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Buch

Drei Wochen ist es her, dass Secret-Service-Agent Ethan Burke auf der Suche nach zwei Vermissten in die Kleinstadt Wayward Pines kam – und damit alles hinter sich ließ, was sein Leben bisher ausmachte. Denn das scheinbar idyllische Wayward ist keine normale Stadt, sondern eine Festung, umgeben von einem Elektrozaun, und davor lauert eine fürchterliche Gefahr. Lange Zeit hielt die Gemeinschaft der Stadt dieser Bedrohung stand. Doch durch Ethans Ankunft ist das zerbrechliche Gefüge ins Wanken geraten. Und die Bewohner von Wayward Pines stehen vor einem blutigen Kampf ums Überleben …

Autor

Blake Crouch ist der Autor einiger höchst erfolgreicher Romane, darunter der internationale Bestseller »Dark Matter. Der Zeitenläufer« und die Wayward-Pines-Trilogie, die als TV-Serie verfilmt wurde. Blake Crouch lebt mit seiner Familie in Colorado.

Blake Crouch

Die letzte Stadt

Ein Wayward-Pines-Thriller

Band 3

Aus dem amerikanischen Englisch
von Kerstin Fricke

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»The Last Town« bei Thomas & Mercer, Las Vegas.




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Taschenbuchausgabe Dezember 2019

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Deutsche Erstveröffentlichung bei AmazonCrossing, Luxemburg, Oktober 2014

Copyright © 2014 der Originalausgabe by Blake Crouch

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Tim Robinson / Trevillion Images; FinePic®, München

Th · Herstellung: kw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN: 978-3-641-25324-0
V001


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Für meine Engel Annslee und Adeline

Und der HERR antwortete Hiob aus dem Wetter und sprach: Wer ist der, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten ohne Verstand? Gürte deine Lenden wie ein Mann; ich will dich fragen, lehre mich! Wo warst du, da ich die Erde gründete? Sage an, bist du so klug! Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie eine Richtschnur gezogen hat? Worauf stehen ihre Füße versenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, da mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Kinder Gottes?

Hiob 38: 1-7

WIR SIND DIE LETZTEN UNSERER ART, EINE KOLONIE VON MENSCHEN AUS DEM FRÜHEN EINUNDZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT. WIR LEBEN IN DEN BERGEN DES EINSTIGEN IDAHO IN EINER STADT NAMENS WAYWARD PINES.
UNSERE KOORDINATEN SIND 44 GRAD, 13 MINUTEN UND 0 SEKUNDEN NORD UND 114 GRAD, 56 MINUTEN UND 16 SEKUNDEN WEST.
IST DA DRAUSSEN NOCH JEMAND?

Teil einer Sprachnachricht mit Morsecode, die aus der Superstruktur in Wayward Pines per Kurzwelle seit elf Jahren in einer Endlosschleife versendet wird.

Prolog

David Pilcher

Superstruktur
Wayward Pines
vor vierzehn Jahren

Er schlägt die Augen auf.

Frierend.

Zitternd.

Sein Kopf tut weh.

Jemand steht mit einem Mundschutz über ihm. Das Gesicht der Person ist verschwommen, ihre Worte sind kaum zu verstehen.

Er weiß nicht, wo er ist oder wer er ist.

Die Person drückt ihm eine durchsichtige Maske auf den Mund und beugt sich näher an ihn heran.

Die Stimme – eine Frauenstimme – drängt ihn: »Holen Sie tief Luft und atmen Sie ein.«

Das Gas, das er einatmet, ist warmer, konzentrierter Sauerstoff, der mit wohltuender Wärme durch seine Luftröhre strömt und in seine Lunge eindringt. Obwohl ihr Mund bedeckt ist, lächelt ihn die Frau, die sich über ihn beugt, mit den Augen an.

»Besser?«, fragt sie.

Er nickt. Ihr Gesicht wird schärfer. Und ihre Stimme … kommt ihm bekannt vor. Nicht das Timbre, aber die Art, wie er sich fühlt, wenn er sie hört. Als Beschützer. Fast schon väterlich.

»Tut Ihnen der Kopf weh?«, will sie wissen.

Er nickt.

»Das geht bald vorüber. Ich weiß, dass Sie jetzt sehr desorientiert sind.«

Nicken.

»Das ist völlig normal. Wissen Sie, wo Sie sind?«

Ein Kopfschütteln.

»Wissen Sie, wer Sie sind?«

Kopfschütteln.

»Das ist nicht schlimm. Das Blut fließt erst seit fünfundvierzig Minuten wieder durch Ihre Adern. Normalerweise dauert es einige Stunden, bis man wieder ganz der Alte ist.«

Er starrt die Lampen über sich an, die lang, fluoreszierend und viel zu hell sind.

Er öffnet den Mund.

»Versuchen Sie noch nicht zu reden. Soll ich Ihnen erklären, was gerade passiert?«

Nicken.

»Ihr Name ist David Pilcher.«

Das klingt irgendwie richtig. Der Name fühlt sich auf einer Ebene, die er noch nicht wieder ganz begreift, an, als wäre es seiner. Zumindest eine Sache weiß er jetzt wieder.

»Sie sind nicht im Krankenhaus. Sie waren nicht in einen Autounfall verwickelt oder hatten einen Herzinfarkt. So etwas ist nicht geschehen.«

Er hätte ihr gern gesagt, dass er sich nicht bewegen kann. Dass ihm eiskalt ist und dass er Angst hat.

»Sie sind gerade aus der suspensierten Animation aufgewacht. Ihre Körperfunktionen liegen alle im grünen Bereich. Sie haben eintausendachthundert Jahre in einer von eintausend Suspensionseinheiten geschlafen, die von Ihnen erschaffen wurden. Wir sind alle so aufgeregt. Ihr Experiment hat funktioniert. Die Crew hat es mit einer siebenundneunzigprozentigen Überlebensrate geschafft. Das ist um einige Prozentpunkte besser, als Sie erwartet haben, und es gab keine kritischen Verluste. Herzlichen Glückwunsch.«

Pilcher liegt auf dem Krankenbett und sieht blinzelnd zu den Lampen hinauf.

