SEBASTIAN GUHR

MR. LINCOLN

&

MR. THOREAU

ROMAN

INHALT

Rein

Raus

Schwarz

Grün

Blitze

Bewegliche Reiche

Rauschen

Vielleicht Paris

Umfällt

Feuersalamander

Krakel

Shadrach

Zustände

Waldschule

Auf der Suche

Lidian

Verbindungen

Sich messen

Ordnung und Gefühl

Neue Geister

Die Inneren Wälder

Holzig

APOLOGIE

Dies ist ein Roman, in dem eine vergangene Welt konstruiert wurde, um etwas über die heutige Welt auszusagen. Die Originalquellen dienten mir als Sprungbretter, und wenn ich mich entscheiden musste, habe ich die literarische Lösung der historisch-korrekten vorgezogen. Wirkung ist wichtiger als eine Wirklichkeit, wie sie angeblich war.

Über Nacht
haben sie den Wald
mit Wald ersetzt,
die Vögel,
mit Vögeln, den Fuchs
mit einem Fuchs.

REIN

Abraham Lincoln ist erst achtundzwanzig, aber er sitzt krumm wie ein alter Mann auf seinem Esel, als er in Springfield einreitet. Seinen neuen Zylinder setzt er sich kurz vor der Stadtgrenze auf. Er soll hier eine Assistentenstelle in einer Kanzlei antreten, aber er ist schlecht gelaunt, weil er nur ein Prärieanwalt ist, weil für den Zylinder fast sein ganzes Geld draufgegangen ist, und weil er seit Tagen überlegt, wie er die Verlobung mit einer Frau, die er nicht liebt, auflösen kann. Er weiß nicht, wie er in diese Sache reingerutscht ist, aber er wird der Dame in Kentucky einen Brief schreiben müssen. Zunächst aber braucht er eine Unterkunft.

Die Weißen sind noch nicht lang in dieser Gegend, Springfield wurde erst vor fünf Jahren gegründet, und hier wie in Kentucky gibt es immer noch Indianer-Überfälle. Lincolns Großvater wurde beim Anlegen eines Maisfelds von einem Shawnee-Indianer erschlagen, diese Geschichte erzählt man sich in seiner Familie immer wieder. Auf seinem Esel reitet er am heruntergekommenen Postamt vorbei, dann am Bordell, das offenbar frisch renoviert wurde. Vorbeifahrende Kutschen bespritzen ihn mit Schlamm, und er fragt sich, was eigentlich mit dem Geld geschehen ist, das er als Mitglied der Whig-Partei für die Erneuerung von Illinois’ Infrastruktur bewilligt hat. Hier scheint nichts davon angekommen zu sein.

Um sich nach einer günstigen Unterkunft zu erkundigen, steigt er vor einem Gemischtwarenladen ab und bindet den Esel fest. Gleichzeitig formuliert er in Gedanken den Brief an die Lady in Kentucky: Springfield ist kein guter Ort für Sie, Miss Owens. Man kann hier keine zwei Schritte gehen, ohne vom Schlamm besudelt zu werden. Ohnehin gebe ich zurzeit eine ganz miserable Erscheinung ab, ich habe kein Geld und keine Hoffnung, und ich frage mich, ob ich Ihrer überhaupt würdig bin.

Mit der Satteltasche über der Schulter betritt er den Laden. Es riecht nach Tabak und feuchten Fellen. Dem Mann hinter der Kasse erzählt er von Mr. Stuarts Kanzlei, dass er dort anfängt und eine Unterkunft sucht.

»Stuart? Noch nie gehört. Wie heißen Sie?«

Er zögert, seinen Namen zu nennen. Manchmal wird er von Anhängern der Demokraten angefeindet und es kam auch schon zu Handgreiflichkeiten. Er ist ein guter Ringer, aber seine Leidenschaft gilt der Sprache. »Abraham Lincoln«, sagt er leise. »Anwalt und Politiker«, fügt er hinzu, aber der Händler kümmert sich schon nicht mehr um ihn.

Er nimmt den Hut ab, aus Höflichkeit und weil es warm im Laden ist. Er sieht sich um, während die Sätze an Miss Owens ihm noch durch den Kopf schwirren, und er fragt sich, ob er tatsächlich den Mut aufbringen wird, ihr diesen Brief zu schreiben: Liebe Miss Owens, die Liebe ist ein ganz anormaler Zustand, der Merkmale einer Krankheit besitzt. Außerdem glaube ich nicht, dass Sie mich wirklich lieben. Ich bin völlig uncharmant.

