Nicole Siemer
Über das Buch:
Eine Reihe brutaler Morde zieht sich durch Grubingen. Schnell stellt sich heraus, dass der Täter es auf Tierquäler abgesehen hat und sich selbst als eine Art Gerechtigkeitskämpfer sieht.
Während die Mordkommission unter Führung von Dezernatsleiter Frederick Weimar die Ermittlungen aufnimmt, feiert die Tierschutzorganisation „Animal Avengers“ den Mörder wie einen Volkshelden.
Kriminalhauptkommissar Markus Penning wird zum Leiter der „SoKo Tierrächer“ ernannt, obwohl er sich nach einer viermonatigen Auszeit aufgrund eines schweren Verlustes kaum dazu imstande fühlt. Dann wären da auch noch diese seltsamen Aussetzer, die ihn seit einer Weile quälen. Blackouts und das Erwachen an Orten, ohne zu wissen, wie er dorthin gelangt ist. Als er in seiner Wohnung einen Gegenstand findet, der mit einem der Morde in Verbindung gebracht wird, stellt sich für Markus die Frage: Versucht jemand ihm die Morde anzuhängen, oder ist er am Ende sogar selbst der Tierrächer?
Die Autorin:
Nicole Siemer wurde 1991 in Papenburg (Emsland, Niedersachsen) geboren. Seit dem Abschluss ihres Belletristik Fernstudiums an der Schule des Schreibens 2017 widmet sie sich in erster Linie unheimlichen Geschichten mit philosophischem Einschlag. Nebenbei schreibt sie Kurzgeschichten, die sie auf ihrem Blog kostenlos zur Verfügung stellt: https://dreiwoerter.de
Nicole Siemer
Psychothriller
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die
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sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2021 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Lektorat: Thorsten Breuer
https://www.lektorat-breuer.de/
Korrektorat: Peter Wolf
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur
mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
http://buchcoverdesign.de/
Illustrationen: Adobe Stock ID 193833829, Adobe Stock ID
100645580 und freepik.com
Dieses Buch enthält Inhaltswarnungen / Content Notes – siehe Inhaltsverzeichnis oder auch:
https://dreiwoerter.de/2021/07/02/trigger-hinweise-totentier/
Weh dem Menschen, wenn nur ein einziges Tier im Weltgericht sitzt.
- Christian Morgenstern
Für alle Tierfreunde
Kapitel 1
Ein gellender Schrei riss Markus Penning aus dem Schlaf. Er saß aufrecht, den Körper auf die Handflächen gestützt, und schnaufte wie nach einem Marathon. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er es gewesen war, der den Schrei ausgestoßen hatte.
Es war wieder einmal der Traum gewesen. Mit leichten Abweichungen zwar, doch im Grunde derselbe. Ein finsterer Ort – mal der Grubinger Forst, mal der Busbahnhof, mal sein Wohnzimmer – schlurfende Schritte hinter ihm, der Gestank nach verwesendem Fleisch, die Stimme seiner Frau, die seinen Namen sagte. Und obwohl sie es war, klang sie fremd. Verzerrt, zu schrill und unmenschlich. Wie jedes Mal drehte er den Kopf, zögernd, denn ein Teil von ihm wollte nicht hinsehen. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Noch im selben Moment schrie Markus. Er schrie mit der Inbrunst eines Wahnsinnigen. Dann wachte er auf. Schweißgebadet, mit rasendem Herzen und umnebeltem Verstand.
Erst jetzt, als sich der Dunst lichtete, erinnerte Markus sich daran, dass er wieder einmal geträumt hatte. Er ließ den Kopf hängen.
Etwas Warmes und Feuchtes berührte seine Finger, und kurz blitzte die Hand vor ihm auf, die sich im Traum auf seine Schulter gelegt hatte. Ein graues, aufgedunsenes Ding, bei dem ein Nagel fehlte, der Ehering funkelte im Mondlicht. Markus sog zischend Luft ein und zog die Hand zurück.
