Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg aufgewachsen, einem kleinen Dorf in den Berner Alpen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer am Gymnasium Musegg in Luzern. Seit 2007 lebt er mit seiner Frau am Thunersee. Im Emons Verlag erschienen «Weissenau», «Hohle Gasse» und «Kanderschlucht».

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Im Anhang findet sich ein Glossar.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 Peter Beutler
Umschlagmotiv: photocase.com/zisi
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-86358-378-1
Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Altas, Bern.

Eine Woche vor Ostern

Es war Palmsonntag, der 1. April 2012, um sieben Uhr zwanzig, als Joachim Gschwandl in seiner Wohnung an der Morgartenstrasse sein Frühstück zu sich nahm. Er wusste, dass er trotz seiner Haftentlassung vor ein paar Wochen kein freier Mensch war. Als Einziger am Vierwaldstättersee trug er elektronische Fussfesseln. In einigen anderen Kantonen ist diese Art der Überwachung schon seit mehreren Jahren üblich. In Luzern aber nicht. Doch für einmal machte man eine Ausnahme, weil das Delikt, das Gschwandl zur Last gelegt wurde, kein normales war. Keines jedenfalls, das eine längere Untersuchungshaft gerechtfertigt hätte.

Gschwandl war geständig und hatte sich sogar selbst angezeigt. Ein Haftantritt in einer Strafanstalt vor dem Prozess stand auch nicht zur Diskussion, da ihm keine längere Gefängnisstrafe als die bereits abgesessene Untersuchungshaft winkte.

Die Justiz hatte sich entschieden, ihn aus einem ganz bestimmten Grund weiterhin im Auge zu behalten. Man wollte vermeiden, dass er andere darüber informierte, weshalb ihm der Prozess gemacht werden sollte. Sein Telefon wurde abgehört, die Internetverbindung gekappt, das Handy eingezogen, der Postverkehr von und zu ihm überwacht. Es wurde ihm erlaubt, im Laden im Quartier etwas zu besorgen, immer zu einer im Voraus bestimmten Zeit. Zeitungen durfte er sich am Kiosk nebenan kaufen. Auch Radiohören und Fernsehen wurden ihm erlaubt.

Die Fussfessel war so präpariert, dass sie, sollte er sie entfernen, ein Signal an die Kripo sendete. Jeweils um neun Uhr durfte er sie für fünf Minuten abmontieren, um zu duschen. Sein Hauseingang wurde rund um die Uhr bewacht. Er hätte also nicht die geringste Chance gehabt zu türmen.

Gschwandl drehte das Radio an.

DRS 2, acht Uhr, die Nachrichten.

Wieder ist eine CD mit Bankdaten in der Bundesrepublik Deutschland aufgetaucht. Eine Sprecherin der Regierung des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen sagte gestern in der Tagesschau der ard, dem Finanzminister sei eine weitere CD mit Kontendaten der Helvetischen Sparkasse (HSK) zugespielt worden. Eine erste Sichtung habe ergeben, dass darin Informationen über Konten von Schwarzgeldern in der Höhe von fünf Milliarden gespeichert seien.

Ein zufriedenes Lächeln huschte über das Gesicht Gschwandls.

Dann hörte er die Tritte von schweren Schuhen im Korridor, der zu seiner Wohnungstür führte. Es läutete. Gschwandl überlegte, ob er öffnen sollte, obwohl er häufig unangemeldeten Besuch von der Polizei bekam. Er entschloss sich, noch ein wenig abzuwarten.

«Gschwandl, bitte aufmachen. Leute vom Gericht möchten Sie sprechen.»

Leute vom Gericht? Das überraschte nun Gschwandl doch etwas. Hat das etwas zu tun mit der eben aus dem Radio vernommenen Nachricht?

«Wenn Sie nicht öffnen, treten wir die Tür ein.»

Gschwandl schaute durch den Spion. Mit verschränkten Armen stand ein Hüne vor der Wohnungstür, glatt rasierter Kopf, blaue Uniform; eine, die Gschwandl zuvor noch nie gesehen hatte.

Er gelangte zu der Einsicht, dass er nicht umhinkommen würde, dem Uniformierten Einlass zu gewähren. Als Nichtschweizer kannte er sich in der Bekleidung der ortsüblichen Ordnungshüter nicht aus.

***

Um Viertel nach acht ging in der Alarmzentrale der Kapo Luzern ein Telefonanruf ein. Er stammte von einer Frau an der Morgartenstrasse. Der Polizist, der den Anruf entgegennahm, versuchte zunächst, die Frau zu beruhigen, denn sie klang in seinen Ohren ziemlich verwirrt: ein schwerer Gegenstand, der auf den Fussboden im oberen Stock gefallen sei, dann ein Schrei.

Als ihm aber die Anruferin erklärte, ein Kapo-Wachtmeister habe ihr eingeschärft, sich sofort telefonisch zu melden, falls sie aus der oberen Wohnung verdächtige Geräusche höre, liess er sich erweichen und versprach, jemand werde im Laufe des Tages vorbeischauen.

Kurze Zeit später machte sich eine Patrouille auf den Weg an die Morgartenstrasse, der Polizist hatte sich erkundigt und festgestellt, dass die Wohnung Gschwandls überwacht wurde.

Als die beiden Polizisten an der Wohnungstür läuteten, öffnete niemand. Auch die laut gerufene Warnung «Polizei, wir zählen bis zwanzig, wenn Sie bis dann nicht öffnen, verschaffen wir uns gewaltsam Zutritt» blieb ohne Reaktion.

Einer der Polizisten trat daraufhin die Tür ein. Erst danach bemerkte er, dass das gar nicht nötig gewesen wäre, sie war nämlich gar nicht verschlossen.

Die beiden Beamten gingen durch die sehr ordentlich aufgeräumte Küche in das Wohnzimmer. Dort sahen sie bäuchlings einen Mann liegen. Der Kopf war von einer Blutlache umgeben. Im angewinkelten Ellenbogen steckte eine Spritze. Einen Meter neben der Leiche lagen ein abgerissener Fingernagel, ein Zigarettenstummel und ein Feuerzeug.

«Komisch», sagte der ältere der beiden Polizisten. «Nach einem Junkie sieht der eigentlich nicht aus. Dafür ist die Behausung zu nobel, und es wäre nicht so sauber und aufgeräumt. Aber wir brauchen jetzt Hilfe.» Seinen noch sehr jungen Kollegen wies er an, nach dem diensthabenden Offizier bei der Kripo zu suchen.

Das war Hauptmann Alain Sigrist, der Kommandant, ein schmächtiger, unauffälliger Mittvierziger. Er hatte sich für diesen Sonntag eingeteilt, weil sein Stellvertreter, Leutnant Lauber, freigenommen hatte, um seine angehäuften Überstunden abzubauen. Sigrist schaltete sofort. Ihm war die Brisanz dieses Todesfalles schlagartig klar. Er wusste natürlich um den Sonderstatus des überwachten Österreichers. Nun konnte er sich auf etwas gefasst machen. War es doch erst anderthalb Monate her, als ihn die Luzerner Regierung zum Chef der Kriminalpolizei ernannt hatte. Dass Gschwandl unter solchen Umständen zu Tode kam, würde einen riesigen Wirbel auslösen, und dabei musste ja auch etwas an der Kripo hängen bleiben.

