Tobias Hürter
Das Zeitalter der Unschärfe
Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895-1945
Klett-Cotta
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(Paul Cornoyer, Urban Nocturne)
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98372-2
E-Book ISBN 978-3-608-11709-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Für Herbert Schmidt
Stellen Sie sich vor, Sie finden eines Tages heraus, dass die Welt, in der Sie leben, ganz anders funktioniert, als Sie bisher glaubten. Die Häuser, Straßen, Bäume und Wolken sind nur Kulissen, bewegt von Kräften, von denen sie nichts ahnten.
Genau dies ist den Physikerinnen und Physikern vor hundert Jahren widerfahren. Sie mussten einsehen, dass hinter den Begriffen und Theorien, durch die sie die Welt sahen, eine tiefere Wirklichkeit liegt, die so fremdartig auf sie wirkte, dass ein Streit darüber ausbrach, ob sich überhaupt noch von »Wirklichkeit« sprechen lässt.
Wie die Physikerinnen und Physiker in diese Situation kamen und wie sie mit ihr rangen, ist die Geschichte dieses Buches. Am Ende wird die Welt eine andere sein: Die Physiker1 werden sie nicht nur neu erkannt, sondern auch zutiefst verändert haben.
Paris(1) 1903
Paris(1), an einem Sommerabend im Juni 1903. Ein Garten im Boulevard Kellermann im 13. Arrondissement. Licht fällt aus den Fenstern auf den Rasen, eine Tür geht auf, frohe Stimmen dringen heraus, dann strömt eine kleine Festgesellschaft auf die Kieswege, in ihrer Mitte eine Frau in einem schwarzen Kleid: die Physikerin Marie(1) Curie, 39. Ihr sonst oft angespanntes Gesicht ist gelöst und froh. Sie hat zu ihrer Promotionsfeier eingeladen.
Marie(2) ist auf einem Höhepunkt ihrer Karriere. Als erste Frau in Frankreich(1) wurde ihr der Doktortitel in einer Naturwissenschaft verliehen, mit der Auszeichnung »très honorable«.2 Als erste Frau überhaupt ist sie für den Nobelpreis nominiert.
An Maries(3) Seite strahlt ihr Mann Pierre(1) vor Stolz. Sie ist umringt von ihrer älteren Schwester Bronia(1), ihrem Doktorvater Gabriel Lippmann(1), ihren Kollegen Jean Perrin(1) und Paul Langevin(1) und mehreren ihrer Schülerinnen. Der neuseeländische Physiker Ernest Rutherford(1) feiert mit, er ist gerade mit seiner Frau Mary(1) auf Hochzeitsreise – endlich, die Hochzeit liegt schon drei Jahre zurück. Rutherford und Marie(4) Curie sind Konkurrenten, beide erforschen den Bau der Atome und widersprechen einander vehement. Doch dieser Streit soll heute Abend ruhen. Heute wird gefeiert.
Der Weg, der für Marie(5) in diesen glücklichen Abend mündete, beginnt fernab der französischen(2) Metropole, im Warschau(1) der 1860er Jahre. Polen(1) ist zwischen den Großmächten Preußen(1), Russland(1) und Österreich(1) aufgeteilt, Warschau steht unter der Zwangsherrschaft des russischen Zaren. Niemand darf sein Heimatland laut »Polen« nennen. Am 7. November 1867 wird dort Maria(6) Skłodowska als letztes von fünf Kindern eines Lehrerehepaars geboren. Die Gesinnung der Familie ist gegen die Besatzer gerichtet. Der Vater tut sein Bestes, seine Töchter zu unabhängigem Denken zu erziehen. Als Mania(7), wie Maria zuhause gerufen wird, vier Jahre alt ist, meidet die tuberkulosekranke Mutter den Kontakt zu ihren Kindern. Sie möchte keines ihrer Kinder anstecken und stirbt nach langem Kampf gegen die damals noch unheilbare Krankheit.
Mania(8) braucht mehr als zehn Jahre, um ihre Lebensfreude wiederzugewinnen. Zuerst flüchtet sie sich ins Lernen, vergräbt sich in Bücher, bringt es mit unerbittlichem Fleiß zur Jahrgangsbesten im kaiserlichen Gymnasium. Mit 15 erleidet sie unter dem Druck, unter den sie sich selbst setzt, einen Nervenzusammenbruch. Ihr alleinerziehender Vater schickt sie zur Erholung aufs Land. Dort gelingt es ihr, die Bücher wegzulegen, sie entdeckt die Musik, feiert, flirtet und tanzt die Nacht durch. An einer polnischen(2) Untergrund-Universität, die auch Frauen aufnimmt, beginnt sie zu studieren – und übertrifft mit ihren Leistungen alle ihre Kommilitonen. Um ihre zwei Jahre ältere Schwester Bronia(2), die zum Medizinstudium nach Paris(2) geht, finanziell zu unterstützen, tritt sie eine Stelle als Gouvernante in der Familie eines Zuckerrübenfabrikanten bei Warschau(2) an – und verliebt sich in den Sohn der Familie, den 23-jährigen Mathematikstudenten Casimir. Der Vater ist entsetzt über die Liaison. Casimir leistet ihm zunächst zaghaft Widerstand, fügt sich jedoch nach jahrelangem Hin und Her, und Mania(9) steht allein und verlassen da, mit zutiefst verletztem Herzen, voller Wut auf die Männer: »Wenn sie keine armen jungen Mädchen heiraten wollen, sollen sie doch zum Teufel gehen!«
Die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie erhielt 1903 den Nobelpreis für Physik und 1911 für Chemie; hier ist sie in ihrem Labor in Paris im Jahr 1917 zu sehen.
