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Lynn Raven



Das Blut

des Dämons












cbt

DIE AUTORIN

© Katja Theiß

 

Lynn Raven lebte in Neuengland, USA, ehe es sie trotz ihrer Liebe zur wildromantischen Felsenküste Maines nach Deutschland verschlug. Nachdem sie zwischenzeitlich in die USA zurückgekehrt war, lebt sie heute wieder in der Nähe von Mainz und ist unter den Namen Alex Morrin und Lynn Raven als Fantasyautorin ausgesprochen erfolgreich.

 

 

Weitere lieferbare Titel bei cbt:

 

Der Kuss des Dämons (30554)

Das Herz des Dämons (30690)

Der Kuss des Kjer (30489)

Werwolf (30657)

Der Spiegel von Feuer und Eis (30502, unter dem Namen Alex Morrin)

Blutbraut (16070)

Lynn Raven

Es ist Liebe auf den zweiten Blick – doch nie im Leben hätte Dawn für möglich gehalten, dass ihre Gefühle ausgerechnet von einem Geschöpf der Nacht erwidert werden: von Julien, dem unnahbar Coolen, aber auch unheimlich schönen Neuen an der Highschool. Er hat einen blutigen Auftrag, in den Dawn tiefer verwickelt ist, als sie ahnt …

 

 

Das Herz des Dämons
336 Seiten, ISBN 978-3-570-30690-1

 

Der Kuss des Dämons
336 Seiten, ISBN 978-3-570-30554-6

 

Das Blut des Dämons
ca. 446 Seiten, ISBN 978-3-570-30765-6

www.cbt-jugendbuch.de

Wie lange wollte ich die Augen davor verschließen? Leugnen, was von Anfang an nicht zu leugnen war? – Die Krämpfe. Das Rebellieren ihres Magens in immer kürzeren Abständen. Die Erschöpfung. – ›Ein Magen-Darm-Virus. Menschen werden nun einmal von Zeit zu Zeit krank. Es wird mir bald besser gehen.‹ Und ich habe ihr geglaubt. Weil ich ihr glauben wollte.

Hätte es etwas geändert, wenn sie mir gleich erzählt hätte, was Bastien in jener Nacht in der Lagerhalle zu ihr gesagt hat? Dass es sich mit ihr ›demnächst erledigt‹ hat. Hätte ich es aufhalten können, wenn ich es früher gewusst hätte? Gewusst! Pah! Wenn ich früher die Augen aufgemacht hätte.

Ich werde sie halten, solange ich kann. Ihre Haut ist durchscheinend wie Porzellan. Und kalt. Ich kann die Adern darunter sehen. Bläuliche, feine Linien. Mit jedem Tag wird sie schwächer.

Zu wie vielen menschlichen Ärzten habe ich sie gezerrt? Ich weiß es nicht. Es waren nicht viele. Wozu auch? Sie hätten ihr niemals helfen können. Samuel hat ihren Wechsel viel zu früh erzwingen wollen und ihre Chemie vollkommen durcheinandergebracht. Ihr Körper weiß nicht mehr, was er ist: Mensch oder Lamia.

Und keiner kann ihr helfen. Auch Vlad nicht. – Fürst Vlad. Sollte er je erfahren, wie es seiner Großnichte geht, wird er sie mir wegnehmen. Ich kann ihm nichts davon sagen.

Deshalb bin ich hier. Ich bin auf mich gestellt. – Und treffe selbstsüchtig eine Entscheidung, die eigentlich ihre ist. Weil ich mich an etwas klammere, an das ich selbst niemals geglaubt habe: Legenden. Legenden über das Blut der Allerersten.

Ihretwegen verrate ich mein Legat als Kideimon. Papas Erbe. Das Einzige, was mir von ihm geblieben ist. Ich breche das Wort, das ich ihm gegeben habe. Und es ist mir egal. Ebenso, wie es mir egal ist, dass Adrien dagegen ist.

›Beende es! Jetzt! Du weißt, wo es hinführt!‹ Seine Worte hallen noch immer in meinem Kopf. Jedes einzelne wie ein Stich ins Herz. Ja, ich weiß, wo es hinführt. Qual. Wahnsinn. Tod. Ich war auch an dieser Schwelle, Bruder. – Selbst wenn es nur den Hauch einer Hoffnung gibt, das Blut könnte verhindern, dass sie stirbt. Selbst wenn das bedeutet, dass ich mich mit dir überwerfen muss. Ich lasse es mir nicht verbieten.

»Wir gehen gleich in den Landeanflug, Sir. Wenn Sie sich bitte anschnallen«, meldet sich der Pilot von di Ulderes Gulfstream über die Bordsprechanlage. Dafür, dass er mir die Maschine überlassen hat, stehe ich noch tiefer in seiner Schuld.

Kaum merklich legt der Jet sich in eine Kurve, bricht durch die Wolken. Das Meer ist für einen Novembertag überraschend blau und klar. Die Sonne funkelt auf seiner Oberfläche. Vor der Küste Pomègues, Ratonneau, Tiboulen und d’If mit dem alten Château …

Marseille. Die Stadt, aus der ich seit nahezu einem Menschenleben bei Todesstrafe gebannt bin.

Ich habe keine andere Wahl.

Mein Leben stirbt.

Anfang vom Ende

Bis vor Kurzem war ich noch der festen Überzeugung gewesen, es gäbe nichts Schlimmeres, als Gesprächsthema Nummer eins der hiesigen Highschool zu sein und ständig begafft zu werden wie die Hauptattraktion einer Freakshow. Inzwischen wusste ich, dass es Schlimmeres gab: die Gewissheit, dass es sich mit mir – wie hatte Bastien das in dieser Lagerhalle so hübsch ausgedrückt? – demnächst erledigt hatte. Ich starb. Daran ließ sich wohl tatsächlich nicht mehr rütteln.

