HANS CONRAD ZANDER ist 1937 in Zürich geboren. Er war Mönch im Dominikanerorden, Reporter beim Stern (Träger des Kisch-Preises) und Gastprofessor an der Universität Essen. Bekannt geworden ist er als Autor von WDR und NDR (»Zeitzeichen«) und als Verfasser von Sachbüchern und Satiren zur Geschichte, vor allem zur Religionsgeschichte (»Als die Religion noch nicht langweilig war«). Er lebt als Journalist und Schriftsteller in Köln.
Wichtig ist es in der Religion, seinen Glauben von Zeit zu Zeit zu ändern. Bisher habe ich nicht an die Unsterblichkeit der Seele geglaubt. Jetzt glaube ich daran. Stattgefunden hat diese Bekehrung im Gasometer in Oberhausen.
Der Zugang ist grässlich. Durch den Gestank vom schlechten Fett der Wurstbuden und durch das entsprechende Gekreisch viel zu dicker Kinder führt der Weg hinein in die enorme, stillgelegte Gaskuppel. Doch für alles, was Ohr und Nase draussen zu erdulden hatten, wird das Auge im Gasometer drin tausendfach entschädigt. Dies ist vielleicht die schönste Schau, die je in Deutschland zu sehen war. »Sternstunden« heißt sie und zeigt eine Fülle phantastischer astronomischer Farbphotographien. Riesengroß formatierte Bilder sind das, nicht nur von der Sonne und den Planeten, sondern, weit darüber hinaus, hergeholt aus den fernsten Fernen des Alls. Ein unbegrenztes Universum, photographiert in seinen eigenen kosmischen Farben, das Herz und den Verstand maßlos weitend. Vor dem rotglühenden Bild einer eben erst entstehenden Galaxie bekehrte ich mich überwältigt zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele.
Wohl herrscht bei uns so etwas wie eine wortlose, gedankenlose Einhelligkeit im Glauben des Unglaubens: Wenn ich sterbe, ist es aus. Doch warum glauben die vielen, ohne Überlegung, nicht mehr an ein Leben nach dem Tod? Weil sie sich den Ort dafür nicht vorstellen können. Die Menschen des Mittelalters konnten das. Hoch über allen Sphärenkreisen des geozentrischen Systems hatte der christliche Himmel seinen ptolemäischen Platz. Den hat er verloren. Mit dem astronomischen Ort verloren ging uns der Glaube an des Menschen himmlische Bestimmung.
Warum eigentlich? Der neue Kosmos, den die Bilder in Oberhausen zeigen, ist unvergleichlich weiter und schöner als das enge mittelalterliche All. In diesem grenzenlosen neuen Universum ist Platz für abertausend neue, andere Welten. Ganz physisch. Dass wir sie uns nicht vorstellen können, liegt nicht am mangelnden Fortschritt der Astronomie. Es liegt am erbärmlichen Schwund der religiösen Phantasie.
Mangels christlicher Phantasie kam mir im Gasometer von Oberhausen Seneca, der Heide, in den Sinn: »Bona rerum secundarum optabilia, adversarum mirabilia.« Das heißt ungefähr: »Im Glück erfüllen sich Wünsche, im Unglück geschieht Wunderbares.« Francis Bacon, den dieser rätselhafte Satz schon in den Bann gezogen hat, deutete ihn so, dass der Mensch dafür geschaffen ist, im Unglück über sich selbst hinauszuwachsen, weit über das hinaus, was ihm möglich wäre in den Schalheiten des Glücks.
Das stimmt. Das größte Unglück aber ist der Tod. Vielleicht ist der Gasometer von Oberhausen der richtige Ort, um über Francis Bacon hinauszudenken und Seneca ganz neu zu übersetzen: »Auf dieser Erde lang zu leben, ist, was sich alle wünschen. Doch jene neuen Welten, die der Tod verheißt, sind ungeahnt und staunenswert.«
Heikel sind alle theologischen Themen. Heute aber wollen wir todesmutig das heikelste aller theologischen Themen durchexerzieren. Das ist die Schönheit des weiblichen Leibes. Ist doch, wie Erich Kästner beim Flanieren auf deutschen Straßen schmerzlich auffiel, unter allzu vielen weiblichen Beinen höchstens eines wirklich schön. Über die Mehrheit klagte er: »Sie haben Beton in den Waden«. Ob das nicht ein Versagen des Schöpfers ist, in dessen Macht es doch läge, alle Beine aller Frauen in vollkommener Schönheit zu erschaffen?
