BOTHO STRAUSS
LICHTER DES TOREN
Der Idiot und seine Zeit
Diederichs
© 2013 Diederichs Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Weiss | Werkstatt | München
ISBN 978-3-641-11952-2
Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem
gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter:
www.diederichs-verlag.de
MIT SEINEM BRUDER, EINEM KRETIN, ging der Junge die Landstraße hinaus. Wie steif und verordnet er schritt! Nicht mal hätte man sagen können, wer von beiden der Ältere war, der Begleiter oder das rundköpfige, tapsige Wesen, das er ausführte, eines von seinem eigenen Fleisch und Blut. Der Idiot hielt den Kopf gesenkt, und es lächerte ihn grundlos, im wesentlichen und schlechthin. Der Imbezille ist jemand ohne Stab (bacillum). Der gerade Bruder war ihm einer, er ging bei ihm eingehängt. Manchmal zuckte der Gerade mit dem Arm, so wie eine steife Gattin ihren betrunkenen Mann vom Torkeln abhält und an sich zieht. Ja, er riß sogar an ihm und zerrte ihn in einen festeren Schritt. Doch der Schwachsinnige unterbrach sich nur kurz und begann sogleich wieder sein hohes, wimmerndes Kichern, als wär’s die einzige Äußerung, Belustigtsein, die sich ihm gleichsam von Gott mitgeteilt hatte über die Menschen, die einzige zumindest, die ihn in eine höhere Übereinstimmung zu versetzen schien. Es war beinah, als diene er einem leisen Dauergelächter, das aus den Sphären über die Erde erging, als Medium. Als wäre er willenlos wie eine Muschel bereit zum ewigen Wiedertönen. Unterwegs griff der Junge, der zum Ausgang mit dem Idioten angestellte Bruder, in seine Hosentasche, nahm ein großes Taschentuch heraus und ließ den Kichernden sich darin schneuzen, so wie Mütter es mit rotztriefenden Kindern tun. Und gerade hierin, wie also der Bruder vor sich und den Leuten im Dorf den überlegenen Erwachsenen hervorkehrte, unbeholfen und geniert, hätte es für den Betreuten einen unmittelbaren Kitzel zum Kichern gegeben. Doch der Idiot ward ja aus unendlicher Ferne belustigt und spürte neben sich gar nichts.
Der Idiot erscheint wie ein Gemüt, das sich einmal zu weit ausspannte, sich überdehnte und nie wieder kontrahieren konnte. Vielleicht ist er der Erstgeschlagene und Prototyp unter den Menschen, die in Millionenzahl vom Verenden des Verstehens überrascht werden. Vorgänger auch eines gänzlich verschlossenen, autonomen Empfindens des Menschen für sich selbst. Alles, was der Idiot empfindet, empfindet er nämlich als selbstgemachte Empfindung. Von keiner Welt, keinen Sternen, keinen fremden Augen verursacht.
Verblödung als rebellischer Untergrund des Geistes interessierte Swift wie Flaubert. Ersterer erreichte sie selbst. Für Flaubert wurde sie die intime Partnerin seiner Wissensexzesse. Auch Gombrowicz war ihr dicht auf den Fersen. Erreichte sie aber nicht.
Swift zu Young: »Ich bin wie dieser Baum. Ich werde am Wipfel anfangen zu sterben.«
Zwei beflissene Gesellen wie Bouvard und Pécuchet wären heute zwei durch eine Überzahl an Verbindungsgliedern (»links«) unförmig gewordene Geistesmonster.
Die Intelligenz, die begierig die Dummheit betasten und sondieren möchte, errät sie nie.
Das Innere der Dummheit ist zart und durchsichtig wie ein Libellenflügel, es schillert von überwundener Intelligenz.
Während Intelligenz zur Massenbegabung wurde, sind Klugheit und Einfalt nahezu ausgestorben. Den Idioten gibt es daher in mehrfacher Symbol-Gestalt, auch als Januskopf: nach vorn blickt die Parodie des Informierten, der Info-Demente. Zurück blickt die Heiterkeit des Ungerührten. Der heitere Idiot in der Welt der Informierten zu sein heißt, ohne eine Regung von Zukunftsunruhe, ohne Angst zu leben. Statt dessen aber in einer den Informierten ungültigen Redeweise sich mitzuteilen, die jedoch ungemildert und unverzerrt die Vibrationen eines rumorenden Untergrunds wiedergibt.
