Zwischenspiel

Über Monika Maron

Foto: © Sebastian Wells/OSTKREUZ

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017).

Zuletzt erschienen bei Hoffmann und Campe Bonnie Propeller (2020) und der Essayband Was ist eigentlich los? (2021).

und für Wilhelm

Vielleicht war der Traum ja nur ein Vorgriff auf den Tag gewesen, den ich zwar im Kalender schwarz eingerahmt, dem Gedanken daran aber keine konkrete Gestalt gegönnt hatte. Nur die Blumen hatte ich rechtzeitig bestellt, weiße Rosen mit einer kleinen weißen Schleife: In Liebe, Ruth.

Wetter.de versprach einen trockenen Tag und Temperaturen um die zwanzig Grad. Ich suchte nach passender Kleidung, entschied mich für einen leichten dunkelgrauen Anzug und flache Schuhe. Zu Beerdigungen ging ich nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ oder wenn ich glaubte, den Toten müsse meine Abwesenheit kränken. Auch wenn ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte, stellte ich mir dann vor, der oder die Gestorbene sei auf geheimnisvolle Weise anwesend, suche Kinder, Enkelkinder und Freunde, finde mich nicht unter ihnen und müsse nachträglich an meiner Zuneigung zweifeln. Ich hatte lange überlegt, ob ich zu Olgas Beerdigung gehen solle, und letztlich war es dieser kleine Rest von lächerlicher Unsicherheit, der meine Entscheidung bestimmt hatte.

In der letzten Zeit hatten wir nur noch miteinander telefoniert, Olga und ich. Am Dienstag nach Ostern hatte ich sie endlich besuchen wollen, aber dann rief Olga an und sagte, sie fühle

Ich suchte bei Google Maps die Fahrtroute zum Friedhof am östlichen Stadtrand und las noch einmal den Text der Traueranzeige; Gott sei Dank haben sie nicht geschrieben »plötzlich und unerwartet …«, dachte ich. Niemand stirbt unerwartet, wenn er fast neunzig ist. Zwar auch nicht erwartet, immerhin hatten wir uns für den Dienstag nach Ostern verabredet, aber Olga fühlte sich nicht wohl. Und wenn man sich mit neunzig nicht wohlfühlt, kann das schon den Tod bedeuten. Das hätte ich bedenken sollen.

Beim Frühstück las ich die Zeitung von gestern. Ich las immer die Zeitung von gestern, weil ich für gewöhnlich frühstückte, bevor ich duschte und mich ankleidete, und nicht im Bademantel aus der vierten Etage zu den Briefkästen ins Erdgeschoss fahren wollte und wieder hinauf und weil ich die neuesten Nachrichten ohnehin nicht aus der Zeitung erfuhr, sondern aus dem Radio oder dem Fernsehen und weil es darum egal war, ob ich die Zeitung von gestern oder heute las. Früher hatte ich vom Aufstehen bis zum Verlassen des Hauses anderthalb Stunden gebraucht, inzwischen waren

Ich überflog die Überschriften auf der Seite für Vermischtes: Vorbeatmung gestoppt, las ich und überlegte, was Vorbeatmung sein könnte, las noch einmal: Verbeamtung gestoppt, gut. Und jemand hatte sein Baby aus dem Fenster geworfen, das war kein Lesefehler. Im Feuilleton fand ich einen ausführlichen Bericht über einen spektakulären Kunstfälscherprozess, gab die Lektüre aber schon nach dem ersten Absatz auf, weil mir die Schrift vor den Augen verschwamm, als würden die Buchstaben Schatten werfen. Ich putzte die Brille, setzte mich dichter ans Fenster, es half nichts, ein mir bis dahin unbekannter Defekt meiner Augen machte das Lesen so anstrengend, dass mir davon schwindlig

