Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2002
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Titelfoto: Die Bildertruhe Karin Naulin und Partner, Ainring;
Fotograf: Heinz Ehrenkäufer
Lektorat: Verlag und Pro libris Verlagsdienstleistungen, Marbach am Neckar
Satz: Pro libris Verlagsdienstleistungen, Marbach am Neckar
eISBN 978-3-475-54561-0 (epub)
Rosalie Linner
Erlebnisse einer Landhebamme
Was auf dem Land rund um die Geburt von Kindern so alles geschieht, wie sich eine beherzte Hebamme manchmal zum Wohle von Mutter und Kind in das Eheleben einmischen muss, welche Familie an weiteren Kindern besonders schwer trägt und wo trotz aller Mühsal doch Frieden und Harmonie herrschen, dies erzählt Rosalie Linner in einem neuen Band ihrer überaus beliebten Landhebammen-Geschichten. Alle Schilderungen beruhen auf den wahren Erlebnissen der Autorin, die im Laufe ihres langen Berufslebens über 4000 Kindern auf die Welt geholfen hat.
Es war ein warmer Frühsommertag, als ich von der Geburt des achten Kindes auf dem Maierhof nach Hause zurückkehren wollte. Doch dazu sollte es nicht kommen. Mein Weg führte mich über holprige Wiesen und Feldwege vorbei an dem großen Wegkreuz, unter dem schon die ersten roten Rosen erblühten, die hier angepflanzt und gepflegt wurden.
Noch einmal gingen meine Gedanken zur Maierhofbäuerin zurück. Ich hörte die alte Mutter noch deutlich und verärgert sagen, als sie an das Bett der Schwiegertochter trat: »Eigentlich hätt dein Mann, der Hans, an des Bett hergehört und net ich, aber der hat wieder einmal keine Zeit gehabt, weil er den Rehböcken nachlaufen muss. Da hört der Spaß aber auf. In diesen Stunden hätt er ins Haus gehört, so wie es Brauch ist.« Wortlos, mit einem leichten Kopfnicken, bestätigte zwar die Maierhoferin die Anklage ihrer Schwiegermutter, fügte aber gleich hinzu: »Lass ihn, Mutter, du weißt doch, dass die Jagd sein Leben ist.«
Da lag ein geschundener Körper, dem anzusehen war, dass dieses Kind die Kräfte der Mutter erheblich reduziert hatte. Außer Arbeit kannte diese Frau keine besonderen Höhepunkte oder Freuden.
Der Maierhofer, ein harter Mann, dem gute Worte unbekannt zu sein schienen und der von seiner Bäuerin keinen Widerspruch zu erwarten hatte, konnte oder wollte nicht verstehen, dass auch sie ein wenig Verständnis, ein wenig Zuwendung für ihre Seele brauchte.
Drüben auf der Anhöhe lag Holzbrunn, ein stolzes Gehöft, das von Wald umgeben war und sich in seiner Einsamkeit majestätisch präsentierte. Etwas tiefer gelegen wurde auf einer Waldwiese das Brünnl sichtbar, über das eine kleine Kapelle mit einem winzigen Zwiebelturm erbaut worden war, um dieses Wasser, dem heilsame Wirkung zugesprochen wurde, zu schützen. Vor mehr als dreihundert Jahren, so glaubte man zu wissen, entstand diese Quelle auf dem Grund der Holzbrunner, und der Hof hatte so seinen Namen bekommen. Dessen Besitzer hüteten und schützten dieses kleine Heiligtum und hielten es in Ehren.
Ich verlangsamte meine Fahrt, um dieses Bild der Ruhe und Stille in mich aufnehmen zu können. In einiger Entfernung glaubte ich eine Frau zu erkennen, die, wie es schien, auf dem großen Acker mit Rübenhacken beschäftigt war. Beim Näherkommen erkannte ich die Holzbrunnerbäuerin, die in gebückter Haltung das Feld bearbeitete ohne aufzusehen, ohne größere Eile. In stetem Rhythmus ging die Hacke auf und ab, gleichmäßig, sicher und geübt.
