Koans, die das Leben schreibt
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Petersen
Der Verlag dankt Barbara und Roland Wegmüller für die großzügige Unterstützung der Übersetzung des Buches.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
www.edition-steinrich.de
Titel der englischen Originalausgabe: The Book of Householder Koans:
Waking Up in the Land of Attachments
Erschienen bei: Monkfish Book Publishing Company, 22 East Market Street, Suite 304, Rhinebeck, New York 12572, (845) 876-4861
monkfishpublishing.com
© 2019 by Eve Myonen Marko and Wendy Egyoku Nakao
Textgrundlage dieses eBooks ist die gedruckte Version des gleichnamigen Titels.
Alle Rechte vorbehalten
Copyright der deutschen Ausgabe: © 2021 edition steinrich, Berlin
Übersetzung: Karin Petersen, Berlin
Lektorat: Carl Polónyi
Umschlaggestaltung: Grafikbüro Dagmar Schadenberg, Berlin
Gestaltung und Satz: Traudel Reiß
Druck: Westermann Druck Zwickau
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-942085-77-9
ISBN ebook 978-3-942085-78-6
Für unsere Chan- und Zen-Ahnen,
deren Koans uns als Erstes den Weg gewiesen haben.
Für Taizan Maezumi, der den Ozean
von Angesicht zu Angesicht überquert hat.
Für Bernie Glassman, der tief und weit eingetaucht ist.
Und für alle, die in diesem Land der Anhaftungen
hingebungsvoll in ihrem Alltag praktizieren.
Vorwort von Barbara Salaam Wegmüller
Einleitung
ZUHAUSE
Ensho: Der Kreis schließt sich
Yakushi: Die Frau, die ich liebe
Laurie: Das. Ist. Es.
Nena kümmert sich um ihren Bruder
Judith: Die ältere Schwester als Spiegel
Myogetsu: In Stille sitzen
Mary: Der Würger
Daian: Die Kletterrose
Gemmon: Schatten
Clemens: Die Scheiße bleibt
Selena: Unvoreingenommen
Herman: Weinen
Emma: Voller Liebe
Jackie macht ein Geschenk
Carlos: Ein Phantom
KINDER GROSSZIEHEN
Salaam: Es ist nie genug
Myokan: »MAMA!«
Saras Wäsche
Christine: Das Kind ruft
Myotai: Kleine Bodhisattva
Martina: Schreckliches Monster
Liz’ Blindheit
Esther: Ich, meine Tochter und fünf Männer
Walter: Keine Etiketten
Deb: Koliken
Barbara: Was ist das Beste?
Judith: Wache halten
Jinen: Daniels Zähne
ARBEIT
Andrea: Nichts
Myoki: Offenbarung
Jimmie: Frühstück
Louise sammelt Eier
James: Gekochtes Grünzeug
Daishin: Das Haus verlassen
Daikan: Namen
Inzan: Die rote Ampel
Darla Jean legt Handtücher zusammen
Roland: Rückschritt
Patricia: McTenzo findet seinen Platz
Ryudo: Gestern und heute
Dr. Ann tappt in eine Falle
Martin: Das Leid der Welt
VERLUST, KRANKHEIT, ALTER UND TOD
Robin: Unreife Früchte
Karen: Die alte Frau begegnet einem Fisch
Jitsujo: Harte Arbeit
Shunryo: Die Windeln meiner Mutter
Gregs Körper
Kanji: Ein guter Tod, ein schlechter Tod
Enju: Der unendliche schwarze Abgrund
Betsys Mutter fragt: »Was machste denn da?«
Helga sieht ihren eigenen Tod
Vivianne: Gott anklagen
DIE VIELEN TORE DER PRAXIS
Christina: Wie erbärmlich ich bin!
Jeffrey: Dr. Doktor fährt Bus
Ariel: Modernes Nirvana
Shishin: Der goldene Buddha
Myonen: Der weiße Wolf
Butsugen: Meine Zunge ist wie gelähmt
Kits neue Praxis
Kodo: Einsamer Angler
Dantikas Traum
Penelope sagt die Wahrheit
Gyokuun: Unterschiedliche Gene
Chosui: Alter Bär
Ando füttert ihren hungrigen Geist
Nomita sieht die Ahnen
Dank
Nachwort von Kathleen Hoêtsu Battke
Über die Autorinnen
Endnoten
Welch eine Freude, dass dieses wunderbare Buch, das im Original The Book of Householder Koans heißt, nun auch in deutscher Sprache zugänglich ist.
Bei einem Retreat im Januar 2014 in der Schweiz forderte uns Roshi Eve Marko auf, die Koans unseres Lebens in einem Satz zu formulieren und anschließend zu manifestieren. Wir alle waren Zen praktizierende Laien. Die meisten von uns gehörten seit vielen Jahren zur internationalen Zen-Peacemaker-Familie, einige hatten auch eine traditionelle Koan-Schulung durchlaufen; für die meisten aber war es eine neue Herausforderung, mit einem Koan zu arbeiten.
Während der Meditation horchten wir tief in uns hinein, ob uns ein Koan finden wollte. Erinnerungen kamen hoch, leuchtende Momente, aber auch schmerzhafte Episoden, an die wir uns nicht so gerne erinnerten, ebenso ungelöste Fragen, auf die wir seit vielen Jahren keine Antwort gefunden hatten.