Doch nun durfte er nicht an die möglichen Folgen denken, er musste umgehend handeln. Er bot das auf Pikett stehende Spurensicherungsteam und den zuständigen Amtsarzt auf. Das beanspruchte an einem Sonntag immer einige Zeit, die angeforderten Spezialisten waren zwar zu Hause erreichbar, aber sie wohnten über den ganzen Kanton verstreut, mit Anfahrten, die bis zu einer Dreiviertelstunde dauern konnten.

Allerdings war Sigrist sich auch bewusst, dass die Umstände dieses Todesfalls nicht allein von Luzern aus untersucht werden konnten. Er setzte sich deshalb mit dem Beamten der Bundeskriminalpolizei, dem der Fall Gschwandl zugeteilt worden war, in Verbindung. Und dieser schlug ihm eine Massnahme vor, die Sigrist verblüffte. Am besten wäre es, durch eine oberflächliche Autopsie die Todesursache festzustellen. Nach seinen Informationen dürfte es sich in diesem Fall um einen Suizid handeln. Dann sollte die Leiche nach Österreich überführt werden. Man würde das dort genauer wissen wollen und sie nochmals auf Herz und Nieren überprüfen.

Wie das ablaufen solle, erkundigte sich Sigrist.

«Ganz einfach: Wir vom Amt für Polizei werden einen Helikopter der österreichischen Bundeswehr anfordern. Dort laden wir die Leiche Gschwandls und das Material, das die Spurensicherer aufgesammelt haben, ein. Ab geht die Post nach Wien, und wir haben fürs Erste die heisse Kartoffel weitergereicht.»

***

Um neun Uhr klingelte in der Villa von Karl Helbling, Direktor der HSK-Abteilung «Betreuung ausländischer Anleger», das Telefon. Helbling war beim Morgenessen. Er schien den Anruf erwartet zu haben.

Er hörte eine gute Minute zu und antwortete dann: «Danke! Gut gemacht.» Dann hängte er auf.

Die Gemahlin beschwerte sich: «Sag mal! Was sind das für Manieren, einen an einem Sonntag in aller Herrgottsfrühe mit einem Anruf zu belästigen …»

Helbling hob beschwichtigend die Hand. «Nichts Wichtiges. Es war lediglich ein etwas ängstlicher Mitarbeiter, der heute aus der Sonntagszeitung entnommen hat, dass diese Tussi aus Nordrhein-Westfalen wieder eine Daten-CD unserer Bank erstanden haben soll … Mit ‹Tussi› meine ich die Ministerpräsidentin dieses deutschen Bundeslandes.»

Helblings Gattin, Sarah, unterbrach ihn geharnischt. «Aber warum sagst du: ‹Gut gemacht›?»

«Tja … der Mann hat mir berichtet, was er einem Presseheini darauf gesagt hat.»

Sarah Helbling runzelte die Stirn. Sie glaubte ihrem Mann längst nicht mehr alles. Vielleicht war es wieder mal eine seiner Bettgespielinnen, die er in immer kürzeren Abständen aufsuchte.

***

Beat Lauber kam um halb eins mit seiner Freundin Suzanne ins Zimmer im Hotel «Ville La Perla» im Zentrum von Ascona zurück und drehte das Radio an. Er hatte heute noch kein einziges Mal die Nachrichten gehört.

Zuerst wurde ausführlich über die in Düsseldorf aufgetauchte Daten-CD der HSK berichtet. Es folgte eine Meldung, die Lauber aufhorchen liess.

Soeben erhalten wir eine Mitteilung der Kantonspolizei Luzern. In seiner Wohnung ist der des Datendiebstahls beschuldigte und unter Hausarrest stehende Joachim Gschwandl tot aufgefunden worden. Nach einem Sprecher des Justiz- und Sicherheitsdepartements Luzern soll er Selbstmord begangen haben. Gschwandl war österreichischer Staatsangehöriger. Bis zu seiner Verhaftung Anfang dieses Jahres arbeitete Gschwandl als Leiter der IT-Abteilung in der Generaldirektion der HSK am Luzerner Schwanenplatz.

***

Nachmittags um halb zwei Uhr läutete in Eisenerz Revierinspektor Strasser von der örtlichen Polizeiinspektion an der Parterrewohnung in der Vordernberger Strasse 22. Eine ältere Dame, so um die sechzig, zierlich, gepflegt, öffnete und sah den Mann besorgt an. Es war erst das zweite Mal, dass sie Besuch von einem Gendarmen bekam. Das erste Mal einige Wochen zuvor, als ihr derselbe Beamte eröffnet hatte, ihr Sohn Joachim sei in der Schweiz wegen Datendiebstahls in Haft genommen worden.

«Frau Gschwandl, ich muss Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen. Ihr Sohn Joachim ist heute Morgen in seiner Wohnung in Luzern tot aufgefunden worden.»

Die Augen von Frau Gschwandl füllten sich mit Tränen. Dann brach sie in ein lautes Schluchzen aus. Strasser legte mitfühlend beide Hände auf ihre Schultern. Die beiden verharrten so eine gute Minute, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.

«Ich kann Ihnen nachempfinden», sagte Strasser. «Ich habe vor einem Jahr selbst meinen einzigen Sohn verloren.»

«Ich weiss, Herr Strasser, das war der schreckliche Motorradunfall auf dem Präbichl.»

Der Polizist rieb eine Träne von seiner Wange. «Ich erinnere mich noch, dass Sie auch an der Beerdigung teilnahmen und mir kondolierten. Joachim und mein Sohn gingen ja in dieselbe Klasse, sie waren immer gute Freunde.»

«An was ist er denn so plötzlich gestorben?»

«An einer Überdosis Heroin oder so was.»

Frau Gschwandl schrie entsetzt auf: «Nein, nein … das hätte Joachim nie getan.»

«Ich kann es auch nicht glauben, das sieht Joachim überhaupt nicht ähnlich. Etwas stimmt an der Sache nicht. Der Kommandant unseres Postens hat, als er den Anruf aus Luzern entgegengenommen hatte, sogleich den Verdacht geäussert, da könnte etwas faul an der Sache sein.»

«Und was ist Ihre Meinung dazu?», fragte die immer noch vor Schluchzen zitternde Frau Gschwandl.

«Ich glaube, da ist etwas dran. Man hört in letzter Zeit schlimme Sachen von den Schweizer Finanzplätzen. Dabei haben wir vor fünfzehn Jahren noch mit Ehrfurcht zu unseren westlichen Nachbarn hinaufgeschaut. Nun wissen wir, dass die Schweiz punkto Korruption und internationaler Drecksgeschäfte unserer Republik um kein Jota nachsteht.»

***

Drei Tage später lag der Bericht des Gerichtsmediziners aus Luzern auf Sigrists Schreibtisch. Er memorierte ihn für sich.

Todesursache: Überdosis Heroin. Bruch des Nasenbeins nach einem Sturz, deshalb der Blutverlust.

Hinweis: Heroin, wird es in die Blutbahn gespritzt, kann bereits nach Sekunden zu Gleichgewichtsstörungen oder Ohnmacht führen.

Der Mediziner stellte den Antrag, die Leiche freizugeben, was nach einigen Formalitäten auch geschah. Sigrist bat den Informationschef der Kantonspolizei, ein kurzes Medien-Communiqué zu verfassen.