Ihm fällt auf, dass fast alles in dem Laden die Größe von etwas anderem hat: Manschettenknöpfe so groß wie Taschenuhren, Bleistifte so dick wie Zigarren, Hühnereier so klein wie Wachteleier.

»Was ist mit den Eiern passiert?«

Der Händler zuckt mit den Schultern.

Ist er wirklich völlig uncharmant? Er fühlt sich meistens schwach, und wie jeder schwache Mensch mag er Regeln und Gesetze. »Haben Sie wirklich noch nie von der Anwaltskanzlei Stuart gehört?«

»Hab’ noch nie einen Anwalt gebraucht.« Der Händler blickt spöttisch, so als ahnte er, dass Lincoln noch gar kein richtiger Anwalt ist. »Sie suchen also eine Unterkunft? Für fünf Penny die Woche können sie oben in meiner Kammer schlafen. In meinem Bett, falls es Sie nicht stört. Mein Name ist Joshua Speed.«

»In Ihrem Bett?« Er ist bestürzt, möchte aber nicht vorschnell ablehnen.

»Es ist breit genug für uns beide.«

Eigentlich ist es Lincoln egal, wo er schläft. Er spürt nur eine Leere in sich und den Wunsch, sich auszuruhen. Er forscht im Gesicht des Gemischtwarenhändlers nach etwas Verdächtigem. Aber der Mann blickt freundlich und offen, und da der Laden einen sauberen Eindruck macht, nimmt Lincoln das Angebot an.

Nachdem er seine Sachen in die Kammer gebracht und sich eine Fliege umgebunden hat, besucht er die Kanzlei. Die Adresse steht oben auf dem Brief, den er als Zusage bekommen hat. Von außen sieht das Haus noch verwahrloster aus als die Umgebung. Mr. Stuart empfängt ihn freundlich, aber das Büro besteht nur aus einem einzigen, schäbigen Raum. Vor dem Fenster schirmt eine Brandmauer das Tageslicht ab, auf dem Fensterbrett liegen tote Fliegen, und der Abort befindet sich, wie Stuart ihm mitteilt, hinten im Hof. Lincoln bemüht sich trotzdem, dankbar zu sein. Es ist seine erste Stelle, seit er das Anwaltspatent erworben hat, und bis vor Kurzem wäre es ihm wie ein Märchen erschienen, überhaupt in einer Kanzlei zu arbeiten. Vor drei Jahren hat er noch Baumstämme den Mississippi runter bis nach New Orleans gebracht, dann war er kurz Landvermesser, bevor er in die Lokalpolitik einstieg. Gelesen hat er schon immer viel, und die juristische Bibliothek im Staatsparlament wurde sein zweites Zuhause.

Er hängt seinen Zylinder an einen einfachen Haken in der Wand. Sein Schreibtisch ist ein Waschtisch, den Mr. Stuart günstig erworben hat. Und der Stuhl, der daneben steht, wackelt, als Lincoln sich darauf setzt.

»Solang ich schreiben kann, stört es mich nicht.« Wie um es zu demonstrieren, schraubt er das Tintenfass auf und greift nach der Feder. Obwohl es früher Nachmittag ist, muss er eine Öllampe anzünden.

Er bittet Mr. Stuart um Papier und verfasst den geplanten Brief an Miss Owens. Mehrmals beginnt er von Neuem und schwächt vorherige Formulierungen ab. Am Ende klingt der Brief irgendwie mehrdeutig: Sie wären nicht glücklich hier, Miss Owens. Ich weiß, Sie haben hohe Ansprüche an Ihre Lebensverhältnisse, und ich könnte es nicht ertragen, Sie enttäuscht zu sehen. Auf den Straßen Springfields watet man knöcheltief im Schlamm, und die Schweine hier sind vor Hunger so aufdringlich, dass sie den Damen die Rockzipfel anknabbern! Seit meiner Ankunft habe ich noch keine Bibel zu Gesicht bekommen, und es ist fraglich, ob es hier überhaupt eine Kirche des wahrhaften Glaubens gibt. Ich aber sehe es als meine Pflicht, einer Frau, mit der ich zusammenlebe, Sauberkeit, Wohlstand und Frömmigkeit zu bieten. In meiner jetzigen Situation kann ich also nur versagen.