Im Jahr 1891 folgt Mania(10) ihrer Schwester nach Paris(3). Bronia(3) hat inzwischen geheiratet, ausgerechnet einen Casimir. Er ist Arzt, sie ist Ärztin, und beide sind erfüllt von kommunistischen Idealen. Praktiziert wird in ihrer Wohnung, und bedürftige Patienten werden gratis behandelt. Zu viel Trubel für Mania(11), die sich nun Marie nennt. Sie zieht in eine Dachkammer, in der sie sich buchstäblich vergräbt: in kalten Winternächten unter all den Kleidern, die sie besitzt. Um Geld zu sparen, schleppt sie nur selten einen Eimer Kohle hinauf und ernährt sich ausschließlich von Tee, Obst, trockenem Brot und Schokolade – egal! Sie ist frei. Im Paris der Jahrhundertwende sind Frauen zwar alles andere als gleichberechtigt. Eine »Studentin« (étudiante) kann sowohl eine studierende Frau als auch die Geliebte eines studierenden Mannes sein. Aber immerhin können Frauen unbehelligt studieren, und das tut Marie(12) mit Leidenschaft. Sie verbringt ihre Tage am liebsten in Hörsälen, Labors und Bibliotheken, ihre Nächte mit ihren Büchern, lauscht den Ausführungen des legendären Henri Poincaré(1). Wieder übertreibt sie es und bricht in der Bibliothek zusammen. Bronia(4) holt sie zu sich nachhause und füttert die erschöpfte und unterernährte Marie(13) mit Fleisch und Kartoffeln, bis sie wieder zu Kräften kommt. Sofort eilt sie zurück zu ihren Büchern und wird bei den Abschlussprüfungen wieder Jahrgangsbeste.
Und was nun? Studieren dürfen Frauen zwar, aber als Forscherinnen dulden viele Männer sie nicht gerne neben sich. Marie(14) darf sich glücklich schätzen, ein Stipendium zu erhalten, das sie bei der Erforschung der magnetischen Eigenschaften verschiedener Stahlsorten fördert. Als sie mit dem Laborgerät nicht zurechtkommt, empfiehlt ein Bekannter ihr einen Experten für Magnetismus: Pierre(2) Curie, 35 Jahre alt, jünger aussehend, schüchtern und bedächtig. Er zeigt ihr, wie man mit Elektrometern umgeht, schließlich hat er solche Geräte selbst entwickelt. Marie gibt ihren Vorsatz auf, sich nach der Misere mit Casimir nie mehr zu verlieben: Pierre(3) und Marie werden ein Paar.
Doch der Magnetismus von Stahl entspricht nicht Maries(15) Berufung, es gibt Spannenderes zu erforschen. Gerade hat Wilhelm Conrad Röntgen(1) in Würzburg(1) zufällig die mysteriösen X-Strahlen, die Röntgen-Strahlen, entdeckt, als sie seine Hand durchleuchten, die er vor eine Elektronenröhre hält. Zu Neujahr 1896 schickt er Photos der Knochenkonturen der Hand seiner Frau, samt Ehering, unter Kollegen herum. So etwas hat vorher noch kein Mensch gesehen. Röntgenbilder(2) lösen einen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Hype aus.
Im selben Jahr entdeckt Henri Becquerel(1) in Paris(4) – wiederum zufällig – eine Art von Strahlung, die er rayons uraniques nennt, Uranstrahlen, weil sie von Uran ausgehen, das er mit einer Photoplatte in eine Schublade legt. Das ist aber auch schon alles, was Becquerel(2) über diese Strahlen in Erfahrung bringt. Wie sie entstehen, kann er nicht erklären. Er vermutet und hofft, dass sie irgendetwas mit Phosphoreszenz zu tun haben, denn diesen Effekt haben er und seine Vorläufer seit Generationen erforscht. Seine Strahlen machen weitaus weniger Furore als die von Röntgen(3), und seine verschwommenen Aufnahmen verblassen neben den Röntgenbildern, die auf den Titelseiten der Zeitungen gedruckt und auf Jahrmärkten gezeigt werden.
Marie(16) Curie jedoch ist von Becquerels(3) Entdeckung fasziniert. Sie erkennt, dass die Angelegenheit mit den wenigen Experimenten des nicht gerade arbeitswütigen Becquerel keineswegs erledigt ist, und entwickelt ein neues Verfahren zur Messung der Uran-Strahlen, beruhend auf Pierres(4) Elektrometern. Und sie wagt es, dem mächtigen Becquerel(4) zu widersprechen. Sie nennt die Strahlen »radioactif« statt »uranique«, weil sie überzeugt ist, dass sie eben nicht nur aus dem Element Uran kommen. Um dies zu beweisen, macht sie sich an den Nachweis neuer radioaktiver Elemente und wird in den nächsten Jahren zwei entdecken: Polonium und Radium.
Und mehr noch, Marie(17) Curie behauptet, »dass die unbegreifliche Uran-Strahlung eine Eigenschaft des Atoms ist«, wie sie im Jahr 1898 schreibt – beim damaligen Erkenntnisstand der Wissenschaft eine Provokation. Mit den Atomen kommen die Forscher gar nicht klar. Sie haben einfach zu viele davon. Da sind die Atome der Chemiker, unteilbare und unwandelbare Materiebausteine, die sich in chemischen Reaktionen aus ihren Verbindungen lösen und neu miteinander verbinden. Da sind neuerdings auch die Atome der Physiker, die wie winzige Billardkugeln durchs Vakuum schießen und zusammenstoßen, um Druck und Hitze in Gasen zu erzeugen. Da sind die Atome der Philosophen, seit den Zeiten des Demokrit die unvergänglichen Grundbausteine der Welt. Allerdings gibt es zwischen diesen unterschiedlichen Atomen keinen theoretischen Zusammenhang. Nur dass sie eben »Atome« heißen. Und nun behauptet Marie(18) Curie, dass innerhalb dieser Atome etwas geschieht.
