Die Autorin
Jalda Lerch kommt aus Berlin und lebt, nunmehr mit Familie und Hund, bis heute dort. Sie lernte Wirtschaftskaufmann, studierte Soziologie und arbeitete einige Jahre in kleineren Redaktionen und Verlagen. Wenn sie nicht gerade Krimis schreibt oder kocht, liest sie und verreist, so oft es geht.
Das Buch
Lars Behm beginnt auch diesen Tag griesgrämig. Der Kriminalhauptkommissar lebt mit 39 wieder bei seiner Mutter und steht vor dem ersten Treffen mit seinem 5-jährigen Sohn. Beinahe erleichtert übernimmt er die Ermittlungen in einem neuen Fall. Bei der Arbeit fühlt er sich sicher und er darf ungestört grübeln. Eine junge Frau ist von ihrem Balkon in den Tod gestürzt. Unfall, Selbstmord oder wurde nachgeholfen? Selin war eine eigenwillige, attraktive Frau, die liebenswert sein konnte, aber auch hart wie ein Berliner Pflasterstein. Vor ein paar Monaten ist ihre persönliche Welt zusammengebrochen, doch gerade war sie dabei, sich in ihrer Wohnung heimisch zu fühlen. Das alte Mietshaus, in dem Ost und West, Schwaben und Türken scheinbar harmonisch miteinander leben, liegt im Herzen der Stadt, nahe dem Mauerpark. Hinter den pastellfarben getünchten Fassaden verbergen sich Vorurteile, Konflikte und Feindschaften, die Lars Behm systematisch ans Licht holt.
Jalda Lerch
Ein Fall für Lars Behm
Kriminalroman
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
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Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2014 (2)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © Finepic®
Autorenfoto: © Mary Lange
ISBN 978-3-95819-014-6
Alle Rechte vorbehalten.
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Die Nacht wirft ihren samtig blauen Schleier über die schwitzende Stadt. Noch kann Selins rastloser Blick in die Ferne schweifen, über die funkelnde Steinwüste des Weddings hinweg und den nunmehr finsteren Mauerpark, diesen Abenteuerspielplatz für Pubertierende und solche, die es bleiben wollen. Noch sind deren Trommeln zu hören, die sie bis tief in die Nacht hinein nerven werden, indem sie permanent fordern: Hör auf deinen Herzschlag und lebe!
Blöde Trommeln, denkt Selin, die inzwischen auch ohne deren penetrante Aufforderung wieder lebendig ist, endlich. Ihre hellbraunen Augen glänzen fiebrig und eine verirrte Haarsträhne klebt an ihrer Wange, so dass es scheint, als hätte ihr schmales Gesicht einen Sprung. So wie ihr Leben für immer durch eine hässliche Narbe entstellt sein wird. Doch damit hat sie sich abgefunden, endlich, sie will nun keine Ermahnungen mehr, weder Mitleid, Hilfe und all den gutgemeinten Plunder, vor allem aber keine Bongo, wie sie sie von einer besorgten Nachbarin geschenkt bekam, die tatsächlich glaubte, es könne ihr helfen, sich in den Mauerpark zu setzen und sich die Finger wundzutrommeln. Never ever! Diese Bongo ist mindestens ebenso überflüssig wie inzwischen auch all die aufmunternden Befehle: Sei tapfer! Stark! Mutig!
Nein, das alles braucht Selin nicht mehr, sondern für heute bloß noch einen letzten Schluck Tempranillo. Und gleich übermorgen, am Montag, wird sie sich den neuesten Preiskracher aus einem Elektromarkt besorgen, einen schicken neuen Laptop in Pink. Für ihr schickes neues Leben in Rosa.
Das wär’s!, freut sich Selin.
Das Leben geht weiter, haben alle versprochen. Und gelogen. Ist das alte Leben kaputt, fängt eventuell, wenn man unverschämtes Glück hat, ein anderes, ein neues Leben an. Und das ihre beginnt heute. Ausgerechnet mit einer Kitsch-Attacke!