Als wir anschließend die Koans verkörperten – dafür traten wir dann jeweils einzeln in die Mitte des Kreises – wurde deutlich, wie einzigartig jede Person in ihrer Ausstrahlung und Energie war. Sich so zeigen zu können, das setzt Vertrauen und ein sicheres Gefäß voraus. Wir hatten uns im Vorfeld verpflichtet, nichts nach außen zu tragen, was wir von den anderen gesehen und gehört hatten. Diese Regel ist uns auch in den Kreisgesprächen sehr wichtig. Nach dem Motto »Es braucht ein sicheres Gefäß, um unsichere Sachen zu machen.«
In vielen der vorgestellten Koans habe ich Themen aus meinem eigenen Leben erkannt. Beziehungen, Familie, Alter, Krankheit, Gefühle von Scham, Angst, Depression, Nicht-Wissen … all diese Bereiche wurden in den lebendigen Verkörperungen im Kreis sichtbar.
Wie wurden die Koans gelöst? Jede Person im Kreis erlebte den Menschen in der Mitte aus einer anderen Perspektive. Darum geht es auch bei der Arbeit mit Koans: Wir entwirren die Geschichte und schauen mit einem neuen, freien Blick auf sie.
Diese neue Sicht fällt uns zu, wenn die Umstände passen.
Jede Person tat ihr Bestes, um ihre innere Erfahrung zu zeigen. Da war immer eine zarte Verletzlichkeit wie ein Leuchten erkennbar. Staunend über diese intime Echtheit, kamen mir die Worte des Buddha in den Sinn, die er uns vor seinem Tod mit auf den Weg gab: »Seid euch selbst ein Licht», das heißt. nehmt das Licht eures Geistes, um euch selbst zu erkennen und entwickelt Weisheit und Mitgefühl.
Mit diesem Buch haben uns die Zen-Meisterinnen Eve Myonen Marko und Wendy Egyoku Nakao ein schönes, neues, zeitgemäßes Werkzeug angeboten, mit dessen Hilfe wir unser Leben und Wirken klarer erkennen können
Möge die Koan-Praxis uns aufwachen lassen, um das Mysterium des Lebens zu erforschen und zu feiern.
Barbara Salaam Wegmüller
www.peacemaker.ch
Die Mutter gibt Anweisungen.
Der Junge tänzelt herum und schaut dabei auf seine Schuhe.
Die Mutter wiederholt ihre Anweisungen.
Der Junge schaut in die Luft und trippelt weiter durchs Zimmer.
Die Mutter gibt ihre Anweisungen zum dritten Mal und wird dabei, frustriert wie sie ist, lauter.
Der Junge trippelt von ihr weg und sagt: »Mutter, warum bist du bloß so eine Zicke?«
Das letzte Wort erreicht die Mutter wie kein anderes. Müde und überarbeitet wie sie ist, hätte sie sehr wohl ausrasten können, als ihr Sohn sie »Zicke« nannte. Stattdessen bewirkte das Wort, dass sie innehielt. Ihre Gedanken und Gefühle, ihr Ärger und ihre Frustration kamen plötzlich zum Stillstand. Was blieb? Zicke. Also versenkte sie sich in Zicke, ihr Alltags-Koan.
Zen-Koans entstanden im 7. Jahrhundert während der Tang-Dynastie in China in Form von spontanen Dialogen zwischen Lehrern und Schülern, damals fast ausschließlich Mönche. Später, während der Song-Dynastie, wurden sie zu schriftlichen Sammlungen zusammengestellt und in eine literarische Form gebracht. Mit Hinweisen, Kommentaren, Versen und Kommentaren zu den Versen versehen, wurden Koans zum literarischen Lehrmittel, und die Koan-Literatur war fast so umfassend und ausführlich wie die Literatur zur Rechtsprechung.1
Tatsächlich bedeutet der Name Koan oder kung-an, wie es im Chinesischen heißt, »öffentlicher Aushang«, was darauf hinweist, dass man Zen-Lehrer mit Richtern verglich, die in diesem Fall definierten, was Täuschungen sind, wer ihnen unterliegt und wie man daraus erwachen kann. Damals bezog man sich auf Koans sogar ähnlich, wie wir uns heute auf juristische Präzedenzfälle oder Rechtsurteile beziehen. So konnte ein Koan zum Beispiel mit den Worten beginnen »In der Angelegenheit, welche Nahrung der Dharmakaya zu sich nimmt …«, und dabei in ähnlicher Weise an ein früheres Koan oder einen Dialog zwischen Lehrer und Schüler anknüpfen, wie man sich in heutigen Gerichtsverhandlungen auf frühere Fälle beruft, zum Beispiel: »In der Rechtsangelegenheit Roe gegen Wade« oder »Im Fall der Citizens United gegen die Federal Election Commission«.2
Weiter reichen die Parallelen jedoch nicht. Wenn wir mit Koans arbeiten, indem wir mit Hilfe unseres rationalen Verstandes oder unseres üblichen Denkens nach einer Antwort oder Lösung suchen, bringt uns das keinen Schritt weiter. Koans fordern uns auf, uns tief auf Weisen des Schauens und Antwortens einzulassen, die nichts mit Analysieren oder gedanklicher Erforschung zu tun haben, sondern viel mit Spontaneität, Verspieltheit, Geduld und – am wichtigsten – einem radikalen Annehmen des Lebens, so wie es ist.
Was macht ein Koan aus? Es ist heute ziemlich verbreitet, schwierige Situationen oder Grenzfälle mit Koans zu vergleichen. Unsere Antwort auf diese Frage lautet: Das hängt davon ab, wie du damit arbeitest. Du kannst Situationen, die dich herausfordern, durchdenken, analysieren und aufschreiben und die auf diesem Weg gefundenen Lösungen wiederholt anwenden, sodass sie schließlich zu einem neuen Dogma werden. Tatsächlich geschah genau das in chinesischen und japanischen Klöstern, nachdem die ersten Koan-Sammlungen zusammengestellt worden waren. Die einzelnen Klöster hielten an ihren jeweiligen Antworten fest, die Mönche lernten diese auswendig und Generationen von Lehrern gaben sie an Generationen von Schülern weiter.
