Cover

Zum Buch

In eine Boeing 787 passen ungefähr 250 Menschen. Genauso viele Menschen sterben in den USA täglich an Opioiden, also an Schmerzmitteln wie etwa Oxycodon, Vicodin oder Fentanyl. In der Altersgruppe der unter 50-Jährigen stellt die Überdosierung von Schmerzmitteln oder Drogen mittlerweile die häufigste Todesursache dar, noch vor Waffengewalt oder Verkehrsunfällen. Viele der Süchtigen bekamen die Medikamente anfangs von ihrem Arzt verschrieben, etwa nach einer Operation oder einer Sportverletzung. Von den hochwirksamen Mitteln kamen die Patienten dann nicht mehr los. Millionen Amerikaner sind somit durch Opioide auf Rezept in die Abhängigkeit geschlittert. Die Pharmakonzerne, die diese neuartigen und hochintensiven Schmerzmittel in den 1990er-Jahren in den Markt gedrückt haben, spielten und spielen die Risiken einer Sucht herunter. Milliardenprofite stehen im Raum.

Die preisgekrönte Journalistin und Sachbuchautorin Beth Macy ist durch die USA gereist und hat Süchtige, Betroffene und Hinterbliebene besucht und ihre Lebenswege und Schicksale nachgezeichnet. Stellvertretend für die vielen Mütter, die ihre Kinder verloren haben, stellt sie die Frage nach dem Warum. Entstanden ist ein erschütternder Bericht über ein abhängiges, betäubtes und sterbendes Amerika.

Zur Autorin

Die renommierte Autorin und Journalistin Beth Macy wurde für ihr Schreiben bereits vielfach ausgezeichnet. Alle ihre Bücher standen auf der »New-York-Times«-Bestsellerliste. Beth Macy lebt mit ihrer Familie in Roanoke, Virginia.

BETH MACY

DOPESICK

WIE ÄRZTE UND DIE PHARMAINDUSTRIE

UNS SÜCHTIG MACHEN

Aus dem amerikanischen Englisch

von Andrea Kunstmann

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Dopesick – Dealers, Doctors, and the Drug Company that Addicted America bei Little, Brown & Company

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Copyright © 2018 by Beth Macy

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Kirsten Naegele

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Margit Memminger/

Nele Schütz Design, München, unter Verwendung

des Originalumschlags: Cover-Design und Motiv: Josh Meltzer

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-24578-8
V001

www.heyne-hardcore.de

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog

TEIL EINS

Das Volk gegen Purdue

1   Die Vereinigten Staaten von Amnesia

2   Kleine Geschenke erhalten die Kundschaft

3   Trauerbewältigung per Message Board

4   »Ein Konzern kennt keinen Schmerz«

TEIL ZWEI

Böses Erwachen

5   Unkontrollierte Wucherungen

6   »Wie Jesus im Blut«

7   FUBI

8   »Die Scheiße hört nicht auf«

TEIL DREI

»Ein kaputtes System«

9   Sisyphus

10   Auf der Schwelle

11   Hoffnung in Tabellenform

12   »Brother, Wrong or Right«

13   Fortschritte und Rückfälle

Epilog: Soldatenkrankheit

Danksagung

Nachwort: Opioid-Abhängigkeit – eine Gefahr auch in Deutschland

Glossar

Anmerkungen

Bildergalerie

Das Böse ist weder auf Schichten noch auf Berufsgruppen beschränkt, und einige der besten Frauen und Männer aller Schichten zählen zu seinen Opfern. Es muss folglich umgehend gehandelt werden, damit unser Land unter den entsetzlichen Auswirkungen von Betäubungsmitteln nicht abstumpft und körperlich, mental und moralisch solchen Schaden nimmt, dass die Liebe zur Freiheit von der Liebe zum Opium verschlungen wird und die Volksmassen sich willig einem Despoten ergeben.

Dr. W.G. Rogers am 25. Januar 1884 in The Daily Dispatch (Richmond, Virginia)

Die Mutterliebe lässt sich mit nichts auf der Welt vergleichen. Sie kennt kein Gesetz und keine Gnade, sie wagt alles und vernichtet erbarmungslos, was sich ihr in den Weg stellt.

