Daniel Odier

Kali

Mythologie, geheime Praktiken und Rituale

Übersetzung aus dem Französischen:

Veronika Sellier

Inhalt

Vorwort

Einführung

1 Kalis Ursprünge und Symbolik

2 Die Kaulatradition

3 Die vorbereitenden Übungen der Kaulatradition

4 Das Nirrutara Tantra

5 Kalirituale und heilige Vereinigung

6 Auf dem Kaulapfad voranschreiten

7 Hymnen und Gesänge zu Kalis Lobpreis

Vorwort

In den mir bekannten Abhandlungen sind einige Praktiken, die ich direkt von meiner Meisterin Lalita Devi erhalten habe, nicht enthalten. Ihr verdanke ich die Kenntnisse der Rituale und der geheimen Praktiken.

Die wunderbare Präsenz von Shree Maa, einer Yogini und Schülerin von Ramakrishna ist mir, was das Kaliritual betrifft zugutegekommen. Sie lebt im kalifornischen Napa Valley und ist eine grosse Verehrerin von Kali1.

Ich praktiziere das Ritual nie, ohne mir die von ihr geschenkte Rudraksha (Shivaperle) um den Hals zu legen.

Daniel Odier

Krim: Kalis Bija

1 Swami Satyananda Saraswati, Shree Maa: The life of a Saint. Devi Mandir Publications. Weitere Bücher auf ihrer Homepage: www.shreemaa.org

Einführung

Kali und dertantrische Weg

Die Erwähnung von Kali ruft eine schattenhafte, in Geheimnis gehüllte Welt hervor, denn diese Göttin entstieg der ältesten Vergangenheit der Menschheit. Obgleich sie Jahrhunderte lang verehrt worden ist, bleiben die meisten Schätze ihrer Mythologie und Praktiken eigentlich immer noch in Sanskrit-Texten oder bei esoterischen Sekten verborgen. Doch Kali hat viele Geschenke für uns.

„Ich bin die Grosse Natur, Bewusstsein, Glückseligkeit, die Quintessenz,“ sagt Kali im Chudamani Tantra. Sie ist die kosmische Mutter, düster, wie der Sturm, nackt, ihr wildes Haar fällt bis zu den Knien. Kali hat sich vor einem reichhaltigen Hintergrund entwickelt, der der Anbetung der weiblichen Macht gewidmet war, die überall vor der Entstehung der Religionen verehrt wurde: Die Grosse Mutter. Die Kultur des Hindus-Tals, wo man im Keim alle grossen Ideen findet, die sich in der tantrischen Bewegung kristallisieren sollten, verehrte die grosse Göttin, von der noch kleine, etwa 4500 bis 5000 Jahre alte, gebrannte Tonfiguren vorhanden sind. Altsteinzeitliche Stätten stellen die Göttin in Form von dreieckigen Stelen oder gerundetem Gestein dar, einige von ihnen werden noch heute in Indien verehrt.

Kali entstand aus ländlichen, vorvedischen Traditionen unzivilisierten und schamanischen Ursprungs (noch früher als 1500 vor unserer Zeitrechnung), um dann langsam zur indischen Tradition überzuwechseln. Vielleicht war Kali die uralte Göttin, die von den Bewohnern der Kette des Vindhya-Gebirges verehrt wurde, welches in Indiens Mitte den Norden vom Süden trennt und von den Ariern erobert worden war.

So schreibt Sir John Woodroffe (Arthur Avalon) in seiner Girlande der Buchstaben: „Kali ist die Gottheit in jener Hinsicht, in der sie alle Dinge in sich selbst zurücknimmt, die sie geschaffen hat. Kali wird so genannt, weil sie Kala (die Zeit) verschlingt und dann ihre eigene dunkle Gestaltlosigkeit wieder annimmt.“2 Nachfolgend zitiert er aus dem Mahanirvana Tantra:

„Bei der Auflösung von Dingen ist es Kala (Zeit), der alles verschlingen wird, und aus diesem Grund wird er Mahakala genannt, und da Du Mahakala selbst verschlungen hast, bist es Du, die die Höchste Ur- Kalika genannt wird… Indem Du nach der Auflösung wieder Deine eigene Natur, dunkel und gestaltlos annimmst, bleibst Du allein als die Eine, Unaussprechliche und Unfassbare.“3

Kali spricht zu uns über die dunkleren Aspekte der Natur und unserer eigenen menschlichen Natur. Dennoch spricht sie zu uns von Liebe, denn sie wurde zur Gemahlin Shivas und dergestalt von den Tantrikern des Kaulapfads angenommen. Kaula ist der Vamachara-Weg, oft Weg der Linken Hand genannt, aber Vama bedeutet auch „Frau“, es wäre also in Übereinstimmung mit dem Kaulapfad richtiger, Vamachara mit „Der Weg der Shakti“ zu übersetzen.

