Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2008
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Titelfoto: Bavaria Bildagentur / Nägele
eISBN 978-3-475-54672-3 (epub)
Paul Schallweg
Aufruhr im Dorf
Seit Menschengedenken hat es im Dorf noch keinen Mord gegeben. Entsprechend groß ist die Aufregung, als eines Morgens der Feller-Michl erstochen aufgefunden wird. Gerüchte und Spekulationen werden schnell laut, und doch kommt die Polizei in ihren Ermittlungen nicht weiter. Aber einiges deutet darauf hin, dass sich das Opfer gegen das „Strahmachen“, einen üblen Brauch in der Nacht vor einer Hochzeit, wehren wollte. Während Kommissar Rothberger und sein Assistent Wanninger noch im Dunkeln tappen, tritt die Pruggerin auf den Plan, eine resolute Bäuerin mit einer guten Portion gesunden Menschenverstandes und dem Herzen auf dem rechten Fleck. Ihr gelingt es, Beweisstück um Beweisstück zu sammeln, bis zum spannenden Finale.
Als Pfarrer Georg Weingartner, der vom Schulunterricht kam, an seinem Gartenzaun entlangging, entschloß er sich, an einem der nächsten Tage das Unkraut in den Gemüsebeeten zu jäten. Eben hatte er in der ersten und zweiten Klasse den Sündenfall der Stammeltern durchgenommen, und bei der Erwähnung von Disteln und Dornen war ihm diese Notwendigkeit eingefallen. Wer jemals einen Garten gehabt und den Kampf gegen Hahnenfuß, Hederich, Lattich, Löwenzahn und wie sie alle heißen, geführt hat, der weiß, daß diese Unkräuter einen recht eindrucksvollen, Mühe und Schweiß kostenden Symbolwert für die seit Adam und Eva gestörte Ordnung der Welt besitzen. Während der sechs Wochen, die der geistliche Herr nun im Dorf amtierte, war beim besten Willen noch keine Zeit gewesen, den Spaten in die Hand zu nehmen. Die Marie, seine Haushälterin, aber schaffte es nicht mit dem Bücken. Sie war immerhin fast sechzig. Also blieb diese Arbeit an ihm hängen …
Als Pfarrer Weingartner zur Haustür einbiegen wollte, sah er am Zaunpfosten einen Mann stehen, der freundlich seinen Hut zog. „Grüß Gott, Herr Pfarrer! Darf ich Sie einen Augenblick stören? Ich wollte nur eine Messe für den Vater bestellen, weil Jahrtag ist …“
„Herr Prugger, grüß Gott! Aber natürlich! Kommen Sie nur herein!“ Der geistliche Herr öffnete die Haustür, führte den Besucher in das Amtszimmer und bot ihm Platz an. Es war angenehm kühl im Raum, und der Prugger Franzl setzte sich gerne für die kurze Weile.
Er war eine stattliche Erscheinung, der junge Herr vom Pruggerhof; groß, breitschultrig und mit guten, hellblauen Augen in einem etwas weichen, aber keinesfalls energielosen Gesicht. Sein Vater war vor fünf Jahren gestorben, und seitdem führte der Franzl als einziger Sohn den Hof. Ohne Frau, wohlgemerkt, denn zu einer solchen hatte er es noch nicht gebracht, zum großen Leidwesen seiner Mutter, die seit Wochen krank zu Bett lag.
Die Formalität war schnell erledigt.
„Wie gefällt es Ihnen denn bei uns, Herr Pfarrer?“ fragte der Franzl, während er sich erhob. „Sechs Wochen sind Sie nun schon da …“
„Ausgezeichnet, Herr Prugger! Die Gegend ist wunderschön. Schon als kleiner Bub bin ich mit meinen Eltern oft in die Hügellandschaft hinter Dachau gewandert und später dann als Student nach Altomünster oder zum Petersberg, nach Maria Birnbaum oder nach Scheyern. Ein gottgesegnetes Land … Und nun muß ich mich eben erst einleben. Ich war bisher in der Stadt, aber ich bin gern hierhergekommen. Wissen Sie, Herr Prugger, das Leben auf dem Dorf ist eben doch viel ursprünglicher, enger, persönlicher. In der Stadt sind sich die Menschen fremd, einer läuft am andern vorbei. Hier aber kennt und grüßt man sich. Man weiß voneinander, und das ist schön. Ich bin gern hier …“
„Dann ist’s schon recht“, erwiderte der Franzl bedächtig, als teile er die Begeisterung des Pfarrers nicht ganz. Sie hatten die Amtsstube verlassen, der geistliche Herr begleitete den jungen Prugger auf die Straße.
„Nicht alle denken so, Herr Pfarrer. Viele vom Land bilden sich ein, in der Stadt sei es schöner. Aber es hat eben alles seine zwei Seiten. Gewiß ist es gut, wenn einer den andern kennt, und sicher halten die Landleut’ auch deswegen besser zusammen. Aber wenn da und dort mal einer ist, der einem gar nicht zur Nase steht, bei dem einem Gift und Galle überläuft, wenn man ihn nur des Wegs kommen sieht und der einem nichts wie Ärger und Streiterei an den Hals hängt, dann wird die Enge des Dorfes auch mal ungemütlich.“
„Mag sein“, erwiderte der geistliche Herr etwas zerstreut. Aus der offenen Stalltür des Pfungbauern flog eine Schwalbe in kühnem Bogen zur halben Höhe des Kirchturms, setzte zum Sturzflug an, landete vor den beiden Männern fast am Boden und wagte eine Spitzkehre, um über das Spritzenhaus hinwegzusegeln. Sie nahm die Aufmerksamkeit des Pfarrers in Anspruch, so daß er Franzls bedächtige Äußerung nicht sehr genau beachtete und dann sogar unvermittelt das Thema wechselte:
„Da fällt mir gerade etwas ein, Herr Prugger. Eine Frage, die Sie mir sicher beantworten können … Ich habe gestern einer kurzen Unterhaltung beim Betzenbauern zugehört, und dabei hat man im Zusammenhang mit der morgigen Hochzeit vom Biederstaller über das Strahmachen gesprochen. Habe ich da recht verstanden, heißt es Strahmachen?“
„Strahmachen, ja, gewiß, da haben Sie schon richtig verstanden, Herr Pfarrer“, bestätigte der junge Prugger und lächelte.