Agatha Christie, »Die letzte Sitzung« (»The Last Séance« aus The Hound of Death and Other Stories)

In Erinnerung an

Scott Roth (1988–2010),

Jesse Bolstridge (1994–2013),

Colton Scott Banks (1993–2012),

Brandon Robert Perullo (1983–2014),

John Robert »Bobby« Baylis (1986–2015),

Jordan »Joey« Gilbert (1989–2017),

Randy Nuss (1984–2003),

Arnold Fayne McCauley (1934–2009),

Patrick Michael Stewart (1980–2004),

Eddie Bisch (1982–2001),

Jessee Creed Baker (1982–2017) und

Theresa Helen Henry (1989–2017)

Vorbemerkung

Ich begann 2012 über die Heroinepidemie zu schreiben, als sie die Vororte von Roanoke (Virginia) erreichte. Ich hatte dort bereits zwei Jahrzehnte lang für die Roanoke Times über marginalisierte Familien berichtet, vor allem solche aus der Innenstadt. Als ich zum ersten Mal über den Heroinkonsum in den Außenbezirken schrieb, waren die meisten Familien, mit denen ich sprach, derart beschämt darüber, dass sie sich keinesfalls öffentlich äußern wollten.

Fünf Jahre später, als ich mein Buch fertigstellte, waren fast alle damit einverstanden, dass ich ihre Namen nannte. Mit Ausnahme einiger weniger, die fürchteten, dadurch ihre Jobs aufs Spiel zu setzen und ihre Familien in Gefahr zu bringen (im Text entsprechend gekennzeichnet).

Diesen Familien, die ich 2012 kennenlernte und die mir gestatteten, sie zu begleiten, während zugleich ihre Angehörigen in Rehabilitationsmaßnahmen und im Gefängnis steckten, sich um Genesung bemühten oder Rückfälle erlitten, verdanke ich sehr viel. Ebenso dankbar bin ich für Einblicke, die mir mehrere Familien, Anwälte und Ersthelfer im ländlichen Virginia gestatteten. Als ich auftauchte, kämpften sie bereits seit mehr als zwanzig Jahren ohne viel Aufhebens gegen diese Seuche.

Zahlreiche Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden, von denen einige ihre eigenen Angehörigen wegen Drogenhandels verhaftet hatten, lieferten mir sowohl vertrauliche als auch offizielle Informationen. Das Gleiche trifft auf Ärzte und Pflegepersonal zu, die selbst nach Vierzehnstundenschichten glaubten, sie hätten ihren Job nicht richtig gemacht, wenn sie nicht dazu beitrugen, die Geschichte dieser Epidemie zu erzählen.

Einige meiner Gesprächspartner starben, bevor ich dazu kam, meine Notizen zu transkribieren. Einer von ihnen beging nach einem Rückfall Suizid, da er fürchtete, seine Frau, die er über alles liebte, würde sich von ihm scheiden lassen. »Wenn sie das je rausfindet, jagt sie mich zum Teufel«, gestand er mir. »Ich bin aufgeschmissen.«

Hinterbliebene hielten selbst in ihren schwersten Stunden den Kontakt zu mir aufrecht, sie simsten, riefen mich an oder mailten mir Fotos, noch lange nachdem ihre Lieben den Kampf verloren hatten. Eine Frau bat mich um die Aufnahme meines Interviews mit ihrem Lebensgefährten, so sehr sehnte sie sich danach, seine Stimme wieder zu hören. Eine Mutter ließ mich das Tagebuch ihrer verstorbenen Tochter lesen.

Besonders dankbar bin ich vier Müttern aus Virginia: Kristi Fernandez, Ginger Mumpower, Jamie Waldrop und Patricia Mehrmann. Mehr als alle anderen halfen sie mir, die Facetten einer inadäquaten Strafjustiz zu verstehen, die häufig sogar medizinischen Erkenntnissen zuwiderläuft, und ein Gesundheitssystem zu durchschauen, das einerseits nach wie vor starke Schmerzmittel in hohen Dosen verabreichen lässt, andererseits versucht, mit noch mehr Medikamenten die so erzeugte Sucht zu bekämpfen.

Die vier Frauen ließen mich an ihren Erfahrungen teilhaben, weil sie die Hoffnung hegen, dass meine Leserinnen und Leser sich für lebensrettende Drogentherapien und Forschung sowie eine Reform des Gesundheits- und Justizsystems einsetzen werden – und für eine fähige politische Führung, die in der Lage ist, Amerika von der schlimmsten Drogenepidemie der Moderne zu befreien. Bis dahin sollen die Schicksale ihrer Kinder dazu beitragen, möglichst viele Patienten aufzuklären und zu kritischeren Konsumenten zu machen, damit sie vor allem dann eine gesunde Skepsis an den Tag legen, wenn ein Pharmakonzern wieder einmal ein neues Wundermittel anpreist.