Am Abend wurde es bereits in den Radio- und Fernsehnachrichten verlesen sowie auf den Internet-Ausgaben der Zeitungen publiziert.

Sigrist war nicht ganz wohl bei der Sache. Während in den meisten Online-Kommentaren der Tod des «kriminellen Datendiebs» mit Genugtuung zur Kenntnis genommen wurde, stellten doch einige Autoren in Frage, ob es sich hier tatsächlich um Selbstmord handelte.

In den kommenden Tagen gab es auch Artikel in der Presse, die hinter die offiziell kommunizierte Todesursache Fragezeichen setzten.

Karfreitag und Samstag

Sigrist war heilfroh, als am Karfreitag gegen Mittag ein österreichischer Armeehelikopter auf dem Militärflugplatz in Emmen landete und wenige Minuten später mit der leblosen Fracht Richtung Osten wieder abflog.

Die Angelegenheit war damit natürlich für den Kripochef nicht vom Tisch, doch er glaubte, eine Lösung gefunden zu haben: Er fasste den Entschluss, sich des Falles zu entledigen, indem er ihn an Leutnant Beat Lauber, seinen direkten Untergebenen, weiterreichte.

Lauber war am späten Gründonnerstag aus dem Tessin nach Luzern zurückgekehrt und beabsichtigte, in der Woche nach Ostern seinen Dienst wieder aufzunehmen.

Die Meldung über den Rollentausch ereilte Lauber übers Handy, gerade zum Zeitpunkt, als er im Begriffe war, sich nach einem reichlichen Mittagessen mit Suzanne ins Bett zu verziehen.

Diese Nachricht kam bei ihm gar nicht gut an. Er warf sein Smartphone in hohem Bogen durchs Schlafzimmer, was Suzanne mit der Bemerkung kommentierte: «Ich glaube, es ist wieder eine neue Version des Samsungs auf den Markt gekommen.» Auch sie bedaure übrigens, dass er jetzt an seinen Arbeitsplatz müsse, aber man könne ja das Verpasste am Abend nachholen.

Um zwei Uhr nachmittags traf Lauber im Büro des Kripochefs ein. Dieser informierte ihn knapp über das, was mit Gschwandl seit dem Palmsonntag geschehen war. Dann übergab er ihm einen Stoss Akten, die Lauber nicht kannte. Der Fall Gschwandl wurde, als es noch um Datenklau ging, von Sigrist persönlich bearbeitet, der allerdings kaum etwas damit zu tun hatte, da ja eine Selbstanzeige vorlag und die Ermittlungen weitgehend dahinfielen.

Lauber konnte es sich nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass die Causa Gschwandl aus dem Ruder gelaufen sei. Sigrist stellte das gar nicht in Abrede, aber wies jede Schuld von sich. Das Problem sei hier das Bundesamt für Polizei. Die Leute dort würden mehr nach den Bedürfnissen des Staates anstatt nach denjenigen des Rechts handeln. Die Idee, die sterblichen Überreste Gschwandls nach Österreich abzuschieben, sei ja nicht von ihm, sondern von einem Beamten der Bundeskriminalpolizei gekommen. Was hätte er, Sigrist, denn anderes machen sollen?

In seinem Arbeitszimmer angekommen, rief Lauber gleich Ferdinand Minder an.

Der befand sich mit seiner Frau Lisi auf einem Spaziergang im Meggerwald. In anderthalb Stunden sei er an der Kasimir-Pfyffer-Strasse, vielleicht ein bisschen vorher, versprach er.

Das beruhigte Lauber ein wenig. Als Nächstes suchte er nach den Leuten des Spurensicherungsteams, die sich die Wohnung Gschwandls vorgenommen hatten. Es bedurfte mehrerer Anrufe, bis die drei Leute zusammengetrommelt waren. Von ihnen wollte er wissen, was sie eigentlich am letzten Sonntag gemacht hatten. Das Übliche, erzählten sie ihm. Er bohrte nach und erfuhr ein wenig mehr, als er schon wusste. Fingerabdrücke ausser denjenigen des Opfers und der beiden Polizisten, die in den Tagen vor Gschwandls Tod die Wohnung inspizierten, habe man nicht gefunden. Und im Raum, in dem der Tote lag, habe man einen eigentümlichen Schweissgeruch wahrgenommen.

Lauber machte sich eine Notiz.

Was für Spuren denn eigentlich sichergestellt wurden? Ausser dem Zigarettenstummel, dem Feuerzeug, der Spritze, dem abgebrochenen Fingernagel eigentlich nichts.

«Wurden auf dem Zigarettenstummel keine Fingerabdrücke gefunden?»

Nach denen hätten sie gar nicht gesucht, da es darauf ja gar keine Fingerabdrücke geben könne.

«Stimmt so nicht, er stammte von einem selbst gedrehten Glimmstängel, und darauf können durchaus Fingerabdrücke vorhanden sein. Und Fingerabdrücke sind eins, aber da kann man auch DNA-Proben nehmen», belehrte Lauber die leicht beschämten Fahnder.

Lauber notierte wieder etwas. Dann betrachtete er die etwa zehn grossformatigen Fotos, die gemacht worden waren, als die Leiche noch im Raum lag. Bei dem letzten hielt er inne, nahm eine Lupe, um einen Gegenstand, der ungefähr einen Meter von der Leiche entfernt lag, genauer zu betrachten. Lauber winkte die drei Spurensicherer herbei, legte den Finger auf einen schwarzen Punkt im Bild und fragte: «Ist jemandem von euch aufgefallen, was da liegt?»

Alle zuckten wie auf Kommando mit den Schultern.

«Neben der Leiche lag ein Knopf. Warum habt ihr den übersehen?»

«Hmmm … so genau haben wir ja nicht hingeschaut. So wie es am Fundort der Leiche ausgesehen hat, gingen wir von einem Selbstmord aus.»

«War euch eigentlich bekannt, um was für eine brisante Angelegenheit es sich dabei handelte? Dass über das Delikt des Toten Hunderte von Medienbeiträgen erschienen waren?»

Die drei schauten sich fragend an.

Lauber überlegte einige Momente, dann befahl er den Beamten, noch einmal die Wohnung Gschwandls aufzusuchen und peinlich genau nach Spuren zu durchforsten.

«Wann?», fragte einer.

«Jetzt gleich! Und gebt mir Bescheid, sobald ihr damit fertig seid.»

Die Akten über Gschwandl waren ziemlich dürftig. Lauber wollte mehr wissen. Er fuhr seinen Computer hoch und loggte sich ins Intranet ein.

Dort fand er eine Aktennotiz, die in den Unterlagen, die er von Sigrist erhalten hatte, fehlte.

1. 4. 1978 geboren in Eisenerz, Österreich.

1992 bis 1996 Besuch des Gymnasiums in Leoben, Matura 1996.

1996 bis 2005 Studium an der Universität Wien, Abschlüsse: Dipl.-Ing., Dr. rer. nat. und Master of Business Administration (MBA).

Seit Januar 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung «Kundenbetreuung» der HSK, Luzern.

31. Dezember 2008. Bei einer Polizeirazzia in der «Moonlight-Bar» an der Haldenstrasse wegen Besitzes von 0,5 Gramm Kokain vorübergehend festgenommen. Zu einer Ordnungsbusse verurteilt. Verwarnung, kein Eintrag im Strafregister.