Um diese Koan-Praxis geht es uns hier nicht.
Eine Lebenssituation wird dann zu einem Koan, wenn sie deine Denkgewohnheiten erschüttert und dich aus dem dualistischen Modus von Beobachter*in und Beobachtetem, an den wir uns so gewöhnt haben, herauskatapultiert. Sie wird dann zur Koan-Praxis, wenn du über die Situation nicht länger nachdenkst, sondern stattdessen die Kluft zwischen Subjekt und Objekt und damit zwischen dir und dem, womit du konfrontiert bist, schließt.
Statt die Umstände deines Lebens zu betrachten, tauchst du ein in dessen Klang, Geruch, Geschmack und spürst, wie es sich anfühlt. Du bleibst auch dann dabei, wenn die Versuchung groß ist, dich in die Sicherheitszone des Beobachtens und Kommentierens zu flüchten. Dabei können dich anfangs, wie auch beim Meditieren, viele Geschichten und Gefühle überfluten, doch mit der Zeit sowie mit Geduld und Beharrlichkeit zeichnet sich eine andere Form von Erkenntnis ab, die aus dem Mark der Dinge entsteht und nicht aus oberflächlichem Denken.
Was sind die grundlegenden Zutaten unseres Lebens? Veränderung, wechselseitige Abhängigkeit, Ursache und Wirkung und die fließende Natur alles Existierenden, die wir als Leerheit bezeichnen. Es handelt sich hier nicht nur um zeitlose buddhistische Prinzipien. Vielmehr beruht darauf unsere Existenz als menschliche Wesen, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Alles, was wir erleben, ist davon durchdrungen: Mein Sohn ist drogenabhängig, was soll ich tun? Ich werde immer älter, fühle mich einsam und habe Angst vor der Zukunft. Wenn wir an solche Lebensumstände als Koans herangehen, sind wir aufgefordert, unser subjektives Leben einschließlich aller Anhaftungen und Wunschvorstellungen in Einklang zu bringen mit dem Leben, so wie es ist und sich ständig weiter entfaltet. Das heißt, hier tut sich eine Lücke auf, und wenn wir uns in diese Lücke hineinbegeben, kommen wir in spürbare Berührung mit Unbeständigkeit, Karma, Nicht-Ich und der Verbundenheit allen Lebens.
Statt auf unseren Vorstellungen davon, wie die Dinge sein sollten, zu beharren, lernen wir auf der Grundlage dessen, was ist, weise zu unterscheiden. »Schließe die Kluft zwischen Selbst und dir selbst«, hat Taizan Maezumi, Begründer des Zen-Center von Los Angeles, gesagt.3 Wenn du bei dir selbst ankommst, wächst und reift deine Fähigkeit, zu lieben und mit Leid – deinem wie dem von anderen – umzugehen.
So wie wir im Zen unterschiedliche Übungswege kennen, gibt es verschiedene Wege, mit Koans zu praktizieren. Das galt auch für China und Japan. Die Entwicklung der hier verbreiteten Formen der Praxis brauchte Hunderte von Jahren, von der Veränderung durch wandernde Bettelmönche bis zum Bau erster Klöster. In deren Umfeld entstanden zahlreiche verschiedene Regeln, die das Klosterleben in allen Bereichen bestimmten. Dazu gehörten auch ein rigider, täglich viele Stunden umfassender Zeitplan für Meditation und Arbeit, der Gehorsam gegenüber älteren Schülern und Einzelbegegnungen mit dem Lehrer. Üblich für das Koan-Studium war ein tägliches Einzelgespräch mit ihm, gelegentlich auch bis zu viermal am Tag.
Wie sieht unser Übungsweg im Westen aus? Es ist ein Irrtum zu glauben, dass nicht auch wir heute, so wie die damals in China und Japan Praktizierenden, viel Zeit brauchen und noch brauchen werden, um ein Übungssystem zu entwickeln. Tatsächlich stehen wir erst am Anfang der Entfaltung unseres Weges. Trotzdem zeichnet sich schon jetzt einiges deutlich ab.
Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die ernsthaft Zen praktizieren, übt zu Hause und nicht in Klöstern. Das heißt, die meisten Zen-Priester*innen und Zen-Lehrer*innen (Priester wie Laien) erfüllen ihre Aufgaben als Lehrende und für den Tempeldienst, während sie zugleich Familie haben, in Partnerschaften oder auch allein leben und vielfach einem Beruf nachgehen. Sie führen ein reiches, erfülltes Leben mit vielen Verpflichtungen und müssen im Beruf und in ihren sozialen Beziehungen oft vielen verschiedenen Anforderungen gerecht werden. Meistens leben und arbeiten sie nicht mit anderen Praktizierenden zusammen und sind froh, wenn sie es einmal in der Woche ins Zendo schaffen. Welches Übungssystem wäre hier geeignet? An welchen Koans beißen diese Menschen sich die Zähne aus?
Die klassischen Zen-Koans sind aus dem Klosterleben hervorgegangen: aus der Arbeit im Garten, in der Küche und auf dem Feld, dem Putzen des Klosters, Meditations-Retreats und Einzelgesprächen mit dem Lehrer. Manche entstanden auch durch den Austausch unter den Mönchen oder mit Meistern, die sich als Einsiedler in die Berge zurückgezogen hatten.