Als Fanny mir vor fünf oder sechs Jahren zum ersten Mal von ihrem Besuch bei Bernhard erzählte, hatte ich, ohne nachzudenken, gefragt: Was wolltest du denn da? Fanny zog die Augenbrauen hoch, reckte kampfbereit ihren schmalen Hals und sagte: Er ist mein Vater. Danach hatte ich meine Tochter nicht mehr nach Bernhard gefragt. Ich nahm es hin, dass für Fanny der Vater wichtiger war als sein Verrat. Es ging mich nichts an. Natürlich ging es mich etwas an, denn ich allein hatte Bernhard zu Fannys Vater werden lassen. Aber das war in einem anderen Leben passiert, an das ich mich kaum erinnern konnte. Nur Olga und Fanny hatte ich aus diesem Leben mitgenommen. Bernhards Mutter und Bernhards Tochter, aber Bernhard selbst hatte ich vergessen. Ich wusste, dass ich drei Jahre mit ihm gelebt hatte, an unsere Wohnung erinnerte ich mich genau, zwei große sonnige Zimmer in einem heruntergekommenen Haus in der Wörther Straße, ich

Seit einer Woche, seit ich wusste, dass ich Bernhard an Olgas Grab treffen würde, rumorte es in den Verliesen meiner verbannten Erinnerungen. Ungebeten tauchten Bilder auf, Andy mit einem Verband um den kleinen Kopf, mit dem er vom Fahrrad gegen die Kühlerhaube eines Lastwagens gestürzt war und sich dabei den Schädel aufgeschlagen hatte. Frontalhirnsyndrom, eine Schädigung des vorderen Stirnhirns. Mit blindem

Andy war Bernhards Sohn, den er kurz nach dem Abitur mit einer drei Jahre älteren Kellnerin, die außerdem Gedichte schrieb, gezeugt hatte. Das Kind lebte bei seiner Mutter, an den Wochenenden brachte sie es oft zu Bernhard, der noch bei seinen Eltern wohnte. Für Olga war Andy wie ein dritter, nicht mehr erwarteter Sohn. Madeleine, so hieß die Mutter, ließ ihn immer öfter auch während der Woche bei Olga, bis sie ihn eines Tages überhaupt nicht abholte und tagelang nicht erreichbar war. Nach einer Woche rief sie an, sie sei in Westberlin, mehr könne sie nicht sagen, es tue ihr alles furchtbar leid, aber Andy sei bei Olga und Bernhard bestimmt besser aufgehoben. Andy blieb bei Olga, auch als Bernhard eine eigene Wohnung bekam. Später, als Bernhard und ich zusammenzogen, wollte Andy bei seinen Großeltern bleiben. Damals lebte Hermann noch.

Nach Andys Unfall zog Olga zu ihm ins Krankenhaus, fütterte ihn, wusch ihn, las ihm Geschichten vor. Als er aus dem Koma erwachte, brachte sie ihm wieder das Laufen und Sprechen bei, sie

Fanny war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt, als Bernhard erklärte, Andy werde künftig bei uns leben, er werde nie wieder sein wie vor dem Unfall, seine Mutter schaffe das nicht mehr. Auf dem Wohnungsamt, wo wir eine größere Wohnung beantragten, sagte man uns, dass unverheiratete Paare keinen Anspruch auf eine gemeinsame Wohnung hätten. Beim Standesamt bekamen wir einen Termin in vier Wochen. Zwei Wochen vor der Hochzeit nahm jemand mich mit zu einer Haschischparty. Ein Typ aus Westberlin hatte Stoff für zehn Personen über die Grenze geschmuggelt und gab einen Einführungskurs in die Kunst des Haschischrauchens. Er zeigte uns, wie man die Zigarette richtig halten musste, und hatte die passende Musik mitgebracht, ich wusste nicht mehr, welche. Wir lagen nebeneinander auf Kissen und Decken und überließen uns erwartungsvoll dem Rausch. Allmählich versanken das Zimmer, die Menschen, nur die Musik schloss einen Raum um

Bernhard war auf einer Dienstreise in Sachsen oder Thüringen. Ich rief am nächsten Morgen beim Standesamt an und sagte die Hochzeit ab. Aufgeschoben oder aufgehoben?, fragte die Frau. Aufgehoben, sagte ich.