„Sie machen ein genauso verschmitztes Gesicht wie die Leute gestern beim Betzenbauern! Was ist denn das für eine geheimnisvolle Sache? Ein lustiger Brauch wohl? Ich würde es gerne wissen …“
Franzl lehnte sich an den Pfosten der Gartentür und hakte die Daumen an den Aufschlägen seiner Lodenjoppe ein. „Was Strahmachen ist, wollen Sie wissen, Herr Pfarrer? – Das kann ich Ihnen schon sagen. Es handelt sich da um einen alten Brauch, der bei uns und auch drüben im Schwäbischen geübt wird, vielleicht auch noch anderswo. Und zwar geht das so: da ist doch morgen zum Beispiel die Hochzeit vom Biederstaller. Der Matheis heiratet die Afra vom Hierl. Nun nehmen wir an, irgend jemand vom Dorf wüßte, oder würde es wenigstens behaupten, daß auch noch ein anderer Bursch die Afra gerne gehabt hätte. Sehen Sie, und da kann es vorkommen, daß dieser irgendjemand bei dem abgewiesenen Freier Strah macht. Was Strah ist, werden Sie wissen, Herr Pfarrer?“
Der geistliche Herr schüttelte den Kopf.
„Strah, das ist Streu“, erklärte der Franzl.
„Aha …“
„Nun nehmen wir an, der andere Bursch, der die Afra ebenfalls gerne zur Frau gehabt hätte, wäre ich, Herr Pfarrer, verstehen Sie? Wie gesagt, nur angenommen.“
Pfarrer Weingartner nickte lächelnd.
„Nun geht der Bursch, der das weiß, in der Nacht vor der Hochzeit her und zieht von meiner Haustür mit Streu einen breiten und gut sichtbaren Strich, etwa zwanzig bis vierzig Meter lang, der ganz eindeutig zum Haus der Braut hinweist. Natürlich muß er das heimlich machen. Wenn nun am andern Tag, am Hochzeitstag nämlich, die Leute am frühen Morgen diesen Strich sehen, dann gibt das eine Mordsgaudi, und alle sagen: ,Ah, da schaut her, der Prugger Franzl hätt’ auch gern die Afra woll'n!‘ Oder wenn gar der Hochzeitszug vorbeigeht …“
„Donnerwetter!“ Der geistliche Herr mußte herzlich lachen. „Das ist dann doch recht peinlich für den Betroffenen, wie?“
„Das kann man sich ausmalen, Herr Pfarrer. Übrigens: heut’ nehmen die Burschen längst nicht mehr Streu, denn die läßt sich mit dem Besen schnell entfernen. Sie verwenden Kalk …“
„Kalk?“
„Jawohl, Kalk.“ Jetzt ging über das Gesicht des Prugger Franzl ein breites Grinsen, das durchaus ahnen ließ, daß er auch schon mal des Nachts ausgezogen war, um einem durchgefallenen Freier diesen Streich zu spielen. „Wissen Sie, Herr Pfarrer, so ein dick mit Kalk hingeschmierter Strich läßt sich nicht so leicht wegkratzen. Da braucht’s dann schon einen starken Humor, wenn man sich darüber nicht ärgern will.“
„Man wird es gewiß nur bei solchen machen, von denen man weiß, daß sie einen Spaß verstehen, wie?“ Der geistliche Herr blinzelte etwas nervös, als habe er Schwierigkeiten, diese rauhe Sitte mit seiner Vorstellung von christlicher Nächstenliebe und Anständigkeit in Einklang zu bringen.
„Aber natürlich!“ erwiderte der Prugger Franzl und lachte dabei so hintergründig-polternd, als habe man es überhaupt nur auf die andern abgesehen, auf die Gifthaferin, die gleich überkochen.
„Übrigens, Herr Pfarrer, so ganz einseitig ist die Geschichte auch wieder nicht“, fuhr der Franzl fort. „Wenn so ein Bursch gelegentlich einer bevorstehenden Hochzeit damit rechnen muß, daß ihm jemand Strah macht, dann paßt er natürlich in der Nacht auf wie ein Luchs, hinter dem Stubenfenster, oder hinter der Stadeltür … Und wehe, wenn er einen erwischt, der da mit einem Kübel angeschlichen kommt, den verdrischt er und jagt ihn fort. In diesem Fall ist es dann für den andern peinlich.“
Der geistliche Herr lächelte schon wieder. „Wird nun sehr oft Strah gemacht im Dorf?“
„Nein, das nicht, nur gelegentlich. Die meisten Kandidaten passen gut auf. Dem Tremmer Wigg hat einmal einer Strah machen woll’n. Der Wigg hat aber schon d’rauf gewartet. Wie der Betreffende gekommen ist, hat sich der Wigg von hinten angeschlichen, hat ihm den Kalkkübel aus der Hand gerissen und über den Kopf gestülpt, hat ihn in das gesondert stehende Klohäusl hineingeworfen, die Tür zugeschlagen und das bereitgelegte Schnappschloß drangehängt. Seitdem haben es nur noch ganz wenige versucht und wenn, dann war man meistens zu zweit oder zu dritt … Aber eigentlich ist’s schad, denn man soll die guten alten Bräuche nicht aussterben lassen, Herr Pfarrer, meinen Sie nicht auch?“ Der Franzl lachte wieder so zweideutig, und der geistliche Herr blinzelte abermals leicht verwirrt.
Da schlug es zwölf Uhr vom Kirchturm, und gleich darauf setzte das Läuten ein. Die Marie öffnete einen Fensterflügel; man sah ihrem Gesicht an, daß das Essen fertig war.
„So, Herr Pfarrer, jetzt wissen Sie, was man unter Strahmachen versteht. Übrigens, ich sag’s noch mal: das mit mir und der Afra war nur ein Vergleich. Nicht daß Sie meinen, Herr Pfarrer, ich hätte ein Aug’ auf die Hierltochter gehabt.“
Der Franzl meinte, damit sei das Gespräch beendet und der geistliche Herr würde nun an den Mittagstisch eilen. Doch der zögerte noch.