Die in diesem Buch von uns vorgestellten Koans stammen von Menschen aus vier verschiedenen Ländern, die zu Hause praktizieren. Hier geht es um Liebe, Familie (vor allem Kindergroßziehen), Beziehungen zu Freund*innen und Nachbar*innen, Hetze und Hektik bei der Arbeit, die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, die Versorgung der Alten und Kranken und die Vorbereitung auf den Tod.
Die von uns verfassten Kommentare zeigen, wie du mit entsprechenden Situationen als Koan arbeiten kannst. Wir heben für jedes Koan den wichtigen Punkt (oder die Punkte) hervor, der in ihm angesprochen wird, und legen dabei mehrere Dinge zugrunde, vor allem die Frage, was uns an der jeweiligen Geschichte hat wach werden lassen. Manchmal zeichnen sich diese Aspekte klar ab, manchmal scheinen sie im Verborgenen zu liegen, verleugnet oder ignoriert zu werden. Wenn wir den wichtigsten Punkt oder die wichtigsten Punkte eines Koans herausgefunden haben, lassen wir den persönlichen Kontext der Person, die es beigesteuert hat, beiseite und machen die Geschichte zu unserer eigenen. Im Weiteren gehen wir vor wie mit klassischen Koans: Wir versenken uns in die verschiedenen Aspekte, ringen damit und werden selbst zu dem Koan. Je mehr wir uns für bestimmte Facetten eines Koans öffnen, desto besser können wir uns damit in unserem Alltagsleben anfreunden, und das gilt auch für die Koans, mit denen wir anfangs glaubten, gar nichts anfangen zu können. So wird das Koan zu einem Tor, dessen Durchschreiten uns wach macht für die reiche Fülle menschlicher Erfahrungen.
Wahrscheinlich würde sich eine andere Person anderen Elementen der Geschichte zuwenden, um damit zu ringen. Ein Koan gleicht einem Zimmer im Haus: Wie du damit arbeitest, hängt davon ab, wo in diesem Zimmer du stehst. Es kann durchaus sein, dass du das Zimmer als solches wie auch das ganze Haus, das Grundstück, auf dem es steht, und die weitere Umgebung völlig in Frage stellst.
Wie können Menschen, die zu Hause praktizieren, die froh sind, wenn sie einmal in der Woche ihre Lehrerin, ihren Lehrer sehen und hin und wieder ein Retreat machen können, mit diesen Koans arbeiten? Wie wandelst du heutige alltägliche Situationen in eine Koan-Praxis um – sei es, dass dich ein Kleinkind mit seinen Koliken Tag und Nacht auf Trab hält, der Nachbar über dir homophob ist, ein Kind auf tragische Weise umgekommen ist oder dir gekündigt worden ist? Gibt es einen festen Bezugspunkt, zu dem wir von Zeit zu Zeit zurückkehren können? Können wir über das, was wir bereits wissen, hinausgehen? Können wir dem Leben, das uns gegeben ist, vertrauen und es bedingungslos annehmen, ohne irgendetwas falsch oder richtig, gerecht oder ungerecht zu nennen? Können wir jeden Augenblick einer Situation, der wir uns zuwenden, in seiner Einzigartigkeit ergründen als Segen, den wir schließlich sogar zu schätzen wissen?
»Verwirkliche dein Leben als Koan«, hat Taizan Maezumi gesagt.
Worauf wartest du noch? Spring!
Eve Myonen Marko
Wendy Egyoku Nakao
Mutter, Mutter, wo bist du?
Mein ganzes Leben sehne ich mich nach dir.
Wie kann ich mich jemals vollständig fühlen?
Bitte, bitte, sag mir, was ich tun soll.
Enshos Mutter starb, als er keine zwei Jahre alt war. Dieser Verlust prägte sein ganzes Leben – als scharfer Schmerz der Sehnsucht nach der Mutter, die er nie wirklich kennengelernt hatte. Siebzig Jahre nach dem Tod der Mutter bekam die Familie eines Tages ihre Asche zurück. Ensho hielt die Asche in den Händen und verstreute sie dann behutsam auf dem Boden. Jetzt kenne ich dich! Dann ließ er seinen Körper in tiefer Verneigung auf die Erde sinken, dreimal.
Warum verbeugte sich Ensho?
Während seines Heranwachsens spürte Ensho tief in seinem Inneren, dass ihm etwas Kostbares und Grundlegendes fehlte. Sein Leben lang hatte er die Mutter, die er niemals kennengelernt hatte, schmerzlich vermisst. Er versuchte vieles, um diesen Schmerz zu heilen: Er meditierte, doch dabei begann er am ganzen Körper zu zittern. Er machte ohne nennenswerte Ergebnisse diverse Therapien und experimentierte auch mit alternativen Körpertherapien, was ihm jedoch nur vorübergehend Erleichterung brachte. Als er tief in einer spirituellen Krise steckte, begegnete er eines Tages seinem Zen-Lehrer.
Den Namen EnSho erhielt er, als er formal Zuflucht zum buddhistischen Weg nahm. Mit diesem Namen, der Kreis der Vollkommenheit bedeutet, wies der Lehrer ihn auf die spirituelle Wahrheit hin, dass Ensho selbst ein Kreis der Vollkommenheit war, der alles enthielt, was sein Leben ausmachte, auch den Tod seiner Mutter und das damit verbundene Leid. Wie lebt ein Mensch diese Vollkommenheit, wenn er ein unbewältigtes Leid verspürt?