Der Herzmonitor, an den er angeschlossen ist, piept immer schneller, aber das liegt nicht daran, dass er Angst empfindet oder unter Stress steht.

Er ist aufgeregt.

Innerhalb von fünf Sekunden ist ihm alles wieder eingefallen.

Wer er ist.

Wo er sich befindet.

Warum er hier ist.

Als wäre eine Kamera fokussiert worden.

Pilcher hebt eine Hand, die sich so schwer wie ein Granitblock anfühlt, und zieht sich die Maske vom Mund. Er starrt die Krankenschwester an. Dann spricht er zum ersten Mal seit fast zwei Jahrtausenden, und seine Stimme ist rau, aber klar. »Ist schon jemand nach draußen gegangen?«

Sie nimmt ihre Maske ab. Es ist Pam. Zwanzig Jahre alt und nach ihrem überaus langen Schlaf leichenblass.

Und dennoch … wunderschön.

Sie lächelt. »Sie wissen, dass ich das nicht zugelassen hätte, David. Wir haben auf Sie gewartet.«

* * *

Sechs Stunden später ist Pilcher auf den Beinen und geht wacklig durch den Korridor auf Etage 1, umgeben von Ted Upshaw, Arnold Pope und einem Mann namens Francis Leven. Levens offizieller Titel ist »Verwalter« der Superstruktur, und er redet wie ein Wasserfall.

»… hatten vor siebenhundertdreiundachtzig Jahren einen Hüllenbruch in der Arche, aber die Vakuumsensoren haben das ausgeglichen.«

»Und unsere Lebensmittel …«, setzt Pilcher an.

»Ich führe momentan eine ganze Reihe von Tests durch, aber bisher sieht es so aus, als wäre alles im perfekten Zustand.«

»Wie viele von der Crew sind bereits wach?«

»Erst acht, uns eingeschlossen.«

Sie erreichen die automatische Glastür, die in die fast fünfhundert Quadratmeter große Höhle führt, die als Lagerhaus für ihre Lebensmittel und Baustoffe dient. Sie wird liebevoll »Die Arche« genannt und ist ein Wunderwerk menschlicher Ingenieurskunst und Ambitionen.

Ein feuchter, mineralisierter Geruch hängt in der Luft.

Gewaltige Kugellampen hängen von der Decke der Arche, so weit das Auge sehen kann.

Sie gehen auf einen Humvee zu, der am Eingang eines Tunnels steht, und schon jetzt ist Pilcher außer Atem und hat Krämpfe in den Beinen.

Pope fährt.

Die Lampen im Tunnel funktionieren noch nicht, und der Humvee saust das steile fünfzehnprozentige Gefälle hinab in die Dunkelheit, während sich das Licht der beiden Scheinwerfer an den feuchten Steinwänden spiegelt.

Pilcher sitzt auf der Beifahrerseite.

Er ist noch immer desorientiert, aber das lässt nach.

Seine Leute haben ihm berichtet, dass die Suspension eintausendachthundert Jahre angehalten hat, aber das kommt ihm mit jedem Atemzug unwahrscheinlicher vor. Eigentlich fühlt er sich eher so, als wären seit dieser Silvesterfeier im Jahr 2013, bei der er und seine ganze Crew Dom Pérignon getrunken, sich ausgezogen und die Suspensionskapsel betreten hatten, nur wenige Stunden vergangen.

Es knackt in seinen Ohren, als sie nach unten fahren.

In seinem Magen flattert es nervös.

Pilcher starrt Leven über die Schulter hinweg an. Der schlanke junge Mann mit dem Gesicht eines Kindes, aber den Augen eines Weisen hat auf dem Rücksitz Platz genommen.

»Können wir in dieser Atmosphäre auch gefahrlos atmen?«, will Pilcher wissen.

»Sie hat sich nur geringfügig verändert«, versichert ihm Leven. »Zum Glück sind Stickstoff und Sauerstoff noch immer die Hauptbestandteile. Aber es ist ein Prozent mehr Sauerstoff und ein Prozent weniger Stickstoff enthalten. Die Treibhausgase sind auf die Werte vor dem Industriezeitalter zurückgegangen.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie bereits begonnen haben, den Druckausgleich in der Superstruktur einzuleiten?«

»Das war das Erste, was wir gemacht haben. Wir saugen bereits Luft von außen an.«

»Gibt es noch weitere sachdienliche Hinweise?«

»Es wird einige Tage dauern, bis unsere Systeme wieder komplett hochgefahren und einsatzbereit sind.«

»Welches Datum im christlichen Kalender haben wir laut unserer Atomuhr?«

»Heute ist der vierzehnte Februar 3813 im Jahre des Herrn.« Leven grinst. »Alles Gute zum Valentinstag.«

* * *

Arnold Pope hält den Humvee an, dessen Scheinwerfer die Rückseite eines Titantors anstrahlen, das den Tunnel, die Superstruktur und alle, die darin schlafen, vor der Außenwelt schützt.

Dann schaltet Pope den Motor aus, lässt das Licht jedoch eingeschaltet.

Alle steigen aus dem Wagen aus, und Pope geht nach hinten und öffnet die Heckklappe.

Er nimmt eine Schrotflinte heraus.

»Um Himmels willen, Arnie«, meint Pilcher. »Sie müssen auch immer pessimistisch sein.«

»Aus diesem Grund bezahlen Sie mich doch auch so gut, oder nicht? Wenn es nach mir ginge, würde uns mein gesamtes Sicherheitsteam begleiten.«

»Nein, vorerst beschränken wir uns auf eine kleine Gruppe.«

»Pam, könnten Sie mal mit der Taschenlampe hier rüberkommen?«, fragt Leven.

