Alfred Riepertinger
mit Shirley Michaela Seul
Mumien
Spannende Todesfälle, geheimnisvolle Leichname – mit einem Präparator auf Spurensuche in alten Grüften
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Auszug aus Bill Bass, Jon Jefferson: Der Knochenleser – Der Gründer der legendären Body Farm erzählt, München 2004, auf den Seiten 74 bis 77
abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Baror International, Inc. und Goldmann Verlag, Verlagsgruppe Random House GmbH
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Originalausgabe 2018
Copyright © 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design
unter Verwendung eines Fotos von © Random House/Kay Blaschke
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-23034-0
V002
www.heyne.de
Inhaltsverzeichnis
Zum Geleit von Professor Dr. Dr. Andreas Nerlich
Geheimnisvolle Gräber
Der letzte Sargnagel
Wundertüte Sarg
Die Toten lehren die Lebenden
Mumienflut
Tier- und Menschenmumien
Die hohe Kunst der Einbalsamierung
Das Totengericht
Das altägyptische Verfahren
Konservieren oder Einbalsamieren
Die Doppelbestattung
A schene Leich
In der Jordangruft
Särge sind schön
Die Mumie des Generals
Der Tod ist zeitlos
Eine große Überraschung in einem kleinen Sarg
Das Rätsel im letzten Sarg
Mumien im Kasten
Mumien auf dem Tisch
Das geheimnisvolle Gefäß
Carolina in der Abflughalle
Die Eismumien aus der Antarktis
Die Mumien kehren heim
Die Mutter-Mumie
Der Geruch des Todes
Gefährliche Leichen
Der Fluch des Pharao
Der Gruseleffekt
Mrs. Bates im Keller
Der leere Sarg
Die offene Aufbahrung
Vorfahren und Verfahren
Ein Knochenjob
Berühmte Mumien
Rosalia Lombardo
Lenin
Leichenkosmetik
Die Schokoladenseite eines Toten
Schneewittchen
Die Kapuzinergruft in Palermo
Von der Kreuzfahrt in den Kreuzgang
Die Kubakrise
Leichenstarre
Die Einbalsamierung
Spanische Brocken auf dem Seziertisch
Unverweslichkeit
Bernadette Soubirous aus Lourdes
Auch Päpste unterliegen den Naturgesetzen
Der Stigmatisierte
Die Kaisergruft in Wien
Das Herz der Habsburgerin
Ottos letzte Reise
Wer begehrt Einlass?
Die Michaelergruft
Die Schweinemumie
Schwein gehabt
Schweinerei!
Schwein in Kräutern mit Honig
Rampensau
Der Münchner Pharao
Moorleichen
Das Mädchen von Windeby
Geheimnisse im Moor
Mumienkrimi im Dachauer Hinterland
Mord im Moor
Ein 2.650 Jahre alter Fingerabdruck
Die falsche Mumie
Leichen-Export in den Orient
Die Plastination
Schwarz-weiß
Fast schon Zauberei
Die Totenstadt von Kairo
Sieben Särge und acht Tote in Wintzingerode
Grufträuber
Kopflos
Das gruselige Grinsen
Der bayerische Herbsttod
Dickköpfig
Schädelmaler
Kopf ohne Körper
Aktenzeichen XY – gelöst
Beinmumien
Der Mumienfuß
Der Riese vom Tegernsee
In der Knochenküche
Der größte Bayer
Die Mumie des Märchenkönigs
Dank
Literatur zu Grüften, Mumien und Skeletten
Zum Geleit
von Professor Dr. Dr. Andreas Nerlich
Skelette oder Mumien gehören wahrlich nicht zum Untersuchungsgut eines »normalen« Instituts für Pathologie, ebenso wie an dieser Stelle, liebe Leserin und lieber Leser, darauf hingewiesen werden muss, dass die Untersuchung von Leichen aus Tötungsdelikten, Unfällen oder Selbsttötungen ebenfalls nicht Untersuchungsgegenstand des Pathologen, sondern des Rechtsmediziners ist. Der heutige Pathologe beschäftigt sich ohnehin nur noch selten mit Toten – und zwar denjenigen, die im Krankenhaus verstorben sind, und da wird von Jahr zu Jahr auch aus ökonomischen Gründen weniger oft seziert. Wir Pathologen helfen vielmehr täglich den Lebenden, indem wir deren Gewebeproben, seien es kleine Biopsiestückchen einer Magen- oder Darmspiegelung oder ganze Organe oder Organteile von Operationen, auf die zugrunde liegende Krankheit hin analysieren, und zwar mit dem Mikroskop.