„Wer ist denn Ihre Zukünftige, Herr Prugger? Ist darüber schon was bekannt?“
Recht g’rad’raus fragte der Herr Pfarrer … Der Franzl zeigte sich beinahe verlegen. „Das hat noch Zeit, Herr Pfarrer …“
„So!“ erwiderte der geistliche Herr und nickte bedenklich mit dem Kopf. Er war offensichtlich anderer Meinung.
„Mein Vater hat auch erst sehr spät geheiratet“, untermauerte der Franzl seinen Standpunkt.
„Herr Pfarrer, das Essen steht auf dem Tisch“, meldete die Marie mit sanfter Stimme vom Küchenfenster her.
Der Gerufene nickte gelassen und reichte dem Prugger die Hand. „An einem der nächsten Tage schaue ich ohnehin bei Ihnen vorbei, Ihre kranke Mutter zu besuchen. Bestellen Sie ihr bitte einen schönen Gruß, es sei mir bisher noch nicht möglich gewesen … Und auf Wiedersehn bis dahin!“
„Ich werd’s ausrichten, Herr Pfarrer, und weiterhin guten Einstand!“
Der geistliche Herr wandte sich der Haustür zu und sog mit Genuß den Duft von Sauerkraut und Geräuchertem ein, der aus dem Fenster drang.
Drinnen wartete die Marie schon mit gezücktem Schöpflöffel. Als der Pfarrer sein Tischgebet gesprochen hatte und sie die Nudelsuppe auftrug, holte sie tief Atem: „Wissen S’, Herr Pfarrer, ich bin überhaupt gegen dieses Strahmachen, denn meistens springt nichts Gescheites dabei heraus …“
„Wie kommen Sie denn jetzt da drauf?“
„Ich hab’ durch’s Fenster gehört, wie Sie mit dem Prugger darüber gesprochen haben.“ Die Marie sagte das völlig ohne Zerknirschung, als sei es ihr gutes Recht, am Fenster zu horchen. „Morgen ist die Hochzeit vom Biederstaller Matheis mit der Hierl Afra. Wissen S’, Herr Pfarrer, das ist auch wieder so ein Fall …“
„Wieso auch wieder so ein Fall?“
„Na ja, weil’s einen gibt, der die Afra auch gern mögen hätt’. Aber das ist keine Sach’, über die man seinen Spott treiben soll, bei Gott nicht. Der Feller Michl nämlich, der ist mit der Hierl Afra gegangen, ein halbes Jahr lang. Verlobt waren sie sogar schon. Und wissen Sie, warum ihn die Afra auf einmal hat stehnlassen?“
„Warum?“ Der geistliche Herr blies über die Suppe, sie war noch entschieden zu heiß.
„Weil es dem Feller Michl das halbe Kinn weggerissen hat bei der Explosion einer Sauerstoffflasche, und da war er ihr nicht mehr schön genug. Als ob das bei einem Mannsbild so viel ausmachen würde, ob er ein Kinn hat oder nicht. Aber natürlich: der Biederstaller Matheis ist ohnehin eine bessere Partie …“
„Sie glauben doch nicht im Ernst, daß nun jemand beim Feller heut’ nacht Strah machen wird?“
„Möglich ist alles, Herr Pfarrer. Sie glauben ja nicht, was es für böse Leut’ gibt. Und weil der Feller immer schon ein Zorngickl war, der keinen Spaß verstanden hat, tun sie es vielleicht erst recht.“
„Der Prugger, zum Beispiel, bestimmt nicht, dem trau’ ich das nicht zu.“
Die Marie nahm diese Feststellung mit einem mißtrauischen Achselzucken hin und ging in die Küche hinüber.
Der Prugger Franzl, der Benzecker Gustl, der Gollinger Hans und der Hierstetter Luk trafen sich am Freitag jeder Woche beim Schnaderbeck zum Schafkopfen. Fehlte mal einer von den vieren, so war man um Ersatz nicht verlegen, es fand sich immer ein Interessent. An diesem Abend war der Luk nicht gekommen. „He, wir brauchen einen Vierten!“ rief daher der Hans in die Ecke, wo ein paar Burschen beisammensaßen.
Der sich sofort erhob und an den Tisch kam, war der Krbazek, ein untersetzt gebauter Mann, blond, mit einem etwas verschwommenen Blick und einem Pferdegebiß. Er war nach dem Krieg irgendwoher aus dem Osten gekommen. „Ich spiel’ mit“, sagte er, „aber ihr müßt mir erst sagen, wie’s geht. Ich kann bloß Moriatschn.“ Unter Moriatschn verstand der Ferry Krbazek Sechsundsechzig.
„Dann brauchst du dich gar nicht erst herzusetzen“, meinte der Benzecker. „Glaubst du, Schafkopfen kann man einfach so schnell lernen? Eine Wissenschaft ist das, in die man nur langsam eindringt …“
Der Krbazek mahlte mit seinem Pferdegebiß, und man wußte nicht recht, nahm er es krumm oder nicht. Er blinzelte und verzog sich wortlos wieder in die Ecke, aus der sich inzwischen der Feller Michl erhoben hatte.
Der Feller Michl war zwar ein guter Schafkopfer, doch spielte niemand gern mit ihm, denn er vertrug keinen Spaß, galt als rechthaberisch und streitsüchtig. Doch nachdem er sich nun einfach hinsetzte, wagte ihn keiner abzuweisen.
Am wenigsten Lust, mit dem Feller zu spielen, hatte der Prugger Franzl. Er sagte daher: „Eigentlich müssen wir gar nicht unbedingt schafkopfen. Ich wollte ohnehin bald nach Hause.“ Er hätte sich denken können, daß der Michl diese Bemerkung in den falschen Hals bekam.
„Warum? – Spielst du mit mir nicht gern?“ fragte dieser auch sofort in leicht gereiztem Ton.
„Wieso soll ich mit dir nicht gern spielen?“ erwiderte der Franzl. „Meinetwegen also, fangen wir an …“
Und so begannen sie. Eineinhalb Stunden lang ging es gut. Der Michl gewann und benahm sich durchaus verträglich. Dann aber verlor er mit einemmal. Er spielte ein gewagtes Solo ohne Vier, erhielt Contra und mußte zahlen. Von da ab ging ihm buchstäblich alles schief.