Riverview Cemetery, Strasburg (Virginia)

Prolog

Zwei Jahre nach Antritt einer dreiundzwanzigjährigen Gefängnisstrafe, an einem Tag, an dem es deutlich über 35 Grad hatte, bekam Ronnie Jones zum ersten Mal Besuch. Fast ein Jahr lang hatten mir Polizisten und Strafverfolger diesen Mann, der wegen bewaffneten Handels mit Betäubungsmitteln einsaß, als ein Raubtier beschrieben. Drei Monate hatte die Bewilligung meines Besuchsantrags gedauert, doch nun lief ich endlich den gepflegten Zugangsweg der Hazelton Federal Correctional Institution am Stadtrand von Bruceton Mills (West Virginia) entlang. Es war so schwül, dass sogar die Fahnen, die den Eingang des Betonklotzes einrahmten, schlapp herunterhingen, genauso reglos wie der Klingendraht auf dem Dach des Gebäudes.

Preston County liegt in der nordwestlichen Ecke des Staates, der im Norden an Pennsylvania und im Osten an Maryland grenzt. Früher hatte dort der Tagebau die zentrale Rolle gespielt, doch bis zur Mitte der 2000er-Jahre war ein Großteil der Minen stillgelegt worden, und nun war das Gefängnis mit seinen achthundert Aufsehern und Verwaltungsangestellten der größte Arbeitgeber des Bezirks.1

Für mein Interview im August 20162 hatte ich mich mehrere Wochen durch die Hierarchie der US-Gefängnisverwaltung in Washington, D.C., gekämpft, doch vorher hatte ich ebenso lang gebraucht, um Ronnie Jones in vom Gefängnis zensierten E-Mails dazu zu bewegen, einem Gespräch zuzustimmen. »Mit wem genau haben Sie bis jetzt gesprochen, der mit meinem Fall zu tun hatte?«,3 wollte er wissen, und welche persönlichen Informationen über ihn ich zu verwenden gedachte.

Schließlich stimmte Jones einem Besuch von mir doch zu – weil seine Töchter, die im Kindergarten beziehungsweise in der ersten Klasse waren, als er im Juni 2013 verhaftet wurde, wissen sollten, dass er »auch eine andere Seite« hatte, wie er es formulierte. Sie hatten ihn zuletzt gesehen, als er ihnen eine Woche vor seiner Verhaftung Geburtstags-Cupcakes in ihre Schule gebracht hatte.4

Ich musste an den »Tsunami des Elends« denken, den Jones laut Staatsanwalt zuerst in Woodstock (Virginia) entfesselt hatte, bevor die Welle 2012 und 2013 über den gesamten Nordwesten des Staates hinweg bis in einige westliche Schlafstädte Washingtons geschwappt war. Innerhalb weniger Monate hatte Jones es zum Kopf des größten Heroinkartells der Region gebracht und aus einer Handvoll Konsumenten Hunderte gemacht.

Auf der Fahrt zum Gefängnis versuchte ich, die Zahl seiner Opfer zu berechnen: hunderte Abhängige, die, als ihre Heroinquelle infolge von Jones’ Verhaftung plötzlich versiegte, auf Entzug waren – schwitzten, sich erbrachen und in die Hosen machten. Als Jones 2013 inhaftiert wurde, bildeten die frischgebackenen Abhängigen Fahrgemeinschaften in die nächstgelegenen großen Städte – Baltimore, Washington und sogar Martinsburg (West Virginia), auch Little Baltimore genannt –, um sich an den bekannten Heroinumschlagplätzen Drogen zu beschaffen und das russische Roulette der Dealer mitzuspielen.

Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass in der gleichen Woche eine Lieferung Heroin den Weg in das vier Stunden westlich von Jones’ Zelle gelegene Huntington (West Virginia) finden und innerhalb eines einzigen Tages bei sechsundzwanzig Menschen einen Atemstillstand hervorrufen würde.5 Diese Überdosen wurden von Carfentanyl verursacht, dem neuesten synthetischen Opioid, das mit einem Mausklick aus China importiert werden kann. Es handelt sich eigentlich um ein Betäubungsmittel für Elefanten, hundertmal stärker als Fentanyl, das wiederum fünfundzwanzig- bis fünfzigmal stärker als Heroin ist. Es waren diese Opfer von Opioidüberdosen, die dafür sorgten, dass in West Virginia der staatliche Etat für Sozialbestattungen das fünfte Jahr in Folge überzogen wurde.6

Ähnliche Anstiege waren im ganzen Land zu verzeichnen, von Florida über Sacramento bis Barre (Vermont). Alle, mit denen ich in jenem Sommer sprach – von den Therapeuten über die Eltern der Abhängigen bis zu den Richtern, die sie ins Gefängnis steckten –, waren mit jedem Tag mehr gefordert. Endlich dämmerte ihnen und dem Rest des Landes das tatsächliche Ausmaß von Amerikas Drogenproblem – zwanzig Jahre nach Ausbruch der Opioidepidemie. (Der Begriff »Opiate« bezeichnete ursprünglich Wirkstoffe, die aus Schlafmohn gewonnen werden, während »Opioide« die durch chemische Verfahren gewonnenen Varianten zusammenfasst. Letzterer Begriff ist jedoch inzwischen weiter verbreitet und wird in diesem Buch für beide Formen von Schmerzmitteln verwendet.)

Medikamentenüberdosen hatten in den letzten fünfzehn Jahren bereits 300 000 Amerikanern das Leben gekostet, und Experten sagten inzwischen weitere 300 000 Opfer in den nächsten fünf Jahren voraus.7 Bei Amerikanern unter fünfzig sind Überdosen inzwischen die häufigste Todesursache.8 Es sterben daran mehr Menschen als durch Schusswaffen und Autounfälle und mehr als auf dem Höhepunkt der HIV-Epidemie.

Die Gesamtzahl der Todesopfer – und die der hinterbliebenen Mütter und Pflegeeltern und Lehrer und Ärzte – ist so unerhört hoch, dass man nur staunen kann, wie langsam das Land darauf reagierte und wie unzureichend die Maßnahmen ausfielen, die dann endlich ergriffen wurden.

Ronnie Jones hatte einen der größten Drogenringe der nordöstlichen US-Bundesstaaten angeführt – in diesem Gebiet sind die Zahlen der Überdosis-Toten im landesweiten Vergleich am höchsten. Aber ich hatte mich nicht für epidemiologische Untersuchungen auf den Weg nach West Virginia gemacht und schon gar nicht, um mir von Jones eine Geschichte von Reue und Wiedergutmachung auftischen zu lassen. Vielmehr hatte mich eine trauernde Mutter, die ein Porträt ihres neunzehnjährigen Sohnes umklammerte, dazu bewegt, das Gefängnis aufzusuchen. Ich wollte den Tod von Jesse Bolstridge verstehen, einem stämmigen Highschool-Footballspieler mit den ersten spärlichen Bartstoppeln auf dem Kinn. Seine Mutter wollte wissen, was genau zum Tod ihres einzigen Sohnes geführt hatte.

Seit mehr als fünf Jahren schon formulierte ich mehr oder weniger die gleiche Frage stellvertretend für viele andere Mütter, die ich kennengelernt hatte. Jetzt endlich hatte ich jemanden, dem ich sie stellen konnte.

Im Frühjahr 2016, drei Monate vor meinem Besuch bei Jones, standen Kristi Fernandez und ich an Jesses Grab, am Hang eines Hügels in Strasburg (Virginia), im Schatten eines Bergs namens Signal Knob.9 Sie hatte mich gebeten, sie bei einem ihrer regelmäßigen Friedhofsbesuche zu begleiten, die sie auf dem Heimweg von der Arbeit absolvierte. Ich sollte sehen, warum sie Jesses Grabstein am äußersten Rand des Friedhofs hatte errichten lassen.

Von dem Stein aus – auf dem dreißig Zentimeter groß die Nummer 55 prangte, in der gleichen Schrift wie auf dem Trikot von Jesses Highschoolmannschaft, den Strasburg Rams – war es nämlich möglich, hinunter auf das Stadion zu blicken, in dem er früher die Zuschauer von den Sitzen gerissen hatte, wenn er aufs Spielfeld gerannt war und die Fäuste in die Luft gereckt hatte.

Football war in dieser Kleinstadt so identitätsstiftend wie die Schlachtfelder des Bürgerkriegs in den Ausläufern der Blue Ridge Mountains, und so liebte Jesse nichts mehr als das Gejohle der heimischen Fans.