Im Fall des Oberpräparators Alfred Riepertinger kommt jedoch mehr als nur das »übliche« Geschäftsfeld eines medizinischen Präparators zusammen: Er beschäftigt sich seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten, intensiv mit der Herrichtung und Haltbarmachung von Verstorbenen, eine Kunst im wahren Sinne ihres Begriffes, die heute mehr und mehr von speziell geschulten Bestattern, den Thanatopraktikern, ausgeführt wird. Solche »Leichen-Konservierungen« spielen immer dann eine Rolle, wenn ein Toter aus eigenem oder fremdem Wunsch über eine weite Strecke transportiert oder für längere Zeit erhalten (z.B. aufgebahrt) werden soll. Diese intensive Beschäftigung mit dem Tod führte dazu, dass sich Riepertingers Lebensweg mit dem des Anatomen Gunther von Hagens kreuzte, dem »Vater der Plastination«, und dies war ein glücklicher Zufall. Er wurde nicht nur ein geschätzter Meister dieses Faches, er folgte damit auch gleichsam seinen viel älteren »Vorgängern im Amt« nach – altägyptischen Balsamierern, aber auch den Künstlern aus der Zeit der Renaissance.
In seinem ersten, vor einigen Jahren erschienenen Buch beschreibt Alfred Riepertinger oft ernst, manchmal aber auch launig, in jedem Fall aber sehr unterhaltsam seine Erlebnisse insbesondere mit berühmten oder spektakulären zeitgenössischen Todesfällen. In seinem jetzt vorliegenden zweiten Werk ergänzt er dies mit den Erlebnissen und Geschichten von meist viel »älteren« Toten – und hieran fühle ich mich nicht ganz unschuldig.
Mit der Übernahme der Leitung des Instituts für Pathologie am Klinikum München-Schwabing kreuzten sich unser beider berufliche Wege. Schnell fand ich bei ihm einen günstigen Nährboden, mein »Hobby«, die Paläopathologie – also die wissenschaftliche Beschäftigung und Untersuchung von Toten aus früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden –, mit dem Wissen und Engagement unseres Oberpräparators zu verknüpfen, der schnell bereit war, hierfür auch seine Freizeit zu opfern. Hieraus sind in den letzten Jahren eine Reihe von natur- und populärwissenschaftlichen Untersuchungen und Projekten entstanden, die für nationales und internationales Aufsehen sorgen konnten: das »Mumienschwein«, das wir beharrlich in unserem Institutskeller als Teil der wissenschaftlichen Siegfried-Oberndorfer-Lehrsammlung (dieser war mein Vor-Vor-Vorgänger im Amt) behüten, Untersuchungen an süddeutschen Kloster- und Adelsgrüften, auch die Nachuntersuchung lokaler Berühmtheiten wie dem Riesen vom Tegernsee und einiges mehr belegen die wissenschaftliche Neugier, die Interessierten manchmal überraschend Neues nahe bringen konnte.
So war es für Alfred Riepertinger nur folgerichtig, mit seinem jetzigen zweiten Buch diese seine eigene Neugier und das dabei Erlebte zu Papier zu bringen und in seinem eigenen Stil den Leser daran zu beteiligen. Wenn dies dazu führen sollte, den Umgang mit Tod und Sterben aus einer natürlichen, historischen Sichtweise zu sehen und damit vielleicht ein Stückchen weit unseren zunehmend anonymeren, ja fast feindlichen und verleugnenden Umgang mit Tod und Sterben zu relativieren, dann hat dieses Buch im wahrsten Sinne »Gutes getan«. Denn dem Tod kommen wir alle nicht aus, der Angst vor dem Sterben, die oft gerade aus dem Unwissen über die Biologie des Todes und seiner Folgen herrührt, können wir aber sehr wohl begegnen.
So wünsche ich dieser unterhaltsamen Biografie aus dem Leben des medizinischen Oberpräparators Alfred Riepertinger eine weite Verbreitung und eine interessierte Leserschaft, die den manchmal aufkommenden leisen »Gruseleffekt« als das nimmt, was er ist – einen Teil des Lebens.
