch da. Die arbeiten aber auch in der Gegend! Martha bei Tietz, Frieda in einer Wäscherei, und Paula ist ja noch zu klein zum Arbeiten.“
Albern und uninteressant sind die Mädels, dachte Peter, die können sich mit Ursula nicht messen! Eine richtige Dame ist sie geworden. Nicht wegzukennen von den Kurfürstendamm-Frauen! Talentiertes Mädl!
„In welchem Geschäft arbeitest du denn jetzt, Ussi?“
Sie sagte: „Mein letzter Chef arbeitete in Importartikeln, aber in der Krise ist er pleite gegangen. Da bin ich als Verkäuferin bei Dietrich Jonas eingetreten.“
„Wer ist Dietrich Jonas?“ fragte Peter.
„Ein Juweliergeschäft dicht bei der Tauentzienstraße.“
„Da bist du jetzt Verkäuferin?“
„Wieso fragst du? Staunst du?“
„Nun, ich denke, man muß da allerhand verstehen von Brillanten und Schmuck und den Fassungen. — Ich könnte jedenfalls so einen Posten nicht ausfüllen.“
„Das ist doch nicht schwer, Peter!“ erwiderte Ursula in mütterlichem Tone. „Die Preise sind alle aufgeschrieben, und zum Verkauf ist ’ne alte Schraube da, das heißt, sie sieht sehr vornehm aus, hochgeschlossener Kragen, wie ’ne Stiftsdame oder so. Na, und der Chef, Junge, über den kannst du dir totlachen ...“
„Du dich ...“
Ursula schwieg einige Sekunden beleidigt und beschämt, dann lachte sie.
„Ein alter Fehler, Peter. Ich dachte, ich hätte ihn mir schon abgewöhnt. Also der Chef ist dick und rund, stammt irgendwoher aus dem Balkan, — oder noch weiter ... von so ’ner Insel, wo die Samosweine herkommen. Ich bin eigentlich fürs Geschäft die Anreißerin.“
„Was bist du?“ fragte Peter und blieb stehen. Es war sehr spät geworden, der Platz hinter ihnen lag einsam, das breite Theater war hingewuchtet wie ein riesiges schlafendes Tier. Nur am Schönhauser Tor war noch geheimnisvolles Leben.
„Wo willst du denn eigentlich hin?“ fragte Ursula unvermittelt.
„Ich bringe dich nach Hause. Nach dem Westen, nicht wahr? Oder —“ Peter schaute betreten an seinem grünschimmernden Rock herunter — „oder wenigstens bis an die Treppe zur Untergrundbahn.“
„Noch nicht“, sagte Ussi. „Wir wollen uns noch ein bißchen ausquatschen. Wo wohnst du denn?“
„Ich?“ Er zauderte. Sie beugte sich neugierig vor und schaute ihm im Schein der elektrischen Lampe erst mal richtig ins Gesicht. Gelbe Furchen zogen sich von der langen schmalen Nase zum Mund herab. Dieser Mund sah aus wie gespalten. Der Mantel schlotterte an seinem Körper.
„Wann hast du deine Stellung verloren, Peter?“
„Vor achtzehn Monaten.“
„Du hast wohl jetzt gar keine Bleibe?“
„Doch, mach dir keine Sorgen! Ich wohne in einem Männerheim — gar nicht weit! Gormannstraße. Gegenüber der Stempelstelle.“
„Da kann ich wohl nicht mitkommen? Ist da nicht so etwas wie ein Restaurant?“
„Nein, Ussi, da sind nur Männer, eine Frau würde sich da fühlen wie — wie im Urwald. Aber wenn wir noch ’n paar Minuten gehen, da in der Nähe ist ein Café, da habe ich Kredit!“ —
„Gut“, sagte Ursula gedrückt. Sie schlenderten die schlecht beleuchtete Straße entlang. Ussi beschmutzte sich die neuen Schuhe ... es rieselte schon eine Weile von dem schwarzen Himmel nieder ... aber sie ging doch neben Peter, und so viele Erinnerungen knüpften sich an ihn! Als man noch so jung war und von einem eigenen kleinen Heim träumte, von Kindern und so ...