Allerdings wurde ich allmählich das Gefühl nicht los, dass sich selbst diese Tatsache noch toppen ließ: durch einen Freund, der mich nur mit einem mageren »Ich habe etwas zu erledigen« als Begründung und »Bitte frag nicht weiter« einfach sitzen ließ. – Nun, wenn man es genau nahm, traf sitzen ließ es nicht ganz. Fakt war: Julien hatte mich allein gelassen. Ohne mir mehr zu sagen, als »Ich bin zurück, so schnell ich kann«, war er in der vergangenen Nacht zum Flughafen von Bangor gefahren, wo ihn der Privatjet von Timoteo Riccardo di Uldere bereits erwartete. Das Ziel des Fluges? Fehlanzeige. Julien hatte sich geweigert, es mir zu verraten. Alles, was ich wusste, war, dass er binnen vierundzwanzig Stunden zurück sein wollte.

In einer Mischung aus Ärger und Hilflosigkeit starrte ich das aufgeschlagene Buch vor mir an und versuchte mich auf das zu konzentrieren, was Mr Barrings, unser Lehrer für englische Literatur, uns gerade zu Herman Melville und seinem Roman Moby Dick erzählte. Und bemühte mich gleichzeitig die Blicke meiner Mitschüler und ihr Getuschel zu ignorieren. Beides mit mäßigem Erfolg.

Wir hatten ihnen in den letzten Wochen genug Grund zum Tratschen geboten und die Gerüchte reichten von Dawn Warden sollte von ihrem Onkel dem Teufel geopfert werden und Julien DuCraine hat es im letzten Moment verhindert bis zu Julien DuCraine dealt mit Crystal und wäre deshalb beinah von den Cops verhaftet worden. Die Wahrheit dahinter sah ganz anders aus. Aber sie irgendjemandem – selbst den Leuten aus meiner Clique – zu erzählen, stand völlig außer Frage. Noch nicht einmal Beth, die immerhin meine beste Freundin war, durfte etwas davon erfahren. Beth, die Juliens Verhalten mir gegenüber seit jener Nacht, in der ich mir ihren Käfer geliehen hatte, mit Argus-Augen beobachtete. Sie hatte damals angenommen, dass Julien mich nach einem Streit einfach im Ruthvens hatte stehen lassen und ich mir ihr Auto geborgt hatte, um ihm hinterherzufahren. Auch wenn sie wohl stillschweigend annahm, dass wir uns wieder vertragen hatten und deshalb davon abgesehen hatte, Julien zur Schnecke zu machen, änderte das nichts daran, dass sie offenbar nach wie vor damit rechnete, er könne mich genauso fallen lassen, wie er es bei seinen anderen Freundinnen vor mir stets getan hatte.

Mit ein wenig Verspätung blätterte ich meinen Moby Dick um, ohne zu wissen, ob ich wirklich noch auf der richtigen Seite war.

Dass ich heute Morgen allein – ohne Julien! – zum Unterricht erschienen war, schürte den Klatsch noch ein Stück mehr. Vor allem für Cynthia – Schulschönheit von Gottes Gnaden – war es ein gefundenes Fressen. Stand mein Freund neben mir, wagte sie es nicht, mir gewisse Dinge ins Gesicht zu sagen. Ohne ihn kannten ihre Sticheleien keine Grenzen. Gerade eben warf sie mir erneut einen schnellen Blick über die Schulter zu. Was sie sagte, als sie sich wieder umdrehte, konnte ich nicht hören, aber ihr Hofstaat kicherte. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte ich auf die Moby-Dick-Ausgabe. Ich hätte mir das hier ersparen können. In meiner Tasche steckte eine Entschuldigung von meinem Großonkel Vlad – von Julien gefälscht. – Wobei ich mir fast sicher war, dass selbst Onkel Vlad den Unterschied zwischen seiner Schrift und der auf dem Papier kaum, oder nur mit großer Mühe, erkennen würde. – Aber ich hatte es nicht ertragen, zu Hause zu sitzen. Allein mit meinen Gedanken; dem Wissen, dass mir die Zeit unter den Händen davonrann … Ob ich Weihnachten noch erlebe? Die Frage war einfach da. Ebenso wie der Kloß in meiner Kehle. Nein! Ich würde nicht diesen Gedanken nachhängen. Nicht jetzt! Deshalb hatte ich mich – seit zweifelsfrei feststand, dass ich sterben würde – in einen Wirbel an Aktivitäten gestürzt. Ich wollte keine Zeit, um zu denken, zu grübeln; wollte mich nicht immer wieder fragen, ob es nicht doch irgendeinen Ausweg gab, einen, den wir nicht sahen. Einen anderen als den, den Julien kategorisch ablehnte: Nach wie vor weigerte er sich, mich zu einem Vampir zu machen. – Und noch war ich nicht bereit, zu meinem Onkel Vlad zu gehen und ihn zu bitten, das zu übernehmen. Ganz abgesehen davon, dass auch er sich weigern konnte, fürchtete ich, dass er mich nicht länger in Juliens Obhut lassen würde, wenn er erst wusste, wie es um mich stand. Er war der Letzte, der davon erfahren durfte.