Der Franzl behielt ihn im Auge. Er wußte, wenn jetzt ein kleiner Streitfall auftreten würde, dann war der Teufel los. Als der Michl wieder ein Solo spielte und er ihm seiner Karte nach ein Contra hätte geben müssen, ließ er es absichtlich sein, um den andern nicht noch mehr zu reizen. Der Michl wurde Schneider.
„Eine Runde noch, dann höre ich auf, ich will nach Hause“, erklärte der Franzl.
Der Michl machte ein mürrisches Gesicht. „Jetzt, weil du gewinnst und ich als einziger verliere!“
„Ich will auch Schluß machen“, sagte der Benzecker. Der Gollinger sah auf die Uhr und bemerkte, er sei schon sehr müde und müsse am andern Tag früh heraus. Er gähnte so geschickt, daß man es ihm glauben mußte.
So machte man noch vier Spiele und stand dann auf.
„He, seid ihr jetzt fertig?“ schrie da der Schlaitzmiller Sepp aus der Ecke, wo die andern Burschen, darunter auch der Krbazek, beisammensaßen und sich ziemlich laut über alles mögliche unterhielten. „Setzt euch zu uns! Ihr werdet doch nicht schon nach Hause gehen wollen!“
Wieder blickte der Gollinger auf die Uhr, aber diesmal sagte er nichts von früh aufstehen und gähnte auch nicht. Die in der Ecke rückten zwei Tische zusammen. Der Prugger Franzl setzte sich als erster dazu, und die andern folgten.
„Ich hab’ mir gedacht, dir pressiert’s nach Hause?“ fragte ihn der Feller mit einem ekelhaften Gesicht.
Der Franzl sah ihn an, erst verdutzt und dann abweisend. „Willst du mir vorschreiben, wann ich heimgehen soll?“
Der Michl erwiderte nichts darauf und bestellte ein Zwetschgenwasser, das er in einem einzigen Zug hinunterstürzte. Die Vroni mußte gleich ein zweites bringen.
Man redete über Fußball, schimpfte darüber, daß die Mannschaft des Dorfes immer noch in der C-Klasse und selbst da noch an der allerletzten Stelle rangierte – der Krbazek im Tor sei der einzige Lichtblick –, unterhielt sich über neue Automodelle, streifte kurz die Politik, und als der Feller sein drittes Zwetschgenwasser hinuntergegossen hatte, kam man auf die am andern Tag stattfindende Hochzeit vom Biederstaller Matheis mit der Hierl Afra zu sprechen.
Der Franzl nahm wenig an der Unterhaltung teil, weil ihm die ungute Art vom Feller einfach die Stimmung verdorben hatte. Wäre dieser nicht mit am Tisch gesessen, hätte er’s vielleicht eher vergessen können. Als der Gollinger der Vroni zurief, er wolle zahlen – er gähnte nun echt –, nahm daher der Franzl die Gelegenheit wahr, ebenfalls seine Schuld zu begleichen. Es ging immerhin schon auf halb zwölf zu.
„He, Franzl, wo hinaus denn, so früh am Abend?“ schrie da der Schlaitzmiller Sepp, der schon einen Leichten sitzen hatte. „Bleib doch noch da, jetzt wird’s erst zünftig … Du bist doch nicht verheirat’!“ Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Bierglas und stellte es krachend auf den Tisch zurück.
„Ah, jetzt weiß ich’s, du willst Strahmachen heut’ nacht und dich vorher noch ein paar Stunden hinlegen! Laß dich nur nicht erwischen …“
„Ah, Strahmachen! Eine schöne Sache, eine prima Sache!“ stimmte der Krbazek bei und kicherte aufreizend, als habe er ganz bestimmte Vorstellungen.
Der Franzl war im Augenblick etwas verlegen. Er wollte sich jedoch seine Mißstimmung nicht anmerken lassen und sagte lachend: „Strahmachen, bei wem denn?“ Dabei zog er seinen Geldbeutel und gab der Vroni einen Zehnmarkschein. Dadurch abgelenkt geschah es mehr mechanisch, daß er seinen Blick rundumgehen ließ … Strahmachen, bei wem denn? … Da saß der Tremmer Wigg, der Lindner Beni, der Benzecker Gustl, der Betzenbichler Max und neben diesem, die Ellbogen auf die Tischplatte gestemmt und die Fäuste an die Schläfen gepreßt, mit einem roten Kopf von dem fünfzigprozentigen Zwetschgenwasser und ihn mit finsteren Blicken messend: der Feller Michl. An ihm blieb der Blick vom Prugger Franzl hängen, als überlege er, ob der Michl etwas mit der Biederstaller-Hochzeit zu tun habe und ob er einer wäre, bei dem man Strah machen könnte. Doch da gab es nichts zu überlegen. Der Fall war sonnenklar. Jeder, der am Tisch saß, kannte die Geschichte, die sich zwischen dem Michl und der Hierl Afra zugetragen hatte, wie die Afra den Michl hatte sitzen lassen wegen seines verunstalteten Gesichts und wie dies für den Michl eine Enttäuschung gewesen war, die heute noch wie Gift in seinem Herzen fraß.
Als die Burschen in der Runde bemerkten, daß der Franzl sekundenlang den Michl ansah, fingen sie zu grinsen an, und der Schlaitzmiller Sepp rief: „Mit Weißolin geht’s am besten, Franzl, das trocknet sofort, und man braucht Wochen, bis man alle Spuren entfernt hat!“
Weißolin war ein neues, kalkartiges, jedoch wasserfestes Anstreichmittel …
Ein Gejohle setzte ein. Alle befanden sich in angeheiterter Stimmung, niemand dachte an die Tragik dieser Geschichte, keiner fühlte die Taktlosigkeit … alle schrien sie durcheinander, nur der Franzl blieb ernst. Er nahm das Geld, das ihm die Vroni herausgab, und wollte aufstehen. In diesem Augenblick aber geschah es. Kaum war der Zwischenruf des Schlaitzmiller Sepp verklungen und setzte das Gejohle ein, faßte der Michl den vor ihm stehenden Bierkrug und warf ihn auch schon. Neben dem Michl saß der Betzenbichler. Der hatte blitzschnell vorausgeahnt, was da passieren würde. Wenn er dem Michl nicht gerade noch rechtzeitig in den Arm gefallen wäre, hätte der Bierkrug den Franzl wohl sicher am Kopf getroffen. So aber konnte sich der Prugger gerade noch rechtzeitig bücken, so daß der Krug auf die Glasvitrine der Musikbox flog und sie mit Krach in tausend Scherben zertrümmerte.