Ein protestierendes Grunzen vertrieb den Nebel endgültig.
»Oh, entschuldige, Max!«
Der Hund hob den Kopf und wedelte mit dem Schwanz. Sein Hecheln sah aus, als lächelte er.
Markus grinste zurück. »Ja, wer ist mein guter Junge? Wer ist mein guter Junge?«
Max rollte sich herum, sodass Markus ihm den Bauch kraulen konnte. Er rubbelte ihn mit beiden Händen, und Max zuckte vergnügt mit seiner Hinterpfote. Lachend schlug Markus die Bettdecke zurück und schwang die Beine über die Kante. Seine Fußsohlen berührten den kalten Boden, und er erschauderte. Gähnend rieb er sich die Lider, dann sah er Sleima, der ihn vom Bücherregal heraus anstarrte. Seine grünen Augen leuchteten vorwurfsvoll, und er schwang aggressiv den Schwanz von einer Seite zur anderen.
»Oh, verzeihen Sie, Eure Lordschaft«, sagte Markus hinter vorgehaltener Hand, weil er erneut gähnen musste. Er ließ den Blick zum Wecker schweifen. Acht Uhr morgens. Eine halbe Stunde zu spät für die reguläre Raubtierfütterung. »Du hättest mich ja wecken können, Rabauke.«
Sicher hatte Sleima es versucht. Der Kater war erbarmungslos, wenn es darum ging, seinen Dosenöffner zum Dosenöffnen zu bewegen. Vermutlich hatte der Traum Markus zu fest im Griff gehabt.
Sleima maunzte, als hätte er eine Woche lang nichts zu essen bekommen.
»Jaja«, sagte Markus. Er streckte sich, stand auf, bog den Rücken durch und schlurfte zu seinen Pantoffeln, um hineinzuschlüpfen.
Hinter seinen Schläfen verriet ihm das schmerzhafte Pochen, dass er es gestern Abend mal wieder übertrieben hatte. Er erinnerte sich nicht, wann er ins Bett gegangen war, nur, dass er mehrfach auf dem Sofa eingeschlafen war.
Nebenan fauchte Sleima, Max bellte, was als Entschuldigung interpretiert werden könnte. Markus grinste und sein Herz füllte sich mit Zuneigung. Immer, wenn er glaubte, es sei nicht länger zu Liebe fähig, sondern habe sich in einen kalten, toten Stein verwandelt, kamen diese beiden Vierbeiner daher. Markus wusste nicht, wo er ohne Max und Sleima wäre.
Wahrscheinlich im Grab neben meiner toten Frau, antwortete eine Stimme in ihm, die sich kaum wie seine eigene anhörte. Sie klang ein wenig kratziger und bissig.
Markus hielt am Fenster inne. Er stützte sich am Fensterbrett ab und beobachtete seine zittrigen Finger.
Ich brauche einen Drink, sagte dieselbe Stimme.
Es ist besser, aufzuhören, solange ich noch kann, erwiderte eine weitere.
Markus schloss die Augen. Da war es wieder, sein viel zu ausgeprägtes Gewissen. Zwei Stimmen, die ihm Ratschläge erteilten oder in Versuchung führten. Wie jedes Mal, wenn er sie hörte, stellte er sich vor, wie kleinere Ausgaben seiner selbst auf seinen Schultern saßen. Der eine von ihnen trug einen roten Anzug, besaß Hörner und einen Dreizack, der andere war ganz in weiß gekleidet und verschränkte die Hände ineinander, als würde er beten. Markus kam sich vor wie in seinem eigenen Disney-Cartoon. Anstelle von Pluto, bei dem Teufel und Engel auf den Schultern saßen, war er der arme Hund, der damit zu kämpfen hatte. Seine Miniatur-Markusse. Sie begleiteten ihn schon sein Leben lang, doch seit Jasmins Tod waren sie realer geworden. Fast so, als gäbe es diese beiden Persönlichkeiten tatsächlich. Das Gute und das Böse. Ein manifestiertes Gewissen. Gespalten. Der Tod meiner Frau hat mir den Verstand geraubt, dachte Markus und lächelte bitter.
