Skadi hat herausgefunden, dass Maella nicht die unfehlbare Herrscherin ist, für die sie sie bisher gehalten hat. Mit einer Gruppe von Magiebegabten und ihrer ersten großen Liebe Jaro ersinnt sie einen Plan, um die übermächtige Regentin zu stürzen. Sie schließen sich den Rebellen an, die sich ebenfalls gegen die gegebene Ordnung stellen.
Ein Kampf beginnt, der das Schicksal aller Menschen entscheiden wird. Kann Skadi die Bevölkerung und vor allem ihre große Liebe retten?
Isabell May, geboren 1985 in Österreich, studierte Germanistik, Bibliothekswesen und Journalismus, bevor sie sich 2014 als Autorin selbstständig machte. Sie lebt mit ihrem Mann, zwei Katzen und einem Hund in der Nähe von Aachen, wo sie sich ihrer großen Leidenschaft, dem Schreiben von Fantasy- und Liebesromanen, widmet.
THE
CHOSEN
ONE
DER AUFSTAND
Band 2
beBEYOND
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Andrea Euerle
Lektorat/Projektmanagement: Rena Roßkamp
Covergestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Motiven © www.buersosued.de
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5250-4
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Skadi wusste, irgendjemand war hinter ihr her – oder irgendetwas.
Der Verfolger war ihr dicht auf den Fersen, so dicht, dass sie seinen heißen Atem im Nacken fühlen konnte. Sie hatte keine Ahnung, wer oder was es war; sie wusste überhaupt nichts mehr, abgesehen davon, dass sie rennen musste.
Floh sie vor ihrer Vergangenheit, vor einer grausamen Wahrheit oder einer unvorstellbaren Lüge? Vor sich selbst oder vor einer ganz realen Gefahr, die sie das Leben kosten konnte? Es spielte keine Rolle. Alles, was zählte, war, nicht anzuhalten.
Ihre Schritte hallten über Asphalt, über weichen Waldboden, über nassen Sand. Ihre Lunge brannte, doch sie biss die Zähne zusammen und hetzte weiter. Nur nicht stehen bleiben!
Sie rannte, immer weiter und immer schneller, ohne zu wissen, warum oder wohin.
»Du bist kein Mensch«, schmetterte ihr jemand entgegen.
Heiße Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wollte widersprechen, brachte aber keinen Ton hervor. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Und hatte die körperlose Stimme nicht recht? War sie nicht anders als die meisten Menschen?
Augen starrten sie aus der Dunkelheit an. Die kalten Reptilienaugen eines Lords, der sie besitzen wollte. Die veilchenblauen Augen eines jungen Jägers, der mit einem Bogen auf sie anlegte und auf ihr Herz zielte. Die unergründlichen Augen uralter Magier, die sich ins Meer zurückgezogen hatten und ein Teil des Ozeans geworden waren.
Plötzlich merkte sie, dass sie ins Wasser lief, immer tiefer, ohne stoppen zu können. Gerade noch umspülten die eiskalten Wellen nur ihre Knöchel, dann reichten sie ihr schon bis zu den Knien und stiegen immer höher und höher.
Als ihr das Wasser bis zum Hals stand, versuchte sie, um Hilfe zu schreien, doch noch immer brachte sie keinen Laut über die Lippen. Das blutrote Kleid, das sie trug, löste sich auf und verwandelte sich in Meeresschaum.
Salzwasser drang ihr in Mund und Nase, raubte ihr den Atem und ließ sie würgen.
Mit einem Mal sah sie zwei vertraute Gesichter vor sich: Jaro und Finn blickten sie an, ihr Nacht- und ihr Tagprinz. Sie sprachen mit ihr, doch Skadi verstand kein Wort. Beide streckten ihr eine Hand entgegen, doch sie wusste einfach nicht, welche sie ergreifen sollte. In hilfloser Verzweiflung blickte sie von einem zum anderen, während sie immer tiefer ins Wasser hinabsank.
Jaros Augen veränderten ihre Farbe von Himmelblau zu Pechschwarz. Das war das Letzte, was sie sah, bevor die dunklen Fluten über ihrem Kopf zusammenschlugen und etwas sie unbarmherzig in die Tiefe zog.
Mit einem stummen Schrei auf den Lippen fuhr Skadi hoch und starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Kalter Schweiß bedeckte ihre Haut, ihr Atem ging rau und stoßweise. Ihr ganzer Körper zitterte vor Anstrengung, so als sei sie wirklich gerannt und hätte nicht bloß geträumt.
»Ruhig, alles ist gut«, sagte Jaro leise. »Es war nur ein Traum.«
Im schwachen Mondlicht sah sie seine vertraute Silhouette. Er saß neben dem schwach glimmenden Feuer, um das sie und ihre Freunde lagerten. Wie so oft war er als Einziger wach geblieben und passte auf. Als sie in seine Augen blickte, glaubte sie einen verrückten Moment lang, sie sei immer noch im Traum gefangen. Schaudernd kämpfte sie gegen das Gefühl an, im kalten Wasser zu ertrinken. Doch dann bewegte er sich, die Illusion verflog.
Skadi nickte, atmete tief durch und legte sich wieder hin. Jaro hatte unrecht: Es war nicht nur ein Traum gewesen, sondern auch ihre Vergangenheit. Die Dinge, die sie im Schlaf verfolgten, waren wirklich passiert, auch wenn sie das selbst kaum glauben konnte.
Früher, in einer Zeit, die ihr nun wie ein ganz anderes Leben erschien, war sie eine Ausersehene gewesen: eine der wenigen Frauen, die nach einer verheerenden Seuche noch dazu in der Lage waren, Kinder zu gebären. Die vor ihr liegende Aufgabe, dem Land Nachwuchs zu schenken, hatte sie immer als große Ehre betrachtet – bis zu dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal einem fremden Mann hingeben sollte. Aus Vorfreude war blankes Grauen geworden, nur die Flucht war ihr als Ausweg geblieben.
Ein schwaches Lächeln huschte über Skadis Gesicht, als sie sich auf die Seite drehte und zu ihren Freunden blickte. Nachdem sie vor ihrem Schicksal als Ausersehene geflohen war, hätte sie auf sich allein gestellt wohl keine Woche überlebt. Doch sie war auf diese bunt zusammengewürfelte Truppe gestoßen: Jaro und Finn, die Zwillinge Rika und Marla, den starken Leongar und die alte Maud.