Als der Lichtstrahl auf das Rad zum Öffnen des Tors fällt, sagt Pilcher: »Lassen Sie uns noch einen Moment warten.«

Leven richtet sich wieder auf.

Pope kommt zu ihnen.

Ted und Pam drehen sich zu Pilcher um.

Pilchers Stimme ist von den Medikamenten, die ihn wiederbelebt haben, noch immer ganz rau.

»Wir sollten diesen Moment bewusst erleben«, erklärt er, und seine Leute mustern ihn. »Ist Ihnen allen eigentlich bewusst, was wir getan haben? Wir haben soeben die gefährlichste und wagemutigste Reise in der Geschichte der Menschheit überstanden. Wir sind jedoch nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit gereist. Wissen Sie, was Sie auf der anderen Seite dieses Tors erwartet?«

Er lässt die Frage kurz wirken.

Keiner beißt an.

»Neue Entdeckungen.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen«, erwidert Pam.

»Ich habe es schon früher gesagt und wiederhole es jetzt noch einmal. Das hier ist Neil Armstrong, der die Stufen von Apollo 11 hinuntergeht und zum ersten Mal einen Fuß auf den Mond setzt. Die Wright-Brüder, die ihren Flieger in Kitty Hawk testen. Kolumbus, der in der Neuen Welt an Land geht. Niemand weiß, was auf der anderen Seite dieses Tors liegt.«

»Sie haben vorausgesagt, dass die Menschheit aussterben wird«, merkt Pam an.

»Ja, aber das war auch wirklich nichts weiter als eine Prophezeiung. Möglicherweise habe ich mich geirrt. Da draußen könnten tausend Meter hohe Wolkenkratzer stehen. Dann wären wir wie ein Mann aus dem Jahr 213 nach Christus, der 2013 wieder aufwacht. ›Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle‹, hat Albert Einstein gesagt. Wir sollten diesen Moment alle genießen.«

Leven dreht sich wieder zu dem Rad um und dreht es langsam entgegen der Uhrzeigerrichtung.

Dann ist es endlich eingerastet. »Sir?«, fragt er. »Möchten Sie es tun?«

Pilcher tritt an das Tor heran.

»Es ist dieser Riegel hier vorne«, erklärt Leven.

Pilcher legt den Riegel um.

Einen Moment lang passiert gar nichts.

Die Scheinwerfer des Humvee gehen aus.

Nur der Strahl von Pams Taschenlampe durchschneidet noch die Dunkelheit.

Etwas unter ihren Füßen brummt, als würde ein altes Schiff knarzen.

Das schwere Tor bebt und geht langsam auf.

Und dann …

Strahlend helles Licht dringt herein.

Pilchers Herz schlägt schneller.

Das ist der aufregendste Augenblick seines Lebens.

Schneeflocken wirbeln auf dem Asphalt, und Eiseskälte dringt in den Tunnel. Pilcher kneift die Augen zu, da das Licht so grell ist.

Als das Portal endlich offen ist, rahmt es die Welt da draußen wie ein Bilderrahmen ein.

Sie sehen einen mit Pinien zugewachsenen Hügel, über den ein Schneesturm hinwegfegt.

* * *

Sie gehen in den Wald und laufen durch dreißig Zentimeter hohen Pulverschnee.

Es herrscht Totenstille – bis auf das Geräusch des fallenden Schnees, das wie ein Flüstern klingt.

Nach zweihundert Metern bleibt Pilcher stehen. Die anderen tun es ihm nach.

»Hier hat sich meiner Meinung nach früher die Straße nach Wayward Pines befunden«, sagt er.

Sie stehen noch immer in einem dichten Pinienwald. Eine Straße ist nirgendwo zu sehen.

Pilcher holt einen Kompass aus der Tasche.

* * *

Sie gehen zwischen den hohen Pinien hindurch in Richtung Norden ins Tal.

»Ich wüsste zu gern, wie oft dieser Wald abgebrannt und wieder neu gewachsen ist«, meint Pilcher.

Er friert. Seine Beine tun weh. Er ist davon überzeugt, dass es den anderen genauso geht, aber keiner beschwert sich.

Sie gehen weiter, bis sie an den Waldrand kommen. Er weiß nicht genau, wie weit sie gelaufen sind. Es schneit nicht mehr so stark, und zum ersten Mal sieht er etwas Vertrautes: die gewaltigen Klippen, die schon vor zweitausend Jahren das Dorf Wayward Pines umgeben haben.

Es überrascht ihn, dass ihn dieser Anblick derartig beruhigt. Zwei Jahrtausende sind eine lange Zeit für Wälder und Flüsse, aber die Klippen sehen unverändert aus und wirken für ihn wie alte Freunde.

Schon bald steht die Gruppe mitten im Tal.

Es ist kein einziges Gebäude mehr übrig.

Es stehen nicht einmal mehr Ruinen.

»Es ist, als hätte hier nie eine Stadt existiert«, stellt Leven fest.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragt Pam.

»Was hat was zu bedeuten?«, erwidert Pilcher.

»Dass die Natur das Tal zurückerobert hat. Dass die Stadt verschwunden ist.«

»Wer weiß das schon? Vielleicht ist Idaho nun ein riesiges Naturschutzgebiet. Möglicherweise existiert Idaho auch gar nicht mehr. Wir müssen über diese neue Welt noch sehr viel lernen.«

Pilcher sieht sich nach Pope um, der Mann ist zwanzig Meter weiter auf eine Lichtung gelaufen und kniet nun im Schnee.

»Was haben Sie entdeckt, Arnie?«

Er winkt Pilcher zu sich.

Als sich die Gruppe um Pope versammelt, deutet er auf Spuren im Schnee.

»Menschlich?«, fragt Pilcher.

