Auf der Suche nach Ruhe und Kraft – eine Reise durch die einsame Bergwelt des Himalaja
Paolo Cognetti nimmt uns mit auf eine atemberaubende Reise in die Ferne, die uns zu uns selbst zurückführt. Schon als Junge träumte er von den kargen Bergen Nepals, nun endlich macht er sich mit seinen zwei engsten Freunden auf den Weg. Sie überqueren Fünftausender-Pässe, kommen an Herden von Blauschafen vorbei, an buddhistischen Klöstern, dem einsamen Hochland immer entgegen. Doch nicht die entlegene Himalaja-Region Dolpo ist Cognettis eigentliches Ziel, auch der Gipfel des Kristallbergs nicht, sondern das Gehen ist seine Mission, sein Zeit- und Raummaß, seine Art zu denken. Mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug schärft sich die Wahrnehmung für das Hier und Jetzt, für das, was wesentlich ist: Verbundenheit, Mitgefühl und Verantwortung.
»Mehr als eine Reise nach Nepal ist es eine Reise ins Innere, zu sich selbst.« La Lettura
»Paolo Cognetti hat eine Reise in die spröde Schönheit der Natur unternommen.« La Repubblica
»Diese Reise ist ein beständiges Kreisen um Stille und Einsamkeit.« Il Messaggero
Paolo Cognetti, 1978 in Mailand geboren, verbringt seine Zeit am liebsten im Hochgebirge, und seine Erlebnisse in der kargen Bergwelt inspirieren den Mathematiker und Filmemacher zum Schreiben. Sein Roman »Acht Berge« (DVA, 2017), der ins Aostatal führt, erhielt u. a. den renommiertesten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, erscheint in 40 Ländern und hat sich weltweit rund 700.000-mal verkauft. In seinem neuesten Buch, »Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen«, erzählt Paolo Cognetti von seiner Reise in eine abgeschiedene Gegend im Himalaja.
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»Heute Morgen
wäre ich lieber Maler
als Drechsler von Worten.
Im Nebel heben sich
die Riesenrhododendren
mit ihren großen, moosbedeckten Armen ab.«
TIZIANO TERZANI
Ende 2017 und gegen Ende meines vierzigsten Lebensjahrs reiste ich mit ein paar Freunden in die Dolpo-Region, die auf einer Hochebene im Nordosten Nepals liegt. Dort wollten wir fünftausend Meter hohe Pässe überwinden; einen Monat nahmen wir uns Zeit für diese Trekkingtour unweit der Grenze zu Tibet. Tibet selbst blieb unerreichbar, wenn auch nicht wegen Grenzproblemen: Nachdem es 1950 von der chinesischen Armee überfallen, in den Sechziger- und Siebzigerjahren von der entfesselten Kulturrevolution zerstört und schließlich vom neuen kapitalistischen China gnadenlos kolonisiert worden war, gab es dieses uralte Reich der Mönche, Kaufleute und Hirtennomaden schlichtweg nicht mehr.
Doch wenn stimmte, was ich gehört hatte, gab es stattdessen so etwas wie ein kleines, von der Geschichte vergessenes Tibet auf nepalesischem Boden. Auch auf Karten wirkt das Dolpo wie eine Ausnahme: Dort, wo das nepalesische Staatsgebiet, das größtenteils südlich des Himalaja bleibt, den Gebirgszug überschreitet und in das riesige geografische Gebiet des Hochlands von Tibet vordringt, liegt oberhalb der Viertausend-Meter-Marke eine Region, die weder von Monsunen noch Straßen erreicht wird – die kargste, entlegenste und am dünnsten besiedelte des gesamten Landes. Vielleicht würde ich ja dort oben das verlorene Tibet, das niemand mehr je zu Gesicht bekommen wird, doch noch zu Gesicht bekommen? Genau so eine Reise wünschte ich mir zu meinem vierzigsten Geburtstag, um den Abschied von einem ganz anderen verlorenen Reich, nämlich der Jugend, zu feiern.
Aber das war nicht der einzige Grund. Ebenso wichtig war mir die Reisegruppe, mit der ich unterwegs sein würde. Man wandert nicht einfach durch den Himalaja: Um Hunderte Kilometer zwischen menschenleeren Bergen zurückzulegen, war eine ganze Expedition vonnöten, bestehend aus Führern, Trägern, Maultieren und Reisegefährten, aus Zelten, die abends auf- und morgens wieder abgebaut werden mussten.
Zu den neun, die mit mir aufbrachen, gehörte auch Nicola, mit dem mich eine beginnende Freundschaft verband. Wir kannten uns erst seit Kurzem, hatten Gemeinsamkeiten festgestellt und befanden uns noch in der Phase, in der man am jeweils anderen alles Mögliche entdeckt. Trotzdem waren wir beide fest davon überzeugt, dass Freundschaften nicht einfach so entstehen: Man muss sie bewusst eingehen, hegen und pflegen. Man muss gemeinsame Erfahrungen machen, die unvergesslich bleiben. So kam es, dass ich ihm das Dolpo eines schönen Frühlingstags am Telefon beschrieb und fragte: »Wollen wir zusammen dorthin fahren?«
»Ja«, erwiderte er. Inzwischen war es Herbst, ohne dass einer von uns einen Rückzieher gemacht hatte.