Vieles muß er schmerzlicher und schärfer sehen als andere. Das hartkantig Verschiedene kann er nicht mit den Gleitmitteln der »vorprogrammierten« Vernunft oder des allverständigten Verstands davon abhalten, sich fortwährend zu reiben und zu stoßen. Das Einzelne bleibt ihm vereinzelt, er kann es nicht im Sog eines gierigen Ganzen begreifen. Es ist ihm kein Baustein aus dem großen Modulbaukasten.
Der Wahn war eine zentrale Metapher des zwanzigsten Jahrhunderts. Dem folgenden könnte der Idiot zum Inbild werden. Wenngleich »Jahrhundert« dann vermutlich ein schwammiger Begriff sein wird.
Jeder ist seiner Unwissenheit Schmied … Man möchte einem Kind entgegengehen, das vom Ende der erschöpften Intelligenz herüberkommt, um uns von Grund auf leise zu widersprechen und zu beweisen, daß wir Neunmalkluge einen gravierenden Anfangsfehler gemacht haben. Ein Kind, weder Kopf- noch Schenkelgeburt, sondern ein aus den hellsten Verzückungen unseres Wissens hervorgegangener hübscher, doch erdgebundener Geist: Man habe das Verstehen aus seiner Herkunft vertrieben, und diese Herkunft sei allein die orphische und nicht der gewitzte Verstand. Man habe das Dunkle verpönt im Namen einer überheblichen Ironie einerseits und andererseits im Namen einer teuflischen Geschicklichkeit. Inzwischen arbeite der Geist nur noch auf Hochtouren seines Könnensbewußtseins. Kein Bewußtsein, das ihn noch lähmte. Zögern ließe.
Jedoch nicht bloß zu können, sondern nicht anders zu können, daher rührten die Aufstiege.
Unser die Erde umkreisender Kopf befindet sich im engsten Perigäum … so nah und gedankenlos nah waren wir selten dem nackten Geschehen.
Es bleibt kein Zwischenraum, um zu »reflektieren«. Der Mensch so eins mit seinen Dingen, wie er’s im ersten Zeitalter der Trance mit seinen Gottheiten war.
Der Ausspruch: »Ich denke niemals nach. Ich bin immer auf alles gefaßt«, der vom Dramatiker Georg Kaiser überliefert wird, eignet sich zur Devise des passenden Menschen.
Und Trance heißt nun: sich im Gefüge fühlen.
Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist der Typus des Außenseiters aus Gesellschaft wie Literatur so gut wie verschwunden. Der Einzelgänger, der sich fern von neuen Foren hielte, die nur nach Eingemeindeten zählen, besäße heute keinerlei Nimbus mehr, sondern erschiene wohl den meisten als schrullige Figur. Konformitäten, Korrektheiten und Konsensivitäten, das juste milieu der kritischen Öffentlichkeit wird von den Bakterienschwärmen neuer Medien lediglich verstärkt. Der Hauptstrom kann nur immer breiter, launiger und machtvoller werden – und dabei seine einlullende Gemeinschaftsbildung mit immer raffinierterer Technik betreiben. Allerdings gibt es kein Allgemeines, das das Besondere verhindern könnte. Wenn alle meinen, es käme noch am entlegensten Ort darauf an, sich genügend Gesellschaft online zu verschaffen, so kommt dem Unverbundenen eine neue Rolle zu. Im Gegenzug verstärken sich ihm seine diachronen Bindungen, verstärkt sich sein absolutes Verbundensein. Gleichwohl wird sein Stil gefordert und malträtiert von den Plaggeistern des Tags und auf das geltend Allgemeine unentwegt zurückgestoßen.
Für ihn, den Idioten, ist es, als ob alle anderen fein aufeinander abgestimmt sprächen. Heruntergeregelt auf den verträglichsten Stimmungsgrad. Fast unbewußt von moderierenden Persönlichkeiten vorgeregelt. Es bildet sich eine feste, kieselharte Förmlichkeit des aufeinander abgestimmten Sprechens, die jeden einzelnen vom eigenen (schärferen) Bewußtsein abschirmt. Eine viel unnachgiebigere Konvention als jede frühere, aus bürgerlicher Zeit bekannte.
Unüberwältigt sprechen sie. Was sie überwältigen müßte, dringt nicht durch Zeit und Kleid.