„Du hast inzwischen kein Glück gehabt, Peter?“
Er machte eine fahrige Handbewegung. „Nein. Viel Glück habe ich ja bisher im Leben überhaupt nicht genossen. Nur damals — was Ussi?“
Ussi zog den Pelz ihres Mäntelchens fester um den Hals. Sie hatte plötzlich Angst vor dem, was er sagen würde. Und doch reizte es sie, ihn anzuhören. Warum bloß, dachte sie. Ich gehe jetzt einfach mit Peter, als ob es noch so wäre wie damals! Aber inzwischen ist die Zeit vergangen, alles ist anders geworden. — Wie sehr ist alles anders geworden!
Sie traten in das Café. Nachdem sie bestellt hatten, sagte Peter:
„Denkst du noch daran, wie du und ich ... ja, Ussi? Wie waren wir glücklich!“
Ursula lachte ein wenig zu laut und verstummte. Sie bereute plötzlich mitgegangen zu sein. Was hatte sie hier zu suchen in diesem merkwürdigen Café, so spät, in einem Viertel, das ihr längst nichts heimatliches mehr bot? Während der Kellner ihr die Melange und Peter einen Korn servierte, schaute sie sich um. Sie saßen nahe der Tür, ein langer schmaler Gang führte nach rückwärts. Da saßen fremdartige Gestalten, manche stierten lautlos vor sich hin, andere würfelten, drei fragwürdige junge Leute spielten auf dem Damebrett ein Glücksspiel, nicht ohne Streit und Zwischenrufe. Am Tisch neben Ussi hatten einige Männer Platz genommen. Sie waren sehr gut angezogen, aber Ussi verzog den Mund. Der Stiernacken des einen war ihr widerwärtig. Der andere mit den stechenden Augen hatte das Gesicht voller Narben, der Kopf des dritten lief spitz zu wie bei dem letzten Aztekenkönig, den Ussi mal auf dem Rummel für zwei Groschen bestaunt hatte. Unwillkürlich dachte Ussi an das Plakat vor einer anderen Schaubude: eine tote Frau auf der Erde, ein Verbrecher neben dem Opfer an der Tür, die soeben von außen gesprengt wurde: Sherlock Holmes und Polizei mit Revolvern, der Mörder an der Tür, gleichfalls mit vorgehaltenem Revolver lauernd, der Zimmerboden überschwemmt mit Blut. Das ganze hieß: „Raubmord im Karolinental“: „Hier sehen Sie in Wachs die größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts! Haarmann und Denke und Kürten, den Massenmörder von Düsseldorf.“
Ussi wandte den Blick von den Rücken der Männer ab. Die Wirtin stand mit dicken nackten Armen hinter der Theke und beobachtete Peter. Ussi schaute zu Boden. Der schmalbrüstige Kellner wischte in der Ecke den Tisch ab und unterhielt sich mit einem Mädchen. Er schmunzelte herüber, während das Weib eine Bemerkung machte, irgendeine gemeine Zote, Ussi fühlte es.
Peter kam zu Bewußtsein, daß er Ussi nicht hätte hierher führen dürfen. Er ist für die Umgebung schon abgestumpft. Aber Ursula ...
„Freilich“, sagte Ussi leise. „Das war damals eine ganz andere Zeit!“
Ein Lächeln ringelte sich lockend und licht um ihren Mund. Peter wurde es ganz warm ums Herz. „Du denkst auch noch oft daran? Du hast es nicht vergessen?“
Plötzlich redete er sich in Erinnerungen an die Vergangenheit hinein.