Wären diese lieben Menschen nicht an ihrer Seite, hätte sie mittlerweile wohl längst ihr Leben verloren, ganz bestimmt aber ihren Verstand. Denn mehr als einmal hatte sie erkennen müssen, dass die Dinge, an die sie mit bedingungsloser Sicherheit geglaubt hatte, falsch waren. Mehr als einmal war das, was sie für die Wahrheit gehalten hatte, in sich zusammengestürzt wie ein Kartenhaus. Ihre Welt zerbrach in Einzelteile und setzte sich völlig neu zusammen, sodass sie manchmal nicht wusste, ob sie wach war, träumte oder verrückt wurde.
Magie? Keine bloße Legende aus alten Geschichten; Magie gab es wirklich – und sie floss durch Skadis Adern, ebenso wie durch die ihrer Freunde.
Die Regentin? Nicht die weise und gütige Herrscherin, die sie zu sein vorgab, sondern eine Wahnsinnige, die das Land unterdrückte und Jagd auf Magier machte.
Das System der Ausersehenen? Kein sinnvolles Mittel, um den Fortbestand des Volkes zu sichern, sondern ein radikaler Weg der Geburtenkontrolle, um die Ausbreitung von Magie zu verhindern.
Woran sollte sie noch glauben, nachdem sich alles, woran sie früher geglaubt hatte, als falsch herausstellte?
Doch schon im nächsten Atemzug beantwortete sie sich diese Frage selbst: Sie glaubte an ihre Freunde.
Sie glaubte daran, dass sie gemeinsam eine Chance hatten, sich gegen die Regentin aufzulehnen.
Und sie glaubte daran, dass irgendwie alles gut ausgehen würde – darauf musste sie mit aller Macht vertrauen, denn nur diese Hoffnung hielt sie letztendlich aufrecht.
»Versuch, noch ein wenig zu schlafen«, flüsterte Jaro.
Sehnsüchtig streckte sie die Hand nach ihm aus, während der Schlaf sie bereits wieder umfing und die Ränder ihres Bewusstseins langsam zerfasern ließ. Jaro saß zu weit entfernt, und ihre Hand sank zu Boden, ohne ihn zu berühren. Doch im letzten Moment, bevor sie wegdämmerte, spürte sie seine Hand, die nach ihrer griff und sie festhielt.
L’Angua leuchtete rot und golden im Licht der untergehenden Sonne. Wie Jaro vorhergesagt hatte, waren sie fast zwei Wochen lang gewandert. In den Dörfern, durch die sie gekommen waren, hatten sie nichts in Erfahrung bringen können. Die meisten Leute, die ihnen begegnet waren, waren verstockte Bauern gewesen. Sie hatten sich gescheut, mit einer Gruppe von Abenteurern zu sprechen – und wenn sie es schließlich doch geschafft hatten, jemanden in ein Gespräch zu verwickeln, hatte sich stets herausgestellt, dass er außer etwas Klatsch nichts über die Welt wusste.
Nun waren sie so nahe an die Stadt herangekommen, dass sie beobachten konnten, wie die Wächter die letzten Einreisenden abfertigten und dann das schwere Stadttor schlossen.
»Heute kommen wir nicht mehr hinein«, stellte Leongar fest. »Zumindest nicht auf legalem Wege. Und wir sollten unser Glück nicht mehr als nötig auf die Probe stellen.«
»Schön, dass zumindest die Vorsicht dich von einer kriminellen Karriere abhält«, meinte Jaro trocken.
Leongar schnitt eine Grimasse und ließ das Bündel, das er auf dem Rücken mit sich trug, fallen. »Übliche Aufteilung«, kommandierte er.
Übliche Aufteilung, das hieß, Jaro würde auf die Jagd gehen und Leongar ein notdürftiges Zelt aufbauen. Es sah nach Regen aus. Die Zwillinge sollten Maud dabei helfen, Beeren und Wurzeln zu suchen. Finns und Skadis Aufgabe war es, Holz zu sammeln.
Es war für Skadi immer noch seltsam, mit Finn allein zu sein, doch es wurde besser.
Anfänglich hatte sie sich in seiner Gegenwart beklommen gefühlt, wissend, dass sie einer der beiden Gründe dafür war, dass seine Schultern schlaff nach unten hingen und sein Lachen gezwungen klang.
Direkt nachdem sie aufgebrochen waren, hatten sie begonnen, sich einander vorsichtig anzunähern, waren nebeneinandergegangen, hatten einander immer wieder angelächelt. Jaro schien das zu verstehen und hielt sich im Hintergrund. In Finns Gegenwart benahm er sich Skadi gegenüber weitestgehend neutral, nur wenn Finn sich ein Stück entfernte, nahm er ihre Hand und ging schweigend neben ihr her. Skadi wusste, dass er das tat, um Finns Gefühle nicht zu verletzen.
Am ersten Abend, als sie in einem kleinen Pinienwäldchen gelagert hatten und sie und Finn allein losgezogen waren, um Holz für das Lagerfeuer zu suchen, hatte sie den Mut aufgebracht, ihn anzusprechen.
»Wie geht es dir?« Sobald sie die Frage gestellt hatte, hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Dass es ihm nicht allzu gut ging, konnte sie schließlich selbst sehen. Sie wusste nicht so recht, ob sie überhaupt eine Antwort erwarten sollte.
Er hatte die Achseln gezuckt, und ihr Herz hatte sich zusammengekrampft bei seinem Anblick. Er war gewachsen, seit sie ihn kennengelernt hatte, und überragte sie mittlerweile um Haupteslänge, war aber mindestens ebenso schlaksig wie zu Anfang. Seine Arme und Beine schienen viel zu lang für seinen Körper zu sein, er wirkte so staksig wie ein Fohlen. Das jungenhafte Gesicht aber hatte einen erwachsenen, ernsthaften Zug bekommen.
Dann hatte er gegrinst, sein schiefes Grinsen, das sie so gern mochte. »Geht schon«, hatte er gesagt, und dann hatte er sie getröstet – nicht sie ihn, wie sie es vorgehabt hatte. »Nun schau nicht so bekümmert. Du empfindest viel für Jaro – das ist etwas Schönes und nichts, das dir leidtun sollte.«
»Ich empfinde auch für dich viel«, hatte sie leise geantwortet.