Spirituelle Lehrerinnen und Lehrer sagen uns, wir seien so, wie wir sind, vollständig und ganz. Und doch scheint etwas zu fehlen – und der Schmerz, dass da etwas fehlt, kann zum starken Antrieb für die spirituelle Suche nach Vollkommenheit werden.
Was heißt es, ein Kreis der Vollkommenheit zu sein? Zen-Meister*innen lieben es, Kreise der Vollkommenheit zu zeichnen, die auf eine grundlegende Wahrheit hinweisen: Das Leben als solches ist leer. Geburt und Tod sind ein solcher Kreis – nicht im Sinne eines Vakuums, sondern sie sind ohne jeden festen Bezugspunkt in der großen Runde des Lebens. Die grundlegende Natur des Lebens ist fließend und trotzdem ist alles, wie es ist, und kann nicht anders sein. Kannst du das akzeptieren?
Zen-Meister Dogen sagt, Leben und Tod seien das Leben des Buddha.4 Sämtliche Aktivitäten und Umstände unseres Lebens – wie schmerzlich sie auch sein mögen – sind das Leben des Buddha. Es schmerzt, wenn wir die Dinge anders haben wollen, als sie sind, und auch dieser Schmerz ist ein Kreis der Vollkommenheit. Kannst du aufhören, die Dinge anders haben zu wollen, als sie sind, und alles so sein lassen, wie es ist?
Eines Tages kam, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, mit der unerwarteten Rückkehr der Asche seiner Mutter die Vergangenheit zu Ensho zurück – siebzig Jahre nach ihrem Tod. Der Kreis der Vollkommenheit schlägt mysteriöse Wege ein. Doch vielleicht kommt uns das auch nur so vor, weil wir nicht sehen können, wie vielschichtig und zeitlos er wirkt. Zen-Meister Unmon hat gesagt: »Die ganze Welt ist Medizin.«
So kehrte die Mutter auf geheimnisvolle Weise zu Ensho zurück, und ihr Sohn kehrte zu ihr zurück, wenn auch nicht in der Form, wie wir es erwarten und uns vorstellen würden. Die Resonanz, die Ensho in diesem Augenblick verspürte, erfasste sein ganzes Wesen: Jetzt kenne ich dich! Sag mir, was hat Ensho erkannt? Er fand einen wunderschönen Ort im Wald, wo er das Häufchen Asche eine Weile in den Händen hielt und dann behutsam verstreute. Er ließ sich auf den Boden nieder, erst auf die Knie, dann auf die Ellenbögen, bis seine Stirn die warme Erde berührte. So verbeugte er sich dreimal.
Als sein Lehrer das später erfuhr, sagte er: »Ich verbeuge mich neunmal.«
Unmon hat gesagt: »Die ganze Welt ist Medizin.« Wie verstehst du das? Wie wirst du es nutzen?
Im Diamant-Sutra heißt es:
»Alle zusammengesetzten Dinge sind wie ein Traum,
ein Phantom, ein Tautropfen, ein Blitz.
So meditiert man über sie,
so betrachtet man sie.«5
Oh je! Wen lieben wir dann?
Yakushi ist seit vielen Jahren mit derselben Frau verheiratet. Sie teilen vieles: eine große Familie, ein Zuhause, einen Meditationsraum und eine Meditationspraxis. Außerdem helfen sie Geflüchteten, die sich in der Stadt, in der sie leben, niedergelassen haben. Yakushi war bewusst, dass viele Menschen ihn um seine Ehe beneideten. Trotzdem lautet das Koan, mit dem er seit vielen Jahren arbeitet: Warum hasse ich die Frau, die ich liebe?
Ist es nicht erstaunlich, wie eng Liebe und Hass miteinander verbunden sind? Es fühlt sich so an, als verliefe zwischen beiden nur eine haarfeine Trennungslinie. Wie sonst sollen wir uns erklären, dass wir einen Menschen den einen Tag innig lieben und dieselbe Person am nächsten Tag und manchmal schon eine Stunde später hassen?
Ganz gleich, wie liebevoll wir miteinander umgehen, ganz gleich, wie stark die Anziehung zwischen uns ist, unsere Beziehung braucht einen Garten jenseits von richtig und falsch, von ich liebe dich / ich hasse dich, das ist großartig / das ist schrecklich. Es geht hier nicht um Gegensätze, sondern um Offenheit und Neugier, sodass wir nicht nur den Raum zwischen uns spüren, sondern den Raum, der wir sind.
Heute Nacht auf dem Berg
begegnen sich der Vollmond
und die volle Sonne –
genau das könnte der Augenblick sein,
in dem wir zerbrechen
oder ganz werden.6
Ganz werden ist gut. Zerbrechen mag auch gut sein. Wenn wir zerbrechen, wirkt sich das auch auf die mentalen und emotionalen Konstrukte aus, die bestimmen, wie wir die Welt erleben. Ist dir schon einmal aufgefallen, wie oft du, wenn du jemanden ansiehst, nach etwas Bestimmtem Ausschau hältst? Wie beim Blick aus dem Fenster, um zu sehen, wie das Wetter ist. Vielleicht prüfst du den Himmel, die Wolken und das Licht. Oder dir fällt plötzlich etwas ganz anderes ein, doch wenn du nach etwas Bestimmtem Ausschau hältst, entgeht dir fast alles andere.