Nein. Es ist ja, wie wir wissen, das eigentlich Menschliche, dass der Mensch sich selbst verwirklicht. Und wie es denn kein Mangel, sondern eine Chance ist, dass der Mensch nackt geboren wird, weil eben dies dem Baby ungeahnte Möglichkeiten der Integration in die höhere, die soziale Existenz eröffnet, so ist es gleichfalls nicht Mangel, sondern Chance, dass die Frau durch raffinierte Kleidung jedes schöpfungsbedingte Manko wenden kann zu höchstem ästhetisch-erotischem Reiz. Ihr werdet doch zugeben: Selbst Marlene Dietrichs Beine wurden erst durch ihre Beinkleider vollkommen schön.
Dieser Tage nun war ich im Hause eines evangelischen Pfarrers zum Abendessen eingeladen. Als Entree gab es Kürbis-Suppe mit Thymian. Doch nicht der Kürbis fesselte mein theologisches Auge. Als sich nämlich die Gastgeberin nach vorne neigte, um den Schöpflöffel zu ergreifen, sah ich durch ihr enormes Décolleté so tief hinab, dass mir schon wieder Erich Kästner in den Sinn kam: »Wenn es Mode wird, die Brust zu färben, oder, falls man die nicht hat, den Bauch … .« Tatsächlich würde ich meine Hand dafür ins höllische Feuer legen: Der Bauch der Pfarrers-Gattin war violett gefärbt!
Ist das von öffentlichem Interesse? Ja. Was da nämlich zuallerletzt bei den Pfarrersfrauen angekommen ist, beherrscht schon seit Jahren das Straßenbild deutscher Fußgängerzonen: Mit größtem Stolz entblößen abertausend Frauen lauter Busen, die, im Sinne Erich Kästners, durch raffinierte Verkleidung an erotischem Reiz viel dazugewinnen könnten.
War nicht Friedrich Dürrenmatt ein Pfarrers-Sohn? Hatte er nicht den ganzen Kopf voll Theologie, als er »Ein Engel kommt nach Babylon« schrieb? Erinnert euch: Ein Engel Gottes kommt mit einer vollkommen schönen jungen Frau namens Kurrubi in die sittenloseste aller Städte herabgeflogen. Die schöne Kurrubi findet jedoch Aufnahme nur bei einem alten Penner unter der Brücke. Aber allein schon das Gerücht, dass eine junge Frau von vollkommener Schönheit in ihre Stadt eingedrungen sei, bringt die Damen von Babylon alle gegen Kurrubi auf, vor allem die Vorsitzende des Huren-Syndikats. Stolz den Busen entblößend, fordert sie den alten Penner zu einem ästhetischen Urteil heraus: »Habe ich nicht die schönsten Brüste Babylons?« Die Antwort des alten Mannes ist von zeitloser erotischer Bedeutung: »Was haben denn diese Organe mit meiner Kurrubi zu tun?«
Mohammed der Prophet saß eines Morgens da, so versunken ins Gebet, dass er nicht merkte, wie seine Katze herzukam und sich neben ihm auf seine Djellaba legte, auf den weiten Ärmel seines arabischen Mantels. Doch dann klopfte ein Diener. Mit der Nachricht, ein Geschäftsfreund sei unerwartet gekommen, warte draussen und wünsche ihn dringend zu sprechen, schreckte er den Propheten aus der Versenkung. Mohammed wollte aufstehen. In diesem Augenblick sah er die Katze.
Auch die Katze öffnete ihre Augen. Aber nur einen Spaltbreit. Dann schloss sie die Augen wieder. Nein, die Katze war nicht bereit, sich durch Mohammeds unwichtige Geschäfte stören zu lassen in ihrer viel wichtigeren Meditation. Einen Augenblick überlegte der Prophet. Dann rief den Diener zurück und bat lächelnd um eine Schere. Vorsichtig schnitt er damit den Ärmel seines Mantels rund um die Katze ab. Dann stand er auf und ging zu seinen Geschäften. Die Katze schien es nicht zu bemerken. Ungestört meditierte sie fort.
So erzählt es die muslimische Legende. Was den christlichen Sinn verblüfft, ist ihre innere Verwandtschaft mit den frühen Legenden um Franz von Assisi. So ist Franziskus mit seinem Bruder Esel umgegangen, so hat er mit dem Wolf von Gubbio gesprochen, so hat er die unablässig zwitschernden Vögel im Wald von Santa Maria degli Angeli gebeten, nun doch endlich einen Augenblick still zu sein, damit nicht nur sie ihm, sondern auch er ihnen etwas predigen könne.
Für diese Art, mit Tieren umzugehen, hatte der Italiener Franziskus ein französisches Wort. Er nannte es »courtoisie«. In allen Wörterbüchern steht dafür als Übersetzung »Höflichkeit«. Aber courtoisie ist etwas ganz anderes als unsere abgenutzte, fade, im besten Fall cool verlogene Höflichkeit. Dies ist ein Wort aus dem Leben mittelalterlicher Höfe. Courtoisie ist die Höflichkeit der Könige. Bei Franz von Assisi ist sie noch einmal etwas anderes. Bei ihm ist courtoisie Respekt aus Sympathie.