Seine Miniatur-Markusse erwiderten nichts darauf, und er hob den Kopf. Von draußen starrte ihm tristes Grau entgegen. Selbst die bunten Baumkronen schienen davon verschluckt zu werden. Der Herbst fraß sich durch die Blätter der Bäume wie eine schwärende Wunde durch Haut. Durch die Spiegelung des Fensters sah Markus sein müdes Gesicht und entschied, dass er sich heute endlich wieder rasieren würde.
Sleimas Ruf eines verhungernden Katers hallte durch die Wohnung.
Markus schnaufte. »Ich komme ja schon.«
* * *
Nach der Raubtierfütterung und einer Runde mit Max ging Markus zum Küchenschrank. Er hielt inne, das Brodeln der Kaffeemaschine nahm er nur noch schwach wahr. Er konnte sich nicht erinnern, die Tasse nach vorne gestellt zu haben.
Vorsichtig streckte er die Hand aus und holte sie mit zittrigen Fingern aus dem Schrank. Die auf dem Becher abgebildete Hula-Tänzerin lächelte ihn verschmitzt an. Kokosnussschalen dienten als spärlicher BH, und sobald Markus den Kaffee einfüllte, würde er sich wie durch Zauberhand auflösen.
Er hatte diese Tasse geliebt. Sie war das erste Geschenk gewesen, das Jasmin ihm, kurz nachdem sie zusammengezogen waren, gemacht hatte.
»Die Leute sollen ja nicht behaupten, du dürftest keinen anderen Frauen hinterhersehen«, hatte Jasmin gesagt und ihm den Becher in die Hand gedrückt.
Markus war, als hörte er den Wind, der durch die Palmenblätter hinter der Tänzerin strich, und kurz glaubte er, sie bewegten sich sogar.
Ein Kind lachte und riss Markus aus seinen Gedanken. Aufgeregtes Geplapper und weiteres Gelächter drangen durch das auf Kipp stehende Fenster herein. Das Brodeln der Kaffeemaschine kehrte mit gewohnter Lautstärke zurück, in der Ecke gähnte Max.
Markus stellte die Maschine aus, füllte Kaffee in den Becher, setzte sich an den Küchentisch und beobachtete, wie die Hula-Tänzerin langsam ihre Hüllen fallen ließ. Er wollte zurück in seine Gedanken, bevor die Umwelt ihn so unhöflich in die Realität gezogen hatte. Wollte sich erinnern. An Jasmins Stimme, an ihren Duft. Wollte erneut die Palmenblätter im Wind tanzen sehen. Er wartete darauf, etwas zu fühlen. Erregung, Freude, Nostalgie, Trauer. Aber die Tasse rührte nichts in ihm. Sein Körper war schlapp, sein Geist müde.
Langsam drehte Markus den Kopf zu Max. Er hatte sich noch immer nicht um einen Hundesitter gekümmert. Schon bald würde er wieder zur Arbeit müssen. Die Suspendierung näherte sich ihrem Ende, flatterte erst einmal der nächste Mordfall ins Büro, würde er keine Zeit mehr haben, seine Runden mit Max zu drehen. Früher hatte sich Jassi darum gekümmert. Wie um alles. Er war selten zuhause gewesen. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wie hatte Jasmin es nur mit ihm ausgehalten?
Markus nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Nicht einmal der Kaffee schmeckte heute. Es versprach, ein toller Tag zu werden. Ein Tag wie jeder andere. Er würde sich aufs Sofa setzen, irgendeine geistlose Fernsehsendung schauen und sich das Hirn matschig saufen. Zwischendurch lief er seine Mittags- und Abendrunde mit Max, er würde den Friedhof besuchen und sich anschließend weiter betrinken. Solange, bis er in einen hoffentlich traumlosen Schlaf glitt. Dabei blieb es selten. Irgendwann holten ihn die Träume ein, aber der Alkohol hielt sie zumindest für eine Weile auf Distanz.