Wie soll das möglich sein? Wie kann der Mechanismus funktionieren, mit dem Atome radioaktiv strahlen? Offenbar, so zeigen die Experimente, ist er unbeeinflusst von den chemischen Prozessen, von Licht und Temperatur, von elektrischen und magnetischen Feldern. Was dann löst ihn aus? Marie(19) Curie hat einen unerhörten Verdacht: nichts. Der Prozess, in dem die Strahlung entsteht, beginnt von selbst – spontan. In einer Abhandlung für den Internationalen Physikerkongress anlässlich der Pariser(5) Weltausstellung im Jahr 1900 schreibt sie einen ominösen Satz: »Die Spontaneität der Strahlung ist ein Rätsel, ein Gegenstand tiefen Staunens.« Radioaktive Strahlung entsteht von selbst, ohne Ursache. Damit rüttelt Curie am Fundament der Physik, dem Kausalitätsprinzip. Sie erwägt sogar, den Energie-Erhaltungssatz zu verwerfen, das eherne Prinzip der Physik, dem zufolge Energie niemals verschwindet oder aus dem Nichts entsteht. Der Mann, der Licht in Curies(20)(5) Rätsel bringt, ist der neuseeländische Physiker Ernest Rutherford(2). Er entwickelt die »Umwandlungstheorie« der Radioaktivität: Wenn ein Atom radioaktiv strahlt, verwandelt es sich von einem chemischen Element in ein anderes. Damit wankt ein weiteres Dogma der Wissenschaft. Solch eine Umwandlung gilt als unmöglich, als Spinnerei von Alchemisten und Scharlatanen. Selbst Marie Curie sträubt sich lange gegen Rutherfords Theorie, doch am Ende behalten beide recht, Curie(21) mit der Spontaneität, Rutherford mit der Umwandlung. Es ist die alte Physik, die weichen muss.
In einem Schuppen im Innenhof der Ingenieursschule École supérieure de physique et de chimie industrielles im Quartier Latin, dem Gelehrtenviertel der französischen(3) Hauptstadt, richten die Curies(22)(6) ihr Labor ein. Der Wind pfeift durch die Ritzen. Der Boden trocknet niemals ganz. Zuvor haben dort Studenten Leichen seziert – bis es ihnen zu ungemütlich wurde. Nun sind die Obduktionstische seltsamen Geräten gewichen: Glaskolben, Stromkabeln und Vakuumpumpen, Waagen, Prismen und Batterien, Gasbrennern und Schmelztiegeln. Als »eine Kreuzung zwischen Stall und Kartoffelkeller« erlebt der baltisch-deutsche Chemiker Wilhelm Ostwald(1) das Barackenlabor der Curies, als er es auf seine »dringende Bitte« hin besichtigen darf. »Wenn ich nicht die chemischen Apparate auf dem Arbeitstisch gesehen hätte, dann hätte ich das Ganze für einen Witz gehalten.« Hier, im Ambiente einer Alchemistenküche, machen die Curies(23)(7) einige der wichtigsten Entdeckungen des anbrechenden 20. Jahrhunderts. Sie ahnen noch nicht, dass sie in ihrem zugigen Schuppen einen Grundstein zu einem neuen physikalischen Weltbild legen sollten.
In ihrem Schuppen wollen die Curies(24)(8) eine Substanz herstellen, die viele ihrer Fachkollegen bis vor kurzem ebenfalls für Hokuspokus hielten: reines Radium. Aber sie können ja nicht zaubern, das Radium muss irgendwoher kommen, sie brauchen einen Rohstoff. In langwierigen Versuchen ist Marie(25) auf ein strahlendes Mineral namens Pechblende gestoßen. Sie brauchen es tonnenweise, doch in Paris(6) ist es nicht zu bekommen, und die Curies(26) haben kein Geld. Pierre(9) fragt in ganz Europa(1) herum und findet heraus, dass in der Erzmine Joachimsthal(1), tief im Böhmischen Wald, aus der auch die Metalle für die »Thaler«-Münzen kommen, reichlich Pechblende als Abraum anfällt. Er kann den Minendirektor überreden, ihm zehn Tonnen davon zu überlassen. Den Transport finanziert der Baron Edmond James de Rothschild(1), schwerreich durch die Bankgeschäfte seines Vaters, selbst mehr interessiert an Kunst, Wissenschaft und Pferden als an Finanzhandel.
Als im Frühjahr 1899 ein Berg Pechblende im Hof vor der Baracke angeliefert wird, hebt Marie(27) eine Handvoll des »braunen, mit Kiefernnadeln vermischten Staubs« an ihr Gesicht. Nun kann es losgehen.