„Weißt du noch? Unsere Fahrten zum Werbellinsee — Lagern im Freien — Zeltstimmung — Waldschweigen — Seestille — du und ich —“
Ussi hatte den Kopf gesenkt, Peter schaute eine Weile mit einem wesenlosen Blick in die Zigarettenwolken, die vom Nebentisch aufstiegen. „Dann bist du weggekommen, damals im Herbst, weißt du, Ussi? Wegen deiner Lunge. Na, und als du wiederkamst, da war ich im Rheinland. Wir haben uns ja geschrieben! Erst oft, später dann und wann mal — dann hörte das auch auf. Aber als ich zurückkam, war mein erster Gang zu dir ...“
Er legte seine Hand auf die ihre. Was dachte er eigentlich? ging es Ussi durch den Kopf. Noch einmal anfangen? Die Liebelei von damals? Mit ihm? Jetzt? Welche Aussichten hat er? — Sie betrachtete ihn von unten her unter halbgeschlossenen Wimpern: wird er unter die Räder kommen? Sie überdachte spielerisch die Möglichkeit, seine Frau zu sein. Sorgen und Arbeit, ein, zwei Zimmer für ihn, für sie und die Kinder, Ernüchterung, Streit und Ärger. Er wird für irgendeine Partei schwärmen, von der man für die Zukunft hofft, und dabei wird sie alt, ehe sie weiß, was das „Leben“ ist. —
Sie schüttelte sich.
Peter hatte ihre Gedanken nicht begriffen. Peter schaute sie mit seinen hellen Augen an, und was aus seinem Blick sprach, das kann Ussi nicht so einfach abtun. Liebe ist das! Die große Liebe, das fühlte eine Frau. Jede Frau weiß, wenn die Liebe an sie herankommt. Die Frau mit dem richtigen Instinkt weiß, was echt ist und was Lüge.
Peters Liebe ist echt.
Ussi schüttelte den Kopf, weil sie das nicht sehen wollte, und weil sie nicht daran denken wollte, und sagte plötzlich: „Wir waren damals noch recht jung und dumm, du und ich.“
„Ja“, erwiderte er, ein heißer Funke glomm in seinen zerquälten Augen auf. „Ja, Ussi, so jung! Aber du warst die erste für mich ...“
Ursula lachte wieder unnatürlich laut. Das klang häßlich, sie mochte es selber nicht hören. Aber sie möchte dem Peter am liebsten eine Maulschelle geben und schreien: Du lügst! du lügst ja, wie sie alle lügen, du erbärmlicher Schuft! Du Falschmünzer! Ihr macht ja doch alle falsches Geld, wenn es um Liebe geht!
Und doch weiß sie, er sprach die Wahrheit. Dann stieg ihr die Wut auf, weil er eben die Wahrheit sagte, weil es die Wahrheit ist ...
Dummer Peter! Die erste! ... Er war doch neunzehn! Neunzehn! Mit siebzehn ging ihr Bruder schon mit einer, und das war nicht seine erste.
„Ja“, hörte sie Peter aus weiter Ferne sagen. „Du warst meine erste Liebe.“
Jäh stieg eine warme Welle zu ihrem Herzen empor.
Sie schaute ihn kokett an:
„Wirklich? Eigentlich — ist das nicht sonderbar gewesen? Es gab doch so viele ...“
„Ja. Aber ich hatte doch nie so recht Geld gehabt. Und bei jeder, die ich kennen lernte, hatte ich nur an dich gedacht. Nur du solltest es sein! Dann ist es ja auch so gekommen.“
Ussi wollte antworten, aber der Klavierspieler, der bisher eine Pause gemacht hatte, schlug plötzlich los. Den letzten Schlager! Der Mensch nahm die Füße nicht mehr von den Pedalen. Hinten gröhlten sie sofort mit. Lärm erstickte jedes Wort. Ussi und Peter blieben schweigsam und warteten, bis das Konzert zu Ende war. Es dauerte aber lange, denn so oft der Klavierspieler aufhören wollte, brüllte es von rückwärts: „Weiter, Herr Kapellmeister! Weiter!“ Und ein Betrunkener wiederholte im Diskant: „Noch ’ne Molle für die Kapelle!“
Einige Mädchen hatten sich umgefaßt, die Weiber gröhlten und einer rief: „Alles mitsingen!