Es ist nicht so, daß der Ungesellige oder Unbeteiligte, idiotes im sozialen Sinn, bereits identisch wäre mit dem Kyniker oder gar dem Debilen. Er bleibt zuvörderst staatsbürgerlich, jedoch mit dem Anspruch, sein Beteiligtsein mit einer aufs äußerste gespannten Empfindlichkeit auszuüben.
Ἰδιώτης l’homme isolé, der Unverbundene, der Unbegreifliches spricht. Er dreht sich wie eine abgerissene Rose im Flußstrudel zielstrebiger Menschen – Menschen im Konsens. Eingemeindete, Zugehörige eines wundersamen Einvernehmens. Zielstrebige Leute, doch über ihr Ziel täuschen sich alle.
Privatperson. Gemeinschaftsstümper. Idios: beiseite, abseits befindlich; den einzelnen betreffend, dem einzelnen zugehörig. Idioteía: Privatleben. Torheit.
Der idiot savant, wie man zuerst den Autisten nannte, wäre als Begriff zu entlasten und vielleicht verwendbar für jene Abenteurer, die anders verbunden sind als nur untereinander. Das Verbundensein wiedererstarkt in der Absonderung. Der Abgesonderte ist ja der idiotes im antiken Wortsinn.
Das Private ist fortfressender Raub an allen Lebensgütern, zuletzt des Herzens und des Verstands. Das Private im Extrem zersetzt die ganze Person (und das ist nicht nur die Maske, die sie für andere trägt), verzehrt sie restlos. Die Verwilderung beginnt. Le vieux sauvage. Noch einmal ausgesetzt. Er sucht in der Wildnis seinen Anbeginn. Schneisenschlagend.
Die Blöße, die sich der Idiot gibt, erschreckt wie jede Epiphanie durch Unverständlichkeit.
Eigentlich wollte er nur den Saum des anderen küssen, sobald er sprach. Seine Gegenwart wollte er ehren. Dabei kam Unverständliches über seine Lippen, und der andere wich zurück.
Was verstünde man nicht außer der Sprache selbst?
Was, wenn nicht Unverständliches, wäre also die Überlebensbarke der Sprache?
Der Korb, in dem das ausgesetzte Kind flußabwärts treibt, der Korb, aus dem der von Sprache geschlagene Stammler entsteht, der Führer und Verkünder.
An einem Pfingsttag, wenn Heerscharen von kleinen Maniaks den Wahn feiern und zugleich unzählige Exzentriker der Kunst sich begeistert fühlen, erleiden die, die’s wirklich trifft, de-mentia, Entgeisterung.
Die Maniaks sind die Eiferer, die sich im Eifer dauernd zeigen wollen. Bei sich bleibt und allein der Imbezille.
Seine Sprache wurde ihm schließlich zum Genist aus gebogenen Anlehnungen und Bezüglichkeiten, eine knüpfende, hortende und hegende, eine Sprache, die sich in ihren Filiationen, ihrem Gezweig zusehends verdichtete, ihn nach außen abschirmte, so daß kaum ein anderer ihn noch verstand. Ganz und gar keine Sprache der Mitteilung. Deshalb fand auch nur er selbst, der blaue Hase, darin seine Stallwärme. Incommunicabilitas. (Incommunicabilitas der Person in ihrer thomistischen Version als geschlossene Einheit. Nur in ein abgeschlossenes Fach wird Gott eine Nachricht hinterlegen.)
Alles – Rauschwort des Thales wie des Imbezillen. Der Weise und der Idiot lieben gleichermaßen die totalitäre Emphase in den beiden Wörtchen: alles, nichts.
… und es zerfiel ihm alles in Muster und Module. Vielleicht handelte es sich nur um ein rundes Dutzend führender Betriebssysteme des Denkens, die das menschliche Hirn hervorbringen konnte. Nichts davon geht verloren, alles wechselt beständig die Farbe, die Stimmung, den Drehimpuls. Aber gehört es nicht zur Disposition des menschlichen Verstehens, nichts Unbekanntes unter der Sonne zuzulassen, sondern es unwillkürlich zurückzuführen auf ein Schema, das Schon-Bekanntes erkennt? Das Bewußtsein, daß es nie eine Bewußtseinsgeschichte gab unter der Sonne, überwältigte den schwachen Erwachenden. Ja, es beförderte das aufkommende Desinteresse des Geistes an sich selbst. So wie das Wörtchen »Nicht-mehr« seinen Sinn verlor, als das verheißungsvolle »Noch-Nicht« dahinsank, so wird man nun unversehens auf Altes blicken, wenn man glaubt, einen frischen Ausblick zu nehmen. Man kann keine Sicht mehr vernichten, man kann sie nur botanisieren und eigenartig finden!