Es ist buchstäblich eine Knochenarbeit: Marie(28) schleppt schwere Eimer, gießt Flüssigkeiten um, rührt mit Eisenstäben in brodelnden Tiegeln. Die Pechblende muss mit Säure, alkalischen Salzen und hunderten Hektolitern Wasser gewaschen werden. Zur Extraktion haben die Curies(29)(10) eine Technik namens »Fraktionierung« entwickelt. Sie kochen das Material immer wieder auf, lassen es abkühlen und kristallisieren. Leichte Elemente kristallisieren schneller als schwere, daher können die Curies(30)(11) auf diese Weise nach und nach Radium anreichern. Es erfordert feine Messungen und viel Geduld, aber trotz der mörderischen Schufterei sind beide glücklich. Auf ihren nächtlichen Spaziergängen vom Labor nachhause phantasieren sie gemeinsam darüber, wie reines Radium aussehen mag. Immer reiner wird ihr Radiumgemisch, immer stärker das Leuchten, das nachts aus den Glaskolben ins Labor dringt. Im Sommer 1902 sind sie endlich am Ziel und halten ein paar Zehntelgramm Radium in den Händen. Marie(31) bestimmt das Atomgewicht des Elements und gibt ihm die Nummer 88 des Periodensystems.
Nur eine ist unglücklich: Irène(1), ihre Tochter, die zwei Jahre, bevor die Curies(32)(12) ihren Arbeitsplatz im Schuppen einrichteten, zur Welt kam. Sie bekommt Mama und Papa kaum zu Gesicht, kommen die Eltern einmal nachhause, sind sie erschöpft. Opa Eugène(1) kümmert sich um Irène, die alle Merkmale einer Tochter mit Bindungsangst zeigt. Wenn Mama Marie(33) den Raum verlässt, klammert sie sich an ihren Rock und weint. Eines Tages fragt sie ihren Opa, warum Mama so selten da ist. Opa nimmt sie an die Hand und führt sie in die Laborbaracke. Irène ist entsetzt über »diesen traurigen, traurigen Ort«. Wieder eine Tochter, die ihre Mutter vermisst. Drei Jahrzehnte später wird Irène Joliot-Curie(2) den Nobelpreis erhalten, als zweite Frau nach ihrer Mutter, für ihre Forschung zur Radioaktivität. Auch ihre Tochter Hélène(1) wird Kernphysikerin.
An jenem Juniabend im Boulevard Kellermann(2) ahnt Marie(34) Curie noch nichts von dem Unglück, das über ihrer Familie heraufzieht. Für die Feier hat sie sich extra ein neues Kleid nähen lassen, aus schwarzem Tuch, darauf sieht man die Flecken aus dem Labor nicht so deutlich. Und nicht die sich wölbende Rundung ihres Bauches. Marie ist im dritten Monat schwanger. Ein paar Wochen später unternimmt sie mit Pierre(13) eine Fahrradtour. Sie lieben es, übers Land zu rollen, haben auch ihre Hochzeitsreise mit dem Rad gemacht. Doch nun ist Marie(35) im fünften Monat, und ihr Körper verträgt die Stöße des Fahrrads auf den holprigen Schotterstraßen nicht mehr. Sie erleidet eine Fehlgeburt. Auf der Flucht vor der Trauer stürzt sie sich in die Arbeit, immer tiefer, bis sie erneut zusammenbricht. So kann sie nicht nach Stockholm(1) zur Verleihung des Nobelpreises reisen, der ihr und Pierre(14) gemeinsam mit Henri Becquerel(5) für die Entdeckung der Radioaktivität zugesprochen wurde, und die Bühne in Stockholm gehört ganz dem eitlen Becquerel. Er betritt sie in einem grünen, goldbestickten Brokatrock, Orden auf der Brust und Säbel an der Seite(6).
Als Marie(36) an jenem Sommerabend ihrer Promotionsfeier Arm in Arm mit Pierre(15) durch die Salontür(3) hinaus in die Sommernacht tritt, heben die Gäste die Gläser auf sie. Das Paar geht ein paar Schritte aus dem Licht, für einen Augenblick nur zu zweit. Unter dem Sternenhimmel greift Pierre in seine Westentasche und zieht eine Glasphiole mit Radiumbromid hervor. Der Schimmer erleuchtet ihre Gesichter, selig und gerötet vom Alkohol, und die Haut an Pierres(16) Finger, die verbrannt und von Rissen durchzogen ist. Es sind Vorboten der Strahlenkrankheit, an der Marie(37) einst sterben wird, und eine erste Ahnung der Wucht der Erkenntnis, der sie auf der Spur sind.
Berlin(1) 1900
Der 7. Oktober 1900 ist ein Sonntag, und er verspricht, ein langweiliger zu werden. Das Ehepaar Max und Marie (1)Planck(1) hat in seiner großbürgerlichen Berliner(2) Wohnung im Grunewald zum Nachmittagstee das Ehepaar Heinrich und Marie(1) Rubens(1) aus der Nachbarschaft zu Gast. Rubens(2) ist Ordinarius für Experimentalphysik an der Universität Berlin, Planck(2) Ordinarius für Theoretische Physik. Zum Verdruss der Frauen können es die Männer nicht lassen, über ihre Arbeit zu sprechen. Rubens(3) erzählt von seinen neuesten Messungen im Labor der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, davon, dass die von ihm und seinen Kollegen aufgezeichneten Kurven allen bisher erwogenen Formeln widersprechen. Es geht um Wellenlänge, Energiedichte, Linearität und Proportionalität. In Plancks(3) Kopf beginnen sich die Puzzleteile, die er seit Jahren gedanklich hin und her schiebt, zu einem neuen Muster zu verbinden. Am Abend, nachdem die Gäste längst gegangen sind, setzt er sich an seinen Schreibtisch und bringt zu Papier, was sich in seinem Kopf zusammengefügt hat: die Strahlungsformel, die allen Messdaten akkurat entspricht. Die Formel, die Planck(4) und viele andere seit Jahren suchen. Gegen Mitternacht erwacht Marie(2) Planck(5) davon, dass ihr Mann die Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven(1) auf dem Klavier spielt. Es ist seine Art, seiner Freude Ausdruck zu verleihen. Noch in der Nacht schreibt er seine Formel auf eine Postkarte, die er an Rubens(4) schickt.
