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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74095-606-6
Andrea von Lehn hatte im Kinderheim Sophienlust einen Besuch gemacht. Als sie nach Hause zurückkehrte, war der Postbote dagewesen. Diesmal war auch ein Brief für sie dabei. Erstaunt betrachtete sie den Absender: Jutta Randers in Heidelberg. Ach ja, das war die junge Frau, die sie mit Mann und Töchterchen Kathi im vorigen Jahr während ihres Urlaubs in Südtirol kennengelernt hatte. Bisher hatten die beiden Frauen nur wenige Briefe gewechselt. Um so mehr freute sich Andrea, daß sie von der etwas älteren und ihr sehr sympathischen Jutta nun einen Brief bekam. Sie riß ihn gleich auf. Es waren nur wenige Zeilen. Jutta fragte an, ob sie kurz zu Besuch kommen könne.
Natürlich konnte sie das. Für Andrea war es immer eine willkommene Abwechslung, Besuch im Haus zu haben. Hoffentlich brachte Jutta ihre vierjährige Kathi mit.
Darüber würde sich mein Peterle gewiß freuen, dachte Andrea und lief gleich in die Tierarztpraxis zu ihrem Mann. Sie war gewohnt, ihm alles sofort mitzuteilen. Sie zeigte ihm den Brief und sagte: »Du erinnerst dich doch an die Randers mit dem niedlichen kleinen Mädchen?«
»Aber natürlich«, meinte Hans-Joachim von Lehn. Er zwinkerte seiner jungen Frau zu. »Ich denke auch gern an die bildhübsche Mutter.«
»Das wollte ich nicht gerade wissen. Ich warne dich, Hans-Joachim. Wenn du hoffst, mit Jutta flirten zu können, so werde ich dir einen Strich durch die Rechnung machen.«
»Wovon ich fest überzeugt bin.« Da gerade niemand im Sprechzimmer war, nahm Dr. von Lehn seine Frau in die Arme und küßte sie übermütig.
Das versöhnte Andrea. Sie ging in die Wohnung zurück. Sofort schrieb sie an Jutta Randers, daß sie ihr jederzeit willkommen sei.
Andrea brauchte nicht lange zu warten. Schon zwei Tage später konnte sie Jutta begrüßen. Sie war mit dem Wagen gekommen, hatte aber ihr Töchterchen nicht mitgebracht.
Darüber war Andrea enttäuscht, weil sie ihrem kleinen Peterle schon erzählt hatte, daß ihn ein ganz liebes Mädchen besuchen würde.
Die mittelgroße schlanke Jutta war wirklich eine bildhübsche Frau. Das hellblonde schulterlange Haar rahmte ein schmales feines Gesicht mit großen blauen Augen ein. Sie war dreißig Jahre alt, hatte aber noch etwas Mädchenhaftes an sich. Es fiel Andrea jedoch sofort auf, daß sie reichlich nervös wirkte. Das war damals im Urlaub nicht der Fall gewesen.
Die beiden Frauen setzten sich zu Kaffee und Kuchen, Andrea, die das, was sie bedrängte, nie lange zurückhalten konnte, fragte sogleich: »Hast du Sorgen, Jutta?« Man hatte damals im Urlaub das Du getauscht.
»Und was für welche!« Die junge Frau seufzte. »Deshalb bin ich ja auch hergekommen, Andrea. Ich hoffe so sehr, daß du mir helfen kannst.«
»Wenn es in meiner Macht steht, ganz gewiß«, versicherte Andrea.