Schmunzelnd, aber überaus stolz blickt Selin hoch zu dieser wunderbar spießigen Blumenampel, die sie am Nachmittag über ihrem Balkon an der Decke befestigt hat. Ein dunkelbrauner Weidenkorb, aus dem die kleinen blauen Blüten der Lobelie, auch Männertreu genannt, neugierig hervorlugen. Männertreu – sollte dieses Wort etwa programmatisch werden für ihr neues Leben? Warum eigentlich nicht? Es wäre immerhin ein Anfang, wo sie sich doch sowieso neu erfinden muss. Ein Anfang, wie dieser Korb voller Blumen, der ihr auf Anhieb gefiel als Symbol für ihr neues Leben, wie er da im Baumarkt so schwerelos in der Luft schwebte. Doch so leicht er aussah, so verdammt anstrengend war es, das mit Erde gefüllte Ding daheim zum Schweben zu bringen, es halbwegs fachmännisch an der Unterseite des über ihr liegenden Balkons zu verankern. Die Arme schmerzen ihr noch immer, als hätte sie zentnerweise Kohlen all die Treppen hochgeschleppt. Aber sie hat es durchgezogen. Und zwar allein. Respekt!
Und das ist erst der Anfang, beschließt Selin übermütig. Die ganze Wohnung wird sie renovieren, alles neu machen. Sie wird Wände bemalen, Möbel sukzessive austauschen, einen ganz neuen Stil kreieren, eine völlig andere Atmosphäre erfinden. Das ist das Mindeste. Und eine prima Idee!
Zufrieden greift Selin nach der Rotweinflasche und schüttet ihr Glas noch einmal voll bis zum Rand, verdientermaßen, obwohl ihr der Wein heute nicht ganz so gut schmeckt wie erwartet. Komisch irgendwie. Als wäre mit dem Wein etwas nicht in Ordnung. Oder mit ihr. Nachdenklich stellt sie die Flasche zurück auf das kleine runde Tischchen, das bedrohlich wackelt.
Ihr Blick streift die Leiter, die sie zum Anbringen der Blumenampel benötigt hat. Noch immer steht sie mitten auf dem Balkon, direkt vor ihr. Provozierend irgendwie, als fordere sie: Na los, besteig mich doch!
Warum eigentlich nicht?
Vorsichtig setzt Selin ihren Fuß auf den untersten Tritt der Aluleiter, die sich etwas wackelig anfühlt. Obwohl ihr die Leder-Flip-Flops um die zarten Füße schlingern, als führten sie ein Eigenleben, steigt sie weiter empor, Sprosse um Sprosse, will immer höher hinaus, immer noch einen Kick mehr. Trotzdem konzentriert sich Selin sehr, achtet auf ihr Gleichgewicht. Auf gar keinen Fall will sie nämlich mit Rotwein herumkleckern, hässliche braune Flecken auf dem hellen Steinboden kann sie im Moment echt nicht gebrauchen.
Am Ende der Leiter angekommen, dreht sich Selin vorsichtig um und setzt sich auf den obersten Tritt, der eine kleine Sitzfläche bildet, auf die ihr schmaler Hintern gerade so passt. Nachdem sie so lange so tief unten war, tut es richtig gut, mal ganz oben zu sitzen, auf Sprosse sieben. Genüsslich schlürft sie aus ihrem Rotweinglas und denkt erleichtert: Endlich. Geschafft. In letzter Zeit gelingt ihr einfach alles. Und dann: Jetzt noch eine Zigarette.
Zum Glück – ja, heute ist ihr Bingo-Tag! – hat sie ihre Roten Gauloises dabei, die sie sich extra für den heutigen Abend gegönnt hat. Sie zieht das gequetschte Softpack aus der Hosentasche ihrer Jeans, klemmt das Rotweinglas vorsichtig zwischen die Knie und zündet sich eine Zigarette an.