Er hatte genickt. »Ich weiß. Und ich weiß auch, dass du für Jaro anders empfindest als für mich.«
»Tut dir das nicht weh?«
»Doch, Dummerchen. Aber du bist meine beste Freundin und wirst es bleiben, und das ist gut so. Und wie könnte ich es dir übel nehmen? Ich gestehe es mir selbst nur ungern ein, aber offenbar habe ich Leah mindestens so viel Schmerz bereitet wie du mir.«
Sie war zusammengezuckt, einerseits weil er so geradeheraus gesagt hatte, dass sie ihm wehtat, und andererseits aus Mitleid mit Leah, die Finn so lange anhänglich wie ein Hündchen gefolgt war und die sie nun vergrault hatten.
»Ich habe versucht, dir das mit Leah klarzumachen«, hatte sie gesagt.
Er hatte genickt. »Ich weiß. Und ich habe es nicht ernst genommen, war blind für ihre Gefühle, hatte immer andere Dinge im Kopf. Ich wünschte, ich hätte sie wenigstens einmal wirklich angesehen. Dann wäre mir bestimmt nicht entgangen, wie es um sie und ihr Herz stand.«
»Hättest du anders gehandelt?«
»Ich wäre freundlicher zu ihr gewesen. Hätte sie nicht links liegen lassen – und versucht, ihr zu erklären, dass es keinen Sinn hat, mir hinterherzulaufen. Aber an meinen Gefühlen für sie hätte es nichts geändert. Ich liebe sie nun einmal nicht. Ich liebe …« Hier hatte er abgebrochen, doch Skadi war nur allzu bewusst gewesen, was er gemeint hatte.
Als sie mit dem Feuerholz zum Lager zurückgekehrt waren, wo Maud und die Zwillinge gerade dabei gewesen waren, essbare Wurzeln und Knollen von Erde zu befreien, hatten sie sich beide besser gefühlt. Doch nun, einige Tage später, wirkte Finns Lachen immer noch gezwungen.
Als sie diesmal losgingen, gab es etwas anderes, das Skadi besprechen wollte.
»Sag mal …«, begann sie unschlüssig und trat gegen einen Baum. Finn beäugte sie misstrauisch.
»Wenn das, was du mir sagen willst, dich so wütend macht, dass du einen unschuldigen Baum angreifst, will ich es lieber nicht hören.«
Sie zog eine Grimasse. »Sehr witzig. Ich will dich etwas fragen.«
»Ja?«
»Ich bin mir aber nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.«
»Warum nicht?«
»Es scheint ein heikles Thema zu sein.«
»Oh-oh. Ist es etwa … etwas Pikantes?«
Sie starrte ihn an. »Du meinst … Finn! Mach keine Witze! Es ist mir ernst.«
»Schon gut. Worum geht es?«
Wieder trat sie gegen den Baum. »Ich frage mich nur … was genau zwischen dir und Jaro vorgefallen ist.«
Sie betrachtete die kahle Stelle am Baumstamm, wo ihre Tritte die Rinde gelöst hatten. Erst als Finn nicht antwortete, sah sie hoch.
Er blickte in ihre Richtung, sah sie aber nicht an. Sein Blick ging ins Leere, er schien weit weg zu sein. Nell strich laut miauend um seine Beine, doch er ignorierte sie.
»Finn? Du musst es mir nicht sagen. Es tut mir leid, wenn ich etwas gefragt habe, das mich nichts angeht.«
Endlich reagierte er. Er schüttelte sich, als wollte er unangenehme Erinnerungen loswerden. »Schon in Ordnung. Ich denke, du hast ein Recht darauf, es zu erfahren.«
Er setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, und sie ließ sich neben ihm nieder. Er begann nicht sofort zu erzählen, und sie drängte ihn nicht. Als er schließlich sprach, war seine Stimme rau und sein Blick in die Ferne gerichtet.
»Ich habe dir erzählt, dass meine Eltern mich weggejagt haben, weil meine Begabung ihnen Angst gemacht hat.«
Sie nickte.
»Du hast ganz richtig erkannt, dass das nicht alles war. Ich war nicht allein. Ich habe mein Zuhause nicht allein verlassen.«
Er brach ab, und am liebsten hätte sie ihn gerüttelt, damit er endlich erklärte, was er meinte. Doch sie riss sich zusammen und bezähmte ihre Neugier, bis er weitersprach.
»Meine Schwester war bei mir. Sie war immer bei mir. Meinen Eltern war ich unheimlich, und auch die anderen Kinder in der Umgebung hatten Angst vor mir, doch Naemi war immer für mich da. Sie war zwei Jahre älter als ich und tat alles, um mich zu beschützen – vor der Willkür meiner Eltern und den Grausamkeiten der Nachbarskinder. Sie war mein Ein und Alles und ich ihres. Sie sah ein wenig aus wie du, mit langen blonden Haaren, die in der Mittagssonne glänzten wie flüssiges Gold, und großen Rehaugen.«
Unwillkürlich tastete Skadi nach ihren Haaren, die ein gutes Stück gewachsen waren, seit sie sie geschnitten hatte. Fast bis zu den Schulterblättern reichten sie mittlerweile wieder.
»Was ist mit ihr passiert?«, flüsterte sie.
»Sie war wie die Sonne, warm und strahlend. Der liebenswerteste Mensch, den ich kannte. Niemand konnte sich ihrem Liebreiz entziehen. Sie war der ganze Stolz meiner Eltern, die sie von Herzen liebten. Sie hatte keine magische Begabung – dass alle sie gern hatten, lag nicht daran, dass sie die Menschen in irgendeiner Form manipulierte.
Sie kam mit mir, als meine Eltern mich vor die Tür setzten. Sie zögerte keinen Moment. Als sie merkte, dass ihr Bitten und Flehen meine Eltern nicht erweichte, ging sie schnurstracks in die Küche, nahm einen Laib Brot, zog ihr gutes Kleid an und marschierte mir hinterher.
Ich bat sie unzählige Male zurückzukehren, doch sie blieb bei mir. Sie wollte es so. Und wenn ich im Wald schlafen musste und fror, teilte sie mein Schicksal.
Das Brot war bald aufgegessen, und wir hatten Hunger, doch sie beklagte sich nie. Gemeinsam versuchten wir zu überleben, versteckten uns vor wilden Tieren, schliefen auf nassem Moos, wuschen uns in eiskalten Bächen, stahlen den wilden Bienen Honig und sammelten Beeren, von denen wir wussten, dass sie ungiftig waren.
Wir magerten beide ab, Naemis schönes Kleid wurde schmutzig und bekam Löcher, ihr seidiges Haar verfilzte, aber immer noch war sie das liebreizendste Geschöpf der Welt. Es brach mir das Herz, mit anzusehen, wie sie dünner und dünner wurde, ihre Wangen einfielen und der Husten, der sie nachts quälte, immer schlimmer wurde.