Sekundenlang war es still, alle starrten auf das Werk der Zerstörung. Der Franzl stand mit zornrotem Gesicht hinter seinem Stuhl, dessen Lehne er mit seinen Fäusten hielt, um sich wehren zu können, wenn es dem Feller einfallen sollte, einen zweiten Angriff zu unternehmen. „Zorngickl, mistiger! Hab’ ich dir was getan? Den Stuhl hau ich dir ’nauf, wenn du hergehst! Kein Mensch hat dir was woll’n … Aber g’rad’ jetzt sollt’ man bei dir Strahmachen, damit du endlich lernst, was ein Spaß ist! Bleib daheim, wenn du nicht weißt, wie man sich aufführt in der Wirtschaft!“
Da sprang der Michl auf und wollte sich auf den Franzl stürzen. Doch der Gollinger Hans und der Tremmer Wigg packten ihn mit groben Fäusten am Arm und hielten ihn zurück. „Michl, jetzt zahlst und gehst heim, verstanden?“
Der Michl sah, daß er alle gegen sich haben würde, und tat nichts mehr weiter. Er warf der Vroni zwei Fünfer hin und verließ die Wirtsstube.
Bald darauf gingen auch die andern heim.
Der Schnaderbeck stand vor der zerstörten Musikbox und brummte etwas von „g’scherte Rammeln“.
„Tu ihn doch ganz weg, den Kasten!“ sagte der Tremmer Wigg im Hinausgehen. „So etwas gehört doch nicht in eine Bauernwirtschaft!“
„Ihr braucht ja nur Obacht zu geben und euch anständig aufzuführen, dann passiert so etwas nicht!“ gab der Schnaderbeck erbost zurück.
Der Wigg tippte mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Darum geht’s doch nicht, Schnaderbeck! Du sollst den Radaukasten hinaustun, weil er eine Kulturschande ist für unser Dorf; hat schon der Bürgermeister g’sagt. Für Gesang sorg’n wir selber, wenn wir einen hör’n woll’n!“
„Deswegen schick’ ich dem Feller doch die Rechnung!“ wetterte der Postwirt.
Die Vroni kam und kehrte die Scherben zusammen.
„Jackerl, schau einmal nach, ob Fallobst am Boden liegt“, rief die Meßthalerin am frühen Morgen des andern Tages ihrem Jüngsten zu. „Wenn du mir eine Schüssel voll bringst, dann gibt’s heute mittag Apfelstrudel!“
Das Stichwort „Apfelstrudel“ veranlaßte den Jackerl, augenblicklich zu folgen, was er sonst nur zuweilen tat. Apfelstrudel aß er für sein Leben gern, und es gab selten genug Mehlspeisen bei den Meßthalers. Alle übrigen Familienmitglieder aßen lieber Fleisch, und es ist halt mal so: der Küchenzettel wird nach den Erwachsenen ausgerichtet.
Eilig nahm der Jackerl die große Schüssel und spurtete los. Wenn wirklich kein Fallobst am Boden lag, würde er schon unauffällig nachzuhelfen wissen. Schließlich konnte ihm doch niemand zumuten, auf den Apfelstrudel zu verzichten, nur weil der Wind nicht in der notwendigen Stärke geblasen hatte.
Als er um die Stallecke rannte und einen Blick auf das hohe Gras des Obstgartens warf, stutzte er einen Augenblick, denn es war ganz und gar ungewöhnlich, daß da am frühen Morgen jemand unter den Bäumen lag und schlief. Es konnte niemand vom Hause sein, denn die Männer waren schon vor einer Stunde auf das Feld hinausgefahren. Neugierig, aber doch etwas vorsichtig, kam der Jackerl näher und blieb zwei Meter vor dem am Boden Liegenden stehen.
Das war doch … natürlich, ja … der Fellersohn war es! Der Jackerl erkannte den Michl sofort, obwohl dessen Gesicht über und über mit einer weißen Brühe verspritzt war. Furchtbar sah er aus, unheimlich sogar, aber es konnte ganz bestimmt kein Zweifel sein, der hier lag, war der Feller.
„Feller!“ rief der Jackerl, respektvoll seinen Abstand wahrend, „Feller, was hast?“ Dann ließ er vor Schreck seine Schüssel fallen und tat einen lauten Schrei, denn in diesem Augenblick sah er erst das eigentlich Schlimme: das Hemd und der obere Teil der Hose vom Feller waren blutrot gefärbt … blutrot … War der Feller vielleicht tot? Hatte ihn jemand umgebracht?
Zwar spürte der Jackerl, wie es ihm vor Angst und Grausen kalt über den Rücken lief, für einige Augenblicke überwog aber doch die Neugierde. Er trat ganz nahe an den Michl heran und besah sich die rotgetränkten Stellen. Natürlich war das Blut, ganz gewiß Blut, und der Feller war tot … Erstochen oder erschlagen …
Jetzt gab es für den Jackerl kein Halten mehr. Zitternd richtete er sich auf und wollte davonrennen, um seiner Mutter die Entdeckung zu melden, da gewahrte er etwas Glänzendes im Gras. Erst meinte er, es sei vielleicht das Messer, mit dem man den Feller erstochen hatte, aber nein, es war etwas ganz Kleines, zum Teil verchromt und im übrigen bunt. Jetzt erkannte er es und griff danach. Es war ein Feuerzeug! Ein für seine Begriffe wunderbares, großartiges, einmaliges Feuerzeug! Er fand es so imponierend, daß er für einige Augenblicke den toten Feller vergaß. Wie herrlich glänzten die Metallteile, ganz zu schweigen von der Emaille-Einlage, auf der in einem Oval auf rosarotem Hintergrund ein Bild König Ludwigs II. zu sehen war! Fürwahr: ein königliches Feuerzeug! Oder wie es der Jackerl auszudrücken beliebte: einfach ein pfundiges.