»Vielleicht sollte ich Paps bitten.«
Max hob den Kopf und wedelte mit dem Schwanz.
»Du magst ihn, stimmt’s, alter Junge?« Markus trank einen weiteren Schluck. »Aber er hat seinen Bauernhof, er kann nicht ständig vorbeikommen, um sich um meine Tiere zu kümmern. Und nenn mich egoistisch, aber wenn ich nach Hause komme, hätte ich euch gerne hier. Um wenigstens von euch begrüßt zu werden.« Er seufzte und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Ich sollte mich krankschreiben lassen.«
Als wenn Frederick das zuließe, sagte Teufel Markus.
Er wird es verstehen, erwiderte Engel Markus.
Und dann? Saufen bis ins Grab? Die Arbeit wird für Ablenkung sorgen.
Markus rieb sich die Schläfen und knurrte entnervt. Er hatte keine Lust, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Noch blieben ihm drei Tage Zeit, bevor die Suspendierung aufgehoben wurde. »Ich werde Paps fragen.«
Er stand auf und schüttete den Kaffee in den Abfluss. Dann ging er an den Kühlschrank und betrachtete die angebrochene Flasche Schnaps. Seine Kehle fühlte sich trocken an. In seinem Kopf diskutierten seine Miniatur-Markusse. Entnervt schlug Markus die Kühlschranktür zu und lief Richtung Wohnzimmer. Auf halbem Wege drehte er um, öffnete erneut die Kühlschranktür und nahm den Schnaps mit sich.
* * *
Gegen 23 Uhr schlenderte Markus die Nilsstraße entlang. Den Alkohol in seinem Blut spürte er kaum. Das Besäufnis gehörte mittlerweile zu seinem Alltag wie die morgendliche Dusche. Erstaunlich, wie sich ein Körper an die Begebenheiten anpasste. Es störte ihn, dass er sich nicht mehr so leicht betrinken konnte. Nicht einmal ein ordentlicher Rausch war ihm vergönnt.
Ich bin wie einer dieser klischeehaften Cops aus unzähligen Büchern und Fernsehserien. Alkoholkrank, dauerschlecht gelaunt und depressiv. Er grinste. Vielleicht bin ich ja wirklich nur eine Figur in irgendeiner dämlichen Geschichte. Dann hätte das hier zumindest einen Sinn.
Der Gedanke gefiel ihm, und die Vorstellung machte die Leere in seiner Brust für einen Moment erträglicher. Ja, er hatte ein Problem. Ein großes sogar. Anfangs hatte er geglaubt, das Trinken einstellen zu können, wenn er es nur wollte. Mittlerweile wusste er es besser. Dennoch gab es Momente, in denen er seine Sucht leugnete, und kleine Gedankenspiele wie dieses halfen ihm dabei.
Aber Markus hatte sich nie lange einer Fantasie hingegeben, also verschwand der Gedanke so schnell, wie er gekommen war. Und als er den Friedhof erreichte, kehrte die Leere in ihm mit voller Wucht zurück.
Der Friedhof erstreckte sich vor ihm wie ein klaffendes Maul, aus dem mehrere Reihen schief gewachsener und verfaulter Zähne ragten. Er war wie ein Finger, der immer wieder in einer frischen Wunde bohrte, doch er bot die einzige Möglichkeit, Jassi nahe zu sein – oder sich ihr zumindest näher zu fühlen. Außerdem war ihm hier seine Ruhe vergönnt. Der letzte Ort der Welt, an dem er in ein Gespräch verwickelt werden wollte, war der Friedhof. Hier hatten die Lebenden zu schweigen, hier unterhielten sich die Toten.