Weitere Hinweise: Überweist seit seinem Stellenantritt bei der HSK monatlich Geldbeträge zwischen 800 und 1000 Euro an seine Mutter in Eisenerz.

Er druckte die Textstelle aus und unterstrich die Passage über die Polizeirazzia in der «Moonlight-Bar».

Dann gab er den Namen «Joachim Gschwandl» in Google ein. «Ungefähr 15’000 Ergebnisse» wurden angekündigt. Unmöglich, all diese Einträge in vernünftiger Zeit herunterzuladen.

Lauber versuchte es mit «Joachim Gschwandl HSK». Da waren es noch zweihundert Einträge.

Die meisten stammten von Kommentaren, die unter Beiträgen aus den Online-Ausgaben der Presse über die Verhaftung Gschwandls standen. Ein Grossteil davon wirklich bescheuert. Wären sie repräsentativ, dann müsste sich Lauber auf einiges gefasst machen. Unter einem Artikel, der die Todesumstände Gschwandls kritisch hinterfragte, stand eine Zuschrift, die kurz nach dem Bekanntwerden von Gschwandls Tod verfasst worden war:

Vielleicht hätte man diesen feinen Datendieb mit dem Nadelstreifenanzug eben im Gefängnis belassen sollen. Wie darf es der Schweizer Bevölkerung zugemutet werden, so einen Sauhund in der eigenen Wohnung mit Steuergeldern aufzupäppeln. Nur gut, dass er ins Gras gebissen hat. Ob er sich selbst einen tödlichen Schuss Rauschgift gespritzt oder ob jemand nachgeholfen hat, darüber brauchen wir uns den Kopf nicht zu zerbrechen. Ende gut, alles gut.

Die meisten Leser schienen das auch gut zu finden. Einhundertdreiundfünfzig Daumen rauf, fünfunddreissig Daumen runter. In diesem Stil folgten andere Äusserungen. Da wurde verbal so richtig auf die Gutmenschen, diese linken Taugenichtse, eingeprügelt. Landesverräter seien das, sie hätten nichts anderes im Sinn, als das bewährte und altehrwürdige Bankgeheimnis der EU zum Frass vorzuwerfen.

Als Lauber etwa hundert Artikel, Kolumnen, redaktionelle Kommentare und Forumseinträge überflogen hatte, stürmte Minder endlich ins Zimmer.

«Hei, Boss, ich steh ab sofort zu deinen Diensten. Ach ja, dieser Fall Gschwandl. Ich habe mich ja gewundert, wie Sigrist versuchte, diese mysteriöse Angelegenheit unter den Teppich zu kehren.»

«Ganz so unbeleckt bist du also in dieser Sache nicht?»

«Nicht ganz, ich habe mich im Intranet und Internet darüber informiert. Und wenn du mich fragst, was ich davon halte: Diese Geschichte stinkt zum Himmel.»

«Daraus höre ich zwischen den Zeilen: Du bist mir nicht böse, dass ich dich an einem hohen Feiertag an die Kasimir-Pfyffer-Strasse zitiert habe.»

Minder grinste übers ganze Gesicht. «Wer geht schon gerne an einem freien Tag arbeiten? Aber ich dachte mir, du würdest mich ganz sicher nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre. Auch wenn mir lieber gewesen wäre, Sigrist hätte diese Suppe allein ausgelöffelt.»

Lauber hob die Hand zu einem Stoppzeichen. «Ich finde, er hat genau richtig gehandelt. Der Kripochef hat immerhin gemerkt, dass an dieser Sache etwas faul ist. Und, nun bin ich unbescheiden: Er hat realisiert, dass ich derjenige bin, der gewillt ist, Licht in die dunkle Affäre zu bringen.»

«Immerhin», kommentierte Minder, «dann dürfen wir hoffen, dass er dir keinen Knüppel zwischen die Beine wirft.»

«Vorläufig nicht. Warten wir ab, wie es weitergeht.»

Dann streckte Lauber Minder einen Notizblock hin. «Notiere, was ich von dir wünsche: Erstens: Befrage die Bewohner des Hauses an der Morgartenstrasse. Zweitens …» Lauber überreichte ihm einen daumendicken Stapel Papier. «… das sind die Unterlagen, die ich von Sigrist bekommen habe. Ergänze sie mit deinen Intranet- und Internetrecherchen. Drittens: Bereite dich auf eine Dienstreise in die Steiermark vor, das österreichische Bundesland, wo Joachim Gschwandl herkommt.»

Dann zog Minder ein Papier aus seiner Jackentasche und reichte es Lauber. «Ich habe das vor einigen Tagen aus dem Internet heruntergeladen. Es ist ein Interview, das Nationalrat Gregor Thaler, ein einflussreicher Politiker aus der Zentralschweiz, einer grossen Sonntagszeitung gegeben hat. Thaler ist übrigens Verwaltungsratspräsident der HSK

Sonntagszeitung: Herr Thaler, auf Schweizer Banken sollen etwa 200 Milliarden an unversteuerten deutschen Vermögen liegen. Finden Sie das richtig?

Thaler: Die Frage ist falsch gestellt. Richtig ist, dass viele deutsche Bürger ihr Erspartes in der Schweiz anlegen. Unser Land bietet ihnen Sicherheit.

Sonntagszeitung: In Baden-Württemberg wurde eben ein Mann verhaftet, dem nachgewiesen werden konnte, dass er dem Fiskus jährliche Einnahmen von fünf Millionen Euro verschwiegen hatte. Können Sie uns einen Tipp geben, wie man heimlich solche Summen auf ein Sparkonto überweisen kann?

Thaler: Wieder stellen Sie mir eine falsche Frage. Weshalb wurde dieser Mann verhaftet? Wegen einer gestohlenen Daten-CD. Der feine Herr, der diese geklaut hat, sitzt übrigens im Kanton Luzern in Untersuchungshaft. Ich bin da knallhart: Der Mann ist ein Krimineller, vor dem man unsere Gesellschaft schützen muss. Wir erwarten, dass er nicht unter einer Zuchthausstrafe von zehn Jahren davonkommt. Er hat mit seiner Tat mehr als tausend rechtschaffene Bürger ins Verderben gestürzt.

Sonntagszeitung: Wir erwarten … was meinen Sie mit «wir»?

Thaler: Hmm … wir? Die bürgerlichen Kräfte. Allen voran die Freisinnig-Demokratische Partei, die FDP also, dann sicher auch der grösste Teil der Schweizerischen Volkspartei und einige wenige aus den Reihen der Christdemokraten.

Sonntagszeitung: Aber in Deutschland sieht man das anders.

Thaler: Nicht durchwegs, ja, die Rot-Grünen ärgert das. Sie geben lieber das Geld aus, das brave Leute erarbeiten. Auch in Deutschland gibt es Parteien, bei denen Tüchtigkeit grossgeschrieben wird, die sich nicht bei Arbeitsscheuen, Sozialschmarotzern oder andern Schuften anbiedern. Und wenn ich noch etwas loswerden darf: Wir Schweizer haben es satt, dass linke Minister und Regierungschefs aus deutschen Bundesländern uns – verzeihen Sie diese beissende Wortkombination –, dass uns diese Leute ständig auf den Grind scheissen. Ich darf noch deutlicher werden: Der teutonische Riese hat die unangenehme Art angenommen, sich auf den helvetischen Zwerg zu entleeren.