München, im Januar 2018
Andreas Nerlich,
Professor für Pathologie und Chefarzt des Instituts für Pathologie an den Kliniken München-Bogenhausen und Schwabing
Geheimnisvolle Gräber
Im Lauf meines beruflichen Lebens lagen rund 30.000 Tote vor mir, meistens auf Edelstahltischen, manchmal aber auch in ihrem Grab oder einer Gruft. Es gibt frisch Verstorbene, verweste, verfaulte und mumifizierte. Todeszeitpunkt, Todesursache und Temperatur bestimmen über den Zustand einer Leiche. Für uns Lebende mag es den Anschein erwecken, als sei mit dem Tod alles vorbei – Stille, Starrheit, Kälte treten ein. Doch Fäulnis und Verwesung sind lebendige Prozesse, an denen sich unzählige Organismen beteiligen. Sie beginnen in dem Moment, wenn der Herzschlag aussetzt, wenn ein Mensch nicht mehr atmet. Diejenigen, die an der Leiche arbeiten – Pathologen, Präparatoren, Bestatter –, atmen jedoch, und je nach Zustand einer Leiche kann das durchaus eine olfaktorische Herausforderung sein. Zum Glück bin ich nicht empfindlich und auch an heftigste Geruchsattacken gewöhnt.
Mumien sind übrigens nasenfreundlich. Im Gegensatz zu einer faulen oder verwesten Leiche sind sie eine saubere, nahezu geruchsneutrale Sache. Nein, eben keine Sache. In jeder Mumie steckt ein verstorbener Mensch, und egal, wie lange er schon tot ist, ihm gebühren Respekt und Achtung. Wenn ich mir vorstelle, dass Mumien Anfang des 20. Jahrhunderts in London auf sogenannten Auswickel-Partys malträtiert wurden, graut es mir. Und nicht etwa vor den Mumien.
Der Tod ist die natürlichste Sache der Welt. Jeder von uns wird eines Tages sterben. Jeder von uns wird eines Tages eine Leiche sein, und wer möchte schon, dass sich andere dann vor einem fürchten. Oder dass sie die Totenruhe stören. In sogenannten anatomischen Theatern wurden früher Leichen vor Publikum obduziert. Ich vermute allerdings, dass die Neugier über die Beschaffenheit des menschlichen Körpers größer war als der Gruseleffekt. Wenn wir heute mit Mumien zu tun haben, ist das zwar auch ein besonderes Ereignis, und Funde wie die Gletschermumie Ötzi sind Medienstars, doch ich bin mir stets bewusst, dass Ötzi einst ein lebender Mensch war. Mit dieser Haltung trete ich an alle Verstorbenen heran, die vor mir auf dem Sektionstisch liegen.
Für viele Menschen ist die Vorstellung, an einer Leiche zu »arbeiten«, ungewöhnlich. Für mich ist es seit über vierzig Jahren Alltag als Oberpräparator am Pathologischen Institut des Schwabinger Krankenhauses, wenngleich immer weniger Angehörige die Genehmigung zu einer klinischen Obduktion erteilen. Das ist sehr bedauerlich, denn die Obduktion kann nicht nur Aufschluss über die Todesursache geben, sondern auch darüber, wie Krankheiten verlaufen, welche Nebenwirkungen Medikamente entwickeln und einiges mehr. In der Folge können Therapien verbessert werden.
Zu meiner Tätigkeit gehört nicht nur die Mithilfe beim Untersuchen von Leichen. Wir entnehmen, präparieren und konservieren Organe, Gewebe und Knochen. Und dann nähen wir den Körper wieder schön zu und richten den Verstorbenen her. Oft helfen mir hierbei mein ehemaliger Beruf als Werkzeugmacher, die langjährige Erfahrung und ein gewisser Erfindungsreichtum weiter, wenn es zum Beispiel darum geht, schwer entstellte Leichen nach einem Schienenfahrzeugunfall oder brutalen Tötungsdelikt wieder ansehnlich zu machen. Durch die plastische Rekonstruktion können sich die Angehörigen dann am offenen Sarg verabschieden, ohne Schockmomente zu erleben, die sie lebenslang verfolgen würden.