»Sie haben die Größe eines menschlichen Fußabdrucks, aber die Abstände stimmen nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Was immer dieses Wesen auch ist, es bewegt sich auf allen vieren. Sehen Sie?« Er berührt eine Stelle im Schnee. »Hier sind die Hinterbeine. Das sind die Vorderbeine. Sehen Sie sich die Abstände zwischen den einzelnen Abdrücken an. Das ist eine verdammt beeindruckende Schrittweite.«

* * *

In der Südwestecke des Tals entdecken sie eine Reihe von Steinen, die aus dem Boden aufragen und in einem Hain aus Buscheichen und Birken verteilt sind. Pilcher hockt sich hin, um einen der Steine in Augenschein zu nehmen, und wischt den Schnee herunter. Früher einmal muss das ein polierter Marmorblock gewesen sein, doch die Zeit hat ihn rau werden lassen.

»Was ist das?«, erkundigt sich Pam und streicht mit der Hand über einen ähnlichen Stein.

»Das sind die Ruinen eines Friedhofs«, antwortet Pilcher. »Die Inschriften sind erodiert. Das ist alles, was vom Wayward Pines des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch übrig ist.«

* * *

Sie gehen nach Hause, zurück in die Superstruktur.

Alle sind geschwächt.

Alle frieren.

Es fängt wieder an zu schneien, und ein weißer Schleier legt sich vor die Klippen und die Nadelbäume.

»Das macht mir nicht den Eindruck, als würde hier jemand leben«, meint Leven.

»Wir sollten möglichst bald die Drohnen losschicken«, erklärt Pilcher. »Wir lassen sie nach Boise, Missoula und bis runter nach Seattle fliegen. Dann werden wir wissen, ob noch etwas übrig ist.«

Sie gehen auf demselben Weg zurück in den Wald. Während sich die Stille über sie herabsenkt, ertönt im Tal unter ihnen auf einmal ein Schrei, der schwach und geisterhaft klingt und von den unter dem Schnee verborgenen Bergen widerhallt.

Sie bleiben abrupt stehen.

Ein weiterer Schrei scheint dem ersten zu antworten. Er ist tiefer, klingt aber ebenso traurig und aggressiv.

Pope klappt den Mund auf und will schon etwas sagen, als im Wald um sie herum auf einmal viele weitere Schreie zu hören sind.

Jetzt hasten sie durch den Schnee, zuerst nur etwas schneller, doch als die Schreie näher kommen, rennen sie, so schnell sie können.

Einhundert Meter vom Tunnel entfernt hat Pilcher keine Kraft mehr in den Beinen, und ihm läuft der Schweiß über die Stirn. Die anderen haben das Tor erreicht. Sie steigen hindurch und rufen ihm zu, er soll schneller laufen. Ihre Stimmen vermischen sich mit dem Gekreische um ihn herum.

Vor seinen Augen verschwimmt alles.

Er dreht sich um.

Zwischen den Bäumen kann er Bewegungen erkennen, blasse Gestalten, die auf allen vieren auf ihn zurennen.

Er ringt nach Luft und denkt: »Ich werde am ersten Tag nach Verlassen der Suspension sterben.«

Die Welt um ihn herum wird schwarz, und plötzlich ist ihm eiskalt im Gesicht.

Er hat kurz das Bewusstsein verloren.

Nun liegt er mit dem Gesicht nach unten im Schnee und kann sich nicht mehr bewegen.

Als die Schreie lauter werden, wird er auf einmal aus dem Pulverschnee gezogen. Von seiner erhöhten Position auf Arnold Popes Schulter sieht er den Wald hinter sich wackeln und humanoide Kreaturen auf sich zurennen, von denen die Nächste gerade mal fünfzig Meter von ihm entfernt ist.

Pope schiebt ihn durch die Titantür, und Pilcher kriecht hinein.

Er presst sein Gesicht gegen den kalten Beton.

»Vorsicht! Das Tor schließt sich gleich!«, ruft Pope.

Das Tor knallt zu.

Von der anderen Seite ist ein gedämpftes Trommeln gegen das Metall zu hören.

Pilcher, der begreift, dass er in Sicherheit ist, verliert wieder das Bewusstsein.

Das Letzte, was er hört, bevor er ohnmächtig wird, ist Pams Stimme, die fast schon hysterisch schreit: »Was zum Teufel sind das für Kreaturen?«

I

Zwei Stunden nach Ethan Burkes Enthüllung

Jennifer Rochester

Das Haus war so verdammt dunkel.

Jennifer versuchte gewohnheitsgemäß, das Licht in der Küche einzuschalten, aber nichts geschah.

Sie tastete sich am Kühlschrank und dem Küchenschrank vorbei zum Ofen, öffnete ihn und nahm den Kerzenleuchter aus Kristall, die Kerze und die Streichholzschachtel in die Hand. Dann schaltete sie das Gas ein, hielt ein Streichholz daran und stellte den Teekessel auf die zischende blaue Flamme.

Nachdem sie den Kerzenstummel angezündet hatte, setzte sie sich an den Küchentisch.

In ihrem früheren Leben hatte sie eine Schachtel Zigaretten am Tag geraucht, und jetzt hätte sie liebend gern eine Zigarette gehabt, um ihre Nerven und ihre Hände zu beruhigen, die nicht aufhören wollten zu zittern.

Als ihr die Tränen in die Augen stiegen, verschwamm das Kerzenlicht vor ihren Augen.

Sie konnte nur noch an ihren Mann Teddy denken, der unglaublich weit weg zu sein schien.

Zweitausend Jahre, um genau zu sein.

Sie hatte immer darauf gehofft, dass es die Welt da draußen noch gab. Auf der anderen Seite des Zauns. Außerhalb dieses Albtraums. Dass ihr Mann da draußen noch existierte. Ihr Heim. Ihr Job an der Universität. Auf einer gewissen Ebene hatte sie diese Hoffnung all die Jahre angetrieben. Die Hoffnung darauf, dass sie eines Tages wieder in Spokane erwachte. Dass Teddy neben ihr lag und schlief und dass dieser Ort – Wayward Pines – nur ein Albtraum gewesen war. Sie würde leise aus dem Bett schlüpfen, in die Küche gehen und ihm Eier braten. Eine Kanne starken Kaffee kochen. Sie würde am Küchentisch auf ihn warten, bis er aufstand und in diesem widerlichen Bademantel, zerzaust und schläfrig, so wie sie ihn liebte, in die Küche kam. Sie würde ihm erzählen, dass sie einen sehr seltsamen Traum gehabt hatte, doch sobald sie begann, von alldem zu erzählen, was sie in Wayward Pines erlebt hatte, würde es wie alle anderen Träume auch in Vergessenheit geraten.