Er hatte von Anfang an ein enormes Bewegungsbedürfnis, sein innerer Motor lief noch auf Hochtouren, als seine Altersgenossen den ihren schon lange im Griff hatten. Als Kleinkind hatte er sich beharrlich einem Mittagsschlaf verweigert und war stattdessen regelmäßig beim Spielen eingeschlafen, in der einen Hand eine Actionfigur, in der anderen ein Spielzeugauto. Diese Ruhelosigkeit war ein wichtiger Faktor in der Geschichte dieser Epidemie, wie ich später erfahren sollte. Genau wie die Medikamente, die Jesses Klassenkameraden aus den Medizinschränken ihrer Eltern und Großeltern stibitzten: die Reste, die sich überlicherweise nach Knieoperationen und Bandscheibenvorfällen dort ansammeln.

Jesse war ein Frauentyp, der nette Kerl von nebenan, ein Spaßvogel, der seine Sätze meistens mit einem »Hey, Kumpel« einleitete. Wenn er das Haus zu Fuß verließ, guckten die Nachbarn immer zweimal hin, um die Horde Katzen zu bestaunen, die ihm an den Fersen klebte.

Kristi deutete auf die Katzenpfote, die sie unten auf den Grabstein hatte meißeln lassen, direkt neben die Worte »Du mir mehr«, eine stehende Wendung, die die Familie beim Telefonieren benutzt hatte.

»Du fehlst mir«, hatte sie immer gesagt.

»Du mir mehr«, hatte er dann geantwortet.

»Nein, du mir mehr«, sie wieder. Und so weiter.

Kristi ist sehr stolz darauf, wie die ganze Familie das Grab pflegt. Sie dekorieren es je nach Jahreszeit, stellen kitschige Figuren darauf und wischen regelmäßig den von Regentropfen verschmutzten Grabstein sauber. »Es ist das fröhlichste Grab hier«, sagen seine jüngeren Schwestern, Zwillinge, wenn sie wieder mal ein paar Grashalme wegfegen.

Als ich zu unserem ersten Treffen auf den Friedhof einbog, hatte Kristi es als gutes Omen gedeutet, dass mein Nummernschild Jesses Spielernummer 55 enthielt. Sie sucht immer nach Zeichen, die Jesse senden könnte – ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht, die Rechnung für den Brunch zum Muttertag, die auf 64,55 Dollar lautet. Mein Nummernschild sagte ihr, dass unsere Begegnung von Jesse gewollt und gutgeheißen wurde.

Jesses Grab in Ehren zu halten »ist das Letzte, was wir für ihn tun können, habe ich immer gedacht«, erklärte mir Kristi mit tränenerstickter Stimme. Doch inzwischen ist sie besessen davon, Jesses langsames Abgleiten in die Sucht zu rekonstruieren – die fehlenden Puzzleteile zu finden, die erklären können, wie Jesse, der umschwärmte Highschool-Footballspieler und muskulöse Bauarbeiter, Eingang in die Heroin-Überdosen-Statistik fand – als zusammengekrümmtes Häuflein Elend auf dem Boden eines fremden Badezimmers. Wenn sie nur besser verstehen konnte, wie es zu seiner Abhängigkeit gekommen war, so dachte sie, könnte sie vielleicht anderen Eltern helfen, ihre Kinder vor diesem Abgrund zu bewahren.

»Ich möchte doch nur sagen können: ›Das ist mit Jesse passiert‹, damit ich Bescheid weiß und andere unterstützen kann«, sagt Kristi. »Aber seine Geschichte ergibt einfach keinen Sinn, und das macht mich wahnsinnig.«

Die Fragen einer Mutter zum Tod ihres Kindes kann vermutlich niemand endgültig beantworten, und doch sitzt da Kristis Schmerz genau zwischen uns, kein bisschen schwächer als an dem Tag, an dem er starb. Um zu erfassen, warum sie mit diesen Fragen zurückblieb – und wie unser Land in diese Lage geriet –, musste ich meine Recherchen sowohl örtlich als auch zeitlich ausdehnen. Ich musste die Fragen anderer Mütter einbeziehen, die verstehen wollten, warum ihre drogenabhängigen Söhne nun im Gefängnis statt in Therapie waren oder warum sich ihre süchtigen Töchter noch immer weiß Gott wo draußen auf der Straße herumtrieben.