Als ich mit Fanny auszog, war die Narbe über Andys Stirn schon wieder von Haaren verdeckt. Aber in meiner Erinnerung hockte er schweigend im Krankenbett, um den zerbrochenen Schädel den dicken Verband, der nur Augen, Nase und Mund frei ließ, ein sechsjähriger Junge, vor dem ich geflohen war.

An Olgas Grab würde ich wahrscheinlich auch

Damals war ich mir monströs vorgekommen, herzlos, gemein, niederträchtig. Den Mann mit seinem kranken Kind verlassen; einfach abhauen mit dem gemeinsamen Kind; das Schicksal hochmütig verweigern, das war nicht erlaubt. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich Bernhard die abgesagte Hochzeit erklärt hatte, wie ich ihm überhaupt mitgeteilt hatte, dass ich nicht zuständig sein konnte für seinen Sohn, der mehr Pflege brauchte als Fanny, ich aber Fannys Mutter war, nur Fannys Mutter, und dass ich ihn, Bernhard, nicht genug liebte, um auch die Mutter seines Sohnes zu sein. Irgendwie muss ich es ihm gesagt

Im vergangenen Jahr war ich sechzig geworden. Von meinen engen Freunden war noch niemand gestorben, aber im weiteren Bekanntenkreis mehrten sich die Todesfälle. Eigentlich hatte ich nicht das Gefühl, dass es schon Zeit sei für ein Lebensresümee, aber an Tagen wie diesem drängten sich diese sinnlosen Fragen nach dem Woher und Warum ungebeten in meine ziellosen, noch immer von dem unheilvollen Traum befangenen Gedanken. Was ist so ein Ich eigentlich, dachte ich, wenn dem alten Ich das junge so fremd ist, als gehöre es gar nicht zu ihm. Wo bleiben die ganzen Ichs überhaupt, die man in seinem Leben war und denen man das letzte immerhin verdankt? Das Problem ist, dass man nicht als der Mensch die

Das Telefon unterbrach mich in meinen anthropologischen Mutmaßungen. Fanny wollte wissen, ob wir gemeinsam zum Friedhof fahren sollten.

Ich hätte hinterher einen wichtigen Termin und brauchte mein Auto, sagte ich.

Wir verabredeten uns vor dem Friedhof. Ich hatte keinen Termin, wollte aber von Fanny, die sicher nach dem Begräbnis mit der Familie zum Essen oder Kaffeetrinken gehen würde, nicht abhängig sein.

Auch als Mutter hat man wenigstens zwei Ichs, dachte ich, wahrscheinlich sogar drei oder vier, das vierte kannte ich noch nicht. Am Anfang war

Vielleicht ergeht es den Vätern ähnlich, aber von Vätern verstand ich nichts, ich hatte keinen, jedenfalls nicht lange. Mein Vater war gestorben, als ich vier Jahre alt war. Er kam mit einer durchlöcherten Lunge aus russischer Gefangenschaft, zeugte mit letzter Kraft ein Kind, saß dann noch fünf Jahre in dem grünen Sessel am Fenster im Wohnzimmer und kämpfte mit jedem Atemzug um sein Leben. Ich erinnerte mich an den röchelnden Mann im Sessel wie an einen Fremden, Unberührbaren, nichts sonst, kein Lächeln, kein Spiel, kein Lied. Er war doch schon viel zu schwach, hatte meine Mutter gesagt. Nach dem Tod des Vaters blieben wir fünf Jahre allein, die Mutter und ich. Das war die Zeit, in der ich mich in der Erinnerung als ein unbeschwertes, lachendes Kind sah: die Ausflüge mit den Freundinnen

Meine Mutter war dem natürlichen Ende des reinen Glücks zuvorgekommen. Nur dass es ausgerechnet der Genosse Keller sein musste, blieb in dem Verhältnis zwischen Mutter und Tochter eine nicht heilende Wunde, auch wenn wir am Ende nicht mehr darüber sprachen. Selbst wenn die Mutter anderen anwesenden Personen Episoden aus ihrem Leben erzählte und die Erwähnung des Genossen Keller sich dabei nicht vermeiden ließ, nannte sie seinen Namen so nebenher, als hoffte sie, ihre Tochter würde ihn überhören.