Wie kommt denn der Spinat aufs Dach,
Wo doch die Kuh nicht fliegen kann ...“
Das weitere erstickte im Gelächter, der Klavierspieler nahm endlich die schweren Hände von den Tasten, das laute Gespräch löste sich auf in verworrene Wortfetzen, dann und wann noch ein Lachen.
„Mensch,“ sagte einer am Nebentisch, „mich laust der Affe: det is’ doch Peter!“
Peter tat, als habe er nichts gehört, er hörte auch nicht auf das herausfordernde Lachen der drei und schaute nicht hin, während sie sich wie auf Kommando umdrehten und Ussi ansahen.
Ussi fühlte ihre Blicke. Sie sagte leise:
„Kennst du diese Leute, Peter?“
„Ja und nein, Ussi. Wir wollen gehen, hier ist nicht der rechte Platz für dich!“?
Die Stimmung war zerrissen. Ussi dachte nur, sie möchte schon auf der Straße sein. Peter rief den Kellner und flüsterte ihm etwas zu, der nickte widerstrebend, rieb sich das Kinn und entfernte sich, auffallend zögernd.
Ussi nahm mit raschen Fingern ihr Portemonnaie aus der Tasche.
„Peter, bitte, zahle für mich — und für dich.“
„Auf keinen Fall, Ussi, kommt gar nicht in Frage.“
„Nein, bitte Peter, spiel’ hier nicht den Kavalier! Machen wir uns doch nichts vor! Ich will aus dieser Bude ohne Aufsehen heraus! Also tue mir den Gefallen!“
Ussis Ton duldete diesmal keinen Widerspruch. Zögernd griff Peter nach dem Taler, winkte den Kellner nochmals heran.
„Na, du wirst doch von det Mä’chen kein Geld nehmen!“ sagte eine harte Stimme. Ein breiter Kopf, bösartig wie ein Raubfisch, mit breitem Maul, stechenden Augen, ekelhafter Lache, beugte sich zum Tisch nieder.
Ussi schaute erst verwundert, dann zornig in dieses schwammige Gesicht. Peter strich mit der Hand über den Tisch, als ob er den unbequemen Menschen fortwischen könnte. Der Mann schob Peter beiseite. Mit einer seiner Elefantenschultern machte er das, setzte sich neben Ussi, Peter wurde an die Wand gedrückt. Ein böses Leuchten machte Ussis Augen groß und heiß.
„Kenn’ uns doch?“ sagte Stemmerkarl. „Auch wieder hiesig in die Jejend? Bist ’n affiget Mä’chen geworden, Ussi ...“
Jetzt erkannte sie ihn! Stemmerkarl! Ein brutaler Schuft ist er, ein gemeiner Kerl! Er hatte damals im gleichen Hause gewohnt wie sie, bis er rausgeworfen wurde wegen seiner Zuhälterei.