»Ich habe eine Entdeckung gemacht, die ebenso wichtig ist wie die Newtons(1)«, verkündet Max Planck(6), 42, seinem siebenjährigen Sohn Erwin(1) bei einem Morgenspaziergang durch den Grunewald. Er übertreibt nicht.
Planck(7) ist kein geborener Revolutionär. Eher das Inbild des preußischen(2) Beamten, stets korrekt gekleidet in einen dunklen Anzug, ein gestärktes Hemd mit steifem Kragen, um den eine schwarze Fliege gebunden ist, auf der Nase ein Zwicker gegen die Kurzsichtigkeit. Über durchdringenden Augen wölbt sich die hohe Kuppel seiner Glatze, unter der die Vorsicht regiert. Er schreibt sich selbst eine »friedfertige Natur« zu. »Meine Maxime ist immer«, vertraut er einem Studenten an, »jeden Schritt vorher zu überlegen, dann aber, wenn man ihn verantworten zu können glaubt, sich nichts gefallen zu lassen.« Seine Art des Umgangs mit neuen Ideen ist, sie in sein zutiefst konservatives Weltbild zu fügen. »Unvorstellbar, dass es dieser Mann ist, der die Revolution anzettelt«, sagt ein Student über Planck(8). Nicht nur er sollte eines Besseren belehrt werden.
Max Karl Ernst Ludwig Planck(9) wird im Jahr 1858 in Kiel(1) geboren, das damals zum Königreich Dänemark(1) gehörte. Eine lange Gelehrtentradition durchzieht seine Familie. Der Großvater und Urgroßvater väterlicherseits waren angesehene Theologen, sein Onkel Gottlieb Planck(1) schreibt am Bürgerlichen Gesetzbuch mit, sein Vater Johann Julius Wilhelm Planck(1), ebenfalls Jurist, wird im Jahr 1870 vom bayerischen(1) König Ludwig II.(1) mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet und darf sich fortan »Ritter von Planck(2)« nennen. Allesamt pflichtbewusste Patrioten mit Ehrfurcht vor dem göttlichen und weltlichen Gesetz. Zu einem ebensolchen wächst auch Max heran.
Als Max Planck(10) gerade neun Jahre alt geworden ist, zieht die Familie nach München(1), in eine große Wohnung in der Briennerstraße(1) 33. Der Vater übernimmt den Lehrstuhl für Zivilprozessrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität, Sohn Max geht in die Sexta des Maximiliansgymnasiums (kurz »Max«), das gerade in das neue Damenstiftgebäude in der Ludwigstraße 14 gezogen ist.
Er ist nicht der beste der 65 Schüler seiner Klasse, aber ein disziplinierter. In »sittlichem Betragen« und »Fleiß« bringt er nur Einser nachhause, außerdem besitzt er jene Qualitäten, auf die es im preußischen(3) Schulsystem ankommt, das auf die Verarbeitung großer Stoffmengen durch Auswendiglernen ausgerichtet ist. Ein Schulzeugnis spricht Max gute Chancen zu, »etwas Rechtes« zu werden. Er sei »der Liebling seiner Lehrer und seiner Mitschüler und bei aller Kindlichkeit ein sehr klarer, logischer Kopf«. Es sind nicht die Bierlokale Münchens, die den jugendlichen Planck(11) anziehen, sondern die Opernhäuser und Konzertsäle. Überaus musikalisch entwickelt er bereits als Kind ein absolutes Gehör, spielt Geige und Klavier, singt im Kirchenchor, in dem er als Solist mit seiner Sopranstimme auch Frauenrollen übernimmt. Im Sonntagsgottesdienst sitzt er an der Orgel, außerdem komponiert er Lieder, sogar eine Operette, Die Liebe im Walde, die auf einem Fest des Akademischen Gesangvereins aufgeführt wird.
Nach dem Abitur, das er(12) mit 16 Jahren souverän besteht, erwägt er, Konzertpianist zu werden. Doch als er einen Professor nach den Aussichten eines Musikstudiums fragt, erhält er die barsche Antwort: »Wenn Sie schon fragen, studieren Sie etwas anderes!« Dann doch lieber Altphilologe? Max ist unschlüssig. Der Vater schickt ihn zum Ordinarius für Physik, Philipp von Jolly(1), der alles daransetzt, dem Abiturienten das Physikstudium auszureden. Er schildert ihm den Zustand der Physik »als eine hochentwickelte, nahezu voll ausgereifte Wissenschaft, die nunmehr, nachdem ihr durch die Entdeckung des Prinzips von der Erhaltung der Energie gewissermaßen die Krone aufgesetzt sei, wohl bald ihre endgültige stabile Form angenommen haben würde. Wohl gäbe es vielleicht in einem oder dem anderen Winkel noch ein Stäubchen oder Bläschen zu prüfen oder einzuordnen, aber das System als Ganzes stehe ziemlich gesichert da, und die theoretische Physik nähere sich merklich demjenigen Grade der Vollendung, wie sie die Geometrie schon seit Jahrhunderten besitze«.