Wenn wir also sagen, dass wir einen geliebten Menschen anschauen, sehen wir dann tatsächlich diese Person, oder sind wir auf etwas anderes aus wie Zuwendung, Liebe oder Anerkennung? Schenkt er mir wirklich seine Aufmerksamkeit? Hört sie mir wirklich zu oder ist sie in Gedanken ganz woanders? Ist das wirklich die Frau, die ich liebe? Wenn wir finden, wonach wir Ausschau halten, lieben wir unseren Mann oder unsere Frau dann? Und hassen wir diese Person, wenn wir nicht finden, was wir bei ihr suchen? Wann hast du deinen Partner zuletzt völlig ohne Erwartungen angeschaut und dich ganz auf ihn eingelassen, so wie er ist, statt insgeheim danach zu suchen, was du zu brauchen glaubst?
Ob wir nun seit einer Woche oder 50 Jahren zusammenleben, wir brauchen diesen Raum der Neugier und Offenheit, wo wir die Person, die uns gegenübersitzt, anschauen und uns zum tausendsten Mal fragen: Wer bist du eigentlich?
Und dann warte einfach. Versuch nicht, sofort neue Bezeichnungen oder Etiketten für dein Gegenüber zu finden. Kannst du dieser Person deine Aufmerksamkeit schenken, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, entspannt und kritiklos, voller Offenheit und Neugier? Kannst du zulassen, dass du gesehen wirst, statt dass du den geliebten Menschen siehst?
Im Johannesevangelium sagt Jesus: »Und wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat.«7
Was für ein Sehen ist das?
Wenn du den Menschen anschaust, den du liebst, wonach schaust du dann wirklich? Was geschieht, wenn du es findest oder nicht findest? Was geschieht, wenn du endlich aufhörst, nach Schätzen zu suchen?
Wenn dich spitze Dornen stechen, geh einfach weiter.
Wenn du rücksichtslos herumgeschubst wirst, geh einfach weiter.
Wenn deine Partnerin dich nicht versteht, geh einfach weiter.
Wenn du an eine Kreuzung kommst, beschreite sie!
Laurie und Cathy waren beide Rentnerinnen. Cathy machte keinen Hehl aus ihrem Ärger darüber, dass Laurie so viel Zeit im Zen-Zentrum verbrachte. Jedes Mal, wenn Laurie das Haus verließ, brummelte Cathy in ihrer Sofaecke: »Jetzt geht sie da schon wieder hin.«
Eines Freitagabends kam Laurie, beladen mit ihrem Reisegepäck, zur Haustür herein. Cathy, die wieder auf dem Sofa saß, fragte: »Na, Laurie, hast du den Sinn des Lebens endlich gefunden?«
Ohne zu zögern antwortete Laurie: »Ja, Cathy: Das. Ist. Es!«
Cathy schwieg.
Der Weg des Zen ist tatsächlich mysteriös und die Praxis noch mysteriöser, vor allem für Menschen, die keinerlei Neigung verspüren, ihn zu gehen. Hast du jemals vergeblich versucht, jemandem zu erklären, warum du Zen oder eine andere Form von Meditation praktizierst, und hattest dabei das Gefühl, noch selbstbezogener zu wirken als sonst? Für deine Partnerin oder deinen Partner kann es eine große Herausforderung sein, wenn sie oder er mitbekommt, dass dein Herz auf der Suche ist. Und das bleibt wahrscheinlich auch so, bis deine Praxis Wurzeln schlägt und du eine bessere Partnerin wirst.
Ein berühmtes Koan erzählt von einer alten Frau, die am Weg zum Berg Wutai, dem Sitz des Bodhisattva Manjushri, welcher die höchste Weisheit verkörpert, Tee verkaufte. Immer wenn ein Mönch an ihrem Stand Halt machte, um Tee zu trinken, fragte er die alte Frau: »Welches ist der Weg zum Berg Wutai?«, und sie antwortete jedem: »Geh einfach immer geradeaus.« Wenn der Mönch nur wenige Schritte entfernt war, gab sie so laut, dass er es hören konnte, ihren Kommentar ab: »Ein feiner junger Mönch ist das, aber auch er schlägt wieder diesen Weg ein.«8
Wer ist »die alte Frau« in deinem Leben? Lassen wir einmal beiseite, ob du diese alte Frau für erleuchtet hältst oder nicht. Die »alte Frau« zu Hause bei Laurie stichelte ständig: »Ach, da geht sie schon wieder in ihr Zen-Zentrum.« Wie viele von euch kennen solche Bemerkungen von ihrer Partnerin oder ihrem Partner? Ach, da zieht er wieder ab, und ich, na klar, ich bleibe zu Hause und kümmere mich um die Kinder, erledige die Gartenarbeit und wasche seine Hemden oder ihre Blusen.
Was suchte Laurie? Was suchst du? Man könnte denken, dass Laurie, die als Rentnerin ein gutes Einkommen hatte und ein eigenes Haus besaß, nach nichts mehr suchen müsste. Jedenfalls dachte das ihre Partnerin. Was also bewegt die eine, stundenlang auf einem Meditationskissen zu sitzen, während die andere den ganzen Tag auf dem Sofa sitzt? Welche von beiden bist du? Wie bist du so geworden, wie du bist?
Das Zusammenleben von zwei Menschen als Paar ist ein ständiger Tanz. Jeder ist ein einzigartiges Individuum, und doch sind die beiden eng miteinander verbunden und bewältigen zusammen ihren Alltag. Im Klosterleben verzichten Mönche und Nonnen auf Paarbeziehungen. Wer hingegen als Laie zu Hause praktiziert, lebt meistens in einer Ehe oder Zweierbeziehung mit einem anderen Menschen, eingebettet in einen Familien- und Freundeskreis.