Im Reich des Tantra „ist das zentrale Thema die göttliche Energie und die kreative Kraft (Shakti), die durch den weiblichen Aspekt jedes dieser verschiedenen Götter repräsentiert wird. Als eine Devi oder Göttin personifiziert, wird sie als seine Frau, vor allem als Shivas Frau dargestellt.“4 Die tantrischen Texte sind üblicherweise in Form eines Dialoges zwischen Shiva und Shakti geschrieben. Kali bzw. Kalika ist eine von den vielen Formen der Shakti, deren Name und Form dem jeweils besonderen Aspekt des Gottes entsprechen, wie Kala und Kali, Bhairava und Bhairavi.

Die Welt der Kali ist riesig. Es wäre anmassend zu glauben, man könne sie umfassend beschreiben, aber ich wollte in einem einzigen Buch das Wesentliche der Mythologie, der Rituale und Praktiken Zusammentragen, sowie die mystische Vorstellung, die damit verbunden ist. Etliche Texte sind hier zum ersten Mal in einer westlichen Sprache publiziert.

Kapitel 1 erforscht Kalis Entstehung und ihre Symbolik, was von Anfang an klarmachen wird, dass sie unsere Führerin in ein Gebiet des menschlichen psychophysischen Wesens ist, das in Religionen normalerweise verachtet bzw. verboten wird.

In Kapitel 2 werden der Kaulapfad und seine Verbreitung in Indien genauer beschrieben, sowohl mit kurzen Einblicken in das fruchtbare Feld der Kali-Mythologie als auch in einer Einführung in die sechsunddreissig Grundlagen der Wirklichkeit (Tattvas). Dieses Kapitel umfasst Übersetzungen der Kaula Upanishad und des Kulanarva Tantra, was deutlich macht, dass das Wertesystem der Kaulatradition sehr nonkonformistisch ist.

Kalijedoch ist immer noch imstande, mit uns zu sprechen, in erster Linie durch Praktiken, die wir innerhalb unseres eigenen Daseins beleben. Kapitel 3 stellt einleitende Praktiken vor, die wesentliche Vorbereitungen sind, um in Kalis tiefgreifende Rituale der Transformation vorzudringen.

Kapitel 4 enthält die erste Veröffentlichung einer deutschsprachigen Übersetzung des Nirrutara Tantras, der ältesten Darstellung des Kalirituals.

Das Kaliritual wird in Kapitel 5 detailliert vorgestellt, es kulminiert im Ritual der Heiligen Vereinigung.

Praktiken und Visualisierungen, dazu gemacht, den Aspiranten den Kaulapfad entlang zu führen, werden in Kapitel 6 gegeben, einschliesslich einer Fokussierung auf die acht Chakras und die vierundsechzig Yoginis, die Herzenspraxis der Yoginis und das Verschlingen der inneren Dämonen.

Abgesehen davon, dass Kali die Entstehung von vielen tantrischen Schriften inspiriert hat, hat sie auch durch Hymnen und Gesänge, von denen einige in Kapitel 7 vorgestellt werden, Hingabe wachgerufen.

Die Zivilisation hat uns viele wunderbare Dinge gebracht, aber sie hat uns auch von unseren alten Wurzeln abgeschnitten, von unserer Verbindung mit der Natur, den Tieren, dem Kosmos. Mit den Religionen sind noch alle möglichen Arten von Begrenzungen und Regeln dazu gekommen, die unsere fundamentalen Verbindungen mit der Welt verdrängt haben. Wir wurden ängstlich, angepasst, moralisierend, haben Schuldgefühle, und wenn die Triebe manchmal in der Sexualität oder in Konfrontationen heftig zum Vorschein treten, jagen sie uns Entsetzen ein. Sie verblüffen und schockieren uns.

In diesem Sinne sind die Kalipraktiken für den heutigen Praktizierenden kostbar. Sie lassen uns alle vulkanischen Impulse wieder integrieren, die im Labyrinth der Imagination und der Träume durch uns hindurchgehen. Die Präsenz der Kali hat sich bereits vor den grossen religiösen Richtungen etabliert. Die Göttin hat die Kraft, uns wieder mit unseren Wurzeln zu verbinden, uns das gesamte menschliche Spektrum zurückzugeben, uns anzubieten, dass wir all unseren Reichtum annehmen, die ganze Geschichte der Menschheit, von ihren Anfängen bis zur höchsten Entwicklung.

2 Sir John Woodroffe (Arthur Avalon), The Garland of Letters. Ganesh & Co 2013(1922)

3 ibid

4 Ingrid Fischer Schreiber, Franz-Karl Erhard, Kurt Friedrichs, Lexikon der östlichen Weisheitslehren: Buddhismus – Hinduismus – Taoismus – Zen. O.W. Barth Verlag, München 1994