Markus stieg die Stufen empor und lief den kaum belichteten Pfad entlang, vorbei an Gräbern und Statuen. Es war schwierig, die Namen auf den Grabsteinen zu entziffern. Manchmal, wenn er in den frühen Morgenstunden über den Friedhof lief, nahm er sich die Zeit, einige der Inschriften zu betrachten. Dann stellte er sich vor, was für Menschen sich dahinter verbargen und welche Leben sie geführt hätten. Und er malte sich aus, wie die Angehörigen im Laufe des Tages Blumen auf die Gräber legten und still beteten. Der Friedhof wäre versunken in andächtiges Schweigen und doch überfüllt. Schritt Markus diesen Pfad entlang, gab es nur eines, das er duldete: Einsamkeit. Dafür nahm er es gerne in Kauf, wie ein Blinder einen Fuß vor den anderen zu setzen, denn er kannte seinen Weg genau. Er musste ihn nicht sehen.
Als Markus die Statue der Jungfrau Maria passierte, richtete er seinen Blick auf den Boden. Schon als Kind hatten ihm ihre kalten, steinernen Augen, die jeder seiner Bewegungen folgten, Angst eingejagt. Die Mutter Gottes war in einen Mantel gehüllt, dessen Kopfbedeckung ihr Haar verbarg. Sie saß auf einem Stein und hielt das Jesuskind in ihren Armen. Während das Kind zu ihr aufschaute, blickte Maria auf die Person herab, die vor ihr stand. Ihre Mimik ungerührt, fast hart, und diese Augen … oh, diese Augen. Markus fröstelte und vergrub die Hände tief in den Taschen seines Mantels. Er hatte die Statue hinter sich gelassen, und doch war ihm, als folgte der Blick der Jungfrau ihm noch immer. Er ging schneller.
Als Kind hatte er sich ständig umgesehen, sobald er an ihr vorbei gegangen war, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht rührte. Er malte sich aus, wie von der Statue schabende, kratzende Laute ausgingen, wie Staub zu Boden rieselte. Mit einem Geräusch, als würde jemand einen schweren Stein verrücken, drehte sich ihr Kopf, und langsam und schwerfällig erhob sich die Statue. Und während sie das tat, starrte sie ihn weiter an. Aus diesen steinernen, toten Augen.
Markus schüttelte den Kopf und drehte sich um. Die Jungfrau saß noch immer auf ihrem Platz. Er mochte sich zwar selten in Fantasien verlieren, doch ging sie erst einmal mit ihm durch, dann legte sie sich richtig ins Zeug.
Jasmins Grab war eines von vielen eher unscheinbaren Grabstätten. Es befand sich mitten in einem Seitengang und war leicht zu übersehen. Markus hatte nie Schwierigkeiten gehabt, es zu finden. Genauso gut hätte ein roter blinkender Pfeil darauf zeigen können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Am Tag der Beerdigung hatte er befürchtet, beim nächsten Besuch durch einen Irrgarten von Grabsteinen zu irren und nie wieder zu Jassi zu finden. »Du hast den Orientierungssinn eines blinden Babys«, hatte sie einmal zu ihm gesagt. Und es stimmte. Er wohnte bereits sein Leben lang in Grubingen, trotzdem verlief er sich noch. Jasmins Grab aber wirkte auf ihn wie ein großer schwarzer Fleck auf einem frisch gewischten Laminatboden. Er musste nicht suchen, sein Körper lief von ganz allein dorthin, so als wäre er fremdgesteuert. Und wie jedes Mal, wenn er es erreichte, schienen sich seine Eingeweide zusammenzuziehen, zu verknoten und selbst zu Stein zu werden.