Der andere Reisegefährte war Remigio, der bisher engste und schwierigste Freund in meinem Leben. Während der zehn Jahre unserer Freundschaft war es mir nicht ein einziges Mal gelungen, ihn aus dem Bergdorf herauszulocken, in dem er geboren und aufgewachsen, und in das ich gezogen war. Ich wollte ihn da nicht rausreißen, aber zur Abwechslung mal etwas anderes mit ihm erleben: einen Ort, an dem wir beide fremd sein und das Gefühl haben würden, weit fort zu sein, etwas ganz Neues zu entdecken. Monatelang hatte ich ihn dahingehend bearbeitet, all meine Überredungskunst aufgeboten und nichts als Skepsis und ständige Meinungsänderungen geerntet. Es gab immer irgendein Knie, das nicht mehr mitmachte, Geld, das fehlte, ja, sogar das Auto spielte einmal verrückt. Aber irgendwann kam er dann doch zum Flughafen – als ich mich längst damit abgefunden hatte, dass er nicht mehr auftauchen würde.
»Du bist also mit von der Partie?«
»Sieht ganz danach aus«, erwiderte er achselzuckend.
Ich wusste, dass man in den Bergen stets allein ist, auch wenn man mit anderen unterwegs ist, freute mich aber darauf, meine Einsamkeit mit diesen Gefährten zu teilen.
Anfang Oktober, als es in den Alpen jeden Moment schneien konnte, brachen wir auf und landeten in einem staubigen, warmen Kathmandu, das gerade erst die Monsunzeit hinter sich hatte. Seit meinem letzten Besuch schien sich die Stadt in dem weitläufigen Tal noch mehr ausgebreitet zu haben. Es gab neu hinzugekommene Peripherieringe, Barackensiedlungen, Wohnviertel, streunende Hunde, Affen, Bettler, abgemagerte, mitten auf der Straße herumstehende Kühe und Kinder. Die hinduistischen und buddhistischen Tempelanlagen am Durbar-Platz, die das Erdbeben vor zwei Jahren beschädigt oder völlig zerstört hatte, lagen noch in Trümmern, Holzpfähle stützten die erhalten gebliebenen Mauern. Große Plakate verkündeten, dass sich die chinesische Regierung um den Wiederaufbau kümmern werde. China? Was hatte China auf dem bedeutendsten Platz Nepals zu suchen?
Ich war mit Fieber angereist, was meine Verwirrung noch steigerte, und als mich eine Frau überredete, ihr Säuglingsmilchpulver zu kaufen, ließ ich mir von ihr und ihrem Komplizen im Laden fast alle Rupien klauen. In den umliegenden dunkelroten Gassen boten Metzger blutige Ziegenköpfe feil, und in den kleinen Tempeln an jeder Straßenecke brachten Gläubige Blumen und Obst dar, das dort verfaulen würde. Im touristischen Thamel-Viertel voller Westler, die auf den Everest wollten oder das Kathmandu der Beatles suchten, machten wir die letzten Besorgungen für unsere Expedition, und zwar in einem dieser Second-Hand-Läden, die Windjacken, Pullis und haufenweise Bergschuhe auf den Verkaufstischen anbieten: alles Sachen, die Kunden ihren Trägern schenken, wenn sie sie in ihren kurzärmeligen Hemden und Flipflops sehen, und die selbige Träger weiterverkaufen, sobald sie ins Tal zurückgekehrt sind. Wir liefen zwischen Staub und verschwitzten Leibern umher, überall wurden uns bettelnde Hände entgegengestreckt, es wurde gehupt, und an der Straße strömten Abwässer entlang. Trotzdem hatte die Stadt etwas, das mich nach wie vor begeisterte.
Die besten Lokale lagen oben auf den Dachterrassen, wo man das Gefühl hatte, über die Nöte der Menschen erhaben zu sein. Während wir bei einem Bier über unsere Reise sprachen, ertappten wir uns dabei, nach Norden zu schauen: Von Kathmandu aus ist der Himalaja nicht zu sehen, das Tal wird von Hügeln und Wolken umschlossen. Dennoch konnten wir ihn uns vorstellen und wurden ganz ehrfürchtig. Wie das in Nepal so ist, wich das Gefühl, Zeit zu verlieren, dem, sich an ein ganz neues Zeitgefühl gewöhnen zu müssen.
Denn erst, wenn man sich damit abgefunden hat, kommt man in die richtige Reisestimmung. Dann trafen eines Morgens die Genehmigungen zum Betreten des Dolpo ein, und wir konnten endlich Richtung Berge aufbrechen.