Ich sah, wie die Bäuerin plötzlich ruckartig stehen blieb und mit beiden Händen den Hackenstiel fest umfasste, bald das eine Bein dann das andere hob und schließlich offenbar vor Schmerz zu Boden ging. Nach wenigen Sekunden hackten diese fleißigen Hände – lediglich etwas langsamer – wieder das riesige Feld. Noch einmal beobachtete ich diesen Vorgang, der mir höchst seltsam erschien. Ein schmerzender Rücken, ausgelöst durch die ständig gebückte Haltung bei der Arbeit, hätte andere Reaktionen ausgelöst, überlegte ich. Da kam mir ein Verdacht. Ich wollte mir Gewissheit verschaffen und ging quer über das Feld auf die arbeitende Bäuerin zu. Noch hatte ich die Holzbrunnerin nicht ganz erreicht, als sie erneut innehielt und offensichtlich mit starken Schmerzen zu kämpfen hatte.
Meine Ahnung bestätigte sich. Diese Frau stand kurz vor der Geburt ihres Kindes auf einem Rübenacker, in dessen Furchen sich bereits das abgeflossene Fruchtwasser sammelte. Es war höchste Zeit, auf den Hof zu kommen, der ein gutes Stück entfernt lag. Wie ich hoffte, war das mit viel Glück noch möglich. Und der kleine Erdenbürger hatte ein Einsehen mit seiner geplagten Mutter. Auf dem Kanapee der Stube wurde er schnell und komplikationslos geboren.
»Vergelt’s Gott«, hörte ich die junge Mutter ausrufen, »dich hat der Schutzengel geschickt.« In der Stubentür stand plötzlich Lene, die alte Hauserin, die für das Wohl der Familie sorgte, seit die erste Holzbrunnerin plötzlich verstorben war und vier kleine Kinder zurückgelassen hatte. »Ich hab’s ja gleich gesagt«, meldete sich die Lene zu Wort, »Rübenhacken in diesem Zustand.« Und nach einer kurzen Weile des Nachdenkens fuhr sie fort: »Aber der Bauer, der Büffel, hat ja kein Verständnis und kein Mitleid für seine Bäuerin. Naus, naus auf den Rübenacker, hat’s allerweil geheißen. Ich hab’s ihm aber gesagt: Soll’s deinem zweiten Weib auch so ergehn, wie deinem ersten, die sich zu Tode geschunden hat? Dir soll’s noch einmal schlecht gehn, dir Leutschinder, hab ich gesagt.« Eine resolute alte Frau, die ihr Herz auf der Zunge trug und das aussprach, was es zu sagen gab. Frisch gebadet und versorgt legte ich der jungen Mutter ihr Kind in den Arm, eine Aufgabe, die mir immer eine besondere Freude machte, wenn ich die glänzenden Augen und das Lächeln der Mutter sah, für die ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte, der gleichermaßen Freude und Verantwortung mit sich brachte.
Doch hier auf dem Holzbrunnerhof schien es andere Werte zu geben. Das Gesicht dieser Mutter zeigte kein Lächeln, keine Reaktion der Freude. Mit gerunzelter Stirn schaute sie auf dieses kleine Wesen und wusste nicht, was sie damit anfangen, wie sie sich verhalten sollte. Als spürte dieses Kind die Abwehr, das Nichtangenommenwerden, die Lieblosigkeit der ganzen Umgebung, fing es zu weinen an und wurde erst wieder still, als ich es in das angewärmte Bettchen legte und ihm beruhigende Worte zuflüsterte.
»Wie soll der Bub denn heißen?«, fragte ich, um etwas zu sagen. Denn die Mutter beobachtete nur meine Handgriffe und hüllte sich sonst in Schweigen. »Ich weiß es net«, antwortete sie. »Is mir auch gleich.«
»Das hört sich aber gar nicht gut an«, meinte ich. Sie zuckte die Schultern und schwieg wieder. Nur Lene war redselig, als sie mir zu verstehen gab: »Ich hab gemeint, jetzt wird’s für mich leichter, weil die neue Bäuerin kommt, die sich wenigstens um die Kinder kümmert, aber nein, mir bleibt wieder die ganze Arbeit, weil die Bäuerin, die eigentlich ins Haus gehört, aufs Feld und in den Stall verwiesen wird. Ist des net a Kreuz?« Welche Arbeitseinteilung ist das hier auf Holzbrunn, überlegte ich. Während ich auf diese Frage eine Antwort suchte, begann die Lene erneut zu sprechen. »Die erste Bäuerin, mei, des war ein armes Luder. Die zehn Jahr, die sie mit diesem Geizhals und Notnickel verheiratet war, hat’s net ein Stück Gwand kriegt. Des Knödelbrot hat er ihr in die Tischschublade eingesperrt, und Eier und Schmalz hat er kontrolliert, als wär die Bäuerin eine Fremde.«
Wie es schien, hatte Lene das Bedürfnis, sich von der Seele zu reden, was sie all die Jahre erlebt hatte. Als Mitterdirn ist sie bei dem alten Holzbrunner auf den Hof gekommen, hat Arbeit und Sorgen mitgetragen, ehrlich und rechtschaffen, und nach dem Ableben der alten und dem Tod der jungen Bäuerin versorgte sie die Kinder und das Hauswesen nach besten Kräften. Eine gute, treue Seele, die den Sinn ihres Lebens im Fortbestand des Hofes und Wohlergehen der vier Halbwaisen sah.