»In meiner Ehe klappt es nicht mehr«, platzte Jutta nun heraus. »Ich möchte mich von meinem Mann trennen.«
Andrea erschrak. Darauf war sie nicht gefaßt gewesen. »Ich hatte den Eindruck, daß du dich mit deinem Mann Peter sehr gut verstehst, daß ihr euch genauso liebt wie Hans-Joachim und ich.«
»Ja, wir haben aus Liebe geheiratet, und ich glaube auch, Peter noch immer zu lieben, aber mich stört sein lasches Wesen.« Nun wurde Jutta lebhaft. »Du erinnerst dich vielleicht, daß ich meinen Beruf als Fotografin bei meiner Heirat aufgegeben habe. Peter versicherte mir damals, daß er seine Familie werde allein ernähren können. Ich rechnete also fest damit, daß er sich ganz besonders anstrengen würde, um schnell Karriere zu machen, aber bis heute hat er es nur bis zum Abteilungsleiter in dem Warenhaus gebracht, wo er arbeitet.«
»Das ist doch auch etwas«, sagte Andrea. »Wie alt ist dein Mann jetzt?«
»Sechsunddreißig. Ich bitte dich, Andrea, was haben da andere Männer schon alles geschafft. Peter aber scheint es zu genügen, so weit gekommen zu sein. Dabei hätte er das Zeug, mehr zu werden. Er ist nur zu bequem dazu.«
»Ich weiß nicht, ob du deinem Mann damit nicht Unrecht tust. Wir hatten einen sehr guten Eindruck von ihm. Er war immer sehr um dich und Kathi besorgt.«
»Ja, das stimmt, aber es genügt mir nicht. Wenn man selbst berufstätig war, sieht man doch die Chancen, die sich schließlich jedem bieten. Wir könnten ein ganz anderes Leben führen als jetzt, wenn Peter ehrgeiziger wäre. Mich stört es jeden Tag, wenn ich sehe, wie treu und brav er seinen Dienst tut, sich aber in keiner Weise anstrengt, weiterzukommen.«
»Vielleicht stellst du dir das zu leicht vor, Jutta.« Andrea wollte die Besucherin beschwichtigen. »In jedem Betrieb gibt es heute ein Gerangel um die besser bezahlten Posten. Dein Mann wird nur nicht gern die Ellbogen benutzen wollen.«
»Das sollte er aber tun«, erwiderte Jutta aufgeregt. »Ich habe vor, in meinen Beruf zurückzukehren und Peter zu beweisen, wie man vorwärtskommt.«
Andrea seufzte. »Ich weiß nicht, ob das so nötig ist und außerdem solltest du an Kathi denken. Mit vier Jahren braucht sie die Mutter noch um sich.«
Jutta wischte mit der Hand durch die Luft. »Ach was, wenn ein Kind nur immer Streit mitbekommt, nimmt es auch Schaden. Bei uns aber ist es so, daß Peter und ich uns immer wieder in die Haare geraten, und leider wird Kathi oft Zeuge davon. Ich halte es für besser, wenn ihr das erspart wird. Sag’ mal, Andrea, meinst du, daß deine Mutter meine Kathi in ihrem Kinderheim aufnehmen würde? Du hast mir doch im Urlaub so viel von diesem Sophienlust erzählt.«
Andrea lehnte sich zurück. Ihr gefiel das alles nicht. Erst nach einigen Minuten sagte sie: »Wenn ein Kind Hilfe braucht, hat Mutti immer Gehör dafür, aber braucht deine Kathi wirklich einen Platz in einem Kinderheim? Sie hat doch Vater und Mutter.«
»Wenn ich in meinen Beruf zurückgehe, kann ich mich nicht um Kathi kümmern, weil ich mich dann von meinem Mann trennen will. Er kann aber erst recht nicht für Kathi sorgen. Sie braucht dann also einen Platz, an dem sie geborgen ist, an dem sie mit anderen Kindern zusammensein kann. Willst du mir nicht doch den Gefallen tun und mit deiner Mutter sprechen?«
Andrea war im Widerstreit ihrer Gefühle. Sie war immer bereit, zu helfen, aber in diesem Falle sah sie das nicht als dringend notwendig an. Jutta schien sich nur in etwas verrannt zu haben.
Andrea redete noch lange auf ihre Besucherin ein und erreichte schließlich, daß diese sagte: »Wenn du meinst, daß ich es noch einmal versuchen soll, dann will ich es tun. Ich habe nur keine große Hoffnung, daß sich zwischen meinem Mann und mir etwas ändert. Darf ich, wenn ich es nicht schaffe, weiterhin durchzuhalten, Kathi dann nach Sophienlust bringen?«
»Ja, dann würde ich mit Mutti reden«, versprach Andrea. Sie hatte das Gefühl, bei Jutta mit ihren eindringlichen Worten doch etwas erreicht zu haben.
Jutta fuhr noch am gleichen Tag nach Heidelberg zurück. Da sie keine näheren Verwandten besaß, hatte sie Kathi zu einer Nachbarin gegeben. Von dort mußte sie sie noch an diesem Tag abholen.