Meine Gedanken schweiften zu den vergangenen Wochen zurück. Als meine Anfälle immer häufiger und immer heftiger kamen und ich mir selbst endlich eingestanden hatte, dass Bastien recht hatte, hatte ich Julien gezwungen, Dinge mit mir zu unternehmen, die er niemals freiwillig mit mir unternommen hätte: Achterbahnfahrten auf dem Rummel in Darven Meadow – hintereinander, bis selbst ihm schlecht war – und durchtanzte Nächte im Ruthvens waren nur ein paar davon gewesen. Ich war bis an meine Grenzen gegangen. Und mehr als einmal hatte ich es bei solchen Gelegenheiten anschließend gerade noch auf den Beifahrersitz der Corvette geschafft, ehe meine Kräfte mich verließen – oder mich einer meiner Anfälle schüttelte. Er hatte nie etwas gesagt, sondern mich dann immer nur stumm nach Hause gefahren und die Treppe hinauf in mein Bett getragen. – Aber in den Stunden danach – wenn er dachte, dass ich schlief oder bewusstlos war – saß er neben mir und hielt meine Hand umklammert, als könne er so irgendetwas verhindern. Oder als brauche er selbst diesen Halt.

Ich schluckte gegen die Enge in meiner Kehle an, bis sie vergangen war. Auch wenn der Tod wie eine dunkle Wolke über uns hing, war ich entschlossen so zu leben, als sei sie nicht da. Es gab noch so vieles, was ich tun wollte … Vor allem aber wollte ich in dem bisschen Zeit, das mir noch blieb, nicht behandelt werden, als sei ich aus Glas. Glas, das bereits einen Sprung hatte. Und trotzdem fühlte ich mich manchmal wie erstarrt. Ich ballte die Fäuste. Aber nicht heute! Auch wenn Julien nicht da war. Noch war ich am Leben.

Wie zum Hohn zog ein Krampf genau in diesem Moment meinen Magen zusammen. Vollkommen überraschend. Unwillkürlich schnappte ich nach Luft, legte die Hand auf meinen Bauch und krümmte mich ein Stück vornüber.

Nein! Bitte nicht!

»Dawn, alles in Ordnung mit Ihnen?«

Ich versuchte gegen den Schmerz zu atmen. Die Muskeln nicht weiter zu verkrampfen, sondern sie zu entspannen, so wie Julien es mir gezeigt hatte.

»Dawn, geht es Ihnen nicht gut?«

Die Augen zusammengepresst drückte ich die Faust fester in die Stelle, in der schon ein Messer zu bohren schien. Dabei hatte ich heute noch keinen Bissen gegessen.

»Dawn?«

Ich blinzelte, als mir klar wurde, dass Mr Barrings neben mir stand. »W-was?« Meine Stimme klang heiser.

Er beugte sich ein wenig zu mir. Seit seinem Unfall zu Beginn des Schuljahres bewegte er sich ziemlich steif. »Stimmt etwas nicht mit Ihnen, Dawn? Soll Sie jemand zur Schulschwester bringen?«

»Nein!« Ich brachte ein Kopfschütteln zustande. »Nein, alles … in Ordnung.« Atmen! Atmen! Ob mein Lächeln mehr war als eine Grimasse, konnte ich nicht abschätzen. Mr Barrings’ Gesichtsausdruck nach zu schließen, war es das nicht. Alle starrten mich an.

»Sind Sie sicher?«

Ich nickte. Atmen!

»Vielleicht geht es Dawn ja schneller besser, wenn sie einfach mal wieder den Finger in den Hals steckt«, ließ Cynthia sich in die betretene Stille um uns herum vernehmen. Stimmte mein Verdacht also und das Gerücht mit der Bulimie ging tatsächlich auf ihr Konto? Zum Teufel mit ihr!

Die Hand noch ein wenig fester auf meinen Bauch gepresst hob ich den Kopf und sah sie an. Atmen. »Nein danke. Das überlass ich dir. Ich bin mit meinem Gewicht durchaus zufrieden.« Obwohl meine Stimme nach wie vor entsetzlich rau war, starrte sie mich eine Sekunde mit schmalen Lippen wütend an. Doch dann reckte sie mit einem süffisanten Lächeln die Nase ein bisschen höher.

»Dass du das jetzt bist, kann ich mir durchaus vorstellen. – Wie viel hast du seit dem Halloween-Ball abgenommen? Zehn Pfund?«

Es waren zwanzig. Aber das musste sie nicht wissen.

»Solche Kommentare sind absolut unnötig, Cynthia.« Mr Barrings warf ihr einen unwilligen Blick zu. Der, mit dem er mich bedachte, war dafür umso nachdenklicher. Hoffentlich hatte mir Cyn nicht gerade zu einem Termin mit irgendeinem Schulpsychologen verholfen.

»Sind Sie sicher, dass wieder alles in Ordnung ist, Dawn?«, erkundigte er sich noch einmal.

»Ja, Sir. Danke.« Der Schmerz sank tatsächlich allmählich wieder auf sein übliches halbwegs erträgliches Level herab. Vielleicht würde er ja für ein paar Stunden ganz verschwinden, wenn Julien wieder da war. Meine Hände – eigentlich alles an mir – zitterten allerdings noch immer. Ich drückte sie unter der Bank auf meine Oberschenkel.