Als der Holzbrunner nach dem Tod seiner Bäuerin auch der Lene ihre Rechte als Hauserin beschneiden wollte und das Knödelbrot in der Schublade verschloss, begehrte sie auf. »Bauer, hab ich gesagt, wenn du mit mir das Gleiche machen willst wie mit der Anne, deiner verstorbenen Bäuerin, Gott hab sie selig, dann täuschst du dich. Ich möcht Zugang zum Knödelbrot haben, wann und wie es mir passt. Und kontrolliern lass ich mich da herin auch net, weil ich länger auf dem Hof bin als du. Aufgesperrt wird die Schublade, und zwar gleich, und dabei bleibt’s.« Bei so massivem Widerstand konnte der Holzbrunnerbauer nicht anders, als sich dem festen Willen der Lene zu beugen. Es blieb ihm in Anbetracht der Lage keine andere Wahl.
Das Trauerjahr ging vorüber, in dem sich Lene als Hauserin bestens bewährt hatte. Aber ein Hof ohne Bäuerin, da stehen die Karten schlecht für die Wirtschaft, für die Familie und vor allem für die Kinder, die mütterlichen Schutz und Zuwendung brauchen. Aber auch ein Bauer ist ohne seine Bäuerin, wie Lene zu sagen pflegte, ein armer Hund. Er fand in Juliane Kronberger die Frau, die er als Bäuerin auf Holzbrunn holte. Wieder war es keine Liebesheirat, sondern eine zweckmäßige, notwendig gewordene Verbindung, auf Treu und Glauben ausgerichtet, die aber durchaus gut gehen konnte. Nun war also eine neue Bäuerin auf Holzbrunn eingezogen, die weder zu den Kindern ihrer Vorgängerin eine rechte Beziehung aufbauen konnte noch ihrem eigenen Kind mütterliche Liebe entgegenbrachte.
Hatte in diesen Menschen die Einsamkeit in diesem abgeschiedenen Winkel ihre ursprüngliche Art so verändert, dass sie nur Härte und Arbeit kannten? Meine Überlegungen galten vor allem den Kindern, die keine mütterliche Wärme erfahren durften. Die alte Lene war mit ihrer Arbeit als Hauserin zu sehr überfordert, als dass sie den Kindern außer der nötigsten Pflege des Äußeren auch noch innere Werte hätte vermitteln können.
Die beiden Zwillingsmädchen, die eben von der Schule kamen, betrachteten aus einiger Entfernung still und ängstlich ihr neues Geschwisterchen. Der große Matthias nahm überhaupt keine Notiz von dem Neuzugang. Er flüchtete in den Stall zu seinem Freund Flips, dem Pony, mit dem er immer Zwiesprache hielt, er glaubte, dass es ihn verstand, wenn es ihn mit seinen großen treuen Augen ansah. Der dreijährige Peppi war in der Küche untergebracht, in einem unförmigen Laufstall, der wenig Bewegungsfreiheit bot. Das etwa ein Quadratmeter kleine Gefängnis war seine Welt, die ihn weder körperlich noch geistig gedeihen ließ. Ein für sein Alter weit unterentwickeltes Kind, das nicht laufen und nur wenig sprechen konnte, sah mich mit großen Augen erstaunt an, sobald ich in die Küche kam, um notwendige Dinge zu holen. »Sonst schreit er immer, wenn Fremde kommen«, meldete sich Lene etwas überrascht. Bei näherer Betrachtung sah ich, dass der Körper dieses Kindes weder richtig gewaschen, noch sonstwie gepflegt wurde. Speisereste um den Mund und an den Händen, ebenso der Schorf am Kopf des Kindes, der als dicker gelber Belag die Haare fast völlig verdeckte, zeugten von Verwahrlosung. Ein armes Kind, das in der muffigen Küche, die wenig Sonne und Licht hereinließ, eingeengt in seinem kleinen Wohnbereich, ohne Liebe und Zuwendung heranwachsen sollte. Eine sehr traurige Erfahrung für mich.