Als er Miss Owens das letzte Mal in Kentucky getroffen hat, war er überrascht, wie wenig er sich von ihr angezogen fühlte. Er wusste, dass sie im Ort als alte Jungfer galt und dass ihre Nase gewaltig war, aber während seiner mehrmonatigen Abwesenheit hatte er das verdrängt. Bei einem gemeinsamen Spaziergang sprach er fast gar nicht, sie dagegen sehr viel, und vor seiner Abreise schenkte sie ihm ein kleines Portrait in einer Brosche, die nun auf dem Grund seiner Satteltasche liegt. Er hat es nie gewagt, die Brosche zu öffnen.

Seien Sie nicht enttäuscht, meine liebe Miss Owens. Ich freue mich auf Ihre Antwort, bitte schreiben Sie mir einen schönen, langen Brief. In dieser tristen Wildnis kann ich jede Aufmunterung gebrauchen. Aber schlagen Sie sich bitte alle Umzugspläne aus dem Kopf. Sie hier zu haben, würde meine Krise nur verschlimmern.

Ihr Abraham Lincoln

Er lässt die Feder sinken und starrt auf die Brandmauer hinter dem Fenster. Glaubt er das, was er da geschrieben hat? Oder spielt er eine Komödie? Oft hat er das Gefühl, stolpernd durchs Leben zu gehen, unseriös und unelegant. Ein Bauer in der Stadt, das ist er.

Die verbleibenden Stunden bis zur Schließung der Kanzlei verbringt er mit der Durchsicht aktueller Fälle. Da Mr. Stuart ebenfalls ein Mitglied der Whigs ist, verstehen sie sich auf politischer Ebene. Sie schimpfen gegen den Krieg mit Mexiko und gegen die Sklaverei, die sie aus religiösen und moralischen Gründen ablehnen. Lincoln ist in seinem Element, er steht auf, zitiert die Stelle aus der Unabhängigkeitserklärung, wo steht, dass alle Menschen gleich geschaffen wurden, und modelliert jedes seiner Worte mit den Händen nach. An der gespannten Aufmerksamkeit, mit der Stuart ihm zuhört, merkt er, wie gut er in dieser Rolle als Redner ist. Er merkt es nicht zum ersten Mal. Auch deshalb ist er Politiker geworden.

Als er sich wieder hinsetzt, fällt auch sein Überschwang in sich zusammen. Er hätte für immer weitergesprochen, wenn Stuart ihm ein Glas Wasser angeboten hätte. Meistens, wenn er auf einer Rednerbühne steht, vergisst er sich selbst. Jetzt ist sein Mund trocken, seine Gedanken schweifen ab, und er ist wieder der schlaksige, melancholische Riese mit dem leicht schiefen Gesicht. Als Kind wurde er von einem Pferd am Kiefer getroffen.

Die meisten Klienten der Kanzlei sind arm, woraus Mr. Stuart keinen Hehl macht und was auch Lincoln nicht stört. Im Gegenteil. Er hat hier das Gefühl, etwas Gutes zu tun. Er stammt selbst aus einfachen Verhältnissen, ist auf einer Farm aufgewachsen, in einer Blockhütte, die nur aus einem einzigen Raum bestand. Seine Mutter ist früh gestorben, und seine Stiefmutter brachte die ersten Bücher ins Haus. Manchmal hat sein Vater ihn geschlagen, um ihn vom Lesen abzuhalten. Was er weiß, hat er sich weitgehend im Selbststudium beigebracht.

Auf dem Nachhauseweg gibt er den Brief an Miss Owens im Postamt auf. Kurz zögert er, bevor er den Umschlag loslässt und sein Schicksal besiegelt. Die Zeit für die Ehe ist noch nicht gekommen, falls er überhaupt jemals heiraten wird, er weiß es nicht. Dirnen stehen an den Straßenecken, schauen ihm hinterher, unschlüssig, was mit ihm anzufangen sei. Er geht an brennenden Tonnen vorbei, die als Straßenbeleuchtung dienen. Gaslaternen, wie sie in jeder größeren Ostküstenstadt zu finden sind, gelten hier als Luxus. Einmal war er in Boston, auf einem Parteitag der Whigs, daran erinnert er sich oft. Er kam sich wie ein Hinterwäldler vor.