… aber da lag ja der tote Feller, und natürlich war jetzt keine Zeit, die Mechanik zu untersuchen. Das konnte man später tun. Der Jackerl versenkte das Prunkstück in seine Hosentasche und rannte auf das Haus zu, um seiner Mutter das Entsetzliche zu vermelden.
„Hast du Äpfel gefunden?“ rief die Meßthalerin aus der offenen Küche, als sie hörte, wie der Jackerl die Haustür aufriß. Der aber erschien gleich darauf auf der Türschwelle, ohne Schüssel.
„Mutter, der Feller Michl liegt draußen im Gras, ich glaub’, sie haben ihn erstochen …“
„Was sagst du?“
„Erstochen haben sie ihn!“
„Wen?“
„Den Feller … Draußen liegt er unter den Obstbäumen …“
„Was redest du da, Bub? Ich versteh’ nicht …“
„Schau selber hinaus, Mutter. Am Bauch ist er voller Blut …“
„Der Feller, sagst du, erstochen? Wo?“
„Am Bauch …“
„Wo er liegt, mein’ ich!“ schrie die Meßthalerin.
„Draußen im Obstgarten, Mutter … Schau selber hinaus!“ Die Meßthalerin glaubte es nicht, rannte aber doch am Jackerl vorbei zum Haus hinaus. Um die Stallecke keuchend sah sie den Toten schon von weitem liegen und wäre vor Aufregung fast über eine schrägstehende Stützstange gefallen, die einen schwertragenden Ast hielt. Als sie dann vor der Leiche stand und das blutgetränkte Hemd des Feller sah, mußte sie ihre ganze Kraft zusammenreißen, um nicht ohnmächtig hinzufallen. Gerade noch konnte sie sich am Stamm eines jungen Apfelbaums festhalten. „Heilige Mutter Gottes!“ schrie sie, und im gleichen Augenblick ließ der Baum, es war ein Berner Rosenapfel, eine Anzahl Früchte fallen … vier, fünf, sechs rotbackige Apfel fielen ins Gras, einer kollerte zum toten Feller und blieb neben seinem kalkverspritzten Kopf liegen, als hätte er schon die ganze Nacht darauf gewartet, dorthin zu kommen.
„Heilige Mutter Gottes!“ sagte die Meßthalerin nochmals, dann wandte sie sich ab und ging an den Zaun, um den Nachbarn zu rufen.
Eine halbe Stunde später sammelte der Jackerl die Apfel zusammen, die, welche schon am Boden gelegen hatten, und die frisch gefallenen dazu. Den beim toten Michl ließ er liegen, nicht weil ihm grauste, sondern weil er das ganz einfach als eine Art Totenehrung empfand. Außerdem hätte er gar nicht hingekonnt, denn eine Menge Leute standen um den Michl herum. Die Landpolizei war auch schon da. Kriminaler seien unterwegs, hieß es …
Es gab aber trotzdem an diesem Tag keinen Apfelstrudel bei den Meßthalers, geschweige einen frischen Braten, denn bei diesem Maß an Aufregung konnte man von der Bäuerin nicht verlangen, daß sie auch noch lange kochte. Wofür stand denn eingemachtes Gulasch im Keller, das man nur in einen Topf zu tun und auf zu wärmen brauchte, Salzkartoffeln dazu, aus, fertig.
Der Jackerl kam verhältnismäßig gut über diese Enttäuschung hinweg, denn er saß in einer verschwiegenen Ecke des Holzschuppens und probierte andächtig an seinem Feuerzeug herum. Ein so schönes hatte er noch nie gesehen. Sicher gab es ein derartiges weder in Aichach noch in Altomünster zu kaufen, vielleicht nicht einmal in Augsburg, sondern nur in München. Besonders gut gefiel ihm der König Ludwig auf rosarotem Hintergrund … Allein der war – so sagte er sich – mindestens mehrere Apfelstrudel wert.
Seit Menschengedenken hatte es im Dorf keinen Mord gegeben, seit Menschengedenken auch keine solche allgemeine Aufregung. Die beiden Herren von der Kriminalpolizei waren schnell zur Stelle. Sie untersuchten die Leiche vom Michl, besichtigten eingehend einen angefangenen Kalkstrich vor dem Fellerhof, betrachteten stirnrunzelnd eine große weiße Lache und schauten vergebens nach dem Eimer aus, der da anscheinend umgeschüttet worden war.
„Schade“, meinte der eine, „daß der Kerl nicht in die Brühe hineingetreten ist, das hätte eine herrliche Bilderbuch-Spur gegeben.“ Aber damit war es nun leider nichts.
Den Hergang der Tat konnten sich die beiden Herren gut vorstellen: jemand hatte beim Feller Strah zu machen versucht. Der Michl war auf der Lauer gelegen und hatte den Betreffenden überrascht und bis in den nachbarlichen Obstgarten verfolgt. Dort war es dann zum Zweikampf gekommen, bei dem der andere den Michl niedergestochen hatte.
Wer aber war dieser andere?
Die Beamten hofften, den Täter bald herauszubekommen. Zuerst wandten sie sich natürlich an die Fellerleute.
Der alte Feller, ein weißhaariger, verschlossener Mann, den die Last der harten Bauernjahre tief gebeugt hatte, stand fassungslos vor der Leiche seines Buben.
„Wegen so was, Herr Kommissar, ich bitt’ Sie, wegen so was einen Menschen umbringen! – Schau’n S’ um Gottes willen, daß Sie den herausbringen, der das getan hat!“
Kommissar Rothberger blickte den Alten mit verständnisvollem Mitleid an. „Wir werden alles versuchen, Herr Feller, und ich hoffe, daß wir den Täter …“
„Herr Kommissar, für den gibt’s keine Straf’ … Ich wüßt’ keine, die für ihn ausreichen tät’ …“ Die Fellerbäuerin wischte sich das tränennasse Gesicht mit der Schürze ab. „Unser einziger Sohn ist’s g’wes’n und unsere einzige Freud’. So gut war er zu uns, und alle Arbeit hat er getan, wie wir nimmer können hab’n. Was soll jetzt werd’n, Herr Kommissar? Sag’n S’ uns bloß, was jetzt werd’n soll?“
Der Kommissar wußte nicht, was werden soll, wenn zwei alte, abgerackerte Bauersleut’ ihren einzigen Buben verloren haben.