Sie würde ihren Mann über den Tisch hinweg anlächeln und sagen: »Ich erinnere mich nicht mehr daran.«

Nun war ihre Hoffnung dahin.

Die Einsamkeit machte ihr zu schaffen.

Aber darunter loderte ihre Wut auf.

Wut über all das, was man ihr angetan hatte.

Wut über ihren Verlust.

Der Teekessel begann zu pfeifen.

Während in ihrem Kopf alles drunter und drüber ging, stand sie mühsam wieder auf.

Sie nahm den Kessel vom Herd, dessen Pfeifen erstarb, und goss das kochende Wasser in ihre Lieblingstasse, in die sie ein mit Kamillenblüten gefülltes Tee-Ei gehängt hatte. Mit der Tasse in der einen und der Kerze in der anderen Hand ging sie aus der dunklen Küche in den Flur.

Die meisten anderen waren noch immer im Theater und erholten sich von den Enthüllungen des Sheriffs. Vielleicht hätte sie bei ihnen bleiben sollen, aber sie hatte das dringende Bedürfnis verspürt, allein zu sein. An diesem Abend wollte sie nur noch im Bett liegen und weinen. Wenn sie einschlafen konnte, war das gut, aber eigentlich rechnete sie nicht damit.

Sie ging die knarrende Treppe hinauf, und das Kerzenlicht flackerte über die Wände. Der Strom war schon öfter ausgefallen, aber sie hatte irgendwie das ungute Gefühl, dass es an diesem Abend einen anderen Grund dafür gab, dass sie keinen Strom hatten.

Daher hatte sie auch alle Türen und Fenster verriegelt, um wenigstens ein wenig – sehr wenig – Seelenfrieden zu finden.

Sheriff Ethan Burke

Ethan starrte die siebeneinhalb Meter hohen Stahlmasten und Kabel an, die mit Stacheldraht umwickelt waren. Normalerweise summte der Zaun, da genug Energie hindurchfloss, um einem Menschen einen tausendfach tödlichen Stromstoß zu versetzen. Er war so laut, dass man ihn schon aus hundert Metern Entfernung hören konnte und ein Vibrieren im Bauch spürte, wenn man näher kam.

Doch heute Abend hörte Ethan nichts.

Noch schlimmer war allerdings, dass das neun Meter breite Tor offen stand.

Es war aufgeschlossen worden.

Nebelbänke krochen als Vorboten eines nahenden Sturms an ihm vorbei, und Ethan sah hinaus in die schwarzen Wälder jenseits des Zauns. Über das Pochen seines Herzens hinweg hörte er Schreie, die durch den Wald hallten.

Die Abbys waren unterwegs.

David Pilchers letzte Worte schossen ihm immer wieder durch den Kopf.

Die Hölle wird zu Ihnen kommen.

Das alles war Ethans Schuld.

Die Hölle wird zu Ihnen kommen.

Er hatte den Fehler begangen, den Bluff dieses Psychopathen auffliegen zu lassen.

Die Hölle wird zu Ihnen kommen.

Und den Menschen die Wahrheit sagen.

Und jetzt musste jeder in der Stadt, auch seine Frau und sein Sohn, sterben.

* * *

Ethan rannte zurück durch den Wald, und seine Panik wuchs mit jedem Schritt, mit jedem verzweifelten Atemzug. Er rannte neben dem lautlosen Zaun her zwischen den Bäumen hindurch.

Sein Bronco stand nicht weit entfernt, und schon jetzt wurden die Schreie lauter und kamen näher.

Er setzte sich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an und raste in den Wald, wobei er die Aufhängung an ihre Grenzen brachte und die letzten Glassplitter, die noch von der Windschutzscheibe übrig waren, herausbrach.

Kurz darauf hatte er die Straße erreicht, die zurück in die Stadt führte, und raste über den Standstreifen und auf den Asphalt.

Er trat das Gaspedal ganz durch.

Der Motor jaulte.

Dann kam er aus dem Wald und fuhr an einer Weide entlang.

Die Scheinwerfer fielen auf ein Schild am Stadtrand, auf dem eine vierköpfige Familie zu sehen war, die grinste und aussah wie aus den 1950er-Jahren. Darunter stand:

WILLKOMMEN IN WAYWARD PINES,
WO DAS PARADIES ZU HAUSE IST

»Nicht mehr«, dachte Ethan.

Wenn sie Glück hatten, kamen die Abbys zuerst zur Molkerei und schlachteten das Vieh ab, bevor sie über die Stadt herfielen.

Da war sie.

Direkt voraus.

Die Stadt Wayward Pines.

An einem klaren Tag sah sie perfekt aus. Ordentliche Blöcke mit bunten viktorianischen Häusern. Weiße Lattenzäune. Saftiges grünes Gras. Die Main Street hätte auch dafür errichtet worden sein können, dass Touristen auf ihr flanierten und davon träumten, hier im Alter ein schönes Leben zu führen. Ein ruhiges Leben. Die Berghänge, die die Stadt umgaben, versprachen Schutz und Sicherheit. Auf den ersten Blick sah nichts danach aus, als wäre das hier ein Ort, den man nicht verlassen konnte, ein Ort, an dem man allein für den Versuch sterben musste.

Doch heute Abend war das anders.

An diesem Abend lagen die Wohnhäuser und die anderen Gebäude in unheilvoller Dunkelheit da.