Bei der Eisenbahnerwitwe über der Wohnung von Ussis Mutter hatte er eine Schlafstelle. Sie war noch ein halbes Kind gewesen und hatte ihn erst nicht beachtet, hatte sich nur manchmal mit einem Gefühl des Schauderns über sein dreistes Lächeln geärgert. Dann sah sie ihn mal wieder auf dem Rummelplatz, an dem die ersten großen Eindrücke ihrer Kindheit haften. In der Bude „der schwersten Männer Deutschlands“ war er Ringkämpfer. Jeden Abend rangen diese fetten Männer keuchend mit einem scheinbar unerhörten Kräfteaufwand um imaginäre Meisterschaften. Das Publikum verfolgte eigentlich mit mehr Interesse ihre Kunstgriffe, als es sich sachlich für die jeweiligen Sieger interessierte. Dann und wann kam es vor, daß ein ahnungsloser Portokassenjüngling einen Preis stiftete. Dann rangen sie um den Taler — manchmal waren es sogar zehn Mark und mehr. Als das Geschäft nicht mehr ging, hatte sich Stemmerkarl als Artist in Vergnügungslokalen versucht, aus dieser Zeit stammte sein Spitzname. Er hatte Gewichte gehoben, war mit einer Kraftmeßmaschine gereist, später mit Schiffsschaukeln, dann war er nach Tegel gekommen. Man hatte damals viel von dem Verbrechen gesprochen, daß er begangen hatte, denn in dem Hause Ussis war er ja noch immer bekannt. Ussi hatte nicht so recht verstanden, was er getan hatte, sie hörte nur: Sittlichkeitsverbrechen, ohne eine rechte Vorstellung damit zu verbinden. Nur Grauen empfand sie. Dann vergaß sie ihn. Bis sie eines Tages Vater aus der Kneipe holte — wen sah sie an Vaters Tisch? Stemmerkarl. Wieder begrüßte er sie mit seiner schleimigen Freundlichkeit. Sie machte, daß sie fortkam. Schließlich fiel sein Name nur noch einmal, als der Bruder erzählte, Stemmerkarl habe im Norden einen Bouillonkeller aufgemacht.
„Geh weg“, sagte Ussi. „Ich kenn dich nicht! Das ist lange her, und im übrigen sind Sie mir reichlich unsympathisch!“
Die Freunde am Nebentisch brüllten vor Lachen.
„Mensch, Stemmerkarl,“ riefen sie durcheinander, „da schlag doch einer lang hin ... setz den Leierkastenmann raus, die kann auch anders ...“
Stemmerkarl schaute Peter unschlüssig an. Auf Peter hatte er keinen Haß. Aber das Mädchen sollte ihn hier nicht umsonst blamiert haben.
Ohne zu fragen, packte er ihre Hand. Die verschwand in der seinen wie ein kleiner Vogel, und schon zog er Ussi halb über den Tisch.
Ussi schrie kurz auf, ihre Augen wurden ganz groß, hilflos, der Schrecken schrie aus ihnen, ein blinder Schrecken vor tausendfachem, nicht gewolltem Schicksal, das andere Mädchen ereilt hatte.
„Mensch, Ussi“, sagte Stemmerkarl, „nich so jroßartig, vastehste?“
Er verstummte. Ein heftiger Schlag hatte ihm die Zähne in die Lippen gestoßen.
Peter hatte von der Seite her zugeschlagen. Stand da und schlug ihm zum zweitenmal die Faust in die Fresse, daß es nur so knallte. Schrie unverständliche Worte dabei und schlug immer weiter, seitwärts an der Wand stehend, bis dem Stemmerkarl das Blut aus dem Mund lief und er rot sah.
Da schlug er zurück. Peter taumelte und sank vornüber auf den Tisch. „Noch eins,“ sagte Stemmerkarl, „dann stehste im Hemde!“ Er wollte Peter den Rest geben, aber da entstand Tumult im Lokal. Die Freunde warfen sich auf ihn. Ussi hatte einen Schreikampf bekommen und war dem Kerl mit ihren zehn Fingern ins Gesicht gefahren. Beinahe hätte sie ihm ein Auge ausgekratzt. Die Wirtin war von rückwärts gekommen und räumte mit ihren drallen Armen aus. Alles schrie und quirlte durcheinander, und plötzlich waren Ussi und Peter auf der Straße. Ussi hörte noch, wie einer sagte: „Det wird dir heimjezahlt, du Jammerlappen!“
Sie sah den blutspuckenden Peter neben sich: wie sein Skelett aus dem armseligen Mantel wuchs. Das ist also Peter, der einmal so ein hübscher, eleganter Mann war, und der jetzt aussah wie ein ganz armer, armer Junge.