Abermals maß Mr Barrings mich auf diese nachdenkliche Art, doch dann nickte er und kehrte nach vorn zu seinem Tisch zurück. »Nun gut, wieder zu Herman Melville, meine Herrschaften. Kann mir jemand in den letzten fünf Minuten unserer Stunde zusammenfassen, welchem seiner Autorenkollegen Moby Dick gewidmet war und auf welcher Vorlage beziehungsweise auf welchen realen Geschehnissen der Roman basiert, ehe wir in den eigentlichen Text einsteigen?«

Scott zwei Tische vor mir meldete sich. Sosehr ich mich bemühte: Es gelang mir nicht, mich auf seine Antwort zu konzentrieren. Schließlich gab ich es auf. Ich musste nur noch eine Pause und anschließend Mathe und Erdkunde hinter mich bringen, dann war dieses Elend für heute vorbei. – Und zu Hause wartete nichts als Stille auf mich. Der Gedanke schnürte mir einmal mehr die Kehle zu. Wo steckst du, Julien? Bitte, komm heim. Die Schulglocke erlöste mich für den Moment und ich flüchtete vor weiterem Gaffen, Getuschel und hämischen oder mitleidigen Bemerkungen ins nächste Mädchen-Klo.

Die Hände um den Rand eines der weißen Waschbecken geklammert versuchte ich das Zittern irgendwie zu beherrschen. Meine Finger waren eiskalt. Ich konnte sie kaum spüren. Ein Mädchen ging hinter mir vorbei, ich begegnete seinem Blick im Spiegel vor mir. Sie schaute hastig weg, gleich darauf schloss sich eine der Toilettentüren, der Riegel schabte. Ich starrte weiter in den Spiegel. An seinem Rand waren winzige dunkle Flecken. Eine der Ecken war abgesplittert. Mein Spiegelbild starrte zurück. Von Anfang an hatte ich nicht verstanden, was Julien an mir fand, warum er mich für schön und bezaubernd hielt, aber jetzt … Ich hatte dunkle Ringe unter den Augen, die mir inzwischen nur noch in einem undefinierbaren, stumpfen Braun entgegensahen. Meine Haare waren glanzlos und strähnig, ich konnte waschen, Spülungen machen und Kuren draufpacken, so viel ich wollte, nichts davon wirkte. Vielleicht sollte ich froh sein, dass es mir noch nicht büschelweise ausfiel. Beinah unbewusst hob ich eine Hand, drehte sie vor meinem Gesicht, berührte es, fuhr mir über die rissigen Lippen. Meine Haut war blass – fast so blass wie Juliens –, bitter verzog ich den Mund. Was hätte ich darum gegeben, wenn sie es aus demselben Grund gewesen wäre! Aber offenbar würde es den Wechsel für mich nun endgültig nicht mehr geben, so schwer es mir auch fiel, diese Hoffnung aufgeben zu müssen. Unter der Haut konnte man die Adern erkennen. Und ich glaubte sogar zu sehen, wie das Blut darin pulste. Ich ließ die Hand fallen, schloss die Augen, krallte die Finger wieder um den Waschbeckenrand. – Ich sah aus wie etwas, das aus einem Bestattungsinstitut davongelaufen war.

Aus der Toilettenkabine, in die das Mädchen zuvor verschwunden war, wehte Zigarettenqualm.

»Dawn?«

Erschrocken keuchend fuhr ich herum. Prompt wurde mir schwindlig. Wie häufiger in letzter Zeit, wenn ich mich zu hastig bewegte. Erneut klammerte ich mich am Waschbeckenrand fest, führte die Bewegung sehr viel langsamer zu Ende. Beth stand hinter mir, wie stets von Kopf bis Fuß in Schwarz. Auch wenn ihr Look heute mit Rüschenbluse, Jeans und Schnürstiefeln geradezu normal wirkte im Vergleich zu dem, was sie sonst trug. Ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr Gesicht umrahmten. Vielleicht sollte ich mich zukünftig auch im Goth-Style schminken? Möglich, dass die Ringe unter meinen Augen dann wie gewollt aussahen.

»Bist du okay?« Sie musterte mich besorgt. Sosehr ich Beth mochte, mit ihrem Gluckengetue ging sie mir inzwischen auf die Nerven. Ebenso wie Julien. Ich starb, in Ordnung. War nicht mehr zu ändern. Aber mussten sie so ein Drama daraus machen? Ich grub mir die Zähne in die Lippe, um es nicht laut zu sagen. Wie oft in den letzten Tagen hatte ich Julien angefahren, wenn er mir nur die Hand reichte, um mir aus dem Auto zu helfen, oder blitzschnell meinen Ellbogen packte, wenn ich unversehens wankte? Ich wusste es nicht mehr. Jedes Mal glaubte ich zu sehen, was er sonst so sorgfältig vor mir verbarg; was dann aber für einen Sekundenbruchteil in seinen Augen stand: Schmerz. Und jedes Mal schrie etwas in mir: Verzeih mir! Aber ich brachte die Worte nie laut über die Lippen. – Ich hatte Angst. Todes-Angst. Und in dieser Angst war ich gereizt und ungerecht, biss um mich wie ein Tier in der Falle. Ich wusste es. Und Julien war derjenige, der alles abbekam. Wie lange seine Geduld noch reichen mochte, ehe auch er einmal ausrastete – oder vielleicht sogar etwas Dummes tat, um seinen Frust nicht an mir auszulassen –, darüber versuchte ich gar nicht erst zu spekulieren. Beth wollte ich das nicht auch noch antun.

Ich atmete tief durch und versuchte es mit einem Lächeln. »Alles okay. Mir war nur ein bisschen schwindlig.«

Beth maß mich erneut mit einem Blick, der zugleich besorgt und unwillig war. »Kein Wunder, du hast heute Mittag ja auch keinen Bissen angerührt.« Ihre Augen wurden schmal. »Lass mich raten: Gefrühstückt hast du auch nichts, oder?« Sie schnaubte und wühlte in ihrer Tasche herum. »Wenn Julien hier in der Schule nichts isst, weil er gegen alles Mögliche allergisch ist, musst du das nicht auch tun.« Sie wühlte tiefer.