Als er Mr. Speeds Haus erreicht, ist die Vordertür verschlossen, was Lincoln vernünftig findet, angesichts der fragwürdigen Nachbarschaft und den vielen Dirnen. Er steht unten auf der Straße im Schlamm und ruft seinen zukünftigen Mitbewohner. Kurz darauf wird oben ein Fenster geöffnet und Speed beugt sich mit nacktem Oberkörper hinaus. Lincoln ist verunsichert. Hat Speed ihn vergessen? Hat er schon geschlafen?

»Abe, was ist?«

»Ich habe keinen Schlüssel.«

»Warte, ich komm’ runter.«

Er merkt, wie die Dirnen über ihn tuscheln und sich endgültig abwenden. Dass seine Armut ihn zwingt, mit einem Mann in einem Bett zu schlafen, hätte Miss Owens vermutlich mehr abgeschreckt als alles andere, was er geschrieben hat. Bei der Vorstellung, Miss Owens oder jemand anderes könnte davon erfahren, wird ihm heiß.

Die Haustür wird von innen aufgeschlossen, und es kommt eine Frau heraus, die sich ihre Bluse zuknöpft. Hinter ihr erscheint Joshua Speed, grinsend und verschwitzt. Er kneift der Frau zum Abschied in den Hintern und wendet sich dann Lincoln zu.

»Warum so bedrückt, Abe? Hast du deine Kanzlei gefunden?«

»Tut mir leid, dass ich störe.«

Joshua winkt ab und geht die Treppe wieder hoch. »Wir haben nur das Bett getestet.«

Lincoln sieht dem Händler hinterher und bewundert dessen lockere Art. Vielleicht kann Joshua ihn unter seine Fittiche nehmen? Es wäre wichtig, hier einen Freund zu haben.

RAUS

Henry David Thoreaus Seele und Körper sind vor Kurzem ins Torkeln geraten. Sie stolperten und behinderten sich gegenseitig, seit sein Bruder John sich beim Rasieren in den Finger geschnitten hat und an den Folgen einer Tetanusinfektion starb.

Um sich vom Tod seines Bruders zu erholen, hatte Thoreau eine Kanufahrt den Sudbury hinauf gemacht. Er nahm eine Angel mit, um sich wie ein Indianer aus dem Wasser zu ernähren und briet den Fisch abends am Ufer, aber der Boden war trocken und das Feuer griff schnell auf das Laub der Umgebung über. Plötzlich stand Thoreau vor einer Feuerwand, die sich rasend ausbreitete, Eichhörnchen rannten davon und eine brennende Taube flatterte aus dem Qualm heraus. Er hörte Glocken läuten und hoffte, dass die Stadtbewohner hierher unterwegs waren. Er selbst würde das Ungeheuer, das er in die Welt gesetzt hatte, nicht mehr kontrollieren können.

Als der Besitzer des Waldstücks mit Helfern kam, saß Thoreau auf einer felsigen Anhöhe und beobachtete das Schauspiel. Er hatte kapituliert, er war wie paralysiert und schämte sich.

Und jetzt will Thoreau nur noch fort von den Menschen. An diesem Märztag des Jahres 1845 ist er früh aufgestanden, hat das Haus seiner Eltern verlassen und ist zur Schmiede gegangen. Er braucht Werkzeug, um sein Leben zu ändern, dringend, bevor er den Mut verliert.

Er sieht sich in der Schmiede um und zählt die Hufeisen, die an den ungeputzten Wänden hängen, fängt immer wieder von vorn mit dem Zählen an, um sich abzulenken, bis der alte Scudder aus der hinteren Werkstatt kommt und ihn fragend ansieht. »Eine Axt willst du?«

»Und einen Hammer und Nägel. Bitte. Und eine Säge.«

Der alte Scudder mag ihn nicht, er war damals mit im Wald, um das Feuer zu löschen. »Was hast du diesmal vor?«

Dreihundert Morgen sind durch Thoreaus Achtlosigkeit zerstört worden, darunter viel Jungwald, und dazu endgültig sein Ansehen bei den Bewohnern Concords. Sie schimpfen ihn Feuerteufel und spucken hinter seinem Rücken aus, aber deshalb will er sie nicht verlassen. Er kümmert sich nicht darum, was die Menschen von ihm denken. Es geht ihm um sein eigenes Leben, um seine Gesundheit, und um die Gesundheit seines Denkens. Ja, er will sich eine gesunde Umgebung für sein Nachdenken bauen.