Bisher haben sich neue Drogen immer von den großen Städten nach und nach ins Umland ausgebreitet, wie beispielsweise Kokain und Crack.10 Bei der Opioidepidemie lief es jedoch genau umgekehrt, ihre Ausgangsbasis waren die isolierte Appalachen-Region, Bezirke im sogenannten Rust Belt des Mittleren Westens und das ländliche Maine. Arbeiterfamilien, deren Lebensunterhalt traditionell von Hochrisikobranchen wie dem Kohlebergbau im Südwesten Virginias, den Stahlwerken im Westen Pennsylvanias und der Holzindustrie in Maine abhing, waren nicht nur die ersten Opfer des Opioidmissbrauchs, sie lebten auch noch in Gegenden, Tälern, Orten und Fischerdörfern, die als politisch irrelevant galten und von denen aus Therapieangebote nur durch stundenlange Fahrten zu erreichen waren.

Als Jesse Bolstridge Mitte der 1990er-Jahre zur Welt kam, begann sich die Opioidsucht gerade erst auszubreiten. Sein kurzes Leben zeigt ganz deutlich, welchen Tribut diese Seuche – deren Höhepunkt noch nicht im Entferntesten erreicht ist – weiterhin fordern wird.

Wenn ich die Entwicklung der Epidemie entlang der Appalachen, in etwa parallel zur Interstate 81, nachvollziehen könnte, wie sie sich von den Kohleminen durch das Shenandoah Valley ihren Weg nach Norden gebahnt hatte, dann würde ich vermutlich auch verstehen, wie es möglich war, dass der Missbrauch von verschreibungspflichtigen Medikamenten und Heroin sich in aller Seelenruhe im ganzen Land breitmachen konnte – gehüllt in einen Mantel aus Stigma und Scham.

Die Schauplätze meines Buches sind drei kulturell sehr unterschiedlich geprägte Gemeinden, die für die Entwicklung der Epidemie stehen, wie ich sie beobachtet habe. Dopesick beginnt in den Kohlerevieren, in einem Nest namens St. Charles im abgelegenen westlichsten Winkel des Staates Virginia, mit der Einführung des Schmerzmittels OxyContin im Jahr 1996.

Von dort aus eroberte diese Plage nicht nur immer neue Regionen, sondern wählte dafür auch ein anderes Transportmittel: Statt des Morphinmoleküls, wie es in OxyContin und anderen Schmerzmitteln wie Vicodin und Percocet enthalten ist, waren es nun Heroin, der illegitime Bruder dieser Pillen, und später noch stärkere synthetische Nachbildungen.

Die Epidemie drang zunehmend auch in andere Regionen vor: Nun waren nicht mehr nur ländliche Gegenden, sondern ebenso Innenstädte und städtische Peripherien betroffen, auch wenn sich nie ein einheitliches Muster konstatieren ließ. Das Heroin erreichte die Vororte und monotonen Trabantensiedlungen rund um meinen Wohnort Roanoke Mitte der 2000er-Jahre. Von einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde das allerdings erst, als Ginger Mumpower, eine stadtbekannte Juwelierin und lokale Autorität, ihren drogenabhängigen Sohn eigenhändig im Bundesgefängnis ablieferte, wo er die nächsten fünf Jahre verbrachte, weil er am Drogentod eines ehemaligen Klassenkameraden eine Mitschuld trug.

In der Zeit, als ich über Spencer Mumpowers Wandel vom Schüler einer Privatschule zum Gefängnisinsassen berichtete, konnte ich zugleich beobachten, wie die Zahl der Drogentoten überall entlang der Interstate 81 von Roanoke nach Norden anstieg. Auch die ländliche Idylle und die Kleinstädte im Norden des Shenandoah Valley waren mehr und mehr betroffen, während die Zunahme der Konsumenten und erhöhte Wachsamkeit des Gesundheits- und Justizapparats die Abhängigen in den urbanen Korridor zwischen Baltimore und New York drängte. Wer in einer größeren Stadt wohnt, hat vermutlich schon mitbekommen, dass in öffentlichen Toiletten inzwischen Kanülenbehälter stehen oder dass ein Bibliothekar auch mal Naloxon verabreichen muss.

In einer Zeit, in der immer mehr Amerikaner an Überdosen sterben, ist es unerlässlich, einen Blick zurück in die Frühphase dessen zu werfen, was wir heute als Epidemie identifizieren. Wir müssen uns fragen, was man hätte tun können, um die Ausbreitung zu verlangsamen oder zu stoppen. Denn mit ihren Fragen ist Kristi Fernandez nicht allein. Bevor wir nicht verstehen, wie wir in diese Situation geraten konnten, wird Amerika ein Land bleiben, in dem es deutlich leichter ist, abhängig zu werden, als eine Therapie zu bekommen.