Dass Julien wegen einer endlosen Latte an Nahrungsmittelallergien nur ganz bestimmte Dinge zu sich nehmen durfte, war die Begründung dafür, dass er sich nur sehr selten in der Schul-Cafeteria sehen ließ und dort gewöhnlich nie etwas anrührte. Eine von vielen Lügen, die seine Anwesenheit hier in Ashland Falls und bei mir überhaupt erst möglich machten – und von denen die Hälfte einer genaueren Überprüfung durch gewisse Stellen niemals standhalten würden. Was seine eigentliche Diät war, mussten Beth und die anderen nicht wissen.

»Ha, wusste ich es doch! – Hier!« Entschieden drückte sie mir einen Schokoriegel in die Hand. »Aufessen!«

Ich starrte ihn an, als habe er sich direkt vor meinen Augen in irgendetwas Ekliges verwandelt. Ein Bissen würde genügen, und ich würde mir sofort wieder die Seele aus dem Leib spucken.

»Danke. Aber nein, danke.« Ich wollte ihn ihr zurückgeben, doch Beth schüttelte abwehrend den Kopf.

»Du musst irgendetwas essen, Dawn«, beharrte sie. »Schau mal …«

»Lieb von dir, Beth, aber ich mag nicht.« Unter ihrem Arm hindurch stopfte ich ihn in ihre Tasche zurück.

Abermals dieser Blick. Eine Spülung rauschte, das Schaben eines Schlosses, eine Toilettentür öffnete sich und das Mädchen, das mich zuvor schon so neugierig angesehen hatte, ließ uns nicht aus den Augen, während es neben uns an das zweite Waschbecken trat. Beth funkelte sie herausfordernd an, ergriff meine Hand und zog mich so abrupt mit sich, dass ich die ersten Schritte nur hinter ihr herstolperte.

»Beth, was … lass mich los!« Sie ignorierte mich, schleppte mich aus dem Mädchen-Klo. Hinter der Tür warteten Susan, Mike und Tyler offenbar auf uns. Beth zerrte mich durch das Gedränge und den Lärm weiter, den Gang hinunter bis zu einem der Getränkeautomaten, förderte ein paar Münzen zutage und zog eine Cola, die sie aufriss und mir unter die Nase hielt.

»Du hast die Wahl: fester oder flüssiger Zuckerschock.«

Ich konnte die anderen drei hinter mir spüren. Mike räusperte sich. Es klang irgendwie unbehaglich. Seit er sich die Haare wachsen ließ, sah er seiner Halbschwester Susan noch viel ähnlicher. Allerdings war er noch weit davon entfernt, sie zu einem Pferdeschwanz zusammenfassen zu können, so wie Susan ihre glatte dunkelbraune Mähne gewöhnlich trug. Wie lange dauerte diese verdammte Pause eigentlich noch?

Ohne meinen Unwillen zu verbergen, schnappte ich mir die Dose – dass dabei Cola über meine Finger schwappte, war mir mehr als recht – und nahm einen winzigen Schluck.

»Zufrieden?« In meinem Magen meldete sich ein Brennen.

»Wenn du ausgetrunken hast.« Beth warf ihre Zöpfe nach hinten und verschränkte die Arme vor der Brust – und ich wünschte sie zum Teufel. Oder wahlweise mich in irgendein dunkles Loch, damit sie mich alle in Ruhe ließen. Meine Folterknecht-beste-Freundin neigte den Kopf ein wenig und ich nippte in unübersehbar widerwilligem Gehorsam noch einmal an der Cola.

»Sollen wir uns auf die Bank da drüben setzen?«, schlug Susan hinter mir zögerlich vor. Ich warf ihr einen bösen Blick zu. Was kam als Nächstes? Ein Rollstuhl?

Dass Neal Hallern genau in diesem Moment um die Gangecke bog und durch das Gewühl hindurch auf uns zusteuerte, kaum dass er uns – oder besser: mich – entdeckte, bewahrte sie vor einem bissigen Kommentar. Um wie viel lieber ließ ich meine schlechte Laune an ihm aus. Immerhin war Neal schuld daran, dass Julien kurz vor dem Halloween-Ball so ausgetickt war und ein Jungs-Klo demoliert hatte. Was genau Neal zu ihm gesagt hatte, um ihn so weit zu treiben, hatte er mir bis heute nicht verraten. – Aber es hatte ihm ziemlichen Ärger mit unserem Direktor Mr Arrons eingebracht – der wegen der Geschichte mit dem Crystal in Juliens Spind ohnehin gerade alles andere als gut auf meinen Freund zu sprechen gewesen war. – Und es hatte dazu geführt, dass Julien zwangsweise der Fechtmannschaft der Montgomery High hatte beitreten müssen. Was noch zusätzlich Öl in das Feuer – nein, den Waldbrand – zwischen Neal und ihm goss: Bisher war Neal nur sauer auf Julien gewesen, weil ich mich für ihn als meinen Freund entschieden hatte und nicht mit ihm, Neal, zusammen war. Jetzt waren sie auch zu Rivalen auf der Planche geworden. Es tat mir zwar leid, Neal nicht länger zu meinen Freunden zu zählen, doch er hatte den Bogen überspannt. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Das hinderte ihn natürlich nicht daran, direkt vor mir stehen zu bleiben und mich mit einem sauren Blick zu mustern, nachdem er den anderen zugenickt hatte.