»Hey, mein Schatz«, sagte Markus und betrachtete den frisch geharkten Bereich vor ihrem Grab. Vorsichtig glitt sein Blick nach vorne, bis er die steinerne Bibel sah, auf der ›Ruhe in Frieden‹ eingraviert worden war; die Vase, in der normalerweise Blumen steckten und die Grablaterne, in der eine Kerze brannte. Weiter tastete er sich nicht vor. Markus wagte es nicht, die Inschrift von Jasmins Grabstein zu lesen. Das war, als würde er ihr in die Augen sehen. Und das konnte er nicht. Nicht mehr.
»Du fehlst mir. Heute mehr als sonst. Schon bald ist meine Suspendierung vorbei, und ich werde wieder arbeiten müssen. Ich weiß nicht, ob ich dazu schon bereit bin, Jassi. Ich weiß nicht, ob ich es je wieder sein werde. Sieh, was mir mein verdammter Job gebracht hat. Was er dir gebracht hat.« Markus atmete tief ein und stieß die Luft zittrig aus. »Gott, ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt irgendetwas kann. Alles erscheint so … so sinnlos ohne dich. Es ist, als säße ich in einem dunklen Raum. Durch ein Fenster kann ich die Welt sehen, sie ist hell und wunderschön. Überall laufen Menschen herum, sie lachen und sind glücklich, aber ich sitze in diesem miefigen, dunklen Raum fest und kann nicht raus. Alles, was ich bei mir habe, ist Alkohol. Er soll mich betäuben und vergessen lassen.« Er zögerte. »Ich weiß, du bist auch da. Du lauerst in den Schatten, manchmal höre ich dich. Du willst mich holen. Ich kann es dir nicht verdenken, Jassi. Du hast allen Grund, wütend zu sein. Aber ich habe trotzdem Angst, weißt du? Ich fürchte mich vor deinem Zorn, auch wenn ich ihn verdiene. Du suchst mich jede Nacht heim, und das ist okay. Es muss so sein, irgendwann wirst du mich mit dir ziehen.« Markus suchte nach den passenden Worten. »Es ist meine Schuld, dass du keine Ruhe findest. Es ist meine Schuld, dass du … so aussiehst. Ich habe Angst … ich habe jede Nacht Angst, mehr von dir zu sehen als nur deine Hand. Der Gestank und die Farbe deiner Haut … Ich trinke zu viel, Jassi. Ich trinke mich in den Schlaf, in der Hoffnung, nicht von dir heimgesucht zu werden. Aber es funktioniert nicht. Es verzögert nur. Du bist trotzdem jede Nacht bei mir, in meinem dunklen Raum. Das ist okay, das ist okay. Auch wenn es mir eine Scheißangst einjagt, es ist okay. Du musst mir nicht verzeihen, ich würde es auch nicht. Ich werde es auch nicht. Durch das Trinken habe ich manchmal Filmrisse. Ich wache im Wohnzimmer auf, in der Küche oder im Bad und weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin. Und auch das macht mir Angst. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.« Er schluckte und rieb sich die Tränen aus den Augen. »Wird mein Leben jetzt ewig so sein? Manchmal denke ich, es wäre besser, bei dir zu sein. Aber würdest du mich überhaupt haben wollen nach dem, was ich dir angetan habe?«
Der Wind fegte durch die Baumkronen hinter ihm, es regnete Blätter, als würden die Bäume weinen.
Markus verharrte eine Weile am Grab, ohne weiterzusprechen. Er stand nur da, die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben, mit hochgestelltem Kragen und fröstelnd. Irgendwann bückte er sich, berührte mit der flachen Hand die Graberde und machte sich auf den Rückweg.
* * *
Die Kirchturmuhr läutete. Ihre Zeiger sahen aus wie knochige Finger. Der Daumen zeigte auf die Zwölf, der Zeigefinger strich über die Ziffer. Die diesige Luft kroch durch Markus’ Mantel und ließ ihn schaudern. Vereinzelte Blätter rieselten zu Boden, es roch nach Fäulnis.