So hat Franziskus auch mit dem Feuer gesprochen, mit dem Wasser, so mit allen Gestirnen am Firmament. Und so mit dem Bruder Tod. Keine gelegentlich aufgesetzte Attitüde ist das, sondern die allerinnerste Hinwendung des religiösen Menschen zur Welt.
Vor allen Dingen ist courtoisie das Gegenteil von jenem Mitleid, das allzu viele im Umgang mit Tieren empfinden. Im Mitleid ist Herablassung. Im Mitleid ist sentimentale Anbiederung. Was Mohammed seiner Katze erwies, ist etwas anderes. Das Gleiche ist es wie bei Franziskus: Respekt aus Sympathie.
Dagegen unser modernes Mitleid mit den Tieren? Es ist nichts anderes als ein süßes Tröpflein Sentiment im bitteren Ozean industrialisierter Gnadenlosigkeit. Als atheistisch hätte Franziskus unseren Umgang mit Tieren empfunden. Mohammed gewiss auch.
Wahrlich wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet nicht eingehen ins Himmelreich, wenn ihr euch nicht dazu bekehrt, mit Tieren so umzugehen wie Mohammed der Prophet.
Manche Kölner fliehen vor dem Karneval. Ich auch. Aber aus der Stadt fliehe ich nicht. Vor der Banalität und der Barbarei neudeutscher Lustigmacherei fliehe ich, mitten in Köln, in die katholischen Pfarrgemeinden.
Da ist das alte rheinische Milieu noch unter sich. Da, nur da, ist auch der Karneval noch, was er einmal war. Am schönsten aber wird es dort nach Mitternacht. Wenn die alten Kölner Witze ein letztes Mal erzählt werden. O die alten Kölner Witze über Gott und die Religion!
Wie hat sich doch Helmut Thielicke, der evangelische Theologe, über diese Witze geärgert. Höchstens »parachristlich« seien sie. Vorchristlich, quasichristlich also. Diesem katholischen Witz fehle nämlich der Sinn für die »Kleinheit« des Menschen, und somit auch dafür, dass »das Ewige steil über ihm steht.«
Das stimmt. Nicht den geringsten Sinn für die göttliche Transzendenz verrät der alte Kölner Witz, nicht den geringsten Respekt vor Gott selbst. Dies sind vielmehr Späße von einer schelmischen Zutraulichkeit, die selbst die religiöse Ironie der chassidischen Juden übertrifft. So wie Freunde sich manchmal übereinander lustig machen, wenn sie sich herzlich mögen, sich aber auch in ihren Schwächen, aus langer Vertraulichkeit, kennen, so klingt es, wenn die alten Kölner über Gott spotten.
Was ist Gottes Schwäche?
Auf Gott ist kein Verlass. Den Ungläubigen zeigt er sich nicht. Seine Gläubigen lässt er im Stich. »Tränen sind mein Brot, da sie den ganzen Tag zu mir sagen: Wo ist dein Gott?«, heißt es im 42. Psalm. Doch während dies die andern Gläubigen alle, Juden wie Christen, tief betrübt, belustigt es die Kölner. Sie sind ja selber unzuverlässig. Mit ihrer Unzuverlässigkeit haben sie die Preußen so zur Verzweiflung getrieben wie der biblische Gott seine jüdischen und christlichen Gläubigen. Ihnen, den Kölnern ganz allein, ist ein unzuverlässiger Gott lieber als ein zuverlässiger. Als Komplize in der schelmischen Unzuverlässigkeit gehört er zur kölnischen Familie. Drum haben es fast alle religiösen Witze aus Köln zu tun mit dem unzuverlässigen Gott. Soll ich einen erzählen?
Nach einem langen Leben als Zechbruder und als Pumpgenie kommt Tünnes in den Himmel. Gleich begegnet ihm der liebe Gott. Um gute Umgangsformen bemüht, stellt Tünnes sich vor: »Jestatten Se, Tünnes«. Der liebe Gott seinerseits, genauso höflich, wenn auch etwas knapper: »Leeve Jott«.
Danach, meint Tünnes, sei es auch schon Zeit für das vertrauliche Du. »Leeve Jott«, beginnt er die himmlische Unterhaltung, »ist es eigentlich wahr, dass für dich tausend Jahre sind wie ein Tag?« – »Noch weniger«, antwortet der liebe Gott, »sie sind für mich wie ein Minütchen.«
»Wie viel«, fragt Tünnes weiter, »sind dann für dich eine Million Mark?« – »Och«, antwortet der liebe Gott, »nicht mehr als ein Groschen.« – »Ah«, sagt Tünnes, »dann leih mir jetzt bitte einen Groschen!« – »Gerne«, antwortet der liebe Gott, »warte nur ein Minütchen!«