»Wo ist dein Freund, Dawn?«, erkundigte er sich endlich, nachdem er mich geschlagene fünf Sekunden einfach angestarrt hatte.

Ich schob das Kinn vor und gab seinen Blick kalt zurück. Zwei Mädchen verteilten quietschbunte Flyer und eine davon drückte auch Beth einen in die Hand.

»Auch wenn’s dich eigentlich nichts angeht: Er ist zu Hause. Krank.« Ich hatte heute Morgen brav seine – gefälschte – Krankmeldung bei Mrs Nienhaus im Sekretariat abgegeben. Eine Gruppe Juniors drängte sich schnatternd und kichernd an uns vorbei zum Getränkeautomaten. Tyler und Mike wichen ihnen mit einem unwilligen »He!« aus. Susan bekam einen Stoß, schimpfte »Passt doch auf!« und machte einen Schritt in Beths Richtung.

»Krank?« Neal schnaubte. »Was hat er, die Beulenpest? – Ich meine, schau dich an, du siehst aus wie eine aufgewärmte Leiche.« Danke auch, Neal.

Susan holte neben mir Luft, die hellbraunen Augen wütend zusammengekniffen. Beth zischte etwas. Hatte sie ihn gerade tatsächlich »Idiot« genannt?

»Aber du bist hier, und der arme Julien ist so krank, dass er zu Hause bleiben muss?« Er musste das Weichei nicht aussprechen, sein Tonfall schrie es regelrecht heraus.

Ich biss die Zähne zusammen. »Was willst du, Neal?« Das Brennen in meinem Magen verstärkte sich wieder und holte auch das Zittern in meine Glieder zurück. Plötzlich standen sie alle viel zu dicht um mich herum. Ich wich ein kleines Stück zurück in der Hoffnung, dass es ihnen nicht auffallen würde. Beth räusperte sich mahnend, und ich setzte ein weiteres Mal die Dose an den Mund. Mein Nippen war nicht mehr als ein Befeuchten der Lippen.

»Ich soll ihm was vom Coach ausrichten: Er hat ihn für den Vorentscheid im County-Schulturnier gegen die Stearns High, die Penobscot Valley, die Orono und die Kathadin in vier Wochen aufgestellt – zusammen mit mir, Tyler und Paul. Ab Montag haben wir dreimal die Woche Training. – Sag ihm das.«

Ich grub mir selbst die Fingernägel in die Handfläche. Eben deshalb hatte Julien sich bis zu Mr Arrons Erpressung – entweder Beitritt zur Fechtmannschaft und Teilnahme an Wettkämpfen oder Anzeige und Schulverweis – geweigert, bei den Fechtern mitzumachen. Genau das hatte er die ganze Zeit vermeiden wollen. Verdammt. Wie sollte er da nur wieder rauskommen? Oder würde er alles auf eine Karte setzen und den Rauswurf aus der Montgomery riskieren? Der einzige Grund, der ihn hier hielt, war schließlich ich. Und nachdem es diesen Grund in absehbarer Zeit nicht mehr geben würde … was hinderte ihn daran? »Ich bestell’s ihm. – War’s das?«

Bei meinem bissigen Ton zuckte Neal zusammen. In das Gedrängel hinter mir kam ein bisschen mehr Bewegung. Ein Mädchen quietschte, ein Rucksack stieß mir in die Rippen. Ich verhinderte gerade noch, dass mir der Riemen meiner Tasche von der Schulter rutschte. Einen Moment sah es so aus, als wolle er noch etwas sagen, doch dann zuckten seine Augen zu etwas hinter mir. Auch die Blicke der anderen richteten sich darauf. Beinah in derselben Sekunde legten sich Arme von hinten um mich. Mein Schreck dauerte kaum mehr als einen Herzschlag. Es war nicht nötig, dass ich mich umdrehte. Es gab nur eine Person, die mich so festhielt: Julien! Er war wieder da! Erleichtert lehnte ich mich in seine Umarmung. Ich hatte bisher gar nicht gewusst, dass er auch eine helle Wildlederjacke besaß.

»Doch nicht so krank, was, DuCraine?«, spottete Neal und schob ein »Neue Brille?« hinterher, während Susan gleichzeitig irgendwie entsetzt »Was hast du mit deinen Haaren gemacht?« fragte. Ich erstarrte schlagartig. Die Arme legten sich fester um mich, drückten mich enger gegen die Brust in meinem Rücken.

»Was soll Dawn mir sagen?« Juliens Atem streifte meinen Hals. Die falsche Stimme! Nicht dass der Unterschied so eklatant gewesen wäre, dass es den anderen zwingend auffallen musste – mir aber dafür umso mehr. Adrien! Ich drehte mich so weit um, dass ich ihn über die Schulter ansehen konnte.

Tatsächlich! Hätte ich nicht gewusst, woran man die beiden – zumindest im Moment – unterscheiden konnte, hätte ich möglicherweise auch mehr als einen Blick gebraucht: Hinter mir stand nicht mein Freund, sondern sein Zwillingsbruder. Der, für den Julien sich gegenüber seiner eigenen Art ausgab, um – offiziell als mein Leibwächter – hier bei mir in Ashland Falls bleiben zu können. Denn eigentlich war Julien nach Dubai verbannt. Allerdings hatte Adrien inzwischen seinen Platz dort eingenommen.