In meinem ersten Buch Mein Leben mit den Toten habe ich ausführlich beschrieben, wie ich zu meinem Beruf kam und warum er für mich zu den schönsten der Welt zählt. In diesem Buch möchte ich von jenen Leichen erzählen, die ich besonders spannend finde: Mumien. Diese »Schätze« brauche ich nie aufwendig herzurichten. Ich säubere sie höchstens von Staub und Schmutz. Mumien sind für mich sozusagen die Feiertage in meinem Arbeitsleben. Wenn ich einen Sarg öffne, der seit Jahrzehnten, ja manchmal Jahrhunderten verschlossen war, weiß ich nicht, was ich zu Gesicht bekommen werden. Es gibt kaum etwas Spannenderes, als einen Sarg aus einer Gruft zu bergen und die Geschichten zu lesen, die mir die sterblichen Überreste erzählen. Manches erschließt sich auf den ersten Blick, anderes erst mit Hilfe ausgeklügelter Technik.
Die meisten Menschen glauben, Mumien würden durch im alten Ägypten entwickelte Einbalsamierungstechniken und Bandagen »gemacht«. Doch nahezu jeder Leichnam kann zu einer Mumie werden. Eine Mumie entsteht nicht durch eine Tätigkeit, sondern mit der Zeit durch Verdunstung des Gewebewassers des Körpers bei trockenem, zugigem, warmem oder kaltem Luftstrom. Durch die Mumifizierung kommt es zu einer festen, lederartigen Vertrocknung der Haut und des Gewebes. Die bei Todeseintritt eingenommene Körperhaltung wird fixiert, das Körpergewebe vertrocknet und schrumpft, und der Körper verliert durch den Flüssigkeitsverlust stark an Gewicht.
Man kann durch die Einbalsamierung des Leichnams den Prozess der Mumifizierung unterstützen, und darin waren die alten Ägypter große Meister. Die Bandagen sollten die Oberflächen versiegeln und vor mechanischen Einflüssen schützen. Der Körper sollte schließlich einsatzfähig sein, wenn es ein Ägypter, so der Glaube, in das Totenreich schaffte, wo er weiterleben würde, so ähnlich wie auf Erden.
Auch in vielen deutschen Särgen liegen mitunter sehr gut erhaltene Mumien. Eichensärge und die Polsterung aus Eichenhobelspänen enthalten Gerbsäure, die die Mumifizierung fördert. In Zinksärgen, wie sie früher oft in adeligen Kreisen verwendet wurden, findet man hingegen in der Regel nur noch Skelettanteile oder einzelne Knochen. Zinksärge haben mich oft enttäuscht. Von außen machen diese sogenannten Prunksärge viel her. Aber ihr »Inhalt« hält das Versprechen nicht.
Der letzte Sargnagel
Särge wurden früher mit Nägeln verschlossen; heute werden sie zugeschraubt. Das geflügelte Wort vom letzten Sargnagel, den einer für einen anderen darstellen kann, hat sich jedoch nicht modernisiert. Du bist meine letzte Schraube am Sarg klingt auch seltsam, eher nach Schraube locker.
Wie dem auch sei, der letzte Sargnagel, der landläufig das Ende bezeichnet, ist für mich ein Beginn. Mit einer Zange ziehe ich ihn heraus, die Spannung steigt ins Unermessliche. Jetzt gleich werde ich das Geheimnis lüften, welche menschlichen Überreste sich in diesem Sarg befinden. Eine mehr oder minder gut erhaltene Mumie oder nur die lose herumliegenden Knochen eines oder mehrerer Skelette? In früheren Zeiten war es relativ einfach, Leichen in Särge zu schmuggeln und sie überzubelegen, two-in-one. In einer Gruft – das Wort stammt vom griechischen »Krypta« = unterirdischer Kirchenraum – kann man sich niemals darauf verlassen, dass der Leichnam im Sarg liegt, dessen Name auf der Metallplatte eingraviert ist. Auch leere Särge habe ich schon in Grüften geöffnet. Eine Niete sozusagen. So etwas wäre heute kaum mehr möglich, die Kontrollen sind streng und erfolgen mehrfach. Was auf dem Grabstein steht, sollte auch drin sein, also darunter.
Aber heute gibt es ja auch keine Körperdiebe mehr wie in früheren Zeiten. Besonders in England fielen Leichen im 19. Jahrhundert sogenannten Body-Snatchern, Leichenräubern, zum Opfer, denn den wissbegierigen Medizinstudenten mangelte es an Körpern. Mehrere Hundert Leichen wurden pro Jahr benötigt, doch gesetzlich standen den Studenten nur die Überreste der verurteilten und hingerichteten Mörder zu, und das waren zu wenige, obwohl man seinerzeit nicht sparsam mit der Verurteilung zur Todesstrafe umging.