Am Abend sprach Andrea mit ihrem Mann über die Situation, in der Jutta sich befand. »Aber ich glaube, daß ich etwas bei ihr erreicht habe, Hans-Joachim.«
Dr. von Lehn sah seine Frau zweifelnd an. »Da bin ich nicht so sicher, Andrea. Wenn ein Vorsatz erst einmal so weit gediehen ist wie bei Jutta, gibt es wohl kaum noch ein Zurück. Ich habe durchaus nichts gegen berufstätige Frauen. Jeder Frau steht es zu, sich zu verwirklichen, wie es heute so schön heißt, aber zuerst sollte das Kind kommen. In meinen Augen ist es rücksichtslos, Kathi in ein Heim geben zu wollen, nur damit Jutta ihrem Mann beweisen kann, daß sie ehrgeiziger ist als er. So kann Liebe nicht aussehen.«
»Dieser Meinung bin ich auch, Hans-Joachim. Hoffentlich besinnt sich Jutta noch auf ihre Liebe zu Kathi und ihrem Mann. Immerhin hat sie zugegeben, daß sie ihn noch liebt. Es scheint sie nur schon die Fliege an der Wand zu stören.«
*
Mit dieser Vermutung hatte Andrea recht. Jutta war zwar mit guten Vorsätzen nach Heidelberg zurückgekehrt, aber schon nach einigen Tagen begann sie wieder darüber nachzudenken, was sie in ihrem Beruf alles erreichen könnte, und schmiedete entsprechende Pläne.
Peter Randers war zu nachsichtig, um einmal auf den Tisch zu schlagen. In der fünfjährigen Ehe war immer er es gewesen, der nachgegeben hatte. Ja, er glaubte inzwischen selbst schon, in seinem Beruf nicht tüchtig genug zu sein. Dabei war er in seinem Warenhaus ein angesehener Mitarbeiter, aber er wußte, daß er Geduld haben mußte, bis man ihn wieder befördern würde. Sein Einkommen reichte jedoch aus. Seine Familie brauchte nicht allzusehr zu sparen.
Doch Jutta träumte von mehr. Sie wollte am liebsten ein eigenes Haus haben, dazu selbst einen Wagen und mehr Komfort. Durch ihre ewigen Nörgeleien hatte sich vieles in der Ehe müde gelaufen. Das Paar sprach nicht mehr von Liebe, und Peter Randers zweifelte immer mehr daran, daß seine Frau ihn überhaupt noch liebe. Er sah nur, daß sie von ihm wegstrebte, daß selbst das Kind sie nicht mehr zurückhielt. Dabei liebte er beide über alles – seine Frau und seine kleine Kathi. Er wußte auch, wie sehr sein Töchterchen an ihm hing, obwohl er sich durch seinen Beruf wenig um die Kleine kümmern konnte.
Jutta hatte inzwischen die Fühler ausgestreckt nach einer Stelle für sie. Ihr war eine Annonce aufgefallen, mit der das bekannte Fotoatelier Börner in Stuttgart eine Fotografin suchte. Ständig grübelte sie nun. In Heidelberg, in Peters Nähe, wollte sie nicht bleiben, wenn sie sich von ihm trennte. Die Annonce aus Stuttgart lockte sie. Wenn sie es schaffte, Kathi in Sophienlust unterzubringen, wäre der Weg zu ihr nicht allzuweit.
Dieses Hin und Her in ihren Gedanken ließ Jutta noch unleidlicher werden. Als im Warenhaus einige Kollegen einen Sprung nach oben machten, ihr Mann aber wieder nicht dabei war, wurde sie von neuem angriffslustig.
Kaum war Kathi am Abend im Bett, warf sie ihrem Mann vor, daß er eben doch zu lahm sei und sich nicht durchzusetzen verstehe.