Ich überlegte, wie ich sie dazu bringen konnte heimzukehren – ich hätte sie mithilfe meiner Begabung dazu zwingen können, doch ich wusste inzwischen selbst nicht mehr, wo unser Elternhaus lag. Wir waren so lange im Wald unterwegs gewesen, dass ich die Orientierung verloren hatte. Außerdem war ich egoistisch. Ich war noch ein Kind und hatte Angst, allein zu sein.«
Geistesabwesend bückte er sich zu Nell hinunter und kraulte ihr raues Fell. Die Katze schnurrte wohlig und starrte zu ihm hoch, bis er sie auf den Arm nahm. Er hielt sie fest, als sollte sie ihm Trost spenden. So fest, dass sie unwillig maunzte, sich aus seinem Griff wand und mit hoch erhobenem Schwanz davonstolzierte.
»Irgendwann fanden wir einen Strauch mit Beeren, die wir noch nie gesehen hatten«, fuhr Finn fort. »Ob sie giftig waren, wussten wir nicht, doch sie sahen köstlich aus, und unsere Mägen knurrten so schrecklich.
Ich war der Jüngere, doch in diesem Fall war ich vernünftiger. Ich bat Naemi, die Beeren nicht zu essen. Doch sie war so naiv – sie dachte, ihr könne nie etwas Schlimmes widerfahren. Kein Mensch hatte ihr je ein unrecht angetan, und irgendwie muss sie davon überzeugt gewesen sein, dass auch die Beeren sie nicht krank machen würden. Dumme kleine Naemi! Ich wollte ihr die Beeren aus der Hand schlagen, aber sie sah mich mit einem so müden Blick an, ihre Augenringe waren so dunkel. Da wusste ich auf einmal, dass sie sterben würde, egal ob die Beeren giftig waren oder nicht. Und ich merkte, dass auch ich nicht mehr lange durchhalten würde.
Sie aß die Beeren vor meinen Augen. Und als sie sich krümmte und vor Schmerzen schrie, weinte ich vor Verzweiflung mit ihr.
Ohne sie konnte ich nicht weitergehen, das wusste ich. Also aß auch ich von den Beeren. Die Krämpfe waren kaum auszuhalten. Ich war sicher, wir würden sterben. Doch zumindest waren wir zusammen.
In diesem Moment tauchte Jaro auf. Er hatte mich schon länger gesucht, da er meine Magie gespürt hatte.
Als er uns erreichte, lagen wir beide am Boden. Er erkannte mit einem Blick, was geschehen war. Und er erkannte auch, dass die Beeren nicht tödlich waren. Er baute ein Lager, legte uns auf Decken, machte ein Feuer, um uns zu wärmen, und flößte uns Wasser ein. Er half uns, uns zu übergeben, und bald wurde es besser. Die Krämpfe ließen nach. Als wir keine Schmerzen mehr hatten, gab er uns Brot zu essen und ging für uns jagen. Er wachte über uns. Wir wurden gesund.
Naemi sagte immer, er sei wie ein guter Engel aus dem Nichts aufgetaucht. Von da an reisten wir mit ihm, und er war unser Beschützer. Wir waren glücklich und zufrieden damit, an seiner Seite durchs Land zu streifen. Doch ihn beschäftigte etwas. Er glaubte, es müsste noch mehr Menschen wie mich geben, und machte es sich zur Aufgabe, sie zu finden.
Jaro war stark, klug und erschien uns so erwachsen. Wie selbstverständlich kümmerte er sich um uns, beschaffte genug Nahrung, fand immer wieder Arbeit in Dörfern, auf Bauernhöfen und in Wirtshäusern, und nach einer Weile zogen wir weiter. Es war eine schöne Zeit. Für mich wurde er zum leuchtenden Vorbild. Für Naemi war er noch viel mehr.
Ich merkte es zuerst nicht. Wir hingen beide an Jaro, und da er unser Retter und Beschützer war, ist das wohl verständlich. Doch im Lauf der Jahre wurden Naemis Gefühle für ihn stärker. Sie war vierzehn Jahre alt und ich zwölf, als mir klar wurde, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Sie war verrückt nach ihm, lief ihm hinterher und tat alles, um ihm zu gefallen.
Auch Jaro entging das nicht, doch er tat es als harmlose Schwärmerei ab. Schließlich war sie noch so jung und er bereits erwachsen, er muss damals etwa zwanzig Jahre alt gewesen sein. Im Gegensatz dazu, wie ich mit Leah umgegangen bin, gab er sich große Mühe, Naemi nicht zu verletzen. Er versuchte, ihr klarzumachen, dass sie eines Tages einen Jungen finden würde, der zu ihr passte und der ihre Gefühle erwiderte. Aber das wollte sie nicht hören. Jaro war ihre große Liebe, ihr dunkler Held.
Als er einen weiteren Magier erspürte, war Jaro wie elektrisiert. Er musste ihn unbedingt finden. Doch je näher wir der anderen Magie kamen, desto deutlicher fühlte Jaro, dass etwas nicht in Ordnung war. Auch ich hatte den Eindruck, dass sich der fremde Magier in Bedrängnis befand – Jaro hatte mir beigebracht, meine Begabung bewusst einzusetzen, und ich nahm den Begabten ebenfalls wahr.
Für Jaro stand außer Frage, dass er ihm helfen musste. Doch Naemi und mich wollte er nicht in Gefahr bringen. Er ließ uns zurück und befahl uns zu warten. Dann reiste er allein weiter.
Naemi entwischte mir. Sie hatte entsetzliche Angst um Jaro und folgte ihm. Nachts, als ich schlief, stahl sie sich davon.
Als ich aufwachte, war Jaro schon wieder da. Mit versteinertem Gesicht saß er neben mir und betonte immer wieder, wie leid es ihm täte. Hinter ihm lag zugedeckt ein regloser Körper. Ich wusste sofort, dass es Naemi war.
Ihr Gesicht war so friedlich, als schliefe sie nur. Doch am Kopf hatte sie eine große Wunde, die weichen goldenen Haare waren ganz von Blut verklebt. Sie atmete nicht mehr.
In dieser Nacht weinten wir beide um sie, auch Jaro, der sonst nie Schwäche zeigte. Naemi war mein Leben gewesen, solange ich mich erinnern konnte. Ohne sie schien nichts mehr Sinn zu haben.
Jaro machte sich schwere Vorwürfe. Er erzählte mir, dass er den fremden Begabten vor einer Felswand gefunden habe. Jäger hatten ihn in die Enge getrieben, und er setzte sich zur Wehr, indem er Felsen lockerte und auf sie niederprasseln ließ.