Markus betrachtete das sterbende Blätterkleid des Baumes vor dem Kirchturm. Der Herbst war wie ein pulsierender Tumor. Schon bald würde er Metastasen bilden, sich ausbreiten und alles verschlingen, bis der Tod die Krankheit ablöste. Der Tod mit seinem weißen Umhang.
Ein Weihnachten ohne Jassi würde folgen. Die Gewissheit traf Markus mit der Kraft eines Faustschlags. Er wusste, dass sie fort war, trotzdem zog es ihm jedes Mal den Boden unter den Füßen weg, wenn der Gedanke daran, unangekündigt und mit nüchternem Tonfall, durch seinen Verstand stapfte.
Wann würde das enden?
Markus lauschte in sich hinein. Wartete auf einen gehässigen Kommentar seines teuflischen Ichs oder auf einen dieser lästigen Phrasen seines Engel-Ichs.
Sie blieben stumm.
»Was soll das? Kein ›Es wird alles gut.‹? Kein ›Leg dir doch gleich eine Schlinge um den Hals, es vermisst dich ja doch keiner.‹? Nichts? Ganz schön schwach. Seid ihr nicht sonst so nervtötend geschwätzig?«
Er wartete.
Stille.
»Darauf habt ihr keine Antwort, hm?«
Hinter ihm knackte ein Zweig. »Wenn de willst, leiste ich dir Gesellschaft.«
Markus wirbelte herum. Er registrierte erst jetzt, dass er selbst laut gesprochen hatte.
Auf einer Parkbank zu seiner Rechten saß eine Gestalt, unförmig und aufgedunsen. Ein Mensch, der in Decken gewickelt war. Vor ihm lagen zwei leere Bierflaschen auf dem Boden, in der Hand hielt er etwas, das wie eine Weinflasche aussah.
»Setz dich zu mir, mein Junge, dann musste keine Selbstgespräche mehr führ’n.«
Trotz des rostigen Klangs in der Stimme erkannte Markus, dass es sich um eine Frau handelte. Hitze stieg ihm in die Wangen, er räusperte sich und blieb, wo er war, statt ihrer Aufforderung nachzukommen.
Die Obdachlose saß in Schatten verborgen, die die Straßenlaternen nur spärlich erreichten, doch langsam nahmen die Konturen Form an. Das Haar fiel in fettigen Strähnen über ihre Schultern. Auf Höhe des Scheitels war es so schütter, dass Markus meinte, die Spiegelung des Mondes darauf erkennen zu können. Das Gesicht der Frau war ausgezehrt, nichts mehr als ein grinsender Totenschädel, in ihren Augen lag ein seltsamer Schimmer, der ein bisschen an das Glühen einer frisch erloschenen Kerze erinnerte. Markus blinzelte, und der Schimmer war verschwunden.
Etwas streifte sein Bein. Er fuhr zusammen und bemerkte die Katze, die an ihm vorbei gehuscht war und nun an den Bierflaschen der Obdachlosen schnupperte. Der Geruch schien ihr nicht sonderlich zu gefallen, denn sie zuckte davor zurück und setzte sich neben die Bank, wobei sie Markus aufmerksam musterte.
Ein seltsames Gespann, dachte er.
»Na, was is nu’?«, fragte die Frau.
Ein weiterer Schauer lief ihm über den Rücken, und kurz stellte er sich vor, es wären die knotigen Finger der Obdachlosen, die seine Haut entlangfuhren.
»Nein, vielen Dank.«
Die Katze starrte ihn weiterhin aus reflektierenden Augen an, fast als wüsste sie etwas, das ihm verborgen blieb.
»Entschuldigen Sie die Störung.« Ohne den Blick von der Katze zu lassen, kramte Markus nach seinem Portemonnaie und holte den ersten Schein heraus, den er zu packen bekam. Er hoffte, es war kein allzu großer.
Er reichte das Geld der Obdachlosen. »Hier, kaufen Sie sich und ihrer Katze etwas zu essen.«
Die Frau musterte ihn argwöhnisch. »Welcher Katze?«
Er erwiderte nichts darauf, drehte sich um und lief weiter.