»Nur geliehen«, sagt Thoreau und versucht zu lächeln. Geld, um sich eigenes Werkzeug zu kaufen, besitzt er nicht. Er hat alles verschenkt. Er glaubt nicht an Besitz, nicht daran, dass er mit Geld gesund leben kann.

»Aber wofür?« Scudder wischt sich seine Hände an einem Lappen ab, sein Interesse ist geweckt, auch wenn er ahnt, dass nichts Gutes dabei herauskommt.

»Um mein Leben von allem Nutzlosen abzuspalten.«

»Willst du dir eine Tonne als Zuhause zu bauen?«

»So ähnlich.« Er überlegt, wie viel er einem Stadtbewohner von seinen Plänen verraten darf. Er war zu lange viel zu offenherzig gewesen. »Einen Ort, wo ich ganz bei mir sein kann. Ich muss über mich nachdenken.« Er vergräbt seine Hände in den Taschen seines Baumwollhemds, ballt sie zu Fäusten, starrt auf den Lehmboden.

»In Gottes Namen, du meinst es wirklich ernst.« Scudder macht ein Kreuz mit der Hand, schüttelt den Kopf, holt Axt, Hammer und Nägel und wirft sie ihm vor die Füße. »Aber meine Säge bekommst du nicht.«

Thoreau packt das Werkzeug in den Rucksack und bedankt sich hastig. Halb hat er damit gerechnet, sich auf anderem Weg Werkzeug zu besorgen, nachts in einen der Höfe einbrechen zu müssen oder Schlimmeres. An Gesetze glaubt er schon lange nicht mehr. Zumindest nicht an das Gesetz der Stadt.

Als er aus der Schmiede tritt und die Kirche, das Gerichtsgebäude und das Postamt sieht, bekommt er keine Luft mehr. Sein Hals schnürt sich zu und er spürt, wie der Schweiß von seiner Stirn rinnt. Er hat genug von dieser kleinen, ordentlichen Stadt. Die meisten Menschen hier leben in stiller Verzweiflung, und sie sind ernsthaft überzeugt, es gäbe keine Wahl.

Er will ihnen zeigen, dass es eine Wahl gibt und beginnt zu rennen, an Geschäften und bürgerlichen Häusern vorbei, aus deren Fenstern sie ihm hinterhersehen wie einem Verrückten. In dieser Stadt wurde er geboren, seine Familie gehört zu den ältesten hier, und er hatte eine behütete Kindheit. Der Ärger begann, als er nach dem Studium hierher zurückkehrte und ein paar Reformen vorschlug. Eine Gemeinschaftskasse, eine Wohlfahrt für die Armen. Das haben ihm die weniger Armen verübelt.

Eine Tonne auf dem Marktplatz, wie Scudder meinte, wird es nicht werden, eher ein Kürbis draußen im Wald. Thoreau rennt immer noch, in Richtung Wald, und das schwere Gepäck auf seinem Rücken klappert mit jedem Schritt. Er spürt die Stadt hinter sich – hinter und über sich, wie schwebend. Die Meinungen, die Vorurteile, das Geschwätz, sie enden nicht an der Stadtgrenze, nein, sie verfolgen ihn. Sein Weg führt an Feldern und an einer Wassermühle vorbei, und bevor er den Pfad in den Wald hinein nimmt, dreht er sich noch einmal um. Nur noch der Kirchturm ist zu sehen und das Hämmern der Schmiede zu hören. Das helle, metallene Klirren, wenn der Hammer auf den Amboss trifft, stur und produktiv. Die Arbeit der Stadt wuchert nach innen und außen, auch davor flieht Thoreau. Die Stadt hat ihn zu einem von Krankheit befallenen Nervenbündel gemacht, das zwischen Zeit und Ewigkeit steht wie ein welkes Blatt. Ein welkes Blatt, das nur noch zitternd am Ast hängt.

Aber er muss aufpassen, sich nicht zu sehr aufzuregen. Dann kennt er keine Nuancen mehr, dann wird sein Denken zu einer Horde Büffel. Ständiges Ärgern über die Verhältnisse lässt einen das Beste in sich vergessen.

Er geht weiter, beginnt zu schlendern und blickt nach oben, wo die Baumkronen sich zu einem durchlässigen Dach verbinden. Das Wetter ist kühl für einen Frühlingstag, aber hier und da sprießen schon grüne Zweige. Dutzende Grüntöne, die er sieht und nochmal dutzende, die er noch nicht sieht, aber sehen lernen möchte. Er atmet tief ein. Der Schweiß auf seiner Stirn ist getrocknet. Allmählich bekommt er wieder Luft.