Jaro kletterte vom Plateau über der Felswand zu ihm hinunter, doch die Jäger hatten den Begabten bereits mit einem Pfeil verletzt, und er war sehr geschwächt. Mit letzter Kraft löste der Fremde schließlich eine Felslawine aus. Massen von Geröll rutschten auf Jaro, den Magier und die Jäger zu. Jaro blieb nur noch übrig, mit seiner Magie eine Art Schutzwall um sich und den anderen zu errichten, damit die Steine über sie hinwegpolterten.
Und in diesem Moment erblickte er Naemi an der Felswand. Sie hatte versucht, zu ihm zu gelangen, doch als die Lawine kam, war sie abgerutscht. Sie hielt sich an einer Felskante fest, und Jaro erkannte, dass ihre Kraft nachließ. Sie rief ihm zu, er solle sie auffangen. Im festen Glauben, er würde sie retten, lächelte sie vertrauensvoll. Dann ließ sie einfach los und fiel, mit weit ausgestreckten Armen, als könnte sie fliegen.
Jaros Blick, als er mir davon erzählte, werde ich nie vergessen – so voller Grauen und Schmerz. Ich wusste, dass er sich für das, was geschehen war, innerlich zerfleischte.
Er hatte sie nicht auffangen können. Sie war auf dem Boden aufgeschlagen, und als er sie erreichte, war ihr Blick bereits leer gewesen, und ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Die Lawine hatte die Jäger gezwungen, sich zurückzuziehen, doch den Magier hatte das nicht gerettet: Das Pfeilgift hatte ihn trotz allem getötet. Und auch Naemis Leben war verloren.
Jaro sagte mir damals, dass er sofort an ihrer Stelle gestorben wäre, um sie zu retten. Und ich weiß, dass er die Wahrheit sagte. Er hat sich nie vergeben. Jaro schwor sich, nie wieder zu versagen, wenn es galt, jemanden zu beschützen. Er passte fortan noch besser auf mich auf als zuvor. Und als wir später Leongar, Maud und die Zwillinge fanden, übernahm er die Verantwortung für die ganze Gruppe.«
Damit hatte Skadi nicht gerechnet. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Überwältigt von Finns Bericht lehnte sie sich an ihn. Er legte den Arm um sie, und so saßen sie eine Weile nebeneinander.
»Ich hätte nie gedacht, dass du so etwas durchgemacht hast«, sagte sie schließlich leise. »Du hast immer so unbeschwert gewirkt.«
»Es ist lange her. Anfangs war es sehr schwer: Obwohl ich nicht dabei war, habe ich jede Nacht Naemi vor mir gesehen, wie sie fällt. Ich konnte es mir nur allzu bildlich vorstellen – wie ein Vogel, der zu fliegen verlernt hat, die großen braunen Augen voll Vertrauen. Es hat mich gequält, doch die Zeit hat die Wunde … nun, nicht ganz geheilt, aber die Erinnerung verblassen lassen und den Schmerz gelindert. Es hat mir sehr geholfen, immer Leute um mich zu haben, denen ich vertrauen konnte – vor allem Jaro, der immer für mich da war. Und Nell, um die ich mich kümmern konnte und die mich brauchte. Ich werde Naemi nie vergessen, natürlich nicht. Aber mittlerweile kann ich an sie denken, ohne traurig zu werden, und mich vor allem an die schönen Dinge erinnern.«
»Jaro hat das nie geschafft, oder?«
»Er ist nie darüber hinweggekommen und macht sich Tag für Tag Vorwürfe. Er hat sich unzählige Male bei mir entschuldigt, dass er auf meine Schwester, die mir das Liebste auf der Welt war, nicht besser aufpassen konnte. Ich habe ihm jedes Mal versichert, dass er nichts dafür kann – dass sie, so schrecklich das auch ist, ihren Tod selbst verschuldet hat. Aber das hilft nichts.«
Plötzlich ergab für Skadi alles einen Sinn. Jaros ganzes Verhalten erklärte sich ihr. Er wollte sie Finn nicht wegnehmen – nicht nachdem er ihm bereits einmal das Wichtigste genommen hatte.
Als sie später am knisternden Lagerfeuer saßen und Leongar alle mit Geschichten unterhielt, beobachtete Skadi Jaro: seine leichte Angespanntheit, als sei er ständig auf der Hut, der wachsame Blick, den er immer wieder über die Gruppe wandern ließ, die besorgt zusammengezogenen Augenbrauen, wenn er darüber nachgrübelte, wie es mit ihnen weitergehen sollte – all das konnte sie nun besser verstehen.
Vor ihm lagen Äste, die er mit seinem Schnitzmesser anspitzte. Späne sammelten sich zu seinen Füßen, und er war ganz auf die Arbeit konzentriert.
Leise ging Skadi außen um den Kreis herum, um Leongar nicht bei seiner Erzählung zu stören, pirschte sich von hinten an Jaro heran und schlang die Arme um ihn. Überrascht sah er auf und drehte sich halb zu ihr um. »Skadi? Ist alles in Ordnung?«
Sie nickte nur und hielt sich an ihm fest.
»Du würgst mich«, brummte er. Sie reagierte nicht.
»Du willst nicht loslassen?« Sie schüttelte den Kopf.
Er schob seine Schnitzerei beiseite, ergriff ihre Handgelenke, löste sanft den Klammergriff und zog sie auf seinen Schoß. In seinen Armen fühlte sie sich sicher und geborgen, als könnte ihr nichts auf der Welt etwas anhaben. Sie lehnte das Gesicht gegen seine Brust, und er stützte das Kinn auf ihren Kopf. Die Hitze, die vom Lagerfeuer und von Jaro ausging, und sein Duft lullten sie ein. Schläfrig und zufrieden schloss sie die Augen.
»Willst du mir sagen, was los ist?«, fragte er, bevor sie vollends eindöste.
»Hm.«
»Hm? Mir schwebte eine ausführlichere Antwort vor.«
»Ich weiß es.«
»Was weißt du?« Er spannte sich an, ein wenig nur, und sie hörte die Wachsamkeit in seiner Stimme.
»Finn hat mir von Naemi erzählt.«
Seine Arme um ihren Körper verkrampften sich und hielten sie so fest, dass sie kaum noch Luft bekam.
»Es war nicht deine Schuld«, presste sie schließlich mühsam hervor. Er bemerkte, wie fest er sie gedrückt hatte, und lockerte schnell seinen Griff.