Genau genommen sind die Grabräuber, die im ägyptischen Tal der Könige wüteten, nichts anderes als Leichenräuber, auch wenn eine Mumie auf den ersten Blick nicht wie eine Leiche aussehen mag. Die Grabräuber in Theben, dem heutigen Luxor, hatten es allerdings weniger auf die Mumien abgesehen als auf die Grabbeigaben. Und da in den Leinenbandagen der Mumien manches Kleinod eingewickelt war, wurden viele brutal in Stücke gerissen, zerfetzt und gänzlich zerstört. Für mich wäre die Mumie allein schon ein Schatz gewesen …
Wundertüte Sarg
Wenn ich mit meinem Kollegen das Oberteil eines Sarges zur Seite lege – der Begriff Sargdeckel wird in Bestatterkreisen vermieden, Sargoberteil klingt seriöser –, ist das immer ein Gänsehautmoment für mich. Eine Wundertüte öffnet sich. Was ist drin? Und wie gut erhalten? Ein Spruch besagt, dass jemand ein Geheimnis mit ins Grab nimmt. Lüfte ich dieses Geheimnis? Wohl kaum, da es meist sehr persönlich ist, aber dafür andere. Und die erfüllen mich immer wieder von Neuem mit Staunen und Ehrfurcht. Ich darf einen Blick zurück in die Geschichte werfen, denn Gegenwart und Vergangenheit begegnen sich im Sarg in einem Leichnam.
Als der Mensch, der als Leichnam vor mir liegt, bestattet wurde, gab es vielleicht noch kein Internet, kein elektrisches Licht und womöglich nicht einmal Formalinlösung zum Konservieren. Gut möglich, dass er in einer Zeit starb, in der viele Menschen die Sorge umtrieb, lebendig begraben zu werden. Zum Teil ließen sich die Verstorbenen abenteuerliche Alarmanlagen ins Grab legen, mit denen sie als erwachte Scheintote die Aufmerksamkeit des Friedhofswärters zu erlangen hofften. Dazu wurden beispielsweise Fäden und Glöckchen an den Fingern und Zehen der Beerdigten befestigt, die Gräber wurden gelegentlich offen gelassen und Leitern hineingestellt, damit die erwachten Scheintoten zurück ins Leben klettern konnten. Der Begriff Totenwache konnte auch bedeuten, dass Angehörige am Grab lauschten, ob sie etwas hörten.
Auch heute noch ist die Vorstellung, lebendig begraben zu werden, entsetzlich. Aber wer heute tot ist, ist wirklich tot – und diese Leichname sind mein täglich Brot. Höhepunkte sind die Mumien, die in einer Zeit starben, in der Adelige sich mit Vorliebe sehr nah bei einer Kirche oder eben in einer Kirchengruft bestatten ließen, um auf dem kürzesten Weg, sozusagen Businessclass, in den Himmel zu fliegen. Ein mumifizierter Leichnam aus früheren Jahrhunderten ist ein, wenn auch stummer, Zeitzeuge – und sobald ihn mein Chef, Professor Andreas Nerlich, unter die Lupe nimmt, fängt er in gewisser Weise vielleicht zu sprechen an und schenkt uns Erkenntnisse über seine Zeit.
Die Toten lehren die Lebenden
An meinem Arbeitsplatz im Sektionssaal des Schwabinger Klinikums in München steht auf einer Wand groß gemalt der Spruch: Mortui vivos docent – die Toten lehren die Lebenden. Unser Sektionssaal wird in allen Tatort-Produktionen aus München und in vielen anderen Krimis als Drehort für Rechtsmedizin-Szenen verwendet. So kommt es zu einer »Vermischung«, die zwar falsch, aber trotzdem bei Laien beliebt ist: Die Begriffe Pathologie und Rechtsmedizin werden oft verwechselt. Doch während Pathologen in der Regel das Organgewebe von lebenden Patienten zur medizinischen Diagnostik untersuchen, befassen sich Rechtsmediziner mit nicht aufgeklärten Todesfällen, häufig nach Suiziden, Verbrechen oder Unfällen.