Sein Freund Ralph Waldo Emerson, der große Philosoph und berühmteste Sohn der Stadt, hat ein Waldstück gekauft und ihm erlaubt, dort eine Hütte zu bauen. In Harvard gehörten sie einem gemeinsamen Zirkel an, den Transzendentalisten. Waldo stammt aus einer reichen Familie, und Thoreaus Verhältnis zu ihm ist widersprüchlich. Einerseits hält er ihn für einen Snob, andererseits bewundert er seine Schriften. Thoreau trägt ein Buch von ihm mit dem Titel Natur im Gepäck, das er schon dreimal gelesen und mit vielen Anmerkungen versehen hat. Auch Thoreau wollte Schriftsteller werden, damals, in glorreichen Harvard-Zeiten, aber seine Buchprojekte hat er aufgegeben, nachdem seine Aufsätze von sämtlichen größeren Ostküsten-Zeitschriften abgelehnt wurden. Margaret Fuller, ebenfalls Transzendentalistin und Herausgeberin der Zeitung Dial, hat ihm fehlende Stringenz in seinen Texten vorgeworfen. Es stimmt schon, sein Denken ist wild. Aber was gibt es Schöneres, als das natürliche, urwüchsige Denken?

Durch Baumstämme hindurch erscheint der Waldensee und eine Lichtung, wo junge Tannen und Walnussbäume wachsen. Noch ist das Eis auf dem See nicht geschmolzen, aber es gibt schon einzelne offene Stellen. Thoreau weiß nicht warum, aber er muss plötzlich weinen. Ist das der Ort, den er gesucht hat? Tränen kullern ihm die Wangen hinab, und er nickt und lächelt, als ob er dem See einen guten Morgen wünscht. Das Einzige, was er hier in den kommenden Monaten machen möchte, ist wandern, nachdenken, lesen und körperlich arbeiten. Er möchte die Essenz des Lebens in sich aufsaugen, um alles in sich auszurotten, was nicht lebendig ist. Die toten, ungesunden Elemente wie Kieselsteine ausspucken.

Er lässt den Rucksack fallen und legt sich der Länge nach hin, vergräbt sein Gesicht im Nadelboden und riecht die Erde. Man muss offenbar nicht weit in die Wildnis hinausgehen, um so einen Ort zu finden. Ganze drei Meilen haben genügt.

Da es erst Mittag ist, fühlt er sich frisch und bereit für die Arbeit. Zunächst bestimmt er den Ort für die Hütte und das kleine Feld, das er anlegen möchte. Dann kommt Scudders Axt zum Einsatz. Thoreau ist handwerklich begabt, im Gegensatz zu Waldo mit seinen zwei linken Händen. Waldo hat zwar ein Buch über die Natur geschrieben, hält es aber keinen halben Tag in der Natur aus. Dieser Gedanke belustigt Thoreau, er kichert vor sich hin, während er das Unterholz lichtet.

Der erste Baum fällt nach drei Stunden. Vorher ist Thoreau auf ihn geklettert und hat nach Vogelnestern gesucht, die er auf andere, weiter entfernt stehende Bäume umsiedelte. Jetzt benutzt er die Axt als Fällkeil und lehnt sich gegen den Stamm, bis dieser knackend nachgibt und auf den Waldboden niederrauscht. Vögel flattern davon, ihr Kreischen hallt durch den Wald wie durch eine Kathedrale.

Mehr schafft er heute nicht. Er kehrt am nächsten Tag zurück, um weiter Holz zu schlagen und zu bearbeiten, und am Tag darauf, bis eine Woche vergangen ist. Da der Boden sich als steinig erweist, sammelt er die größeren Brocken auf einem Haufen, aus dem er später einen Backofen bauen möchte. Bis dahin isst er mittags sein Butterbrot, auf einem Baumstumpf sitzend. Die Sonne wärmt ihm die Stirn. Seine Finger kleben vom Harz und auch das Brot schmeckt nach Wald. Er liest die Zeitung, in die seine Mutter das Brot eingepackt hat, und er stellt fest, dass es nichts Neues in der Welt gibt. Ein paar Landgewinne im Krieg gegen Mexiko, die die Grenze der Sklavenhalterstaaten weiter nach Süden verschieben. Und der Norden schweigt wie immer dazu. Thoreau seufzt und knüllt die Zeitung zusammen. Die ewige Dummheit der Menschen. Das ist nichts, womit er sich hier draußen beschäftigen möchte.