»Das sagen sie alle«, antwortete er leise, sodass nur sie es hörte. »Und trotzdem kann ich ihren Blick nicht vergessen. Sie hat mir vertraut, Skadi. Sie hat mir ihr Leben anvertraut, und das war ihr Tod.«
»Sie wusste, dass du dein Möglichstes tun würdest, um sie zu retten. Du konntest ihr nicht helfen.«
»Vielleicht doch. Wenn ich sie früher entdeckt hätte, wenn ich schneller reagiert hätte …«
»Du bist nur ein Mensch. Verlange nichts Übermenschliches von dir.«
»Ich besitze aber Fähigkeiten, die über die eines normalen Menschen hinausgehen. Vielleicht hätte meine Begabung sie retten können, doch sie ist so schwach im Vergleich zu den Kräften der richtigen Magier. Ich war nicht in der Lage, sie damit aufzufangen.«
»Mich hast du mit deiner Begabung gerettet.« Sie strich über ihr Bein, wo der Pfeil des Jägers sie getroffen hatte.
»Wärst du nicht mit uns unterwegs gewesen, wärst du den Jägern gar nicht in die Hände gefallen.«
»Wäre ich nicht mit euch unterwegs gewesen, wäre ich längst verhungert, überfallen und ausgeraubt worden oder würde erschlagen am Straßenrand liegen.«
»Wenn doch alles anders wäre … Ohne die Regentin wärst du nicht als Ausersehene in der Burg eingepfercht gewesen und hättest nicht fliehen müssen. Es gäbe keine Jäger. Naemi würde leben.«
»Wir versuchen ja, gegen die Zustände anzukämpfen, Jaro. Wir tun unser Bestes. Wir suchen die Rebellen. Und wenn wir sie nicht finden … wenn es sie gar nicht gibt … überlegen wir uns etwas anderes. Aber wir bleiben nicht passiv.«
»Ja.« Nachdenklich sah er ins Feuer. »Wir versuchen, etwas zu verändern.«
»Zusammen«, flüsterte sie.
Er hielt sie im Arm, bis sie eingeschlafen war.
»Ich bleibe dabei: Wir müssen uns aufteilen«, beharrte Leongar.
»Und ich bleibe dabei, dass mir das nicht gefällt, überhaupt nicht«, knurrte Jaro.
Im Licht des anbrechenden Tages packten sie ihre Sachen zusammen und überlegten gemeinsam, wie sie am besten vorgehen sollten.
»Leongar hat recht«, sagte Maud. »Mir gefällt es auch nicht, aber eine große Gruppe wie die unsere fällt zu sehr auf. Wir können nicht einmal sicher sein, dass wir nicht gesucht werden – falls die Regentin bei unseren Gesprächen mit den Magiern gelauscht hat, könnten schon längst ihre Jäger zu uns unterwegs sein.«
Jaro tigerte hin und her. »Ich weiß, ich weiß. Aber gemeinsam sind wir stärker. Was, wenn einer Gruppe etwas passiert? Wir anderen könnten nicht helfen.«
»Es gibt einen weiteren Grund, uns aufzuteilen«, sagte Maud ruhig. »Wir sollten auch die übelsten Kneipen bei unseren Nachforschungen nicht auslassen – wer weiß, in welchen Kreisen die Rebellen verkehren. In den heruntergekommensten Kaschemmen erhält man oft die wichtigsten Informationen. Willst du die Zwillinge und Skadi wirklich zwischen gewalttätigen Trunkenbolden sehen?«
»Du weißt so gut wie ich, dass ich das nicht will«, gab Jaro zurück.
»Es ist sicherer so.«
»Ich weiß.« Er starrte frustriert zur Stadt hinüber, die bereits ihre Tore öffnete und Händler und Reisende einließ.
»Wir sind alle magisch begabt – wir können einander notfalls erreichen«, sagte Finn, doch Jaro wirkte nicht sehr beruhigt.
»Auch die Zwillinge müssen sich trennen«, warf Leongar ein. »Im Doppelpack fallen sie viel zu sehr auf.«
»Nein!« Entsetzen klang aus Rikas Stimme. Die Zwillinge klammerten sich aneinander. Marla schüttelte immer wieder den Kopf, erst energisch, dann immer verzweifelter, als sie merkte, wie ernst Leongar es meinte.
»Es ist besser«, sagte Maud sanft und strich beiden übers Haar. »Zwei Rotschöpfe wie ihr fallen auf. Falls wir bereits gesucht werden, seid ihr leicht zu entdecken. So leid es mir tut, euer auffälliges Äußeres stellt eine Gefahr dar: für euch selbst und für uns alle.«
Marla packte ihre Lockenmähne und deutete an, sie abzuschneiden.
»Nein, Liebes. Nein.« Maud löste die Strähnen behutsam aus Marlas Hand. »Es sind nur wenige Tage. Meinst du nicht, dass ihr das schaffen könnt?«
Marla sah unglücklich zu Rika.
»Ohne Marla gehe ich nirgendwohin«, sagte diese, doch es klang eher weinerlich als entschlossen. Beide Mädchen ließen sich ohne Widerstand dunkle Tücher ums Haar binden.
»Wir tun es«, sagte Rika schließlich leise. »Ich will Marla nicht in Gefahr bringen und auch sonst niemanden.«
»Ihr könnt hier warten«, sagte Jaro. »Ich bin froh über jeden von euch, der in Sicherheit bleibt.«
Rika schüttelte den Kopf. »Wir helfen euch. Wir können uns ebenso gut nützlich machen wie ihr.«
»L’Angua ist ähnlich aufgebaut wie Archa«, sagte Leongar, »zumindest vom Grundprinzip her, doch ohne die strikten Grenzen und Mauern zwischen den Bezirken. Im Zentrum befindet sich das Herrenhaus des Grafen, dem die angrenzenden Ländereien gehören. Rundherum liegen die protzigen Wohnhäuser niederer Adeliger und reicher Bürger. Diese Gegend sollten wir vielleicht vorerst meiden – es wimmelt dort nur so von Gardisten.
Eine breite Straße führt geradewegs vom Stadttor aufs Herrenhaus zu. Entlang dieser Straße sind die Häuserfronten strahlend sauber, der Boden wird regelmäßig von Unrat befreit, man trifft so gut wie nie Betrunkene oder Bettler an. L’Angua will Fremden ihr schönstes Gesicht zeigen. Links und rechts von der Hauptstraße sind respektable Läden und Wirtshäuser, gepflegte Wohnhäuser und Märkte, auf denen Nahrungsmittel, Kleider und Stoffe verkauft werden.