Die schlimmste Drogenepidemie der amerikanischen Geschichte erreichte das malerische nördliche Shenandoah Valley erst 2012, als Ronnie Jones, ein bereits zweimal verurteilter Dealer aus der Peripherie von Washington, in einem Gefangenentransport der Strafvollzugsbehörde von Virginia dort ankam. Er machte sich in der Folge daran, eine Handvoll Footballspieler, Baumpfleger und Farmerskinder, die zur Entspannung Tabletten nahmen, in Hunderte von Heroinabhängigen zu verwandeln – so jedenfalls stellt es die Polizei dar.

Und diese Entwicklung vollzog sich in dem ruhigen Städtchen Woodstock nach der gleichen verqueren Logik, die ich schon anderswo feststellen konnte: Viele Konsumenten fangen mit Pillen an, die ihnen verschrieben werden, und kaufen bald darauf Heroin von Dealern. Einen Teil ihres Vorrats verkaufen sie dann weiter, um die nächste Dosis zu finanzieren. Denn für das von Morphin gekaperte Hirn gibt es nichts Wichtigeres, als diesen zerstörerischen physischen und psychischen Schmerz zu vermeiden, den der Entzug verursacht – um jeden Preis.

Zur Finanzierung ihrer Abhängigkeit rekrutieren viele Konsumenten neue Kunden, die wiederum neue Kunden werben. Diese exponenzielle Zunahme hält häufig an, bis sie durch Haftstrafen oder Schlimmeres unterbrochen wird – durch einen viel zu frühen Tod, wie den von Jesse, dessen Grab mit Teddybären, R2-D2-Actionfiguren und den in Granit gemeißelten Abschiedsworten seiner Mutter geschmückt ist: BIS ZU MEINEM LETZTEN ATEMZUG WIRST DU IN MEINEM HERZEN WEITERLEBEN.

Um Ronnie Jones einen Besuch abzustatten, fahre ich auf dem nächstgelegenen »Heroin-Highway«, der Interstate 81, nach Norden. Mit dem Auto lege ich so mehr oder weniger den gleichen Weg zurück wie Jones’ Drogen im Bus, nur in umgekehrter Richtung. Er versteckte das Heroin in Pringles-Dosen oder Walmart-Plastiktüten, die neben ihm oder den von ihm angeheuerten Drogenkurieren auf dem Boden lagen.

Als ich mich den Randbezirken von Roanoke nähere, komme ich an Hidden Valley vorbei, einer Siedlung der oberen Mittelschicht, in der Tess Henry lebte. Die junge Frau, eine gleichermaßen hervorragende Schülerin und Basketballspielerin, habe ich ein Jahr lang begleitet. Im Augenblick gilt sie allerdings als vermisst, weder ihre Mutter noch ich haben die geringste Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte. Ab und an bekommen wir einen Beweis ihrer Existenz auf unsere Handys, in Form von Facebook-Posts von ihr und ihren Drogendealern oder einer Anzeige, in der sie sich als Prostituierte anbietet, um ihren nächsten Schuss zu finanzieren.

Ich fahre an Ginger Mumpowers Juwelierladen vorbei, zu dem Eltern von Drogenabhängigen selbst zweistündige Autofahrten auf sich nehmen, weil sie nicht wissen, wohin sie sich sonst wenden könnten. Nachdem sie in den Zeitungen von Gingers inhaftiertem Sohn gelesen haben, wollen sie von ihr wissen, wie sie die Schwierigkeiten und Hürden im Umgang mit einem süchtigen Kind bewältigen sollen.

Auf der Interstate unterwegs durch das Shenandoah Valley komme ich an New Market vorbei – doch ich denke dabei nicht an die Männer, die dort 1864 in der berühmten Bürgerkriegsschlacht kämpften, sondern vielmehr an die Frauen, die für die verwundeten Soldaten Mohn anbauten und aus dem getrockneten Saft der Samenkapseln Morphin gewannen. Drei Jahrzehnte später würden dann die deutschen Wundermittelhändler der Bayer-Labore die amerikanischen Drugstores mit einer brandneuen Version des gleichen Moleküls versorgen, einer Pille, die gegen Husten und zugleich gegen die sich verbreitende nationale Morphinepidemie, genannt »Morphinismus« oder »Soldatenkrankheit«, helfen sollte.11 Das Etikett sah ein bisschen aus wie die Werbung für eine Vergnügungsveranstaltung, ein Zirkusplakat vielleicht, der Name, abgeleitet vom deutschen Adjektiv »heroisch«, stand auf einem hübsch geschwungenen Band: Heroin. Rezeptfrei und in großen Mengen ging es über die Tresen der Drogerien – es wurde nicht nur Veteranen, sondern auch Frauen mit Menstruationsbeschwerden und Babys gegen Schluckauf verabreicht.