Bemerkenswert fand er, daß ihm die Schrift nicht mehr dazu diente, etwas zu fixieren, festzuhalten, sondern vielmehr als ein Bewegungsäquivalent für Liquides und für Fluktuationen, die er empfing oder deren er teilhatte. Es war längst nicht mehr eine Schrift »um … zu«, sie wurde ohne zweckdienliche Absicht ausgeführt. Es war einfach die Schrift, ein Empfangs- und Wiedergabeelement für ein permanentes Gewärtigen. Vielleicht war sie auch so etwas wie ein geistiger Aufheller, ein Restlichtverstärker, denn jede sporadische Gewißheit, die ihm zuteil wurde, war ja in Nacht und Dunkel gebettet.
Die Form des Gewärtigens ist eine grundsätzlich andere als die des Erzählens oder der Erinnerung. Sie ist im Großen wie im Kleinen der Unschlüssigkeit verpflichtet. Und praktiziert ein stetes (nicht erlittenes) Vergessen. Jeder Akt, auch der geringste, eines Offenbarwerdens senkt einen tilgenden Schleier über den vorausgegangenen Erfahrungsstand. Hier, im Gewärtigen, sammelt und schichtet sich nichts, entsteht niemals Geschichte.
Selbstverständlich gibt es keine bloße nackte Gegenwart, und selbst der reinste oder meinetwegen mystische Augenblick bricht aus irgendeiner tieferen Vergangenheit hervor, der geschichtlichen Erfahrungswelt, aber eben als versprengter Klumpe, nicht als Teil einer temporalen Verkettung, und sein Verglühen im Jetzt ist sein Einleuchten.
DIE MEISTEN NEUERUNGEN BETREFFEN den Komfort und führen bei den Menschen zu einem Zugewinn an Kaltschnäuzigkeit.
Wer sich an technischen Neuerungen berauscht, ist ein Schwachkopf. Wer sich ihrer zu bedienen versteht, ist ein Alltagsmensch, aus dem noch einmal etwas Besonderes werden könnte wie zu allen Zeiten. Der Bewegungsraum eines Menschen muß zu fünf Achteln anachronistisch sein und darf nur zu drei Achteln aus Unübersehbarem bestehen. Die Dichtung muß sogar zu sieben Achteln anachronistisch sein oder sogar ein Antidoton gegenüber der Neuerung, die uns immer etwas benimmt an orientierungbietender Vergangenheit. Den Anachronisten kann es nur als einen Voranstürmenden der Erinnerung geben, ein verbitterter Anachronist ist eine Zipfelmütze. Der Anachronist war seit jeher der bessere Deutsche. Die Romantiker lebten vom Mittelalter, die Zerrissenen Hölderlin, Nietzsche vom deutschen Griechentum. Anachronisten aber auch Hölderlin, Keller, Heidegger, Jünger – die, in Zeitwidrigkeit gefaßt, zu überzeitlich großen Entwürfen gelangten. Anachronisten sind weder die Epigonen noch die sich unter ihrer Zeit Hinwegduckenden – sie sind immer die ungestümen Widersacher. Man kann in die Einsamkeit nur gehen als in eine unerhörte Offensive.
Früher gab’s mehr von dem, was war. Heut gibt’s zuviel von dem, was wird.
»Sind Menschen wir, dann die Altvorderen Engel; sind Menschen jene, wir wie die Esel«, so heißt es im babylonischen Talmud. Welche Selbstbescheidung aus Ahnenerhöhung! Nichts läge den Heutigen ferner.
Was der Anachronist über den Anachronisten sagt, sagt er schon nicht mehr als Anachronist. Sei stumm in deiner Absicht! Beredt in deinen Zufällen!
Das Altmodische ist die schlimmste Verhöhnung von Altem. Das Alte eignet sich nicht zu leichtfertigen Pastiches. Es arbeitet hart, sowohl als eigenständiges Plenum wie auch als Produktionsstätte von allem Neuen.