Die Arbeit an Leichen gehört nur bedingt zum Job eines Pathologen, dessen Tätigkeitsfeld mein Chef Professor Nerlich als »Schaltzentrale der Diagnostik« definiert. Auf Basis der Pathologie können Krankheiten richtig erkannt und dann behandelt werden. Die Grenzen zur Rechtsmedizin sind jedoch fließend, sogar Mumien können rechtsmedizinisch untersucht werden – Mord verjährt nie, es fragt sich nur, gegen wen ermittelt werden sollte, falls der Münchner Kriminalhauptkommissar und Profiler Alexander Horn recht hat mit seiner These, dass Ötzi heimtückisch und aus niederen Motiven umgebracht wurde. Auch mein Chef Professor Nerlich machte die Bekanntschaft Ötzis. Er leitete eine Studie des Forscherteams der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität mit Bozener Kollegen und bestätigte, dass der etwa sechsundvierzigjährige Ötzi den mörderischen Pfeilschuss nur kurze Zeit überlebte – was mit immunhistochemischen Verfahren nachgewiesen wurde. Ötzi verblutete. Aber wir können ruhig schlafen: Der Täter läuft sicher nicht mehr frei herum.
Ich brauche keine Krimis, damit mich Mumien faszinieren. Ich finde sie auch dann spannend, wenn sie eines natürlichen Todes gestorben sind. Denn Mortui vivos docent – Die Toten lehren die Lebenden –, diese Weisheit hat bei Mumien eine besondere Bedeutung. Während wir in der Medizin an toten Menschen zum Beispiel den Verlauf einer Krebserkrankung nachvollziehen können, erzählen uns die Mumien auch viel über die Lebensumstände ihrer Zeit. Die Geschichte beginnt oft schon bei der Verpackung, dem Sarg. Wie ist er beschaffen? Bei älteren Särgen sind die Hobelspäne sehr dick. Manchmal sehe ich bei der Bergung einer Mumie einen Schreiner vor hundert, zweihundert Jahren vor mir, wie er mit seinen schwieligen Händen grobe Späne aus dem Holz zieht. Oder einen Schneider, der die Uniform des Verstorbenen auf seinen irdischen Leib maßanfertigt und dann von Hand näht. Maßgefertigt wurden früher übrigens auch die Särge, und die Sargform verbreiterte sich vom Fußteil zum Kopf. Heute, in Zeiten von Billig-Billig, werden auch einfache Holzkisten als Särge angeboten. Der Sarkophag der alten Ägypter, der in unserer Zeit durch die Schutzhülle über das Kernkraftwerk Tschernobyl sozusagen wieder geläufig wurde, war aus Marmor oder Stein.
Das Wort »Sarkophag« ist nichts anderes als die Langform von Sarg und heißt übersetzt: Fleischfresser. Werden wirklich nur noch Knochen übrig sein? Das ist die Frage, bevor ich einen Sarg eröffne – voller Hoffnung, mehr zu finden, am besten: eine Mumie.
Ein Hauch von Geschichte steigt auf, zumal viele der in Grüften bestatteten Verstorbenen historisch bedeutende Personen waren. Ich beuge mich über einen Leichnam, der Seit an Seit mit Napoleon auf einem Gemälde zu sehen ist, die Knöpfe an seiner Paradeuniform glänzen wie eben frisch poliert – ein Gänsehaut-Moment! Vor zweihundert Jahren war dieser Leichnam ein lebendiger Mensch. Was wird er uns erzählen, wenn wir ihn untersuchen? Zuerst einmal aber müssen wir ihn bergen, sehr, sehr behutsam. Ehrfurcht durchdringt mich, und ich bin dankbar, dass ich durch diesen Leichnam sozusagen auf eine Zeitreise gehen darf. Selbst wenn dieser Mensch schon viele Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte tot ist, sehe ich dennoch in ihm einen Menschen, der gelebt hat, der vielleicht geliebt hat, der Schönes und Schlimmes erfuhr und womöglich die politische Geschichte seines Landes mitgestaltete. Denn natürlich sind vor allem die wohlhabenden und einflussreichen Menschen so sorgfältig bestattet worden, dass die Chance der Erhaltung ihrer Körper besteht.