Die junge Mutter, immer noch still und schweigsam, hing ihren eigenen Gedanken nach. Es war schwer zu sagen, was in ihrem Innern vorging. Drückende Sorgen schienen ihr auf diesem Hof das Leben schwer zu machen, zu denen sie sich nicht äußern konnte oder wollte. Eine Situation, für die es keine Hilfe gab. Auf meine Frage an die junge Bäuerin, wann sie den kleinen Peppi zuletzt gebadet hätte, antwortete sie: »Des macht die Lene immer, von mir lässt sich der Bub net anfassen und baden schon gar net.« Eine längere Pause folgte nach dieser Antwort, in der ich mir meine Gedanken machte. »Aber dein Kind wirst du doch selber versorgen. Das ist vorrangig, alles andere kommt danach. Die Pflege deines Kindes wirst du doch nicht anderen Menschen überlassen wollen.« Still hörte sie zu, keine Regung ließ ihre Gedanken erkennen. »Du sollst auch die andern Kinder, die nun zu dir gehören, in deine Fürsorge miteinschließen«, ermahnte ich die junge Mutter. »Wirst sehen, wie viel Freude dies in dein Leben bringt.«
»Freud sagst du?«, antwortete sie. »Die kenn ich schon lang nimmer, denn da herin gibt’s keine Freud net. Ich bin bloß die Magd, die hin- und hergeschoben wird. ›Schnell, schnell, bist noch net fertig‹, heißt es immer. Ich hab keine Minute für mich selbst und reden kann ich auch mit niemand. Ist das ein Leben, frag ich dich?«
Nein, das war kein gutes Dasein unter solchen Bedingungen, wenn auch der Besitzer wohlhabend sein mochte, er seine Menschen ernährte und ihnen ein Dach über dem Kopf gab. Während ich über die Worte der Holzbrunnerbäuerin nachdachte, kam der Bauer zur Tür herein. Missmutig sein Gesicht, schwer seine Schritte, als er am Kleiderhaken seine Jacke aufhängte. »Bist mit dem Rübenhacken nimmer fertig worden«, waren seine ersten Worte. Eine Frage, eine Feststellung? Das war schwer zu sagen. Mit zusammengekniffenen Lippen schwieg die junge Mutter. Eine Antwort wäre sowieso sinnlos gewesen.
Da kam Lene, die die ›Begrüßung‹ gehört hatte, über die Schwelle, und mit Zorn in ihrer Stimme stellte sie den Holzbrunner zur Rede. »Eine saubere Begrüßung ist des. Ist des alles, was du zu sagen hast? Und deine Bäuerin und dein Kind sind dir wurscht? Bloß deine Rüben sind dir wichtig, du Geiznickel. Aber über dich kommt auch noch die gerechte Strafe, und bald wird sie kommen.« Dabei bekreuzigte sich die Lene mit den Worten: »Dann steh Gott uns allen bei.« Eine lange Stille folgte diesen Worten. Es war fast unheimlich. Hatte diese Frau eine Vision, das Wissen, dass etwas geschehen würde, das man als Strafe zu verstehen hätte?
Auf dem Heimweg kreisten meine Gedanken um die gedemütigte junge Bäuerin und ihr Kind und um die selbstsichere alte Frau, die mit ihrer couragierten Aussage den stolzen, mächtigen Holzbrunnerbauern zurechtwies. Sie, die es als Einzige wagen durfte, ihm die Stirn zu bieten. Mit ihrer Zurechtweisung zeigte die Lene aber auch viel Nächstenliebe und Herzensgüte. Sie besaß eine Menschenkenntnis, die nur jenen eigen zu sein scheint, die in der Abgeschiedenheit, in der Einsamkeit leben und eins mit der Natur sind. Sie wissen offenbar vieles, wovon die Menschen, die in Hektik, Eile und Überforderung leben, keine Ahnung haben.