Peter Randers, groß, schlank, brünett, ein gutaussehender Mann, seufzte. »Immer dasselbe, Jutta. Wann wirst du endlich aufhören, mich so anzutreiben? Unser ganzes Leben ist davon bereits vergiftet. Geht es uns nicht gut?«
»Du bist natürlich mit allem zufrieden, wenn du dich nur nicht anzustrengen brauchst.« Jutta war erbost. »Als ich noch allein und berufstätig war, konnte ich mir mehr leisten. Ich kam unter Menschen, und es war immer etwas los. Jetzt sitze ich den ganzen Tag zu Hause und…«
»Du hast Kathi«, warf Peter ein. »Sie braucht dich dringend. Zudem weißt du, daß ich schon lange den Wunsch nach einem zweiten Kind habe.«
»Um Himmels willen, in unseren Verhältnissen«, regte sich Jutta auf. »Ich denke ja gar nicht daran. Dann bin ich erst recht angebunden. Jetzt aber könnte ich noch in meinen Beruf zurückkehren und dort das erreichen, wozu du nicht imstande bist.«
»Das stellst du dir alles viel leichter vor, als es ist. Du magst eine gute Fotografin gewesen sein, Jutta, aber nun hast du fünf Jahre ausgesetzt. Zudem – sollen wir Kathi in den Kindergarten schicken? Wer wird sie hinbringen, wer abholen? Mit meiner Arbeitszeit läßt sich das nicht vereinbaren, und ob es bei dir klappt, ist sehr ungewiß. Soll Kathi nur abgehetzte Eltern haben? Nein, das dürfen wir ihr nicht zumuten. Bitte, sei doch einsichtig, Jutta. Warum kannst du dich nicht mit dem begnügen, was wir haben?«
Peter wollte seine Frau an sich ziehen, doch sie wehrte ihn ab. Nun war auch noch der Trotz in ihr erwacht, weil Peter an ihren Fähigkeiten, sich besser durchsetzen zu können als er, zu zweifeln schien.
»Ich will die Trennung«, stieß sie hervor.
»Was willst du?« Peter sah sie fassungslos an.
»Ja, ich will mich scheiden lassen, um wieder ganz selbständig sein zu können. Heute lasse ich an diesem Vorsatz nicht mehr rütteln. Ich habe es mir lange genug überlegt.«
»Scheiden?« fragte Peter. »Das kann doch nicht dein Ernst sein, Jutta. Und was soll aus Kathi werden?«
»Die bringe ich in einem sehr guten Kinderheim unter. Dort wird sie nichts entbehren.«
Jutta hatte in ihrer Erregung laut gesprochen. Beide hatten nicht gemerkt, daß die Tür des Wohnzimmers geöffnet worden war. Auf der Schwelle stand die kleine Kathi. Sie hatte vom Flur aus alles gehört, was zwischen den Eltern gesprochen worden war. Vor Aufregung steckte sie den Finger in die Nase und sah sich ängstlich um. Als ihre Mutter wieder von Scheidung sprach, fragte sie: »Was ist das, Scheidung?«
Jutta und Peter zuckten zusammen. Sie waren beide betroffen darüber, daß die kleine Kathi schon wieder einen Streit mitbekommen hatte.
Der Vater ging zu ihr und drückte sie an sich. »Sei nicht so ängstlich, Kathi«, redete er auf sie ein. »Mutti wird sich sicher noch eines anderen besinnen.«
»Nein, jetzt nicht mehr«, erklärte Jutta sehr bestimmt. »Ich lasse mich nicht mehr umstimmen, weil sich bei uns doch nichts ändern wird.« Sie beugte sich zu ihrem Töchterchen hinab. »Nein, du brauchst wirklich keine Angst zu haben, Kathi, auch wenn dein Vater und ich auseinandergehen. Das ist nämlich Scheidung. Wir wollen jeder unser eigenes Leben führen.«
»Und ich?« fragte Kathi. Es war ihr anzusehen, daß sie die Eltern nicht begriff. »Bei wem bin ich dann? Ich will doch bei euch beiden sein.«
»Das wird nicht gehen, Kathi«, meinte die Mutter. »Ich bringe dich in ein ganz schönes Kinderheim. Dort wirst du viele Spielgefährten haben. Vati und ich werden dich immer wieder besuchen.«
Peter war ans Fenster getreten und sah hinaus. Er war sehr traurig, denn nun erkannte er, daß es seiner Frau mit der Trennung tatsächlich ernst war.
Jutta brachte Kathi jetzt ins Bett. Als sie zurückkam, sagte sie vorwurfsvoll: »Du hättest ihr auch gut zureden können, aber das überläßt du allein mir.«