Doch dringt man weiter vor, in die Gebiete hinter dem Herrenhaus, die man nicht über die große Hauptstraße, sondern nur durch verwinkelte Gassen erreicht, steht man bald knöcheltief im Dreck – im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne. In den hinteren Vierteln L’Anguas treiben sich die herum, die entlang der Hauptstraße nicht gerne gesehen sind. Nicht nur bettelarme Leute leben dort, sondern vor allem der Abschaum: Angehörige der Halbwelt, Verbrecher und Betrüger, zwielichtige Händler, die nicht wollen, dass man zu viel von ihren Geschäften weiß. Dirnen und Zuhälter, Schläger und Schmuggler. Jene Gestalten, denen man lieber nicht begegnet.«
»Du kennst dich gut aus«, sagte Skadi und blickte fröstelnd zur Stadt, die im sanften Morgenlicht so friedlich dalag, dass man sich ihre dunklen Seiten kaum vorstellen konnte. Dennoch wirkte L’Angua schon auf den ersten Blick gegensätzlich: Die spitzen Dächer des Herrenhauses überragten alle Häuser rundherum, strahlend weiß und elegant. Die Stadtmauer hingegen, dick und mit Zinnen bewehrt, machte einen trutzigen und abwehrenden Eindruck. Das Stadttor jedoch stand weit offen und ließ den stetigen Strom der Einreisenden ein: schwere Ochsenkarren, beladen mit Gütern und abgedeckt mit Planen, einfach gekleidete Wanderer, die ihr Hab und Gut in Rucksäcken transportierten, und zwischendurch immer wieder Edelmänner, die ihre Pferde führten.
»Ich war in der Vergangenheit immer wieder hier. Die Spelunken bieten einem jungen Mann ausreichend Gelegenheit, sein weniges Geld auszugeben und Bekanntschaften zu schließen, die nicht gut für ihn sind. Wann immer ich pleite war, lungerte ich dort herum und wartete auf Aufträge von Männern, die für alles Mögliche jemanden benötigten: Geld eintreiben, Geschäftspartner einschüchtern … Ich bin nicht stolz auf meine Vergangenheit, doch ein anderes Leben kannte ich nicht. Ich habe mehr als nur eine Abreibung erhalten und mich mehr als einmal mit den Falschen angelegt, aber L’Angua sorgte dafür, dass ich immer satt war und genug Bier hatte. Es ist … seltsam, nach so vielen Jahren zurückzukehren.«
»In die Spelunken, die du damals kanntest, wirst du nicht zurückkehren müssen«, sagte Jaro. »Diese Gegenden übernehme ich.«
»Es war zu erwarten, dass du das vorschlägst«, entgegnete Leongar. »Und es kommt nicht infrage. Du wirst nicht allein gehen – zu gefährlich!«
»Das ist nicht dein Ernst. Auch ich war bereits in L’Angua und kenne die gefährlichen Ecken. Niemand wird mich dorthin begleiten – es reicht, wenn einer von uns das Risiko auf sich nimmt.«
Leongar straffte die Schultern. »Entweder, Junge, wir gehen gemeinsam, oder ich als Älterer und Erfahrener erledige das allein.«
Jaro trat ihm entgegen, und obwohl er ihm nur bis ans Kinn reichte, schien er ihn durch seine natürliche Autorität zu überragen. »Sei doch vernünftig – alter Mann. Allein kann ich wesentlich besser in der Menge untertauchen, mich unauffälliger umhören und im Notfall leichter entkommen. Ein Mann, der Fragen stellt, wirkt immer noch unauffälliger als zwei, die herumschnüffeln.«
»Du hast selbst gesagt, dass wir zusammen stärker sind – aber wenn einer allein in die dunklen Viertel geht, bin ich das.«
»Hört euch doch nur an«, sagte Rika scharf. »Ihr steht da, aufgeplustert wie zwei Gockel, und streitet euch darum, wer von euch das größere Recht darauf hat, sich in Gefahr zu begeben. Lasst die Heldenspielchen, und benehmt euch wie erwachsene Männer. Versucht, das zu tun, was für alle das Beste ist, und beharrt nicht darauf, euch selbst zu opfern.«
Alle Augen waren auf Rika gerichtet, von der man eine so bestimmte Zurechtweisung am wenigsten erwartet hätte. Sie stand aufrecht da, die Hand ihrer Schwester haltend, und erwiderte ihre erstaunten Blicke selbstbewusst.
»Bitte entschuldige, Rika«, sagte Jaro schließlich. »Du hast vielleicht nicht ganz unrecht. Leongar und ich werden zusammen gehen.«
»Ich will bei Skadi sein«, sagte Finn sofort. »Sie war nie allein in einer Stadt unterwegs, kennt sich nicht aus und kennt die Gepflogenheiten nicht.«
Dass sie nie allein in einer Stadt gewesen war, stimmte nicht ganz. Mit Bauchschmerzen erinnerte sich Skadi an ihre Flucht aus Archa und war heilfroh, dass Finn dieses Mal an ihrer Seite sein würde, wenn sie sich in die beängstigenden Massen fremder Menschen wagte.
Jaros Miene war unergründlich. »Pass gut auf sie auf«, sagte er nur.
»Darauf kannst du dich verlassen.«
»Ich weiß.«
Marla schloss sich Skadi und Finn an, gemeinsam würden sie sich westlich von der Hauptstraße umhören. Maud und Rika übernahmen die Ostseite.
»Eine Woche«, sagte Jaro. »Wir werden an jedem der sieben Tage in einer anderen Herberge einkehren. Besonders abends in den Schankräumen sitzen die Zungen der Gäste oft locker. Tagsüber werden wir durch die Straßen und über die Märkte gehen. Haltet Augen und Ohren offen. Wir wissen nicht genau, wonach wir suchen, doch wenn wir es finden, müssen wir es erkennen. Hört euch einfach um … und achtet auf kritische Kommentare über die Regentin … Am achten Tag treffen wir uns zu Mittag wieder hier. Habt ihr alle genug Geld dabei?«
Leongar und Maud nickten, Finn schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Münzen. Damit kommen wir nicht weit.«
Skadi langte in seinen Rucksack und zog den prall gefüllten Lederbeutel heraus, den Ragnar ihr mitgegeben hatte. »Wird das reichen?«, fragte sie, löste die Schnürung und zeigte den Inhalt herum.