Ethan bog auf die Tenth Avenue ein und raste an sieben Blocks entlang, bevor er das Lenkrad so hart herumriss, um auf die Main Street zu fahren, dass die Reifen auf der linken Seite des Wagens vom Boden abhoben.

Direkt vor ihm an der Kreuzung Main und Eight standen die meisten Stadtbewohner noch so, wie er sie verlassen hatte, vor dem Theater. Über vierhundert Seelen warteten in der Dunkelheit, als wären sie alle gleichzeitig rausgeworfen worden, und trugen noch immer ihre lächerlichen Kostüme, die sie für das Fest angezogen hatten.

Ethan stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen.

Es war irgendwie unheimlich, die Main Street im Dunkeln zu sehen, deren Schaufenster nur vom Licht der Fackeln erhellt wurden.

Da war das Steaming Bean.

Wooden Treasures, der Laden, in dem Kate und Harold Ballinger Spielzeug verkauften.

Richardsons Bäckerei.

Der Biergarten.

Das Süßwarengeschäft Sweet Tooth.

Das Immobilienbüro von Wayward Pines, in dem Ethans Frau Theresa arbeitete.

Die Menschenmenge machte einen unfassbaren Lärm.

Nach und nach hatten die Menschen die Fassungslosigkeit und den Schreck, die sie nach Ethans Entschluss, ihnen die Wahrheit über Wayward Pines zu sagen, befallen hatten, überwunden. Nun sprachen sie miteinander, und für viele stellte es das erste richtige Gespräch dar, dass sie hier miteinander führten.

Kate Ballinger kam zu Ethan geeilt. Sie und ihr Mann Harold hatten an diesem Abend beim Fest auf dem Henkersblock gestanden, und seine Enthüllung hatte ihnen vorerst das Leben gerettet. Jemand hatte die Wunde über ihrem linken Auge schnell genäht, aber ihr Gesicht war noch immer blutüberströmt, ebenso wie ihr vorzeitig ergrautes Haar. Kates Verschwinden in Wayward Pines hatte Ethan vor zweitausend Jahren überhaupt erst in diese Stadt geführt. In einem anderen Leben hatten sie zusammen beim Secret Service gearbeitet. Sie waren Partner gewesen und für sehr kurze Zeit sogar mehr als das.

Ethan nahm Kates Arm und führte sie hinter den Bronco, wo die anderen sie nicht mehr hören konnten. Kate wäre an diesem Abend beinahe ums Leben gekommen, und als Ethan ihr jetzt in die Augen sah, wurde ihm klar, dass sie sich nur noch mit Mühe und Not zusammenreißen konnte.

»Pilcher hat den Strom abgestellt«, sagte er.

»Ich weiß.«

»Ich will damit sagen, dass er auch den Strom für den Zaun abgestellt und das Tor geöffnet hat.«

Sie musterte Ethan, als müsse sie erst darüber nachdenken, wie schlecht die Nachricht wirklich war, die sie da gerade gehört hatte.

»Dann werden diese Dinger …«, begann sie. »Diese Abscheulichkeiten …«

»Sie können jetzt einfach in die Stadt eindringen. Und das werden sie auch tun. Ich habe sie am Zaun gehört.«

»Wie viele?«

»Das weiß ich nicht. Aber selbst eine kleine Gruppe wäre schon eine Katastrophe.«

Kate drehte sich zu den anderen um.

Die Gespräche verstummten, und die Leute kamen näher, um die Neuigkeiten zu hören.

»Einige von uns haben Waffen«, meinte sie dann. »Und andere Macheten.«

»Das wird nicht reichen.«

»Kannst du nicht noch mal mit Pilcher reden? Damit er seine Meinung ändert und den Strom wieder anstellt?«

»Dazu ist es viel zu spät.«

»Dann müssen wir alle wieder ins Theater schaffen«, erwiderte sie. »Das Gebäude hat keine Fenster. Es gibt nur einen Ausgang auf jeder Seite der Bühne und die Doppeltür hinein. Wir können uns darin verbarrikadieren.«

»Und was ist, wenn wir tagelang belagert werden? Wir haben da drin nichts zu essen oder zu trinken. Und es gibt auch keine Barrikade, die die Abbys ewig draußen halten wird.«

»Was machen wir dann, Ethan?«

»Ich weiß es nicht, aber wir können die Leute auch nicht einfach nach Hause schicken.«

»Einige sind bereits gegangen.«

»Ich habe allen gesagt, dass sie hierbleiben sollen.«

»Ich habe versucht, sie aufzuhalten.«

»Wie viele sind schon nach Hause gegangen?«

»Fünfzig oder sechzig.«

»Großer Gott.«

Ethan entdeckte Theresa und Ben, seine wundervolle Familie, die durch die Menge auf ihn zukamen.

»Wenn ich irgendwie in die Superstruktur komme, kann ich Pilchers innerem Kreis vielleicht zeigen, wie der Mann wirklich ist, für den sie arbeiten. Dann haben wir möglicherweise noch eine Chance«, sagte er.

»Dann geh, und zwar auf der Stelle.«

»Ich werde meine Familie nicht verlassen. Nicht in dieser Situation und ohne richtigen Plan.«

Theresa hatte sie erreicht. Sie trug ihr langes blondes Haar jetzt als Pferdeschwanz, und Ben und sie hatten dunkle Kleidung an.

Ethan küsste sie und zerzauste Bens Haare. Er konnte den Mann, der aus diesem zwölfjährigen Jungen werden würde, bereits in Bens Augen sehen. Er wurde langsam erwachsen.

»Was hast du rausgefunden?«, wollte Theresa wissen.

»Nichts Gutes.«

»Ich habe eine Idee«, rief Kate auf einmal. »Wir brauchen ein sicheres Versteck, während du in die Superstruktur einbrichst.«

»So ist es.«

»Einen Ort, der gut geschützt ist und sich gut verteidigen lässt. Und an dem es genug Lebensmittel und Wasser gibt.«

»Genau.«

Sie lächelte. »Zufälligerweise kenne ich genau so einen Ort.«

»Die Höhle der Wanderer«, begriff Ethan.