Doch jetzt war Adrien wieder hier und schlüpfte in die Rolle seines Bruders. Warum? Mir fielen nur zwei Gründe dafür ein: Julien brauchte mehr Zeit und hatte seinen Bruder gebeten, während seiner Abwesenheit auf mich aufzupassen, oder aber … – Plötzlich waren meine Hände schweißnass und meine Kehle eng. – Es war ihm etwas zugestoßen.

Ich drehte mich ein Stück weiter zu Adrien um. Die Spuren dessen, was Onkel Samuels Handlanger ihm angetan hatten, waren nicht mehr zu sehen. Auch seine Haare waren nicht mehr wasserstoffblond, nur die Länge war wie zuvor: stoppelkurz. Ein wenig hilflos suchte ich in seinen Zügen nach irgendeinem Hinweis. Immerhin konnte ich ihn ja kaum vor all den anderen nach Julien oder seinem Bruder fragen. Ob er wusste, dass Kate vor drei Tagen zu ihren Eltern nach Boston zurückgefahren war?

Die Schulklingel schrillte durch den Gang. Hatte ich bis eben das Ende der Pause herbeigesehnt, wünschte ich mir jetzt, dass sie noch ein Stück länger gedauert hätte.

»Was soll Dawn mir sagen?«, wiederholte er gerade und blickte dabei über mich hinweg Neal an.

»Dass du für den Vorentscheid im County-Schulturnier in einem Monat aufgestellt bist. Ab Montag dreimal die Woche Training. Der Plan hängt am schwarzen Brett aus.« Neal schob die Hände in die Hosentaschen.

»Aha.« Was hätte Adrien auch sonst sagen sollen. Ich bezweifelte, dass Julien ihn in mehr als das unbedingt Nötigste eingeweiht hatte – wenn überhaupt Zeit dazu gewesen war. »Was haben wir jetzt?« Adrien sah auf mich herab.

»Mathe.« Mehr brachte ich nicht hervor. Julien würde es nicht riskieren, dass die Fürsten ihnen auf die Schliche kamen, indem er Adrien hierherbestellte, nur damit der auf mich aufpasste. Das Brennen in meinem Magen zog sich zu einem dünnen Schmerz zusammen.

Adrien ließ mich los und trat zurück. »Dann sollten wir gehen, ehe wir zu spät kommen.« Über seiner Schulter hing Juliens Rucksack. Er trug sogar ein paar von Juliens schwarzen Jeans und eines seiner Hemden – die Sachen konnten aber auch aus Dubai stammen, immerhin war das meiste von Juliens Garderobe noch immer dort. Trotzdem: Er musste im Haus gewesen sein. Hatte er mich zuerst dort gesucht? Warum? Hatte Julien ihm gesagt, was mit mir los war? Woher hatte er einen Schlüssel? Und was war mit der Alarmanlage? Ich zuckte zusammen, als Beth sich bei mir einhängte und mich in Richtung Mathesaal zog. Susan winkte mir zu und trollte sich zusammen mit ihrem Halbbruder zu ihrem eigenen Unterricht. Auch Tyler hastete den Gang hinunter. Nur Neal zögerte noch einen Moment, ehe auch er sich davonmachte. Ich drehte mich zu Adrien um. Er folgte uns schweigend. Seine Miene verriet nichts.

Lieber Gott, bitte lass Julien nichts zugestoßen sein!

Wir schafften es gerade rechtzeitig in den Mathesaal. Die noch fast volle Cola-Dose hatte ich im Vorbeigehen in einem der Mülleimer entsorgt – und dafür einen bösen Blick von Beth kassiert. Ich sank auf meinen Platz neben ihr und versuchte Adrien unauffällig klarzumachen, dass seiner auf der anderen Seite des Ganges war. Nachdem Julien es geschafft hatte, seinen Stundenplan meinem bis auf ein paar wenige Kurse anzupassen, hatte er Paul, den Jungen, der ursprünglich dort gesessen hatte, dazu gebracht, ihm diesen Platz zu überlassen. Als habe es meine Blicke und das verstohlene Nicken gar nicht gebraucht, setzte Adrien sich, holte Stift, Block und Buch aus Juliens Rucksack und stellte ihn auf den Boden. Ich biss mir auf die Lippe. Warum sagte er nichts? Sah er denn nicht, dass ich mir Sorgen machte? Ich wollte alle Vorsicht über Bord werfen und mich zu ihm hinüberbeugen, als die Saaltür zuschlug und Mrs Jekens mit einem brüsken »Guten Morgen, wir haben Mathematik, stellen Sie Ihre Privatgespräche ein« in den Raum gefegt kam. Hilflos sank ich auf meinem Stuhl zurück. Jedem anderen hätte sie es vielleicht noch durchgehen lassen: Ich hatte diesbezüglich keine Chance. Mrs Jekens mochte keine Schüler, die mit so wenig mathematischem Verständnis geschlagen waren wie ich. – Und Julien hatte es sogar geschafft, binnen drei Unterrichtsstunden ganz oben auf ihrer Abschussliste zu landen: Indem er ihr bewiesen hatte, dass einige der Gleichungen, die sie uns hatte durchrechnen lassen, entweder gar nicht oder zumindest nicht auf die Art, wie sie behauptet hatte, zu lösen waren. Ein Schüler, der in Mathematik offensichtlich mehr draufhatte als sie selbst, war für sie anscheinend ebenso inakzeptabel wie einer, der trotz allen Bemühens und Büffelns nie auf einen grünen Zweig kommen würde.

Ihre Tasche landete klatschend auf dem Pult, dann wandte sie sich auch schon mit einem »Schlagen Sie Ihre Bücher auf Seite 107 auf« der Tafel zu und begann eine Gleichung darauf zu schreiben.