Drei Wochenbetttage gingen ohne Schwierigkeiten zu Ende. Doch der vierte Tag brachte etwas völlig Unerwartetes und mir eine ernste Auseinandersetzung mit dem Holzbrunnerbauern. Ich war mehr als erstaunt, als ich die Wöchnerin weder im Bett noch im Haus vorfand. Auch Lene wusste auf meine Frage keine Antwort. »Der Bauer wird sie doch net zum Rübenhacken geschickt haben?«, murmelte sie ahnungsvoll. Es war völlig unverständlich. Heute, an diesem kühlen, regnerischen Tag, stand die junge Mutter barfuß in Holzpantoffeln auf dem Rübenacker, um nachzuholen, was sie mit der Geburt ihres Kindes an Arbeit versäumt hatte. Ich sah, wie Lene rufend und mit schnellen Schritten auf den Rübenacker zuging und nach kurzem Gerangel mit der Bäuerin die Hacke an sich nahm. Schimpfend und gestikulierend führte sie, die Hacke über der Schulter, ihre Bäuerin zurück auf den Hof.
Schwer ließ die sich völlig erschöpft auf einen Stuhl fallen, während die Hauserin zu schimpfen begann auf den Holzbrunnerbauern, den Leuteschinder, der der Bäuerin nicht einmal das Wochenbett vergönnte vor lauter Geiz und Boshaftigkeit. »Ich hab’s aber gleich gesagt, der schreckt vor nix zurück und schickt sei Frau als Wöchnerin auf den Rübenacker. Eine Schand ist des.«
Die kleine Elisabeth, das Zwillingsmädchen, stand plötzlich vor der Tür, und es war das erste Mal, dass Juliane mit ›Mama‹ angesprochen wurde. Überrascht über diese ungewohnt liebevolle Anrede nahm sie das Kind an sich, streichelte ihr über Haar und Wangen, und man konnte sehen, wie beide das Glück dieses Augenblicks genossen.
Mit dem Holzbrunnerbauern hatte ich eine ernste Auseinandersetzung, die dieser herrische Mann zwar schwer verkraftet, die ihn aber immerhin zum Nachdenken gebracht hatte. Die weiteren Wochenbetttage verliefen reibungslos. Auf dem Rübenacker sah man die Holzbrunnerbäuerin vorerst nicht mehr.
Nach den zehn Tagen verabschiedete ich mich von den Menschen auf Holzbrunn, aber nicht, ohne der jungen Mutter eindringlich zu raten: »Lass dich nicht unterkriegen, schau auf dich und deine Gesundheit, denn du trägst Verantwortung nicht nur für dein Kind, sondern auch für die Kinder deiner Vorgängerin, die zur Pflege auch Liebe in ganz besonderem Maße brauchen. Vergiss das nicht.« Die Holzbrunnerin nickte nur. Ihre Gedanken gab sie nicht preis. Ich aber war mir sicher, dass die Weichen für mehr Selbstbewusstsein in ihr gestellt waren.
Sommer und Winter wechselten im Kreis der Jahreszeiten. Nach einigen Jahren wurde ich noch einmal nach Holzbrunn gerufen, um einem späten Kind zum Leben zu verhelfen. Ein schneereicher Winter war das Jahr 1960/1961. Man schrieb den 2. Februar, ein wichtiges Datum im bäuerlichen Leben.
Der Schneesturm hatte mir erheblich zugesetzt, als ich Holzbrunn erreichte. Der Rübenacker von damals lag tief verschneit. Menschenleer waren Flur und Felder. Nur das Plätschern des Brünnls glaubte man zu hören, dessen kleiner Zwiebelturm mit seiner weißen Mütze aus dem tiefen Schnee ragte.
Holzbrunn stand wie eine Festung im winterlichen Kleid, und die zugeschneiten Wiesen und Felder betonten Einsamkeit und Stille noch mehr. Weit und großflächig zeigte sich der Innenhof, als ich durch die Einfahrt fuhr. Es hatte sich nichts verändert, seit ich Holzbrunn vor Jahren kennen gelernt hatte, so glaubte ich. Doch als ich die Stube betrat, wusste ich, dass hier alles anders geworden war.