»Ja.«

»Das könnte funktionieren. Ich habe einige Waffen auf dem Revier.«

»Dann hol sie. Nimm Brad Fisher mit.« Sie deutete auf den Bürgersteig. »Er steht gleich da vorne.«

»Wie sollen wir so viele Leute den Berg hochkriegen?«

»Ich werde sie in Hundertergruppen einteilen«, schlug Kate vor. »Und jede Gruppe wird von jemandem angeführt, der den Weg kennt.«

»Was machen wir mit den Leuten, die nach Hause gegangen sind?«, wollte Theresa wissen.

Doch bevor jemand antworten konnte, erklang aus der Ferne ein einsamer Schrei.

Das Gemurmel der Menschenmenge, das bis eben noch zu hören war, verstummte.

Das Geräusch war aus dem Süden der Stadt gekommen und hatte geklungen wie ein schwaches, bösartiges Stöhnen.

Man spürte förmlich, was es zu bedeuten hatte.

Und es bedeutete, dass die Hölle auf dem Weg zu ihnen war.

»Es wird schon schwer genug, die Leute zu beschützen, die hiergeblieben sind.«

»Dann sind sie auf sich allein gestellt?«

»Wir sind jetzt alle auf uns allein gestellt.«

Er ging zur Beifahrerseite des Broncos, griff hinein und nahm das Megafon heraus, das er Kate reichte. »Kümmerst du dich darum?«

Sie nickte.

Ethan sah Theresa an. »Ich möchte, dass du mit Ben bei Kate bleibst.«

»Okay.«

»Ich komme mit dir, Dad«, meinte Ben.

»Du musst bei Mom bleiben.«

»Aber ich kann dir helfen.«

»Und dadurch hilfst du mir auch.« Ethan wandte sich noch einmal an Kate. »Ich komme zu euch, wenn ich alles geholt habe.«

»Wir treffen uns in dem kleinen Park am Nordende der Stadt.«

»Dem mit dem kleinen Pavillon?«

»Genau.«

* * *

Brad Fisher, der einzige Anwalt in Wayward Pines, saß betreten auf dem zerstörten Beifahrersitz von Ethans Bronco und umklammerte den Haltegriff, während Ethan mit knapp einhundert Stundenkilometern über die First Avenue durch die Stadt raste.

Ethan warf ihm einen Blick zu. »Wo ist Ihre Frau?«

»Wir waren zusammen im Theater«, antwortete Brad. »Sie haben uns die nackte Wahrheit an den Kopf geworfen, und als ich mich umgedreht habe, war Megan auf einmal nicht mehr da.«

»Wenn man bedenkt, was sie den Kindern hinter dem Rücken ihrer Eltern beigebracht hat, war sie vermutlich der Ansicht, dass die Leute sie als Verräterin ansehen würden. Wahrscheinlich hatte sie Angst um ihr Leben. Was denken Sie jetzt über sie?«

Die Frage schien Brad zu überraschen. Normalerweise war er immer glatt rasiert und auf Hochglanz poliert und entsprach in jeder Hinsicht dem Bild eines kompetenten jungen Anwalts. Jetzt kratzte er sich über die Bartstoppeln an seinem Kinn.

»Ich weiß es nicht. Ich hatte nie das Gefühl, dass wir einander wirklich gekannt haben. Wir haben zusammengelebt, weil man es uns so gesagt hat. Wir schlafen im selben Bett. Manchmal haben wir sogar miteinander geschlafen.«

»Das klingt so wie bei vielen anderen Ehen auch. Lieben Sie sie?«

Brad seufzte. »Das ist kompliziert. Sie haben übrigens das Richtige gemacht, indem Sie es uns gesagt haben.«

Die Scheinwerfer erhellten das dunkle Büro des Sheriffs.

Ethan steuerte über den Bürgersteig und hielt erst dicht vor dem Eingang an. Dann stieg er aus, schaltete die Taschenlampe ein und ging zusammen mit Brad zur Eingangstür. Ethan schloss auf und stellte die Tür fest, damit sie offen blieb.

»Was nehmen wir mit?«, wollte Brad wissen, als sie durch die Lobby und den Korridor zu Ethans Büro rannten.

»Alles, was schießt.«

Brad hielt die Taschenlampe, während Ethan die Waffen aus dem Schrank holte und die dazu passende Munition heraussuchte.

Er legte eine Mossberg 930 auf den Schreibtisch und lud sie mit acht Patronen.

Vierzig Schuss passten ins Magazin eines Bushmaster AR-15.

Auch seine Desert Eagle wurde erneut geladen.

Da waren noch weitere Schrotflinten.

Und Jagdgewehre.

Glocks.

Eine Sig.

Ein 357er-Smith-&-Wesson-Revolver.

Er lud noch zwei weitere Pistolen, aber das dauerte alles zu lange.

Kate Hewson Ballinger

Sie packte Harolds Arm. Ihr Mann brachte seine Gruppe gerade zu einem Eingang einige Blocks weiter südlich, und sie führte ihre zum Nordrand der Stadt.

Jetzt warf sie ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen langen, innigen Kuss.

»Ich liebe dich«, sagte sie.

Er grinste, und sein silbriges Haar klebte trotz der Kälte schweißnass an seiner Stirn, während die blauen Flecken in seinem Gesicht immer dunkler wurden.

»Kate, wenn irgendwas passiert …«

»Tu das nicht«, unterbrach sie ihn.

»Was?«

»Schaff deinen Hintern einfach in diese Höhle.«

Einige Blocks entfernt war ein Jaulen zu hören. Sie ging zurück zu ihrer Gruppe, die sie in Sicherheit bringen sollte, drehte sich aber noch einmal zu Harold um und warf ihm eine Kusshand zu.

Er fing sie in der Luft auf.