Die anderen gehorchten unter Geraschel und Scharren. Hastig riss ich vor dieser Geräuschkulisse die Ecke einer Seite von meinem Block ab und zerrte einen Stift hervor. In meinen Fingern saß ein Kribbeln, während sie sich zugleich taub anfühlten. Meine Hand zitterte. Mrs Jekens würde mir den Kopf abreißen, wenn sie mich dabei erwischte, wie ich Julien einen Zettel zuschob, aber ich musste einfach wissen, weshalb er den Platz seines Bruders eingenommen hatte. Als sie sich von der Tafel ab- und uns zuwandte, stieß Beth mir gerade noch rechtzeitig den Ellbogen in die Seite, um mich zu warnen.

»Nun, meine Herrschaften, wer von Ihnen hat die Güte, uns diese Gleichung durchzurechnen und uns seine Vorgehensweise dabei zu erklären?« Die Frage war rein rhetorisch, denn Mrs Jekens kam schon auf unserer Seite zwischen den Tischen entlang. Eilig legte ich die Hand auf den Papierfetzen und zog mein Buch darüber. Gott sei Dank hatte Beth es für mich auf Seite 107 aufgeschlagen. »Mr DuCraine. Bitte schön. Wenn Sie so freundlich wären.« Sie streckte Julien die Kreide hin. Adrien zögerte, und einen Moment dachte ich, er würde Mrs Jekens einfach auflaufen lassen, so wie sein Bruder es früher getan hatte, ehe er beschloss, dass er bei mir bleiben, im nächsten Schuljahr dieselben Kurse wie ich belegen wollte und entsprechend versetzt werden musste. Doch dann stand er auf, nahm ihr die Kreide ab und ging zur Tafel.

Mrs Jekens blieb neben mir stehen. Ihr Parfum drang mir in die Nase. Es roch süßlich. Vanille. In meinem Mund war plötzlich ein saurer Geschmack. Ich schluckte mühsam dagegen an.

Vor der Klasse betrachtete Adrien die Gleichung, eine Hand in die Jeanstasche geschoben, während er die Kreide zwischen den Fingern der anderen drehte. Es war still. Die Uhr über der Tür tickte. Jemand tuschelte und wurde von Mrs Jekens mit einem Blick zum Schweigen gebracht.

»Nun, Mr DuCraine? Irgendwelche Schwierigkeiten?«, erkundigte sie sich nach ungefähr einer weiteren halben Minute. »Oder sind wir heute einfach nicht in Form?«

Adrien warf ihr einen Blick über die Schulter zu und begann zu schreiben. Beth stöhnte neben mir. Selbst ich sah, dass es der falsche Ansatz war. Offenbar gab es in der Familie Du Cranier nur ein Mathegenie. »… x3 – 2y …«, soufflierte sie drängend, viel zu leise, als dass ein normaler Mensch es hätte hören können.

Mrs Jekens lehnte sich an den Tisch hinter mir. An der Tafel hielt Adrien inne. Die Kreide schwebte über der Gleichung. Vanille! Eindeutig. Und dazu Kokosnuss. Mein Magen zog sich zu einem brennenden Klumpen zusammen. Beth rang die Hände auf ihrem Mathebuch, murmelte weiter. »Ja, genau da. Die Klammer weg und …«

Ich taumelte hoch, die Hand vor den Mund gepresst. Mein Stuhl krachte nach hinten. Die Tür. Panisch tastete ich nach dem Griff. Stimmen riefen durcheinander. Ich fand ihn, riss sie auf, flüchtete auf den Gang. Ich schaffte es bis zum nächsten Mülleimer – und übergab mich. Meine Eingeweide schienen sich wie jedes Mal von einer Sekunde zur nächsten in flüssige Lava verwandelt zu haben. Alles um mich war verschwommen. Ein weiterer bitterer Schwall. In meinem Magen war nichts außer Galle. Im selben Augenblick, in dem meine Knie nachgaben, legte sich ein Arm um meine Mitte und hielt mich aufrecht.

»Hol unsere Sachen! Ich bringe sie nach Hause!« Adrien! Wieder zog mein Magen sich zusammen. Etwas Schwarzes. Den Gang hinunter zurück zum Saal. Ich würgte. Immer wieder. Bis endlich nichts mehr kam. Nur der Arm verhinderte, dass ich zusammenbrach. Jemand wischte mir mit einem Taschentuch den Mund ab. Meine Kehle brannte. Hob mich hoch. Trug mich. Setzte mich wieder ab. Ein Auto. Eine Jacke wurde über mich gebreitet. Eine Tür schlug, gleich darauf eine zweite, dann noch eine. Der Motor sprang an. Nicht das vertraute Dröhnen der Corvette Sting Ray. Ich zog die Beine an den Leib, presste die Arme auf den Bauch. Julien! Ich wollte Julien.

Wie aus weiter Ferne nahm ich wahr, dass der Wagen irgendwann anhielt. Erneut das Schlagen einer Tür, wieder Arme, die mich hochhoben. Ich erkannte das Hale-Anwesen. Zu Hause. Gleich darauf trug Adrien mich die Treppe hinauf, in mein Zimmer im ersten Stock, und legte mich auf mein Bett. Ich drehte mich auf die Seite, kauerte mich zusammen.

»Danke.« Ich war mir nicht sicher, ob ich das Wort verständlich hervorbrachte. Adrien beugte sich über mich, griff nach dem zweiten Kissen – und drückte es mir aufs Gesicht.