Wir wissen nicht, wie unser Leben sich entfalten wird. Es gibt keine Gewissheiten außer denen von Geburt, Älterwerden, Krankheit und Tod. Selbst die besten Pläne gehen schief. Lauries suchendes Herz machte sich erst bemerkbar, als sie sich aus einem Beruf zurückzog, den sie vierzig Jahre lang ausgeübt hatte. Wenn sich das suchende Herz regt, sind wir gezwungen, ihm zu folgen – ohne anderen dazu Erklärungen abzugeben. Ignorieren wir es, wächst unser Unbehagen. Natürlich wächst unser Unbehagen auch, wenn wir unserem Herzen folgen, denn wir können dem Ruf nach der Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht, ein Zuhause in uns selbst zu finden, nun nicht mehr entkommen.
Wie verhältst du dich in deinen Beziehungen, wenn sich der den Weg suchende Geist innerlich so stark bemerkbar macht? Die alte Frau sagte: »Geh einfach geradeaus.« Doch was heißt »geradeaus« in unseren Beziehungen? Kannst du dir deinen Weg durch das Dickicht von Erwartungen, Zu- und Abneigungen bahnen und dich trotzdem den Bedürfnissen deines Partners, deiner Partnerin zuwenden und deiner Beziehung geben, was sie braucht? Kannst du inmitten der Vielschichtigkeit des Lebens, das du lebst, deinen Weg in das Herz des Lebens finden, dorthin, wo das allumfassende Herz des Bodhisattva der nicht geteilten Weisheit wohnt?
Während sie tiefer in die Meditation eintauchte, lernte Laurie, das Dickicht dessen, was sie war, zu durchdringen und Frieden in sich zu finden. Man könnte sagen, dass ihre innere alte Frau zufriedengestellt war. Doch da es zu Hause nicht weniger anstrengend wurde, musste sie mit der »alten Frau« auf ihrem Sofa ringen. Schließlich schwanden ihre Abwehrhaltung und ihr Ärger beträchtlich und sie fand sich in einer heilsamen Aktzeptanz wieder, die ihre Partnerin und ihre gemeinsame Situation einschloss. Und so kam es, dass Laurie eines Abends, als sie die Schwelle ihrer gemeinsamen Bleibe überschritt und die »alte Frau« wieder fragte: »Na, Laurie, hast du den wahren Sinn des Lebens endlich gefunden?«, ihr aus den Tiefen dieses Mysteriums antwortete: »Ja! Das. Ist. Es.«
Das. Ist. Es.
Kannst auch du so zuversichtlich antworten?
Welche Rolle spielt deine Partnerin oder dein Partner in deiner Praxis? Es heißt, dass die augenblicklichen Umstände deines Lebens das perfekte Umfeld für deine Praxis sind. Wie siehst du das?
Wenn du loslässt, was ist dann los?
Wenn du nirgendwohin musst, was passiert dann?
Wenn ein Berg an einem Fluss entlangläuft,
bade deine Füße in den kühlen Wassern.
Nenas heiß geliebter Bruder hatte als Intellektueller sehr vielversprechende Aussichten. In ihrer Familie war er der Star, aber er vermochte sein Potenzial nicht zu verwirklichen. Fast sein ganzes Leben lang war er heroinsüchtig, und die Droge drohte ihn zu zerstören. Im Grunde war er von Nena abhängig. Auf der Suche nach Hilfe für ihn fragte sie Therapeut*innen, Familienmitglieder und Freund*innen immer wieder: »Was soll ich tun? Was soll ich bloß tun?«
Viele der Befragten gaben ihr den Rat: »Streich ihn aus deinem Leben.«
War das die Antwort?
Ein Zen-Koan fordert uns auf: »Bewege einen Berg.«9
Welchen Berg?
Menschen, die in ihrem Alltag praktizieren, bewegen sich in einem Geflecht familiärer Beziehungen. Für Nena war die größte Herausforderung die Beziehung zu ihrem problembeladenen Bruder. Es ärgerte sie schrecklich, dass er sein Potenzial vergeudete, und doch fühlte sie sich aufgefordert, sein Chaos zu ordnen, ohne von seinen Freund*innen auch nur die geringste Anerkennung dafür zu bekommen, dass sie ihn praktisch am Leben erhielt. Der Versuch, ihrem Bruder dadurch zu helfen, dass sie sich bemühte, ihn zu etwas zu bringen, was er nicht tun wollte oder konnte, war so mühsam, wie einen Berg zu bewegen. Es war ein ständiges anstrengendes Ringen darum, den Berg von Selbstzweifeln, Ärger, Groll und Angst zu bezwingen, und immer wieder stürzte sie dabei ab. Was, wenn ich einen Fehler mache? Was, wenn ich nicht herausfinde, was das Richtige ist? Sie wusste, dass ihre Verbindung zu ihm nie abreißen würde. Der Rat, ihn aus ihrem Leben zu streichen, klang für sie nicht stimmig. Mit ihrer verbissenen Entschlossenheit, ihrem Bruder zu helfen, stand Nena vor dem Berg ihres Selbst.
Was machst du, wenn es keine Lösungen gibt?
In der Zen-Praxis sind wir aufgerufen, inmitten unseres Leids das Allerschwerste zu tun: zu sitzen wie ein unbeweglicher Berg. Sitze in den Tiefen deines Selbst still und lausche. Es erfordert Beharrlichkeit und große Geduld, mitten im Leid still zu sitzen, ohne Antworten zu haben. Manchmal, wenn wir uns zum Meditieren hinsetzen, schlafen wir sofort ein. Dann wieder spült unser Denken den ganzen Bodensatz unserer Sorgen und Ängste an die Oberfläche. Wie um alles in der Welt, könntest du dich fragen, höre ich mitten in diesem Chaos mir selbst zu, wenn ich doch kaum präsent bleiben kann?