SCHWARZ

Seit Tagen regnet es. Lincoln sitzt mit Mr. Stuart an einem schwierigen Fall, aber er ist abgelenkt und hört nicht zu. Er denkt an Miss Owens, bereut seinen Brief und fühlt sich verlassen. Wie ein armer Geist unter einem Stein fühlt er sich, ohne Hoffnung, jemals wieder geliebt zu werden.

»Mr. Lincoln, hören Sie mir überhaupt zu?«

»Entschuldigung. Die Auflösung meiner Verlobung nimmt mich etwas mit.« Auflösung, denkt er, was für ein passendes Wort. Er löst sich gerade auf wie Zucker in einem Glas Wasser.

»Aber Sie wollten diese Frau doch gar nicht heiraten.«

»Es ist dumm, ich weiß. Möglicherweise war ich doch ein wenig in sie verliebt.«

Nein, das stimmt nicht. In Wahrheit sehnt er sich einfach nach einem liebevollen Brief. Auf seinen letzten hat Miss Owens nicht geantwortet, was er ihr nicht verdenken kann. Stattdessen kam ein Telegramm ihres Vaters, darin das böse Wort »Auflösung«.

»Sie sind wirklich komisch.« Der kleine Mr. Stuart schüttelt den Kopf und beugt sich über eine Akte.

Lincoln fröstelt, seine Kleidung ist klamm. Der Regen macht die Brandmauer vor dem Fenster noch schwärzer als sonst. Vor dem Regen gibt es sogar im Büro kein Entkommen, denn Wasser dringt durch ein Loch im Dach und durch die Zimmerdecke, an der sich eine schwere, dunkle Beule gebildet hat. Lincoln hat einen Eimer darunter gestellt, aber das metallene Klacken, das entsteht, wenn ein Tropfen in den Eimer fällt, geht ihm auf die Nerven.

»Wenn wir uns gestritten hätten, wäre es etwas anderes«, jammert er. »Mein Brief war zweideutig, das gebe ich zu. Aber gar nicht darauf zu antworten? Das gibt mir das Gefühl, sie hätte schon vorher an mir gezweifelt.«

Er blickt zum Fenster. Manchmal hat er den Impuls, Anlauf zu nehmen und durch die Scheibe zu springen. Er würde gegen die Brandmauer klatschen, dann zwei Meter in die Tiefe fallen. Tot wäre er dann bestimmt noch nicht. Oder? Er zweifelt einfach zu schnell an allem.

Um sich zu beruhigen, schreibt er Briefe, den ersten an seine Stiefmutter, darin lobt er seine Unterkunft und die Kanzlei in höchsten Tönen. Obwohl sie ihn mit Robinson Crusoe und den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht bekannt gemacht hat, kann sie nur schlecht lesen und nicht schreiben. Wenn er ein wenig Geld übrighätte, würde er es nach Hause schicken. Der zweite Brief geht an Ralph Waldo Emerson, der einmal einen Vortrag in Springfield gehalten hat. Die halbe Stadt war dagewesen und hat sein Buch Natur gekauft. Auch Lincoln hat es gelesen, ohne besondere Begeisterung. Er ist in der Natur aufgewachsen, er sieht keinen Sinn darin, sie zu verklären. In dem Brief spricht er Fragen der Verfassung und das Problem der Sklaverei an, und er hofft, in einen intellektuellen Austausch mit dem Philosophen zu treten.

Da klackt es wieder metallisch, und Lincoln sieht zum Eimer hinüber. »Wie soll man sich bei diesem Lärm konzentrieren?«

Mr. Stuart scheint das nicht zu stören, aber er sagt trotzdem, dass er sich darum kümmert. »Sie können ruhig nach Hause gehen. Wir machen morgen weiter, Mr. Lincoln.«

Er steht auf, sagt etwas Versöhnliches zu Stuart und zieht seinen Mantel an. Er muss aufpassen, es sich nicht mit ihm zu verscherzen. Zum Abschied versucht er zu lächeln, was ihm nur halb gelingt. Er bräuchte ein dauerhaftes, stabiles Lächeln, das er zwischen sich und die Welt stellen kann.