Wer einfach nur in einem Holzsarg in einem Erdgrab bestattet wird, fällt früher oder später der Verwesung anheim. Auch solche Leichen habe ich öfter gesehen, wenn ich an Exhumierungen mitwirkte. Dafür braucht es einen richterlichen Beschluss, und sie werden entweder im Rahmen polizeilicher Ermittlungen, für medizinische Gutachten oder bei Versorgungs- und Versicherungsfällen angeordnet. Manchmal erfolgt eine Exhumierung auch aus privaten Gründen, wenn jemand beispielsweise umzieht und seine Verstorbenen an den neuen Wohnort umbetten möchte. Oder wenn ein Friedhof geschlossen werden muss. Diese exhumierten Leichen sind mit Mumien nicht zu vergleichen, weil sie eben nicht trocken sind. Durch die Aufbewahrung im Erdgrab ist das Gewebe feucht. Liegezeit und Bodenbeschaffenheit entscheiden über den Zustand der Leiche. Bei luftdurchlässigem Kiesboden findet die Verwesung innerhalb von zwei bis drei Jahren statt, während eine Leiche in luftundurchlässigem, dickem Lehmboden auch zehn Jahre nach der Bestattung noch relativ gut erhalten sein kann.
Exhumierte Leichen riechen muffig-modrig, während sich die Geruchsentwicklung bei Trockenmumien in Grenzen hält. Eine olfaktorische Herausforderung stellen faule Leichen dar. Aber auch bei ihnen verliere ich niemals den verstorbenen Menschen aus dem Blick. Fäulnis entwickelt sich durch anaerobe Bakterien, die keinen Sauerstoff benötigen und überwiegend aus dem Darm stammen. Eiweiß zersetzende Prozesse führen zur Bildung von Ammoniak und Schwefelwasserstoff und sorgen so für einen üblen Gestank, vergleichbar mit faulen Eiern. Verwesen hingegen geschieht durch aerobe Bakterien, die sich meist im Erdgrab entwickeln.
Mumienflut
Leichname, die in unserer Zeit mumifiziert sind, waren meistens schlank. Nach dem Tod verliert der Körper Flüssigkeit, ein voluminöser Körper fault leichter als ein schlanker. Je weniger Flüssigkeit sich in einem Körper befindet, desto schneller beginnt der Austrocknungsprozess mit dem Endergebnis der Mumifizierung. Diesen Austrocknungsprozess haben die Ägypter mit ihren Einbalsamierungstechniken beschleunigt. An die alten Ägypter und vor allem den Star unter den Mumien, den Pharao Tutanchamun, denken die meisten Menschen auch, wenn sie von Mumien hören. Dass in Deutschland immer wieder Mumien gefunden werden, wissen viele nicht. Doch auch bei uns kommt es in Wohnungen und Kellern zu Mumienfunden. Zeitungen ist das oft eine Schlagzeile wert, so ein Fund wird als Sensation behandelt. Mumie in München! Dabei ist die Mumifizierung unter den richtigen Bedingungen wie gesagt ein natürlicher Prozess.
Im Institut für Rechtsmedizin wird untersucht, ob die mumifizierte Leiche gewaltsam zu Tode kam oder ein natürliches Ableben vorliegt. Erst danach kann der Verstorbene bestattet werden. Das ist sozusagen die umgekehrte Reihenfolge, dass eine Mumie bestattet anstatt geborgen wird.
Mumien werden bei uns im Institut sehr vorsichtig, fürsorglich, umsichtig, achtsam behandelt. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Mumienteile noch achtlos als Brennmaterial sogar zum Beheizen von Dampflokomotiven verwendet. Nun, es gab ja auch keinen Mangel, eher eine Mumienflut. Bei Notgrabungen vor dem Fluten des Assuan-Stausees wurden mehrere Tausend teils skelettierte Mumien freigelegt. Auch in Theben, der ehemaligen Hauptstadt Ägyptens, fand man Mumien zuhauf: Jedes der rund neunhundert Gräber enthielt circa hundert Leichen, von denen viele per Schiff nach Amerika – zur Papierherstellung – und nach Europa – als Sammlungs- und Apothekenmumien – gebracht wurden.
Süddeutschen Zeitung.