Mein Wurzel-Lehrer sagte gern: »Poco a poco, immer schön langsam.« Ganz allmählich schleifen sich Widerstände ab, runden sich scharfe Ecken und Kanten und das Selbst leert sich. Nena erlebte, wie ihr innerer Konflikt nach und nach an Schärfe verlor. Sie entwickelte die Weisheit, ihren Bruder sein zu lassen, wie er war, und ihn nicht retten oder ändern zu wollen. Loslassen und aus dem Leben streichen sind nicht das Gleiche. Nena ließ langsam ihre Vorstellungen los, wie das Leben zu sein hatte, damit sie es akzeptieren konnte. Sie setzte ihren eigenen Rettungsmanövern Grenzen und fand Frieden in der Beziehung zu ihrem Bruder. Auch ihrem Bruder fielen diese Veränderungen auf. So konnte sie die Früchte genießen, die sie erntete, indem sie den Berg bewegte – Frieden, Akzeptanz und eine Fürsorge für sich selbst und ihren Bruder, die für beide Seiten segensreich war.
Je häufiger du Bergen lauschst, desto näher kommst du deinem inneren Berg. Es ist erstaunlich, was du dabei alles hören kannst: feine Geräusche, nuanciert abgestimmte Echos, die unendlichen Möglichkeiten, die Berge eröffnen. Du machst die Erfahrung, dass du den offenen Raum und die Stille des Berges nicht ausfüllen musst. Jeder Atemzug ist ein Atemzug des Leerwerdens, jeder Schritt ein Schritt des Leerwerdens. Lass deine Ideen und Vorstellungen beiseite; lass beiseite, wie du die Dinge haben willst. Gib dein Bedürfnis auf, einen anderen Menschen oder eine Situation zu verbessern, gib die Kontrolle auf.
Mein Wurzel-Lehrer, dessen Name, Taizan, Großer Berg bedeutet, pflegte zu sagen: »Lass mitten im Festhalten los.« Als Praktizierende im Alltag können wir uns darin täglich üben. Wie sieht Nichtanhaften aus? Rigide und eng? Unsentimental? Kalt und unberührt? Über den Dingen stehend? Versuchst du dem Bild zu entsprechen, das du dir von einem Menschen machst, der inmitten des täglichen Chaos an nichts festhält? Mein Lehrer hat gesagt: »Sei die, die du bist, nicht wer du glaubst, sein zu müssen, sondern wer du wirklich bist.« Was musst du verlernen?
Die Weisheit ihres Körpers sagte Nena, dass die Antwort nicht darin bestand, ihren Bruder aus ihrem Leben zu streichen. Es gab keinen Grund, sich von den Meinungen und Ratschlägen anderer sowie der Selbstverurteilung und Selbstkritik, die sie sich angewöhnt hatte, unterkriegen zu lassen. Ganz gleich, wie schwierig die Beziehung zu ihrem Bruder war, ihre grundlegende Verbundenheit würde niemals abreißen. Sie konnte ihm die Schwesternschaft nicht aufkündigen. Das ist der innerste Kern dessen, was wir »den Berg bewegen« nennen: sich auf Nähe und Verbundenheit tief einlassen und dabei der Melodie des Herzens vertrauen.
Welches Handeln zieht es nach sich, wenn wir uns leer machen und tief in uns hineinlauschen? Wie diese Erfahrung aussieht, bleibt offen. Die einzigartige Antwort kann nur in dir aufkommen, nur du weißt sie.
Lausche!
Lausche!
Wie kannst du von etwas Unerträglichem Zeugnis ablegen? Kannst du bei der Frage, was zu tun ist, auf das Nichtwissen vertrauen, aus dem deine eigene Weisheit entstehen kann?
»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«
»Du glaubst, es gibt zwei von euch?«
Jane besuchte ihre ältere Schwester, die sie fünfzehn Jahre lang nicht gesehen hatte und die auf der anderen Seite der Erdkugel lebte. Kaum war sie angekommen, stillte sie ihr Baby und erläuterte, welche Vorteile das Stillen auf Reisen habe. Sofort blaffte ihre Schwester sie an, wie Jane es von früher kannte: »Sei bloß still! Du hast doch keine Ahnung.«
Jane beschrieb, wie schockiert sie damals auf diese Zurechtweisung reagiert und geantwortet hatte: Ich habe sehr wohl Ahnung. Ich habe jahrelange Erfahrungen mit Kindern. Meine Kinder sind lebendige, kreative und zufriedene Geschöpfe und haben rosige Wangen. Du bist es, die keine Ahnung hat! Wie arrogant du bist, wie verächtlich und voller Urteile. Du hast mich ständig runtergemacht und warst dir immer so sicher, dass du es besser weißt.
Heute lacht sie über ihre damalige Aufgebrachtheit, doch die Frage bleibt: Wie reagieren wir, wenn jemand von oben herab mit uns spricht oder uns auf andere Art feindselig und verächtlich behandelt? Vielleicht zahlen wir es ihm mit gleicher Münze heim oder flüchten uns in einen gereizten, stummen Groll. Möglicherweise versuchen wir auch, solchen unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen oder zu verleugnen, was sie in uns aufrühren, vor allem an eigenen Gefühlen.
Viele Menschen, die eine spirituelle Praxis verfolgen, entscheiden sich für Letzteres: Ist doch nicht weiter wichtig, was sie sagt, ich verzeihe ihr das, noch während sie spricht. Ich lass das einfach los. Es ist ja bloß mein Ego, das da verletzt wird, also zählt das nicht weiter.