Sonntagszeitung: Deftige Worte. Finden Sie Steuerbetrug eigentlich gut?

Thaler: Sie nerven mich langsam, aber sicher mit Ihren Fragen. Es geht hier gar nicht um Steuerbetrug. Es geht um Steuerhinterziehung.

Sonntagszeitung: Wo liegt denn da der Unterschied?

Thaler: Darauf habe ich eine klare Antwort. Steuerhinterziehung ist in einem demokratischen Staat kein Verbrechen, sondern eine Ordnungswidrigkeit. Wie Parkieren an einer verbotenen Stelle oder ein bisschen zu schnell fahren. Welcher Richter würde solche Leute in ein Gefängnis werfen? Wir sind doch nicht in einem kommunistischen Land.

Sonntagszeitung: Aber wenn es sich bei einer Steuerhinterziehung um einen Deliktbetrag von mehreren Millionen handelt …

Thaler: Verzeihen Sie mir, aber darauf gebe ich keine Antwort. Ersparen Sie sich bitte weitere Fragen.

Lauber kratzte sich am Hinterkopf. «Das ist ein starkes Stück. Das Problem ist ja nicht, dass es Politiker gibt, die derartigen Quatsch in die Welt hinausposaunen, das Problem ist, dass es Menschen gibt, die solchen ihre Stimme geben.»

Lauber formte beide Hände so, als ob er ein Büschel Geldscheine in der Hand hielte. «Ich fasse zusammen: Die Profiteure der kriminellen Machenschaften unserer Banken werden ihr Diebesgut mit Zähnen und Klauen vom Zugriff des deutschen Fiskus verteidigen. Da scheint offenbar jedes Mittel recht, auch physische Gewalt. Man wird uns zunächst von oben und von unten Steine in den Weg legen. Wer diese CDs geklaut hat, darf bei der Allgemeinheit unter gar keinen Umständen als Opfer gehandelt werden.»

«Du begreifst offenbar, was ich meine», rief Minder nun doch etwas zu laut.

«Das habe ich schon von Anfang an begriffen. Ich werde nun stur wie ein Bock den Umständen des Todes von Gschwandl nachgehen. Ich habe das mulmige Gefühl, dass er von einer Seilschaft aus angeheuerten Verbrechern umgebracht worden ist –»

«Und ich soll dir helfen, das zu beweisen.»

«Ja, verdammt noch mal!»

«Wie willst du vorgehen?»

«Tu einmal das, was ich dir eben aufgetragen habe. Dann werden wir weitersehen.»

Minder ergriff die Klinke, als er realisierte, dass auf der anderen Seite der Tür jemand das Gleiche tat. Es war einer der drei Polizisten, die Lauber ausgeschickt hatte, noch einmal die Wohnung Gschwandls zu durchsuchen.

«Schon wieder zurück?», fragte der Polizeileutnant verwundert, ohne den Eintretenden darauf aufmerksam zu machen, dass es eigentlich üblich wäre, zuerst anzuklopfen.

Der Mann schüttelte bedauernd den Kopf. «Die Wohnung ist bereits geräumt und gereinigt. Da sind wir wohl zu spät gekommen.»

Lauber entfuhren einige wüste Flüche, dann richtete er seinen Blick auf Minder. «Ferdi, es kommt noch etwas dazu: Erkundige dich bei den Hausbewohnern, wer das Domizil Gschwandls geräumt und gesäubert hat.»

***

Die erste Person, die Minder befragte, war Erika Renggli, jene alte Frau, die mit ihrem Anruf bei der Kripo das Ganze ins Rollen gebracht hatte. Ihre Aussagen waren ziemlich verwirrend. Obwohl sie sehr viel erzählte, erfuhr Minder kaum mehr, als er bereits wusste. Als die Dame ihm dann noch einen Kaffee mit Kuchen offerierte, entschied er sich, das Angebot anzunehmen. Vielleicht würde er noch etwas Neues erfahren.

Der Gschwandl sei ein sehr anständiger junger Mann gewesen. Freundlich und ausgesprochen hilfsbereit habe er ihr jeweils die Taschen in die Wohnung getragen, wenn sie vom Einkaufen zurückkam.

«War das immer so?», erkundigte sich Minder.

Im vergangenen Jahr, als er noch arbeitete, habe er das natürlich nur am Samstag gekonnt. «Vom Januar bis Mitte Februar ist er ja im Gefängnis ‹Grosshof› einquartiert gewesen, da ging das nicht. Aber als er wieder zurück in die Wohnung gekommen war, habe ich ihm jeweils geläutet … und immer ist er zur Stelle gewesen und hat mir die schweren Taschen die fünf Stufen der Treppe hochgetragen.»

«Hat er sonst noch Besorgungen für Sie gemacht?»

Frau Renggli lächelte. «Oh ja, er hat mir geholfen, die Steuererklärung auszufüllen, Zahlungen zu überweisen, überhaupt, meine Finanzen in Ordnung zu halten.»

«Ihre Finanzen?» Minder gab sich Mühe, die Frau nicht merken zu lassen, dass er dachte, dass sie offenbar kaum mehr in der Lage sei, alltägliche Schreibtischarbeiten zu verrichten. Er erkundigte sich, wie hoch denn ihre Miete sei. Worauf sie ihm mit einem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck verriet, das Haus gehöre ihr.

Dann aber füllten sich ihre Augen plötzlich mit Tränen. «Was soll ich nun tun? Wer hilft mir jetzt, die Wohnung Gschwandls neu zu vermieten? Wer hilft mir, die Wohnungsmiete im zweiten Stock einzutreiben? Ich habe leider keine Nachkommen, nur entfernte Verwandte, denen ich absolut nicht vertrauen kann.»

Minder runzelte die Stirn. «Können die da oben denn nicht zahlen?»

Das sei für diese Leute kein Problem. Ein älteres Ehepaar, der Mann habe auf einer Bank als Portier gearbeitet, kein Spitzenjob, aber er verfüge über eine sichere Pension, und dazu erhalte das Ehepaar noch über dreitausend Franken AHV.

«Bei welcher Bank?»

Die alte Frau vermochte sich nicht genau an den Namen zu erinnern. Als Minder dann aber fragte, ob es etwa die HSK gewesen sei, nickte sie.

«Hatte Gschwandl von Ihnen eine Vollmacht?»

«Ja klar», er habe vollen Zugriff auf ihre Bankkonten gehabt, anders sei das gar nicht gegangen. Aber er habe ihr immer alles aufgeschrieben und ausführlich erklärt.

Dann stand Frau Renggli auf, was ihr offenbar ziemliche Mühe bereitete, denn sie konnte nur noch mit Hilfe von Stöcken gehen. Minuten später kam sie mit einem Ordner zurück.

«Darf ich den mal mitnehmen und genauer ansehen?»

Sie sah Minder ein wenig erstaunt an, schien einige Momente nachzudenken. Dann streckte sie ihm beide Hände entgegen und sagte mit vertrauenserweckender Miene: «Ja, nehmen Sie das. Vielleicht helfen Sie mir von nun an, meinen Zahlungsverkehr abzuwickeln?»

Minder schluckte zweimal leer. Er musste sich ja im Zuge der Ermittlungen sowieso mit den Konten, den Zahlungsaus- und -eingängen befassen. Dann nickte er verlegen. Frau Renggli war nahe daran, Minder zu umarmen.