Am Stadtrand von Woodstock fahre ich an George’s Chicken vorbei, einem Geflügelverarbeitungsbetrieb, in dem Ronnie Jones, gekleidet in kakifarbene Gefängniskluft, anfangs im Rahmen des offenen Strafvollzugs arbeitete. Auf meinem Weg liegt auch das Haus, in dem ein mir bekannter Polizist Tage, Nächte und Wochenenden zusammengekauert unter einem Schlafzimmerfenster auf der Lauer lag, um Jones und seine Kollegen mit dem Fernglas zu beobachten – und das war nur ein Bruchteil der Arbeitsstunden, die der Staat investierte, um die Mitglieder von Jones’ Heroindealerring hinter Gitter zu bringen.

Die Gegend, durch die ich auf meinem Weg nach Nordwesten, nach West Virginia, fahre, zeigt die gleichen Auflösungserscheinungen wie die Not leidenden Orte in Virginia rund 600 Kilometer weiter südlich, bis hin zu den »Hillary for Prison«-Plakaten und Konföderierten-Flaggen, die wie düstere Vorzeichen an ihren Masten flattern.

Vor dem Gefängnis stelle ich meinen Wagen ab und trete durch die schwere Eingangstür, dann weist mir eine Aufseherin namens Rachel den Weg durch diverse Sicherheitsvorrichtungen und macht fröhlich Small Talk, während sie mich durch drei abzuschließende Türen immer tiefer in das Betonlabyrinth bringt. Ihr gewaltiger Schlüsselbund erklingt an jedem dieser Checkpoints wie ein Glockenspiel.

Wir gelangen in einen höhlenartigen Aufenthaltsraum, in dem mehrere Häftlinge (bis auf eine Ausnahme haben alle schwarze oder braune Hautfarbe, fällt mir unwillkürlich auf) Wischmopps und Besen vor sich herschieben. Als wir an ihnen vorbeigehen, sehen sie hoch und nicken uns zu. Die Luft aus der Klimaanlage ist kalt, es riecht nach Desinfektionsmittel.

Hinter der letzten Tür erwartet mich Ronnie Jones bereits. Er sitzt an einem Tisch und sieht dünner und älter aus als auf seinem Fahndungsfoto, die Gefängnishose schlabbert an ihm, der gestutzte Afro und sein Bart sind grau gesprenkelt. Er wirkt müde, das Weiß seiner Augen leicht rötlich.

Er steht auf, um mir die Hand zu schütteln, und setzt sich dann wieder hin, die Hände aufeinandergelegt, die Ellbogen auf der Tischplatte zwischen uns. Seine Miene ist undurchdringlich.

Der verglaste Raum ist beige, der Bodenbelag ist beige, und beige ist auch Rachel in ihrer beige-blauen Uniform und ihrem nüchternen Schuhwerk, das aussieht, als könne sie damit jederzeit hereinstürmen, falls es nötig wäre. Wir sollen an die Scheibe klopfen, wenn wir sie brauchen, erklärt sie und zieht sich dann auf ihren Beobachtungsposten im Aufenthaltsraum, jenseits der Scheibe, zurück. Das Türschloss schnappt mit einem sehr entschlossenen Geräusch hinter ihr zu.

Ich öffne mein Notizbuch und schiebe die Fragen, die ich vorbereitet habe, zur Seite, neben meine Ersatzstifte. Ich denke an Kristi und Ginger und die Mutter von Tess und daran, was Jones wohl sagen könnte, um das Schicksal ihrer Kinder zu erklären.

Jones beugt sich vor, erwartungsvoll und ohne zu lächeln, er reibt sich die Hände, als wären wir Geschäftspartner und im Begriff, einen Deal abzuschließen. Dann atmet er tief durch, lässt sich entspannt in seinen Stuhl zurückfallen und wartet darauf, dass ich anfange.

TEIL EINS

Das Volk gegen Purdue

Pennington Gap, Lee County (Virginia)