Vier Jahre später ging mein Wunsch in Erfüllung, und so habe ich das große Glück, an aufsehenerregenden Mumienforschungen beteiligt zu sein. In der Zusammenarbeit mit Professor Nerlich habe ich viel über Mumien- und Skelettuntersuchungen gelernt. Doch im Gegensatz zu ihm ist mein Zugang kein wissenschaftlicher. Wo meine Arbeit endet, beginnt die des Professors. Ich organisiere die Bergung der Leichname und die Vorarbeiten wie die Reinigung der Mumien von Sargresten und Schmutz, bleibe als Makroskopiker an der äußeren Hülle, während Professor Nerlich am Mikroskop das Innenleben untersucht. Die äußere Hülle verrät mir aber schon sehr viel.
Während die zeitnahe Obduktion eines Verstorbenen nach circa zwei Stunden mit dem Verschließen des Leichnams und der histologischen Befunderhebung nach einigen Wochen beendet ist, geht die vollständige Untersuchung einer Mumie – vergleichbar mit einem schwierigen Kriminalfall – nach der Autopsie auch weiter. Sie dauert deutlich länger, ein halbes bis ein Jahr. Obduktion und Autopsie bedeuten übrigens das Gleiche, stammen aber einmal aus dem Lateinischen (»obducere« = vorführen) und aus dem Griechischen (»auto« = selbst und »opsis« = das Sehen). Viele Vorsichtsmaßnahmen sind während dieser langen Untersuchungszeit erforderlich. Vor allem die sachgerechte trockene Lagerung – bis maximal 60 Prozent Luftfeuchtigkeit – ist wichtig, damit die Mumie nicht mit Bakterien oder Pilzen besetzt wird, die sie zerstören könnten. Leider ist es nicht möglich, ägyptische Mumien auszuwickeln, ohne sie zu beschädigen, da sich zwischen den einzelnen Schichten Bitumen, bei uns bekannt als Teer, und Harz als Klebstoff befinden.
Tier- und Menschenmumien
In Ägypten wurden im Altertum übrigens auch Tiere einbalsamiert; ihre Anzahl übertrifft die der bisher gefundenen Menschenmumien bei Weitem und wird auf mehrere Millionen geschätzt. Tiere wurden als mumifizierte Grabbeigaben mitbestattet – als ehemalige Haustiere der Verstorbenen sollten sie diesen im Totenreich wie schon im Diesseits Gesellschaft leisten. Oder sie dienten als Schutzgötter auf dem Weg ins Jenseits. Wir wissen zwar viel über die alten Ägypter, aber eben längst nicht alles. So gibt es zu vielen Detailfragen verschiedene Thesen. Gelegentlich sollen auch lebende Tiere als Proviant mitbestattet worden sein, die im Lauf der Zeit auf natürliche Weise konservierten. Auch Grabanlagen für einbalsamierte Tiere wurden gefunden; es gibt außerordentlich gut erhaltene Mumien.
Die Konservierung des menschlichen Leichnams ist wohl auf Beobachtungen der Ägypter zurückzuführen, dass sich der Körper unter bestimmten günstigen Klimabedingungen nicht zwangsläufig durch Fäulnis und Verwesung zersetzt und die Gestalt des menschlichen Körpers verliert. Die älteste vollständig erhaltene Naturmumie »Ginger« starb vor rund fünftausend Jahren am Westufer des Nil und wurde bei der Ortschaft Negade begraben. Damals war es Brauch, Verstorbene, in Leinentücher, Felle oder Leder eingewickelt, in eine flache Grube zu legen. Darüber wurde eine Matte gebreitet, und danach wurde die Grube mit Sand aufgefüllt. Um Hyänen und andere Tiere fernzuhalten, wurden Steine auf die Grabstätte gewälzt. Diese Methode führte bei vielen der Verstorbenen zur Mumifizierung. Der heiße Wüstensand trocknete sie in kurzer Zeit aus, und so verwandelten sie sich in Trockenmumien. Der Spitzname Ginger rührt übrigens daher, dass das gelbrote Haar – die Farbe entstand wohl durch chemische Prozesse während der langen Lagerung – an die Farbe von Ingwer erinnerte.
Die Menschen damals glaubten, dass die Mumien nicht tot waren. Sie schliefen nur. Hin und wieder wachten sie auf, schauten sich ein bisschen um, naschten etwas von ihren Grabbeigaben und legten sich danach wieder zur Ruhe. Leider entspricht das nicht der Realität – und das bedaure ich. Wie viel könnten sie mir erzählen von früher und den großen Meistern der Einbalsamierkunst!