Ein schwer angeschlagener Holzbrunnerbauer saß in der Nähe des Ofens in einem tiefen Sessel. Durch einen vor Monaten erlittenen Schlaganfall war er hilflos geworden, hatte die Sprache verloren, sein Gedächtnis war eingeschränkt und eine Lähmung machte ihn vollkommen hilflos. Mit einem leichten Kopfnicken deutete er seinen Dank für meinen Gruß an, um sich dann wieder in die umnachtete Welt zu begeben, die ihn umfangen hatte. Dieser herrische, dominante Mann, dessen Befehle absolute Gültigkeit hatten, war ein Wrack geworden. In sich zusammengesunken, auf die Hilfe anderer angewiesen, war er nicht nur nutzlos, vielmehr eine Plage für die Familie geworden. Bei seinem Anblick war ich tief erschüttert.
Da kam Lene zur Tür herein. Durch die Last der Jahre war sie noch gebückter und kleiner geworden, doch zwei helle Augen verrieten den wachen Geist, den sie Zeit ihres Lebens nie verloren hatte.
Ein gesundes Mädchen meldete sich an diesem Lichtmesstag auf Holzbrunn zum Leben. Dieses Mal nahm die Mutter ihr Kind lächelnd und mit glänzenden Augen in ihre Arme. Man spürte, dass in dieser Bauersfrau Kräfte freigesetzt wurden, die durch die schwere Krankheit ihres Mannes zu wachsen begannen, sie zur tragenden Säule des Betriebes machten. Sie würde ihren gesunden Menschenverstand und ihren wachen Geist einsetzen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Durch ihre tüchtigen Hände würde sie das Erbe ihres nunmehr kranken Mannes am Leben erhalten.
Breit und behäbig stand der Vierseithof der Winklers inmitten seiner Wiesen und Felder. Ein uraltes, aber gepflegtes Gehöft, das Eindruck machte. Beim Betreten begegnete man liebenswerten, freundlichen Menschen mit offenem Blick. Das achte Kind sollte heute dort geboren werden.
Resi, die Schwester des Bauern, hatte schon die dreißig überschritten, war ein wenig überstandig, wie die Leute zu sagen pflegten, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass ihre Heiratschancen deutlich geringer geworden waren. Resi öffnete mir die Tür. Sie war die Seele des Anwesens und überall tätig: in Haus, Hof und Stall.
Heute war es wieder so weit, dass sie in ganz besonderer Weise gebraucht wurde. Das Wochenbett der Bäuerin erforderte ihre Hilfe, ihren Einsatz. Mit erhitztem Gesicht, mit Schweiß auf der Stirn, sah sie mir entgegen, stand doch die Geburt eines Kindes bevor, ein Ereignis, dem sie immer mit etwas gemischten Gefühlen und einiger Erregung entgegensah. Nicht die Mutter war es, die Angst vor diesen Stunden hatte, es war Resi, die kopflos von einer Tür zur andern lief, Gegenstände zurechtrückte und auch dem Weihwasser viel Aufmerksamkeit schenkte.
Mir ging sie so weit als möglich aus dem Weg. Meine Nähe schätzte sie nicht. Resi litt in diesen Stunden weit mehr als die werdende Mutter, deren Geburten immer reibungslos verlaufen waren. Auf meine Frage, wie sich Resi ihre weitere Zukunft vorstelle, meinte sie: »Ja mei, wennst schon die dreißig auf dem Buckel hast, da kriegst keinen Mann nimmer so leicht, und ein Kloster mag einen auch net. Die wolln lieber junge Leut.« So blieben der Resi nur die Arbeit, die Sorge um den Hof und als Ausgleich der sonntägliche Gottesdienst, an dem sie als überaus gläubige Christin mit ganz besonderer Hingabe teilnahm.
Doch dann geschah doch noch das Wunder. Resi wurde Bäuerin eines schönen Hofes, und damit hatten sich ihre Wünsche und Träume in reichem Maße erfüllt. Ihre Arbeit und Sorge galten nun der eigenen Familie. Resi war glücklich über diese Wendung des Schicksals. Sie nahm es dankbar und mit Freude an. »Wer hätt jetzt des denkt, dass der Walperseder, des schneidige Mannsbild, der einen Haufen Grund und Boden hat, die überstandige Resi heirat«, sinnierte die Karrer Vroni, als wir uns trafen. »Er hätt auch eine Junge als Bäuerin gekriegt bei dem Besitz, wo doch die Alten nimmer leben, denen man ein Leibgeding auszahlen müsste, und wo der Hof so gut beieinand ist.« Die Vroni begriff in diesem Augenblick nicht, dass das Schicksal manchmal eigene Wege geht.