Mit dieser Haltung steht Jolly(2) nicht allein. Bis zum Anbruch des 20. Jahrhunderts sind die Physiker zuversichtlich, ihre Disziplin bald zur Vollendung bringen zu können. »Die bedeutenderen Grundgesetze und Tatsachen der Physik sind alle entdeckt«, erklärt der amerikanische Physiker Albert Michelson(1) im Jahr 1899, »und sie sind nun so fest gesichert, dass die Möglichkeit, sie könnten durch neue Entdeckungen überholt werden, äußerst fern liegt. Unsere künftigen Entdeckungen werden in der sechsten Dezimalstelle zu finden sein.«
James Clerk Maxwell(1), der Erfinder der klassischen Elektrodynamik, warnte schon im Jahr 1871 vor solcher Selbstzufriedenheit: »Diese Eigenart moderner Experimente – dass sie hauptsächlich in Messungen bestehen – ist so markant, dass sich offenbar die Meinung verbreitet hat, in wenigen Jahren wären alle wichtigen physikalischen Konstanten ungefähr geschätzt, und den Männern der Wissenschaft bliebe nur noch die Beschäftigung, diese Messungen eine Dezimalstelle weiter zu führen.« Maxwell betonte, dass der wahre Lohn für die »Mühe der sorgfältigen Messung« nicht größere Genauigkeit sei, sondern »die Entdeckung neuer Forschungsgebiete« und »die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Ideen«. Es sollte genau so kommen, wie Maxwell(2) es prophezeit hatte.
Jolly(3) ahnt nicht, dass es dieser historische Irrtum ist, der ihm einen bescheidenen Platz in der Physikgeschichte verschaffen wird, und auch nicht, dass mit dem 16-jährigen Planck(13) jener Mensch vor ihm sitzt, der seinen Irrtum aufdecken wird. Auch Planck(14) ahnt nichts davon. Ein paar Stellen hinter dem Komma weiter messen und rechnen, das klingt in Plancks(15) Ohren doch gar nicht so schlecht. Jedenfalls immer noch aussichtsreicher als die Antwort des Musikprofessors. Zum Wintersemester 1874/75 schreibt er sich in Mathematik und Naturwissenschaften ein.
An der Universität München(2) erlebt Planck(16) die Langeweile, die Philipp von Jolly(4) ihm angekündigt hat. Zu Jollys Forschungsprojekten zählen die bis dahin genaueste Bestimmung des spezifischen Gewichts flüssigen Ammoniaks mit einer selbstgebauten Federwaage und die Überprüfung (2)des Newtonschen Gravitationsgesetzes mit einer Bleikugel eines Gewichts von 5775,2 Kilogramm und eines Durchmessers von fast einem Meter – alles andere als revolutionär.
Drei Jahre lang hält es Planck(17) an der Münchner Physikalischen Fakultät aus, dann wird es ihm dort zu langweilig, und er wechselt nach Berlin(3), die Hochburg der Physik, wo die Koryphäen Gustav Kirchhoff(1) und Hermann von Helmholtz(1) lehren.
Nach dem Sieg über Frankreich(4) im Krieg von 1870/71 und dem Entstehen eines vereinten Deutschlands(1) ist Berlin(4) die Hauptstadt einer neuen, mächtigen Nation in Europa(2) geworden. Noch sind es die Franzosen, die Reparationen bezahlen, die es ermöglichen sollen, am Zusammenfluss von Havel und Spree eine Metropole entstehen zu lassen, die es mit Paris(7) und London(1) aufnehmen kann. Von 1871 bis 1900 wächst die Bevölkerung von 865 000 auf über zwei Millionen Einwohner, womit Berlin zur drittgrößten Stadt Europas(3) wird. Viele Zuwanderer kommen aus dem Osten, es sind vor allem Juden auf der Flucht vor den Pogromen des zaristischen Russlands(2).
Mit dem Ehrgeiz, Berlin(5) zur europäischen(4) Metropole zu formen, entstand auch der Wunsch, die Berliner(6) Universität zur besten des Kontinents zu machen. Hermann von Helmholtz(2), der angesehenste Physiker des Landes, wird aus Heidelberg(1) geholt. Helmholtz ist ein Universalgelehrter alten Stils, ausgebildeter Chirurg und gefeierter Physiologe. Dank seiner Erfindung des Augenspiegels hat er das Verständnis der Funktion des menschlichen Sehorgans weit vorangebracht.
Wenige andere Wissenschaftler dieser Zeit hatten einen so weiten Horizont wie Helmholtz(3). Der 50-jährige Gelehrte wusste, was er wert war. Er handelte ein Gehalt aus, das um ein Vielfaches über dem Üblichen lag, und bekam ein eigenes prächtiges neues Physik-Institut, das noch im Bau war, als Planck(18) 1877 in Berlin(7) eintraf und im Hauptgebäude der Universität, einem früheren Palast Unter den Linden, gegenüber der Oper, erste Vorlesungen hörte. Es war für Planck(19), als träte er aus einer engen Kammer hinaus in eine weite Halle.
Doch auch in einer Halle kann es langweilig zugehen. Kirchhoff(2) liest seine Vorlesungen aus einem Kollegheft ab, Planck(20) findet sie »trocken und eintönig«, Helmholtz(4) ist schlecht vorbereitet, trägt stockend vor und verrechnet sich immer wieder. Planck(21), in dem immer noch der strebsame Oberschüler steckt, verlegt sich aufs Selbststudium und liest die Schriften von Rudolf Clausius(1) über Wärmelehre und Entropie, das neue physikalische Maß für Unordnung – ein erster Schritt zur Revolution.