„D’ Leut’ sag’n, er hätt’ sich mit keinem vertrag’n“, fuhr die Fellerin fort, „aber zu uns war er so gut, Herr Kommissar, so gut, wie nur ein Bub gut sein kann zu seinen alten Eltern. Ein Z’sammenhalt war, wie’s keinen schöneren gibt, und nie ist g’stritt’n word’n. Mein armer Michl … Was soll werd’n, Herr Kommissar?“
„Hat Ihr Sohn besondere Feinde gehabt?“ wandte sich Kommissar Rothberger an den Fellerbauern.
Der Alte schüttelte müde und stumm seinen Kopf.
„Besondere nicht“, erwiderte die Frau. „Wenigstens wissen wir keinen. Er hat überhaupt niemanden mögen, unser Bub. Nur die Afra damals, und die hat ihn sitz’n lass’n. Seitdem war’s dann ganz aus.“
„Und haben Sie denn gar nichts gehört, heute nacht, keinen Schrei, nichts?“
„Nein, Herr Kommissar, unser Schlafzimmer liegt hint’naus. Wir hab’n nicht einmal gewußt, daß sich der Michl auf die Lauer legt …“ Der Fellerbauer starrte mit versteinertem Gesicht auf seinen Buben. „Wegen so was einen umbringen“, murmelte er immer wieder. „Wegen so einer Dummheit …“ Er stand da, als würde er darauf warten, daß die Welt untergeht, die ganze schlechte Welt, die er ganz und gar nicht mehr verstand.
„Herr Kommissar, schau’n S’ bloß, daß Sie den herausbringen …“ stieß er hervor, „ich sag’s Ihnen …“ Es klang wie eine Drohung.
„Wir werden alles tun, Herr Feller.“
Mit dieser Versicherung wandten sich die beiden Herren ihrer Arbeit zu.
Ehrlicherweise muß man bestätigen: sie taten wirklich alles, um den Mörder des Feller Michl zu fassen. Zunächst schlugen die Herren ihr Hauptquartier beim Schnaderbeck auf und fanden dessen Bier gut. Hier erfuhren sie nun gleich, was sich am Vorabend in der Wirtsstube zugetragen hatte.
Der Schnaderbeck berichtete kurz und sachlich. ,Ah, Franzl, gehst heut’ nacht zum Strahmachen?‘ hätte der Schlaitzmiller Sepp zum Prugger gesagt. Der hätte dann ausgerechnet den Feller Michl recht komisch angeschaut. Und daß der Michl ein jähzorniger Kampl gewesen sei, das wüßten alle im Dorf. Und daß er die Afra hätte haben wollen, sei ebenfalls jedem bekannt. Der Franzl aber hätte sich rechtzeitig gebückt, und so sei der Bierkrug auf die Glasvitrine der Musikbox geflogen. Scherben über Scherben. Drei Schaufeln voll hätte die Vroni hinausgetragen. Wer übrigens diesen Schaden bezahle, wisse er noch nicht. Der Michl sei tot, und zu den alten Fellers wolle er jetzt auch nichts sagen, denn die hätten Kummer genug. Ob sich da nicht die Herren von der Kriminalpolizei einschalten wollten? Die Sache müsse ja schließlich irgendwie erledigt werden …
Der Jüngere der beiden Herren winkte sofort ab und sagte mit einem freundlichen Lächeln, da müsse der Herr Schnaderbeck sich schon an die Ortspolizei wenden, denn die Kriminalpolizei behandle nur Fälle vom Mord an aufwärts. Zu dem aber, was der Schnaderbeck über den Zwischenfall vom Vorabend berichtet hatte, sagten sie „So, so …“ und „Aha!“ und fuhren von der Stelle weg zum Pruggerhof. Sie trafen den Franzl vor der Garage, mit der Reparatur einer Anhänger-Kupplung beschäftigt, und verhörten ihn sogleich.
Der Eindruck, den der Prugger auf die Beamten machte, war an sich bestens. Natürlich gab der Franzl zu, er hätte den Michl gereizt, er behauptete aber sehr energisch, dies sei keineswegs seine Absicht gewesen. Er erzählte den beiden Kriminalern genauestens den Hergang des Abends und betonte, mit dem Michl nie irgendwelche persönliche Differenzen gehabt zu haben. Ausgesprochen gut sei niemand mit ihm ausgekommen. Er habe gewußt, daß der junge Feller ein übelnehmender, jähzorniger Charakter sei, und es wäre ihm daher niemals, auch nicht im Traume, eingefallen, bei diesem Strah zu machen.
Die Beamten fragten ihn, ob er eine Ahnung habe, wer der Täter sein könnte.
Der Franzl verneinte. Dabei schaute er zum Nachbarzaun hinüber. Dort stand, wenige Meter entfernt, der Krbazek. Er nahm morsche Staketen ab und nagelte neue an. Dabei tat er so, als interessiere er sich nur für seine Arbeit, doch offensichtlich horchte er angestrengt, um einige Gesprächsfetzen aufzufangen. Es schien dem Franzl, als würde der Krbazek ab und zu einen höhnischen Blick herüberwerfen.
„Haben Sie Kalk im Haus, Herr Prugger?“ fragte Kommissar Rothberger.
„Kalk? – Ja, in der Garage steht ein Kübel voll, weil ich vor vierzehn Tagen den Stall geweißt habe.“
„Den zeigen Sie uns bitte mal.“
„Bittschön, meine Herren“, sagte der Franzl ganz ruhig und führte die beiden Beamten in die Garage. In der Ecke stand der Eimer zwischen einem Sack Zement und einem kleinen Stapel Dachpfannen. Gleich darüber an der Wand hing der Waschl. Für diesen interessierten sich die Beamten sofort. Der jüngere, Kriminalassistent Wanninger, zog seine Brieftasche und entnahm derselben einige Borsten. Genauestens verglich er diese mit den Borsten des Waschls. Die mitgebrachten bestanden aus Kunststoff, während der Waschl hier Naturborsten aufwies. Gleichzeitig besah sich der andere Herr den Kalk im Eimer. Der war ziemlich eingedickt und an der Oberfläche sogar verstaubt. Nichts Verdächtiges also …
Was dann folgte, war eine richtiggehende Hausdurchsuchung. Die Beamten schnüffelten in allen Räumen des Wohnhauses und der Stallungen herum, doch nirgends fanden sie einen weiteren Kalkeimer oder einen Waschl, der den Franzl der Tat verdächtigt hätte. Zuletzt kamen sie in die Stube.