«Eine Frage brennt mir noch auf der Zunge: Wer hat eigentlich die Wohnung Gschwandls geräumt?»

Sie sah Minder verständnislos an. «Wirklich, davon ist mir nichts bekannt.» Sie schien angestrengt nachzudenken und erkundigte sich flehend: «Was ist heute eigentlich für ein Tag?»

«Karfreitag.»

«Ja, natürlich. Ich war ja heute im Gottesdienst. Sie müssen entschuldigen, Herr Kommissar, aber mein Gedächtnis lässt mich bisweilen im Stich.»

Für Minder war das ein untrügliches Zeichen, dass er die alte Dame jetzt nicht mit weiteren Fragen löchern durfte.

Als Nächstes kam das Ehepaar im zweiten Stock an die Reihe. Minder drückte dort den Knopf der Türglocke. Es öffnete niemand, obwohl im Hintergrund deutlich Ländlermusik zu hören war. Als nach dem dritten Versuch sich noch immer niemand meldete, rief er laut: «Kriminalpolizei!» Er hörte schlurfende Schritte. Es geschah immer noch nichts. Nun hielt er seinen Ausweis vor den Türspion. Einen Moment später ging die Wohnungstür einen Spaltbreit auf. Sie war mit einer Kette gesichert.

«Warum tragen Sie denn keine Uniform?», motzte ein unrasierter glatzköpfiger Mann, ungefähr zwischen siebzig und achtzig.

Das sei bei Kriminalpolizisten nicht üblich. Er solle jetzt endlich öffnen, befahl Minder genervt.

«Und wenn ich das nicht tue?»

«Dann verschaffe ich mir mit einem gezielten Tritt Einlass in Ihre Behausung. Darin habe ich Übung, das garantiere ich Ihnen.»

Nun hörte er ein Klicken und konnte ungehindert den Gang der Wohnung betreten.

Minder streckte dem alten Mann die Hand entgegen, die dieser aber nicht annahm.

«Wie heisst er denn?», fragte Minder nun in scharfem Ton.

«Können Sie nicht lesen, es steht ja auf dem Schildchen unter der Glocke.»

«Jetzt reicht es mir. Sollten Sie nicht bald kooperieren, avisiere ich die Zentrale. Eine Gruppe Grenadiere wird Sie im Bus als Gefangenentransport in den ‹Grosshof› bringen, und wir lassen Sie dort eine Woche lang in einer Zelle schmoren. Ich sage Ihnen, dann werden Sie singen wie ein Kanarienvogel.»

Wie eine Furie rannte eine greisenhafte Frau zum halsstarrigen Alten und geiferte, sie lasse nicht zu, dass man ihrem Mann ein Haar krümme. «Sie nehmen wir auch gleich mit und bringen Sie in der Frauenabteilung des Untersuchungsgefängnisses in eine Zelle mit drei Dirnen. Diese werden Ihnen die Flausen ganz sicher austreiben.»

«Barmet Theodor», spie nun der Alte seinen Namen Minder ins Gesicht.

«Herr Barmet, ich muss Ihnen einige Fragen stellen.»

Er schlage vor, dafür in die Stube zu gehen. «Dort kann ich mich setzen, denn beim langen Stehen tun mir die Beine weh.»

Barmet öffnete eine Tür und hiess Minder eintreten. Im Zimmer hingen an der fensterlosen Wand zwei grosse Glasvitrinen. Die eine enthielt eine veritable Sammlung Waffen der Schweizer Armee von deren Gründerzeit anfangs der 1870er-Jahre bis zur Gegenwart: drei Versionen von Karabinern, zwei Sturmgewehre, Bajonette von ganz lang bis kurz und ein gutes Dutzend Pistolen. Die anderen grossformatigen Bilder der drei Oberkommandierenden des eidgenössischen Heeres seit 1871: der Generäle Herzog, Wille und Guisan, dann drei Fotos von Zivilisten: Rudolf Minger, Bundesrat von 1929 bis 1940, Eduard von Steiger, Bundesrat von 1940 bis 1951, und Christoph Blocher, Bundesrat von 2004 bis 2007. Neben den Vitrinen waren grössere Schweizer Fahnen aufgehängt.

Über die politischen Ansichten Barmets wusste Minder damit genau Bescheid.

«Herr Barmet, ich bin aus einem ganz bestimmten Grund zu Ihnen gekommen. Es geht um den verstorbenen Mieter unter Ihnen, um Herrn Gschwandl –»

Barmet fiel Minder grob ins Wort. «Dieser Sauhund, dieser Landesverräter, gut, dass ihn endlich der Teufel geholt hat.»

Frau Barmet klatschte laut in die Hände.

«Barmet, dass wir uns richtig verstehen: Ich stelle die Fragen, und Sie antworten. Wertende Kommentare möchte ich von Ihnen nicht hören.»

Der Alte begann, heftig zu atmen. Er zischte mit sich überschlagender Stimme: «Wo sind wir eigentlich hier, in einer sozialistischen Diktatur –?»

Nun brachte ihn Minder resolut zum Schweigen.

«Barmet, Sie scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, um was es hier geht. Meine Geduld neigt sich langsam dem Ende zu. Nehmen Sie bitte Vernunft an.»

Barmet ballte seine Fäuste in den Hosentaschen.

«Seit wann wohnte Gschwandl in diesem Haus?»

Der Alte überlegte, warf einen Blick zu seiner Frau hinüber und fragte: «War es 2007 oder 2006, als dieser österreichische Lump hier aufkreuzte?»

«Ja, ich glaube, das war damals im Sommer. An das Jahr kann ich mich nicht mehr genau erinnern.»

Minder kniff die Augen zusammen. «Hatten Sie von Anfang an ein schlechtes Gefühl wegen Gschwandl?»

«Ausländern traue ich generell nicht. Aber die ersten Jahre hatte ich kaum etwas gegen ihn. Erst als sich herausstellte, dass er ein Dieb und Landesverräter war, habe ich begriffen, was für ein Kuckucksei in unserem Nest lag.» Barmet schlug, um seinem Zorn Nachdruck zu verleihen, mit der flachen Hand mehrmals auf den Tisch.

«Gschwandl wurde Mitte Februar in den Hausarrest entlassen», stellte Minder mit ernster Miene fest. «Wie haben Sie von diesem Zeitpunkt bis zu seinem Ableben am letzten Sonntag Gschwandl wahrgenommen?»

Barmet sah erneut hilfesuchend zu seiner Gattin hinüber.

«Wir sind ihm aus dem Weg gegangen», sagte diese.

«Was haben Sie für Beobachtungen gemacht?»

Während der ganzen Zeit sei ein Polizeiauto in der Nähe des Hauseingangs gestanden. Sogar die Nacht hindurch. Arme Cheibe seien das, diese Tschugger.

Minder hob die Hand und wollte das genauer wissen.

«Es kam vor, dass ich spätabends von einer Parteiversammlung oder dem Jodlerchörli nach Hause kam. Da hörte ich durch das einen Spaltbreit geöffnete Wagenfenster ein Schnarchen … na ja, ich hätte das ja auch nicht ertragen, stundenlang nach diesem Schafseckel da oben Ausschau zu halten.»

«Was haben Sie am letzten Sonntag beobachtet?»