»Paradies, Paradies!« riefen die Maurer von ihren Gerüsten dem wandelnden Idioten nach. Er geriet dann jedesmal in eine hohe Stimmung und blieb den halben Tag auf der Stelle unbeweglich stehen wie Symeon auf seiner Säule.
So wie der Asket das abgetötete Leben lebt, einen Extrakt des Todes zu seinem Lebenselixier macht, verweilt der Idiot in aufgegebener Zeit. Es ist ihm unmöglich, sich auf die Suche nach einer verlorenen zu machen.
Der Idiot, der Gedächtnislose selbst – treibt er nicht auf den Fluten uferlosen Gedenkens?
Treibt dahin wie die Barke, die jenseits des Horizonts in ewige Dunkelheit vorstößt. Kurz vor dem Umsteigen in den Jenseits-Nachen trifft ihn noch einmal der grelle Suchscheinwerfer der Verständigten.
Im Begreifen liegt immer etwas Gestriges. Wir begreifen ja das Neueste in vorgeprägten Formeln, die längst abgegriffen sind.
In ihren Vergleichen hütet die Alltagssprache Utensilien der Vergangenheit, die aus unserer Gebrauchswelt seit langem verschwunden sind: Die Wirtschaft muß man ankurbeln. Wo in unserer digitalischen Welt findet sich die einfache physikalische Vorrichtung der Kurbel noch? Sie war einmal: am Auto, an der Filmkamera …
In die sprachlichen Vergleiche dringt kaum Gegenwart. Man hält an den bewährten Metaphern aus Ahnenzeiten fest. Wissen und Technik unserer Tage setzen zwar jede Menge Idiome und Begriffe ab in die lebendige Sprache, sie scheinen jedoch nicht chiffrierfähig. Jeder in seinem Schmelztiegel achte einmal: wieviel von seinem geläufigen Verstehen auf frühindustrieller Metaphorik beruht.
Denn in uns ist Einst und mächtiges Einst, das wir nie aufgeben können und dessen Reibung mit einem Jetzt uns immer noch die segnenden Blitze beschert.
Der Widerspruch ist härter gegen die Schlauen zu richten als gegen die Dummen.
Die Kaltschnauzen gilt es zurückzuweisen, sie sind die schlimmsten. Und sie gibt es in vieler Art und Abart. Sie frieren nicht, wenn uns schon die Lippe vereist. Kaltschnauzen sind alle, die ohne Verbindung zum mächtigen Einst sich mitteilen und überhaupt nur als ein Masseteilchen der Kommunikation existieren.
Ohne Weltenkenntnis fehlt’s an Herdverständnis. Ohne Globus auch kein Heimatbonus. Das Globale ist ihnen näher als das Häusliche. In herdloser Weite entsteht dann ein Heimweh nach vertrauten Verhältnissen. Was im Überfluß zur Verfügung steht, führt zurück zu den Quellen des Bedürfens. Der allseitige Schein erregt einen Wolfshunger nach freßbarem Geist. Das Umwälzendste nach dem Ende der Revolutionsepoche ist die Erfindung der Umwälzanlage, die das Verbrauchte nicht aus der Geschichte jagt, sondern es wiederaufbereitet, reinigt und neuer Verwendung zuführt. Wenn also der Globus ein Dorf, dann auch die Kirche darin lassen!
Wie Miltons Töchter dem blinden Vater die Klassiker in Griechisch und Latein vorlasen, ohne ein Wort zu verstehen, so berichtet der Info-Idiot unter rein mimetischer Verwendung der Begriffe, die er niemals hätte erklären können, Neuigkeiten aus der Wissenschaft, vom plötzlichen Sinneswandel der Onkologen, die Da-Vinci-Methode betreffend, sogar den Sachkundigen schien’s einem nützlichen Beitrag zum Verwechseln ähnlich.
Sollte nicht für eine alternde Gesellschaft die Gefahr, in ihrem Selbstverständnis schwachsinnig zu werden, ebenso groß sein wie für ein alterndes Individuum?
Das lange träge Starren vom Rand des Abends in die tiefe Nacht – ein Medium ist’s, das tiefer verbindet als Datenströme die Gesellschaft der Schlaflosen aller Herren Länder. Allein in dieser zerstreuten, trüben, totmatten Öffnung, bei Vergabe aller Eigenheit, ist universale Gemeinschaft wahr. Erschöpft sind wir bedingungslos vereint, wir geben jegliche Bedingung für das Vereinen auf.