Andächtig inhaliert Selin den Rauch und genießt dieses Kribbeln und Prickeln, das sich anfühlt, als kehre das Leben, das sie vor fast einem Jahr verlassen hat, jubilierend in ihren Körper zurück. Sie fühlt sich so leicht, als würde sie schweben wie dieser dämliche Blumenkorb! Von nun an gibt es nichts mehr, das sie aufhalten kann. Nichts und niemanden.
Selin lacht. Ihr schulterlanges, kaffeebraunes Haar wird von einer sanften Windböe erfasst und wirbelt fröhlich auf.
»Du, ich hab’s endlich geschafft. Bin drüber weg. Ich bin sicher«, sagt Selin laut und beendet damit die autistische Auszeit, die sie sich gegönnt hat, erinnert sich an ihren Besuch. Sie ist nämlich nicht allein. Eigentlich nicht. Doch ihre Augen suchen vergeblich. Der rotlackierte Klappstuhl aus Holz, der hinter dem kleinen runden Tischchen steht – er ist leer.
Dieses lange Schweigen, warum fällt es ihr erst jetzt auf?
Selin ist irritiert. Angst steigt in ihr hoch. Sie will, nein, sie muss diese Angst ignorieren, runterschlucken, wegatmen, alles gleichzeitig, wird ganz konfus dabei. In Bruchteilen von Sekunden zerschellt ihr tolles, neues Ich an einer Panikattacke, zerfällt in lauter brutale Symptome wie Herzrasen, Schweißausbruch, Atemnot.
Mit zitternder Hand wirft Selin die frisch angerauchte Zigarette vom Balkon, hinunter in die Nacht. Stärke, Mut, Tapferkeit, alles futsch. Ihre wirren Gedanken kreisen allein um einen leeren Klappstuhl.
Wo ist ihr Besuch?!
Etwa schon gegangen, hat sie den Abschiedsgruß überhört? Wie im Rausch rekapituliert Selin die letzten Minuten und spannt dabei die Beinmuskeln an. Bloß schnell runter von dieser wackligen Leiter! Ist sie denn lebensmüde, so hoch zu klettern?
Vorsichtig steht Selin auf und dreht sich langsam um, als ein sanfter Ruck durch die Leiter geht. Da stimmt doch was nicht! Mit dem Gleichgewicht! Je mehr Selin sich bemüht, es zu halten, desto mehr verliert sie es, sie lehnt sich instinktiv an, immer unsicher, ob sie selbst schwankt oder die Leiter. Widerstrebend lässt sie das Weinglas fallen, doch sie kann nicht anders, ihre Hände machen sich einfach selbstständig, wollen Halt suchen, finden aber nichts als die allmählich kippende Leiter, an der sie sich festzuklammern versuchen.
Als sie das Glas klirrend zerspringen hört, blitzt das Bild einer ekligen Rotweinpfütze in Selins Kopf auf, die sie sofort wegwischen muss, wegen der Flecken … Zu spät, denkt sie, als die Leiter, die ihre Finger doch nicht erwischt haben, gegen das Balkongitter knallt und sie abwirft wie ein wildgewordenes Pferd, in Richtung Abgrund schleudert … Sie sieht das Gitter des Balkons an sich vorbeifliegen, ihre letzte Chance! Wenn sie sich anstrengt, erreicht sie es … vielleicht … Schmerzhaft schlagen ihre Finger gegen die glatten, kalten Stäbe aus Metall.
Das war’s, erkennt Selin, kann diesen Gedanken aber ebenso wenig fassen wie ihre Hände das Balkongitter … Fünf Stockwerke lang gibt es zwischen Himmel und Erde nun nichts mehr, das sie aufhalten kann. Nichts und niemanden.
Es war so kurz, das neue Leben, wundert sich Selin, bevor sie sich in einen dumpfen Aufprall verwandelt und Schmerz in ihr explodiert wie ein rotes Feuerwerk.