„Mutter, da sind zwei Herren von der Kriminalpolizei, die unser Haus durchsuchen.“ Der Franzl schloß hinter den Beamten die Tür.
„Wieso unser Haus durchsuchen?“ Die resolute Stimme gehörte einer etwa sechzigjährigen Frau, die zu Bett lag. Ihre Liegestatt befand sich direkt am Fenster. Die Nachmittagssonne beleuchtete ihr Gesicht. Dichtes graues Haar umrahmte die hohe Stirn, die, in der Mitte fast glatt, über den überaus lebhaften hellblauen Augen unzählige kleine Fältchen aufwies. Auch darunter zogen sie sich quer bis zur Wurzel der kleinen rundlichen Nase. Der Mund stand offen, erstaunt, entrüstet, und wenn man sie so ansah, die Pruggerbäuerin, dann konnte man ahnen, daß sie selbst noch vom Bett aus mit viel Energie, Verstand und Witz ihre Umwelt zu dirigieren verstand.
„Es ist wegen der Geschichte von heute nacht“, erläuterte der Franzl.
„Rothberger“, stellte sich der Kommissar vor und verbeugte sich formvollendet. „Und hier mein Kollege Wanninger …“
„Grüß Gott!“ Die Pruggerbäuerin maß die beiden Männer mit einem strengen, abweisenden Blick. „Hausdurchsuchung? Wieso Hausdurchsuchung? Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ Unumstößlich klang das, absolut endgültig.
„Die Herren waren schon überall, das hier ist der letzte Raum …“ Der Franzl versuchte seiner Mutter durch ein Zeichen verständlich zu machen, sie solle sich nicht aufregen.
„Wie, was? Sie haben schon alles durchsucht? Nach was denn, wenn ich fragen darf? Und woher kommen Sie? Von der Kriminalpolizei?“ Die Pruggerbäuerin stemmte ihre Fäuste in die Matratze und richtete mit einem energischen Ruck ihren Oberkörper auf. „Meine Herrn, ich kann Ihnen nur sagen: da haben Sie Glück gehabt, daß Sie nicht zuerst zu mir gekommen sind! Ich hätt’ Sie nicht ins Haus gelassen, ich nicht!“
„Wir arbeiten überhaupt sehr viel mit Glück, Frau Prugger“, sagte Kommissar Rothberger sanft. „Es gehört sozusagen zu unserem Beruf.“
„Und was suchen Sie ausgerechnet in unserem Haus?“ fragte die Pruggerin, vom freundlichen Lächeln des Kommissars etwas irritiert.
„Wir kommen nicht ausgerechnet, sondern unter anderem auch in Ihr Haus und werden in den übrigen Höfen genauso unsere Nachforschungen betreiben.“
„So! Ah was! Wo waren Sie denn schon überall?“
Kriminalassistent Wanninger sah seinen Chef mit ungeduldiger Erwartung an. Ließ er sich weiterhin gefallen, daß ihn die Alte wie einen Schulbuben ausfragte? Man war schließlich nicht gekommen, um Auskünfte zu geben … Der Kommissar enttäuschte ihn, denn er machte abermals so etwas wie eine leichte Verbeugung.
„Ihr Hof ist der erste, Frau Prugger, rein zufällig natürlich, denn irgendwo müssen wir ja schließlich anfangen, das werden Sie verstehen.“
„Nein, das versteh’ ich nicht!“ Die Pruggerbäuerin knallte ohne zwingenden Grund die halb offenstehende Schublade ihres Nachtkästchens zu. Es hörte sich an wie ein Schuß. „Sie sollen nicht irgendwo anfangen und schon gar nicht ausgerechnet bei anständigen Leuten! Lassen Sie sich das gesagt sein, meine Herren von der Kriminalpolizei! Warum gehen Sie nicht gleich dorthin, wo …“
An dieser Stelle hielt die Pruggerin inne, als falle ihr plötzlich etwas ein. „Dorthin, wo …“ wiederholte sie langsam, dann zog sie ein grell kariertes Taschentuch unter dem Kopfkissen hervor und putzte sich umständlich die Nase, als suche sie Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
„Dorthin, wo …?“ wiederholte der Kommissar fragend. Seine Stimme klang geduldig, ergeben. Er lächelte sanft, wie man es jemandem gegenüber tut, den man zwar nicht ernst nimmt, aber doch mit großem Vergnügen zuhört.
Es entstand eine Pause, obwohl die Pruggerin mit dem Schneuzen bereits fertig war.
„Dorthin, wo …“ platzte da Assistent Wanninger in die erwartungsvolle Stille hinein. „Ich weiß, was sie sagen will, hähähähä!“ Er lachte so blechern, daß er den Unmut aller geradezu heraufbeschwören mußte. „Sie will sagen, daß wir doch gleich dorthin gehen sollen, wo der Täter zu finden ist! Eine glänzende Idee! Aber wenn man stets wüßte, wo der Verbrecher sitzt, dann bräuchte man wohl keine Kriminalpolizei! Hähähähä!“
„Genau das! Sie haben’s erraten, Sie junger Kampl, Sie …!“ fuhr ihn die Pruggerbäuerin zornig an. Sie richtete sich noch steiler auf, so daß die Bettlade krachte, und warf diesem Wanninger einen vernichtenden Blick zu. „Aber dazu braucht man Augen im Kopf und ein gutes Gehör, vor allem in der Nacht, und nicht unbedingt eine Kriminalpolizei!“
Peng, das saß.
„Mutter, du beleidigst ja die Herren! Sei doch endlich still!“ mischte sich der Franzl verzweifelt ein.