Mit 20 besteht Planck(22) das Examen in Physik und Mathematik. Ein Jahr später gibt er seine Dissertation Über den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie ab. Ein weiteres Jahr später seine Habilitationsschrift über Gleichgewichtszustände isotroper Körper in verschiedenen Temperaturen. Er besteht die Prüfungen »summa cum laude« und »in hohem Maße befriedigend«. Eine musterhafte Hochschulkarriere bahnt sich an.
Planck(23) wird Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und wohnt wieder bei seinen Eltern, wo er »das denkbar schönste und behaglichste Leben« führt. Damit ist Schluss, als er eine Professorenstelle in Kiel(2) erhält. Das Jahresgehalt von 2000 Mark reicht gerade aus, um eine eigene Familie zu gründen, jetzt fehlt ihm nur noch eine passende Frau. Planck(24) heiratet die Schwester eines Schulfreunds, Marie(3) Merck, die aus einer reichen Bankiersfamilie stammt. Das Paar bekommt binnen zwei Jahren drei Kinder.
Gerade als Max Planck(25) dabei ist, sich als »Familienmensch« einzurichten, wird es wieder ernst. In Berlin(8) stirbt der seit langem kränkelnde Gustav Kirchhoff(3), und der Lehrstuhl für Mathematische Physik an der Friedrich-Wilhelms-Universität wird frei. Die Berufungskommission sucht einen Kandidaten »von gesicherter wissenschaftlicher Autorität im kräftigen Mannesalter«. Ludwig Boltzmann(1), der Erfinder der statistischen Mechanik, und Heinrich Hertz(1), der Entdecker der elektromagnetischen Wellen, sagen ab. Max Planck(26) ist die dritte Wahl. Aber ist er, gerade mal 30 Jahre alt, denn schon reif genug für einen der bedeutendsten Lehrstühle des Landes? Manche in den Gremien der Berliner(9) Physiker, in denen das Durchschnittsalter oft um die 60 liegt, bezweifeln es. Nach Fürsprache seines anderen früheren Lehrers Hermann von Helmholtz(5) wird Planck(27) zwar eingestellt, aber zunächst nur als außerordentlicher Professor.
Planck(28) muss sich also bewähren. Er sitzt nun auf dem Stuhl seines Lehrers, an der Seite seines anderen Lehrers Hermann von Helmholtz(6), und macht sich an die Aufgabe, die Kirchhoff(4) unerledigt zurückließ: das Schwarzkörper-Problem.
Töpfer und Schmiede wissen seit Jahrhunderten, dass alle erhitzten Gegenstände, egal welchen Materials, in einer Folge charakteristischer Farben glühen, wenn ihre Temperatur steigt. Wenn man ein Schüreisen ins Feuer hält, glüht es zuerst in schwachem Dunkelrot, das in ein helleres Kirschrot übergeht, wenn das Eisen heißer wird, dann ins Gelbe wechselt, das dann mit steigender Hitze immer weißer und heller wird, bis es allmählich mit einem Blaustich anläuft. Diese charakteristische Farbenfolge bleibt immer gleich, im Himmel wie auf Erden, vom Rot glimmender Kohle über das Gelb der Sonne bis zum Blauweiß geschmolzenen Stahls.
Experimentalphysiker haben die Spektren der emittierten Strahlung wieder und wieder vermessen. Mit verbesserten Thermometern und Photoplatten haben sie entdeckt, dass die Farbpalette jenseits des Sichtbaren weitergeht, am kühleren Ende ins Infrarote, am heißeren Ende ins Ultraviolette. Nachkommastelle um Nachkommastelle arbeiteten sie sich voran.
Gesucht war eine Formel, die den Zusammenhang von Temperatur und Farbspektrum richtig beschreiben sollte: Das ist das Schwarzkörper-Problem. Es heißt so, weil es um Körper geht, die alle einfallende Strahlung verschlucken. Im Jahr 1859 formuliert der Physiker Gustav Kirchhoff(5), damals Professor in Heidelberg(2) und eine Autorität für die Spektralanalyse von Mineralwasser, das Schwarzkörper-Problem wissenschaftlich. Doch er und andere Theoretiker scheitern immer wieder daran, die Schwarzkörper-Formel zu finden. Wilhelm Wien(1) entdeckt eine Formel, die den hochfrequenten Teil der Spektren einigermaßen gut wiedergibt, James Jeans(1) entwickelt eine Formel für große Wellenlängen. Aber beide Formeln versagen am jeweils anderen Ende des Spektrums.
Es ist nicht das einzige Problem, das die Physiker bewegt. Gerade sind die Röntgenstrahlen(4), die Radioaktivität und die Elektronen entdeckt worden, es tobt der Streit um die Existenz der Atome. Im Vergleich dazu scheint das Schwarzkörper-Problem eine Lappalie zu sein, aber gerade deshalb lässt es die Koryphäen nicht zur Ruhe kommen.
Es geht hier nicht um bloßen Denksport, vielmehr um eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung. Im erst 1871 proklamierten deutschen Kaiserreich erhofft man sich von der Lösung des Schwarzkörper-Problems einen Wettbewerbsvorteil für die heimische Beleuchtungsindustrie gegenüber der Konkurrenz aus Großbritannien(1) und den USA. Ein Glühfaden ist physikalisch gesehen nichts anderes als ein glühendes Schüreisen. Im Januar 1880 hat Thomas Edison(1) sein Patent auf eine Glühlampe erhalten, die den damals üblichen Gaslampen überlegen war, worauf ein weltweiter Kampf um die Herrschaft über den Beleuchtungsmarkt folgte. Deutsche Unternehmen versuchten, effizientere Glühlampen als ihre amerikanischen und britischen Konkurrenten zu entwickeln.