„Die Sache war das Theater nicht wert“, murmelte sie.
Peter schwankte. Sie schob ihren Arm unter den seinen und zog ihn mit sich fort. Auf ihrem Mantel waren blutige Spritzer, aber sie achtete nicht darauf.
„Mach’ dir nichts daraus, Peter! Hörst du, Peter? Lieber Junge —“
Peter war noch so benommen, daß er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Der Kiefer schmerzte unerträglich. Wenn Stemmerkarl seinen Schwinger austeilte, ging jeder Gegner nieder. Peter hielt sich mit äußerster Energie aufrecht. Ihm war übel, alles drehte sich, aber neben ihm war Ussi, er hörte ihre süße Stimme, das war der reine Balsam.
„Peterchen! Nimm dich zusammen! Wir treffen uns auch wieder. Hörst du? Wir treffen uns wieder!“
Da wurden die grauen Augensterne in Peters hohlem Gesicht unter der gelblichen Stirn mit den eingefallenen Schläfen ganz groß.
Ursula wischte mit dem parfümierten Taschentuch das Blut aus seinem Gesicht.
„Regt dich denn die Geschichte noch immer so auf?“
„Nein! Aber ich bin glücklich, Ussi. Die ganze Welt könnte ich umarmen. Wir treffen uns wieder? Wenn du etwas von mir willst, Ussi, du brauchst nur zu reden. Nur zu sagen brauchst du es. Ich springe in den Landwehrkanal und hol ein Goldstück herauf!“
„Es gibt ja jetzt gar keine Goldstücke, du dummer Peter. Ich kann nicht mal eines reinwerfen!“
„Ja, es ist dummes Zeug, was ich sage, aber meinen Kopf würde ich hergeben für dich ... weil ich dich lieb habe, Ussi! Nie habe ich dich vergessen ... und ... arbeiten werde ich wieder ... suchen werde ich die Arbeit ... und wenn ich sie vom Mond holen muß! — Hör’ doch, Ussi, wo willst du denn hin? Da drüben ist die U.-Bahn — wo treffen wir uns denn, Ussi? So warte doch! Wo wollen wir uns denn treffen? Wann? Morgen? Ja? Hast du morgen Zeit? Ich mache dir einen Vorschlag! Morgen in dem Kino Koppenstraße. Um neun Uhr warte ich. Ich mache mich auch wieder fein, Mädel, ganz wie ehedem, du brauchst dich nicht mit mir zu schämen! Du mußt nicht denken, daß ich so wie heute kommen werde!“
Er war neben Ussi hergerannt. Nun redete er in den Wind. Wie graues Tuch lag es über dem Platz, es rieselte Feuchtigkeit. Zäh und undurchsichtig wie das ewige Unglück lastete die Nacht, noch trostloser war das Leben für die Menschen, die der Straße gehörten.
Aber Peter war dieser Welt der Tatsachen entrückt. Er sah auf seinem Wege weder die Silhouetten der Dirnen, noch die Menschen, die in Hauseingängen lagen und schliefen. Einer im Stehen, andere hingekauert auf die Steinstufen.
„Sie kommt“, sagte Peter immer wieder vor sich hin und reckte die Arme. Sie kommt! Aber plötzlich senkte sich ein schwarzer Schleier über sein Glück.
Wer wird mir einen Anzug geben?
So, im Mantel, kann er Ussi zum zweitenmal nicht treffen. Das steht fest. Er dachte nach. Ging die Freunde der Reihe nach durch. Wer hatte denn noch einen Anzug, der nach etwas aussah? In dem man ein anständiges Lokal betreten konnte? Das ist die Frage, die Peter beschäftigte, die ihn die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen ließ.