Jennifer

In ihrem Schlafzimmer stellte Jennifer die Kerze auf den Frisiertisch und zog sich das Kostüm aus, das sie beim Fest getragen hatte: einen schwarzen Trenchcoat über roter langer Unterwäsche sowie ein selbstgebasteltes Hörnerpaar. Ihr Nachthemd wartete bereits auf sie.

Sobald sie im Bett lag, trank sie ihren Kamillentee und sah mit an, wie das Kerzenlicht an den Wänden tanzte.

Der Tee wärmte sie von innen.

Das war jetzt seit drei Jahren ihre allabendliche Routine, und sie hielt es für klug, sie auch an diesem Abend einzuhalten. Klammer dich an dem Vertrauten fest, wenn deine Welt auseinanderbricht.

Sie dachte an all die anderen Einwohner von Wayward Pines.

Sie mussten auf die eine oder andere Weise dasselbe durchmachen.

Sie stellten alles infrage, was man ihnen erzählt hatte.

Sie mussten damit fertigwerden, wie übel man ihnen mitgespielt hatte.

Was würde der morgige Tag bringen?

Das Fenster neben dem Bett war gekippt, und die kühle Nachtluft drang herein. Sie ließ es absichtlich so kalt im Schlafzimmer werden, da sie es mochte, unter einem Deckenberg in diesem eiskalten Zimmer zu schlafen.

Draußen war es stockdunkel.

Die Grillen zirpten nicht mehr.

Sie stellte ihre Teetasse auf den Nachttisch und zog sich die Decken über die Beine. Ihre Kerze, die auf dem Frisiertisch stand, war nur noch einen Zentimeter hoch, und sie wollte jetzt auf keinen Fall im Dunkeln sein.

Also würde sie sie herunterbrennen lassen.

Sie schloss die Augen.

Und hatte das Gefühl, als würde sie fallen.

In ihrem Kopf gingen die Gedanken durcheinander, und ihre Angst wurde immer größer.

Fast schon zur Belastung.

Sie wollte nur noch schlafen.

Sie dachte an Teddy. Im Verlauf des letzten Jahres war ihr bewusst geworden, dass sie sich viel besser an seinen Geruch erinnern konnte, an seine Stimme und daran, wie sich seine Hände auf ihrem Körper angefühlt hatten, als an sein Gesicht.

Nach und nach vergaß sie, wie er ausgesehen hatte.

Irgendwo in der Dunkelheit schrie ein Mann.

Jennifer setzte sich auf.

Einen solchen Schrei hatte sie noch nie zuvor gehört.

Panik, Fassungslosigkeit und unvorstellbarer Schmerz waren aus diesem einzigen Ausbruch herauszuhören, der nicht mehr aufhören wollte.

So schrie nur ein Mensch, der gerade umgebracht wurde.

Haben sie Kate und Harold doch noch exekutiert?

Der Schrei hörte so abrupt auf, als hätte man ihn mit einem Schalter ausgestellt.

Jennifer sah zu Boden.

Sie stand neben dem Bett auf dem kalten Holzboden.

Sie ging zum Fenster und öffnete es etwas weiter.

Kalte Luft drang herein.

In einem Haus in der Nähe rief jemand etwas.

Eine Tür wurde zugeschlagen.

Ein Mensch rannte durch die Gasse.

Ein weiterer Schrei hallte durch das Tal, aber er hörte sich anders an als der erste. Es war dasselbe Geräusch, das auch das Monster im Bronco des Sheriffs ausgestoßen hatte.

Ein schreckliches, unmenschliches Kreischen.

Andere Schreie schienen ihm zu antworten, und dann wurde ein starker, widerlicher Gestank, der sie an verwesenden Moschus erinnerte, ins Schlafzimmer geweht.

Ein tiefes, kehliges Knurren kam aus ihrem Garten.

Jennifer schloss das Fenster und verriegelte es.

Sie taumelte nach hinten, und als sie auf der Matratze saß, zerbrach etwas unten im Erdgeschoss das Wohnzimmerfenster.

Verschreckt sah Jennifer zur Tür.

Die Kerze auf dem Frisiertisch flackerte und ging aus.

Sie keuchte.

Nun war es stockdunkel im Zimmer, und sie konnte nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen.

Sie sprang auf und stolperte zur Schlafzimmertür, wobei sie sich das Knie am Bettpfosten stieß, es jedoch schaffte, nicht hinzufallen.

Dann stand sie vor der Tür.

Sie hörte die Stufen knarren, als etwas die Treppe heraufkam.

Jennifer schob die Tür leise zu und tastete nach dem Schloss.

Es knackte, als sie sie verriegelte.

Was immer in ihr Haus eingebrochen war, es stand jetzt im Flur, und die Dielenbretter knarrten unter dem Gewicht der Kreatur.

Im Erdgeschoss waren weitere Geräusche zu hören.

Ein Klicken und Kreischen drang durch das Haus.

Sie ging auf die Hände und Knie und kroch über den Boden, als die Schritte vor ihrer Tür näher kamen. Dann machte sie sich ganz flach und kroch unter das Bett, wo sie auf dem Bauch liegen blieb, sodass ihr Herz gegen den Holzboden klopfte.

Jetzt hörte sie, dass noch mehr die Treppe hochkamen.

Die Schlafzimmertür wurde aus den Angeln gerissen.

Die Schritte des Wesens, was immer es auch war, machten ein klickendes Geräusch auf dem Boden, als es das Schlafzimmer betrat. Es klang, als hätte es Klauen.

Oder Krallen.

Sie konnte es jetzt auch noch besser als zuvor riechen, dieses Potpourri aus toten Gerüchen: Verwesung, Blut und ein entsetzlicher Gestank, den sie nicht einmal zuordnen konnte.

Sie gab kein Geräusch von sich.

Die Dielenbretter neben dem Bett knarrten, als hätte sich das Wesen hingekniet.

Jennifer hielt den Atem an.

Etwas Hartes und Glattes berührte ihren Arm.

Sie schrie und zuckte zurück.