Im Wettlauf um die Führung in der Elektrotechnik lag das junge deutsche Reich gut. Werner von Siemens(1) hatte den Dynamo erfunden. Im Jahr 1887 gründet die Reichsregierung mit Siemens’ Unterstützung am Berliner(10) Stadtrand die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, mit einem Programm zur Erforschung der Schwarzkörper-Strahlung, auf dass deutsche Glühbirnen die besten der Welt würden.
Schließlich glaubt Friedrich Paschen(1), Privatdozent an der Technischen Hochschule Hannover(1), im Jahr 1896, die Schwarzkörper-Formel gefunden zu haben. Aber seine Konkurrenten an der Reichsanstalt widerlegen ihn mit verfeinerten Messmethoden. Ihr strahlungsphysikalisches Labor ist das bestausgestattete der Welt, voller Glühstrümpfe, Kupferspulen, Thermometer, Photometer, Spektrometer und Bolometer mit großen Zeigerskalen, durchzogen von schweren Kabelsträngen, in der Mitte ein isolierter Hohlzylinder, geheizt mit Gas und Flüssigkeit: der Schwarze Körper.
Als Max Planck(29) Kirchhoffs(6) Nachfolger an der Universität Berlin(11) wird, muss er zeigen, dass ihm Kirchhoffs Schuhe nicht zu groß sind. Er muss sich im akademischen Großbetrieb der Hauptstadt-Universität bewähren, hunderte Studenten betreuen, Prüfungen abnehmen, Berichte schreiben, Sitzungen absitzen. Seine Vorlesungen hält er so trocken und wenig inspirierend, wie er es von seinem Vorgänger kennt. Sie seien »bei all ihrer außerordentlichen Klarheit etwas unpersönlich, beinahe nüchtern«, beklagt eine Studentin namens Lise(1) Meitner. »Planck(30) ist auch nicht zum Totlachen«, stellt ein Student fest.
Ab 1894 widmet Planck(31) alle Zeit, die ihm zum Forschen bleibt, dem Schwarzkörper-Problem, das Kirchhoff(7) ungelöst hinterlassen musste. Ihn fasziniert, dass es sich bei der »schwarzen Hohlraumstrahlung« um »etwas Absolutes« handele, »und da das Suchen nach dem Absoluten mir stets als die schönste Forschungsaufgabe erschien, so machte ich mich mit Eifer an ihre Bearbeitung«. Er attackiert das Schwarzkörper-Problem als purer Theoretiker: mit Papier, Stift und seinem Gehirn. Doch, nachdem er in jener Sonntagnacht endlich die gesuchte Formel niederschreibt, steht er schon vor der nächsten Herausforderung: Er versteht seine eigene Entdeckung nicht. Als er zwei Wochen später, am 19. Oktober, im Freitagskolloquium der Physikalischen Gesellschaft im Magnus-Haus an der Spree nach einem Vortrag von Ferdinand Kurlbaum(1) aufsteht, hat er nicht viel mehr mitzuteilen als die Formel selbst.
Der schwierige Teil der Arbeit liegt noch vor Planck(32). Er muss die Formel, die er erraten hat, deuten und begründen. Physiker wollen nicht nur wissen, was richtig ist, sondern auch verstehen, warum es richtig ist. In den Wochen nach seiner Entdeckung bemüht sich Planck(33), die Formel, die ihm so glücklich zugefallen ist, mit physikalischen Argumenten herzuleiten. Er ist ein Physiker der alten Schule, der nichts von neumodischem Kram wie der statistischen Physik eines Ludwig Boltzmann(2) hält und der nicht an Atome glaubt. Aber mit den Begriffen seines klassischen Denkens kann er seine eigene Formel nicht verstehen. Was bedeutet diese rätselhafte Konstante namens h, die er in jener Nacht mit leichter Hand aufs Papier schrieb? Es ist eine Winzigkeit, dieses h, es beträgt nur 0,00000000000000000000000000655 (eine Ziffer mit 26 Nullen nach dem Komma). Aber es lässt sich partout nicht auf null drücken.
In einem »Akt der Verzweiflung« ringt Planck(34) sich zu der Annahme durch, dass der Schwarzkörper aus Atomen besteht. Er greift zu den statistischen Methoden Boltzmanns(3), die er eigentlich ablehnt, und kommt so zu seiner Formel, aber auch zu der merkwürdigen Folgerung, »dass die Energie von vornherein gezwungen ist, in gewissen Quanten beieinander zu bleiben«. Zuerst Atome, jetzt auch noch »Quanten«. Planck(35) hofft, dass dieser Spuk bald wieder verschwinden, seine Formel aber bleiben wird. Er hält die Quanten für »eine rein formale Annahme, und ich dachte mir eigentlich nicht viel dabei, sondern eben nur das, dass ich unter allen Umständen ein positives Resultat herbeiführen musste«. Ein bloßer Rechentrick. Nichts, was ein Weltbild aus den Fugen hebt. Noch nicht.
Am 14. Dezember 1894, um fünf Uhr nachmittags, trägt Planck(36) wieder im Freitagskolloquium vor: »Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalspektrum« lautet der Titel seines Vortrags. Die Experimentatoren Rubens(5), Lummer(1) und Pringsheim(1) sitzen vor ihm in den Holzbänken. »Meine Herren!«, begrüßt Planck(37)(6)(2)(2)h