Barmet gab sich alle Mühe, einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der auf die grosse Bedeutung dessen, was er nun sagen wollte, hinweisen sollte. «Das war so: Ich ging zur Tür hinaus, um meinen Hund spazieren zu führen. Das mache ich immer nach den Acht-Uhr-Nachrichten. Als ich das Grundstück verliess, bemerkte ich zwei Männer, die auf dem Trottoir vor dem Haus stehen blieben. Es schien mir, dass sie mich beobachteten.»

«Wie sahen diese Männer aus?»

«Der eine war bullig und sehr gross. Ich schätze, so an die zwei Meter. Der andere hatte eine durchschnittliche Statur.»

«Bekleidung?»

«Das ist es ja. Es war eine Art Uniform und doch wieder nicht. Blau, mit Achselpatten, Seitentaschen an den Hosen, ein breiter Ledergurt und Springerstiefel.»

«Und Sie? Blieben Sie auch stehen?»

«Ich überlegte, ob ich das tun sollte, aber entschied mich dann anders. Ich dachte mir, dass das Leute seien, die Gschwandl einen Besuch abstatten wollten. Vielleicht Angehörige einer ausserkantonalen Polizeieinheit. Gschwandl erhielt ja ab und zu Besuch von sonderbaren Typen.»

Minder zog nun die Augenbrauen zusammen und fragte: «Was verstehen Sie unter ‹sonderbaren Typen›?»

Barmet machte einige Verrenkungen, wohl um seine Verlegenheit zu kaschieren. «Es gab Besucher mit Nadelstreifenanzügen. Sie kamen aber stets in Begleitung von Uniformierten –»

«Uniformierte?»

«Das waren bis jetzt ausschliesslich Luzerner Polizisten, die erkenne ich an ihrer Bekleidung.»

«Und was tat der Polizist im Streifenwagen?»

«Der war zu diesem Zeitpunkt nicht im Wagen. Ich sah ihn zufälligerweise in das Café ‹Emma› über der Strasse eintreten.»

«Kam es öfters vor, dass der Bewacher im Café verschwand?»

«Klar doch. Ich hätte das sicher auch getan. Es gibt wohl kaum etwas Langweiligeres, als stundenlang am Steuer zu sitzen, ohne einen Meter zu fahren.»

Minder sah Barmet wertschätzend an. «Ich danke Ihnen, Sie haben mir wirklich wertvolle Hinweise gegeben. Am Anfang lief es allerdings etwas harzig. Aber das wollen wir jetzt vergessen.»

Barmet streckte den Daumen in die Höhe. «Das ist doch selbstverständlich. Ich bin immer bereit, der Polizei Hilfe zu leisten, wenn es darum geht, Verbrechen aufzuklären. Vielleicht wurde ja dieser Ganove von Ausländern umgebracht.»

Eine Frage hätte er noch, bemerkte Minder: Wann und von wem die Wohnung Gschwandls geräumt und sauber gemacht worden sei.

«Das war gestern. Ein grosser Lastwagen stand etwa eine Stunde vor dem Haus und blockierte den Hauseingang.»

«Haben Sie sich das einfach so bieten lassen?»

«Als ich mich bei einem der Zügelmänner beschweren wollte, trat ein fein gekleideter Herr von der gegenüberliegenden Strassenseite auf mich zu. Er erkundigte sich, was ich für Probleme hätte. Ich schilderte ihm, dass ich meinen Wagen aus der Bahnhofgarage holen und direkt vor das Haus fahre müsse, um im Shoppingcenter Emmen einzukaufen. Meine Frau hat eben böse Beine und kann nur einige wenige Schritte gehen. Ich fahre immer dorthin – wegen der Gratisparkplätze.»

Barmet musste Minders Mienenspiel sauer aufgestossen sein.

Er sei Rentner, jammerte er. Da müsse man jeden Fünfer umdrehen, bevor man ihn ausgeben könne. Er sei schliesslich kein Asylant, dem man Unmengen Geld in den Hintern schoppe, in einem Vier-Sterne-Hotel unterbringe und erst noch einen teuren BMW oder Mercedes zur Verfügung stelle.

Minder liess diese Klagen kommentarlos über sich ergehen, er war ja auf weitere Informationen von Barmet aus. «Was geschah weiter?»

«Der nette Herr legte mir fünfhundert Franken auf die Hand und sagte, es handle sich hier um eine geheime Aktion der Bundeskriminalpolizei. Ich dürfe niemandem davon erzählen.»

Aus der Gesässtasche klaubte der Wachtmeister seinen Ausweis und hielt ihn Barmet vor die Nase. «Das gilt natürlich nicht für mich, wie Sie sehen, ich bin auch von der Polizei.»

«Ich muss mir das schon noch überlegen», sagte der Alte. Dann suchte er umständlich in seinem rechten Hosensack nach etwas, das sich schliesslich als Stumpen herausstellte. Aus seiner linken Vestontasche zog er eine Streichholzschachtel. Das Entflammen eines Zündholzes misslang ihm mehrmals, da seine Hände stark zitterten. Minder wollte ihm dabei helfen, was er dezidiert zurückwies. Einen Stumpen oder eine Zigarre zum Glimmen zu bringen sei ein Ritual, von dem Sachunkundige die Hände lassen sollten.

Schliesslich brannte doch noch ein Hölzchen. Barmet hielt es unter das offene Ende des Stumpens, so lange, bis sich ein schwärzlicher Ring um das Ende bildete. Dann steckte er den glimmenden Stängel in den Mund, dabei fiel Minder das lückenhafte Gebiss mit nahezu schwarzen Zähnen auf.

Kurz darauf waberte Rauch um Minders Kopf, dass er husten musste. Er schluckte seinen Ärger hinunter und bat Barmet in freundlichem Ton, ihm jetzt zu berichten, wie sich das Gespräch mit dem netten, feinen Herrn weiterentwickelt habe.

Der Herr von der Bundeskriminalpolizei habe gefragt, was er eigentlich einkaufen wolle. Für das Essen heute und morgen, habe er ihm berichtet, gebe es kein Problem. Er werde veranlassen, dass uns die fertigen Mahlzeiten direkt ins Haus geliefert würden.› Und er hat Wort gehalten. Gestern Mittag kam ein Kurier und brachte für uns beide feine Menüs. Wir mussten sie nur aufwärmen. Und heute Morgen läutete es um acht. Man brachte uns alles, was das Herz begehrt, für sämtliche Mahlzeiten.»

Natürlich wollte Minder wissen, wer diese Sachen gebracht hatte und von wem sie stammten.

Danach habe er wirklich nicht gefragt, weshalb auch? Einem geschenkten Gaul schaue er nicht ins Maul.

Minder musste einsehen, dass er aus Barmet nichts Weiteres herausbrachte. Er streckte ihm die Hand entgegen, um sich zu verabschieden. Minder ging aber nicht zu seinem Wagen, sondern ins Café.

Eine blutjunge Bedienung trippelte gleich zu ihm und erkundigte sich, was er konsumieren wolle. Sie hätten heute feine Cremeschnitten, eine Spezialität des Hauses, dazu so günstig wie in keinem Lokal weit und breit.

Minder sah auf die Uhr. Er verspürte zwar Appetit, hatte eigentlich sogar Hunger, doch bald würde ihm Lisi ein reichhaltiges Nachtessen zubereiten. Aber Cremeschnitten? Er widerstand der Versuchung nicht, das Angebot anzunehmen, bestellte dazu noch einen Cappuccino.