Finn schnappte nach Luft. »Meine Güte, Skadi, du hast mich ein halbes Vermögen auf dem Rücken herumschleppen lassen und mir nichts davon gesagt.«
Skadi betrachtete die glänzenden Münzen, zuckte die Achseln und fragte: »Also wird es reichen?«
»Davon könnten wir monatelang wie die Könige leben, du Hühnchen.«
Sorgsam verschloss sie den Beutel wieder und wollte ihn Finn zurückgeben, der ihn aber zurückwies. »Oh nein, das ist deines. Für so viel Geld will ich nicht die Verantwortung tragen – erst recht nicht, wenn es in meinem Rucksack ist. Ich würde noch nicht einmal merken, wenn es mir jemand klaut. Nein, nein, behalte das mal schön.«
Also wickelte sie den Beutel in ein Leinentuch, das sie an ihrem Gürtel festband, und stellte sich seufzend darauf ein, gut auf ihre Barschaft aufzupassen.
»Dann wäre alles geklärt«, schloss Jaro. Und nacheinander machten sie sich auf den Weg.
Maud und Rika waren die Ersten, die den Hang hinab in Richtung Stadt gingen. Skadi war unwohl zumute, als die beiden Gestalten kleiner und kleiner wurden und sich schließlich dem Ameisenstrom, der auf das Tor zuhielt, anschlossen. Sie wirkten schwach und wehrlos, die alte Frau und das zarte Mädchen, und plötzlich konnte Skadi den Gedanken kaum ertragen, sie allein ziehen zu lassen.
Für Marla musste es noch viel schwerer sein, ihre Schwester gehen zu sehen. Sie folgte ihr ein paar Schritte und verharrte dann, beide Arme um den dünnen Körper geschlungen, als fröre sie.
»Vielleicht … Vielleicht sollten wir doch alle gemeinsam gehen?«, fragte Skadi unsicher, doch während sie es aussprach, wurde ihr klar, dass sie die Entscheidung, sich aufzuteilen, aus gutem Grund getroffen hatten.
Sie bekam keine Antwort, doch Jaro legte ihr die Hand auf die Schulter. Es fühlte sich tröstlich an. Mit der Wärme seiner Hand, die sie durch den Stoff ihres Kleides fühlte, schien Zuversicht in sie hineinzuströmen. Sie wusste nicht, ob er Magie anwandte oder ob das Gefühl einfach eine Reaktion auf seine Nähe war.
»Na los«, sagte er. »Ihr seid dran. In wenigen Tagen sehen wir uns wieder.«
Skadi drehte sich nicht zu ihm um, als sie mit Finn und Marla losging. Jaros Hand blieb einen Moment zu lange auf ihrer Schulter liegen, hielt sie fest, und sie blieb stehen.
»Mach uns den Abschied nicht schwieriger als nötig«, bat sie, ohne ihn anzusehen. »Wie du selbst sagst: Es sind nur wenige Tage, keine große Sache. Keinem von uns wird etwas zustoßen. In einer Woche sind wir wieder zusammen.«
»Bitte sei vorsichtig«, antwortete er nur. Dann ließ er sie los.
Erst als sie den halben Weg ins Tal auf L’Angua zu hinter sich gebracht hatten, sah sie zurück zu Jaro.
Er hatte sich abgewandt und stützte sich schwer gegen einen Baum, als hätte er keine Kraft mehr, selbstständig zu stehen.
Ihre Hand fuhr wie von selbst an ihre Kehle, als der schmerzhafte Kloß im Hals ihr die Luft abdrückte und sich stachelig in ihr Fleisch zu bohren schien.
»Alles in Ordnung?«, fragte Finn. Sie öffnete den Mund, um zu antworten, brachte aber kein Wort heraus, nur ein schwaches Winseln. Also nickte sie schnell und zwang sich zu einem Lächeln. Finn wirkte nicht überzeugt, fragte aber nicht weiter.
Aus der Nähe wirkten L’Anguas Mauern noch höher und abweisender. Kalt ragten sie vor dem morgendlichen Himmel auf, der seine Farbe bereits von zartem Rosa zu klarem Blau geändert hatte.
Als sie das Ende der Schlange vor dem Stadttor erreichten und sich einreihten, legte Finn je einen Arm um ihre und Marlas Schultern, um sie im Gewühl nicht zu verlieren.
»Für den Fall, dass jemand danach fragt, könnten wir behaupten, wir seien ein Paar und Marla deine kleine Schwester«, schlug Finn vor, und Skadi nickte gleichmütig. Der Gedanke an Jaro hinderte sie immer noch daran, zu antworten. Ihn, den starken, überlegenen Jaro, so gebeugt zu sehen – das schmerzte nicht nur. Es erfüllte sie mit Entsetzen.
Um sich abzulenken, begann sie, die Leute um sich herum zu betrachten. Neben ihnen ging ein Obstbauer, der seine Ware auf einem Handkarren hinter sich herzog – und zugleich seinen Sohn, der strahlend inmitten der Früchte saß. Flüchtig lächelte sie ihm zu, und begeistert winkte er ihr.
Auf Skadis anderer Seite quälte sich schwitzend und fluchend ein dicker Mann durch die Menge, dessen Ochse, den er an einem Strick führte, offenbar keine Lust mehr hatte, den schweren Planwagen zu ziehen. Alles Schimpfen und Flehen war vergebens: Das Tier senkte den Kopf und rührte sich nicht von der Stelle.
Der Strom der nachkommenden Leute teilte sich am Wagen und floss darum herum, während der verzweifelte Mann eine Gerte hervorholte und seinem Ochsen damit drohte. Skadi, Finn und Marla ließen sich von der Menge mitreißen – etwas anderes blieb ihnen nicht übrig. Als Skadi auf gleicher Höhe mit dem massigen, gehörnten Ochsenkopf war, versuchte sie anzuhalten, stemmte sich gegen den Strom und streichelte sanft die breite Schnauze des Tieres. Erst schüttelte es unwillig den Kopf, dann beruhigte es sich und hielt still. Wie Fühler streckte Skadi ihre Begabung nach ihm aus – und zuckte zusammen, als sie sein Bewusstsein erreichte. In ihre Sorge und Anspannung mischten sich weitere Gefühle, die nicht ihre eigenen waren. Sie stammten von diesem ruhigen, bedächtigen und simplen Gemüt, das nun in Aufruhr versetzt war und allmählich nervös wurde – und plötzlich erschrak. Der Ochse riss die Augen auf, als er bemerkte, dass er nicht mehr allein war.
»Nur Mut, Großer«, flüsterte Skadi.
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