Die Cremeschnitte schmeckte wirklich ausgezeichnet, auch der Cappuccino, auf dem ein kleiner Berg geschäumte Milch schwamm.

Als er alles aufgegessen und ausgetrunken hatte, winkte er die Serviertochter herbei, nicht nur, um zu bezahlen. «Seit wann arbeiten Sie hier?»

«Schon fast ein Jahr. Ich bin noch Lehrmädchen.» Das hätte sie gar nicht sagen müssen: Auf dem Schildchen, das an ihrem Pulli angeheftet war, stand: «Mimi Gaggioli, in Ausbildung».

«Frau Gaggioli –»

Sie wehrte mit einer Handbewegung ab. «Man sagt mir Mimi.»

«Also, Mimi, ich hätte eine Frage an Sie. Ich bin von der Polizei.»

Mimi riss entsetzt die Augen auf.

Minder entfuhr ein verhaltenes Lachen. «Keine Angst, es geht nicht um Sie. Haben Sie am letzten Sonntag auch hier im Café bedient?»

«Ja klar. Ich bin sozusagen jeden Sonntagmorgen hier. Da sind die Gäste immer spendabel und geben reichlich Trinkgeld.»

«Ist Ihnen an diesem Sonntag etwas aufgefallen?»

Mimi überlegte, schüttelte aber den Kopf.

«Schade», fand Minder. «Aber vielleicht finden wir zusammen doch noch etwas heraus. – Ist ein Polizist hereingekommen?»

Mimi lächelte. «Genau, ja, das war der Jules. Der ist in letzter Zeit häufig am früheren Morgen hier aufgekreuzt. Er hat immer fürchterlich gegähnt und sich dann entschuldigt, er habe die halbe Nacht im Wagen sitzen und ein Haus hier an der Strasse beobachten müssen.»

Minder unterliess es, die junge Frau zu fragen, weshalb sie denn mit dem Polizisten per Du sei. Der Name Jules sagte ihm nämlich etwas. Ein Gefreiter, der auch in der Kriminalabteilung eingeteilt war. Etwa vierzigjährig, ein bisschen zu alt, um mit einem Teenager zu flirten.

«Wissen Sie etwa noch, wo er damals gesessen hat?»

Das wisse sie sehr genau. «Der sitzt immer am Fensterplatz dort, wo man den Eingang dieses Hauses im Blick hat.» Sie zeigte dabei auf das Haus, wo Gschwandl wohnte.

«Das muss für diesen Jules nicht sehr angenehm gewesen sein, immer den Kopf zu verrenken und dort hinzuspähen», bemerkte Minder.

Mimi prustete los. «Der hat fast nie hinausgeschaut. Er hat nur gesagt, dass er das eigentlich tun müsste.»

Minder mimte Verständnis für das Verhalten seines Kollegen, zahlte und spendete als Zugabe ein grosszügiges Trinkgeld.

«Kannst du dir vorstellen, dass die Bundeskriminalpolizei hinter der klammheimlichen Räumung der Wohnung an der Morgartenstrasse steht?», fragte Lauber, als Minder ihm von seinen Befragungen berichtet hatte.

Das vermöge er kaum zu beurteilen, räumte Minder ein.

Lauber zog das Tischtelefon zu sich, tippte eine Nummer ein und drückte den Knopf «Lautsprecher».

«Hutter.»

«Grüss dich, Viktor, hier spricht Beat. Ich stecke bis zum Hals in der Scheisse – vielleicht sogar wegen euch.»

«Hört sich an, als ob es um Joachim Gschwandl geht.»

«So ist es. Waren es deine Leute, die seine Wohnung geräumt haben?»

Viktor Hutter räusperte sich. «Wir haben zwar auch die Finger im Spiel, aber sein Heim haben wir ganz sicher nicht angerührt.»

Lauber erzählte dem Beamten aus dem Bundesamt für Polizei, was sich in den vergangenen Tagen an der Morgartenstrasse abgespielt hatte.

«Viel Vergnügen, diese Angelegenheit wird immer undurchsichtiger. Braucht ihr unsere Hilfe?»

Da stelle sich natürlich die Frage, was die Bundeskriminalpolizei unter Hilfeleistung verstehe.

«Du spielst mit diesem Tritt ans Schienbein wohl auf die Ausschaffung von Gschwandls sterblichen Überresten in sein Heimatland an. Aber da wasche ich meine Hände in Unschuld. Hätten wir den Posthabsburgern die Leiche nicht untergejubelt, würden sie uns von nun an für alles verantwortlich machen, was schiefläuft.»

«Da läuft in der Tat einiges schief. Und derzeit sieht es so aus, dass man der Kripo Luzern alles in die Schuhe schieben möchte.»

«Beat, wenn ich so einen breiten Rücken wie du hätte, würde ich mich über das Mediengeplänkel nur noch amüsieren.»

«Glaubst du immer noch an einen Suizid?»

Es herrschte einige Sekunden Stille.

«Wen fragst du da? Den Fahnder der Bundeskriminalpolizei oder den Privatmann Viktor Hutter?»

«Was sagt der Erste?»

«Er hält vorläufig noch an der Selbstmordversion fest.»

«Der Zweite?»

«Er muss sich wohl damit abfinden, dass es Mord ist.»

Der Schluss des Gesprächs glitt in die Belanglosigkeit ab.

Lauber musterte Minder mit einem Lächeln auf den Stockzähnen. «Ferdi, was für Schlüsse ziehst du aus allem, was wir jetzt wissen?»

Minder neigte den Kopf langsam auf die rechte, dann auf die linke Seite. «Wir sind auf dem richtigen Weg. Der nächste Schritt: Wir müssen herausfinden, welche diese mysteriöse Zügel- und Putzfirma war, die die Morgartenstrasse heimsuchte.»

Lauber nickte. «Ich werde gleich morgen zwei Leute unserer Abteilung dafür freistellen. Mit den Recherchen können sie wohl erst am Dienstag beginnen. Wir werden flächendeckend alle in Frage kommenden Unternehmen unter die Lupe nehmen.»

«Warum überträgst du diese Aufgabe nicht mir? Das wäre doch naheliegend», fragte Minder leicht beleidigt.

«Nein. Mit dir habe ich etwas anderes vor.»

«Häh …?»

Plötzlich erinnerte sich Minder an den Ordner, den er von Frau Renggli erhalten hatte. Er hastete rasch in sein Arbeitszimmer hinüber, um ihn zu holen.

«Hier.» Er übergab die Unterlagen Lauber. Dieser blätterte kurz darin und realisierte schlagartig, wie wertvoll die abgelegten Papiere sein könnten.

Dann hob er den Zeigefinger. «Aber ich möchte den Ordner noch der Abteilung ‹Wirtschaftsdelikte› weiterreichen, damit sie die Dokumente darin auf Korrektheit überprüfen. Es wäre peinlich, wenn sich herausstellte, dass Gschwandl die Demenz der alten Dame ausgenutzt hätte, um daraus Vorteile zu ziehen.»

Der Wachtmeister forderte nun seinen Leutnant auf, ihm endlich zu eröffnen, was er in den nächsten Tagen von ihm erwarte.

«Du fliegst über die Ostertage in die Steiermark und schaust dir das private Umfeld Gschwandls genauer an.»

«Ich habe Flugangst.»