»Dreckige Viecher«, hörte er die Obdachlose schimpfen. Markus drehte sich nicht um, er wollte nach Hause. Er würde viel Schnaps brauchen, um nicht neben der aufgedunsenen Hand von Jassi auch noch die knotigen Finger der Alten in der Nacht auf sich zu spüren. Da fiel ihm ein, dass sein Vorrat nahezu aufgebraucht war.
Na wunderbar.
Die nächste Billigtankstelle lag direkt um die Ecke, nur kurz in die nächste Seitenstraße einbiegen und die Hauptstraße überqueren. Trotzdem zögerte er.
Und wenn ich dieses Mal stark bleibe? Wenn ich ins Bett gehe, ohne mich zu betrinken? Vielleicht träume ich nicht. Als er den Gedanken beendet hatte, fand Markus sich bereits an der Hauptstraße wieder. Er war nie besonders stark gewesen, warum jetzt damit anfangen?
Das giftgrüne Kooper-Schild der Tankstelle leuchtete auf der gegenüberliegenden Seite, ein weißer Wagen fuhr die Ausfahrt runter und sauste mit erhöhter Geschwindigkeit und knatterndem Auspuff davon. Markus schaute flüchtig nach links und rechts und rannte über die Straße. Seine Finger zitterten, seine Kehle war ausgetrocknet, und seine Zunge klebte am Gaumen.
Ich bin ein Alkoholiker. Eine trockene Feststellung, nichts weiter. Sie überraschte Markus wenig. Bisher hatte er es bloß nie direkt ausgesprochen.
Ich hoffe, der Schnaps bringt mich um und damit zu Jasmin. Da war er wieder, der teuflische Miniatur-Markus. Aber er wird mich nur zu einem sabbernden, zittrigen Idioten machen, der meine letzten Gehirnzellen wegfrisst. Und wenn der Alkohol meine Leber erst einmal in pures Narbengewebe verwandelt hat, werde ich vor Schmerzen schreien und mir wünschen, ich hätte nie einen Tropfen angerührt.
Markus schluckte und öffnete die Tür zur Kooper-Tanke. Er wusste, dass er diese Gedanken formte und kein kleiner Teufel auf seiner Schulter hockte, doch manchmal erschien ihm diese Stimme ein bisschen zu real.
Ich weiß, dass ich aufhören kann. Ich brauche bloß einen Grund. Der Engel beruhigte ihn ein wenig, auch wenn er log. Markus konnte nicht einfach aufhören, er würde Hilfe brauchen. Aber dazu müsste er erst einmal aufhören wollen. Und davon war er weit entfernt.
Nein, das kann ich nicht.
Markus nahm zwei Flaschen Schnaps aus dem Regal, ging zur Theke und versuchte vergeblich, den teuflischen Markus zu ignorieren.
Ich werde saufen und saufen, bis mich meine vernarbte Leber umbringt. Und dann? Nichts. Jassi wird nicht auf mich warten, denn es gibt nichts, wo sie warten kann. Sie ist tot. Ich bringe mich um, für nichts. Warum also nicht gleich auf eine schnellere und angenehmere Art, durch einen Strick oder …
»Das macht 19,98 €«, sagte die Tankstellenmitarbeiterin und kaute gelangweilt auf einem Kaugummi herum.
Markus schnappte nach Luft. Er bezahlte, nahm die beiden Flaschen und ging.
Wieder in der Seitenstraße, hielt er einen Augenblick inne. Seine Gedanken machten ihm langsam Angst. Kurz überlegte er, eine der beiden Flaschen aufzuschrauben und sich einen großen Schluck zu genehmigen, entschied sich jedoch dagegen. Er war auch so schon wackelig genug auf den Beinen, Alkohol war da keine Hilfe.
Mit den Flaschen unter dem Mantel eilte er nach Hause. Er machte einen Umweg, um der Obdachlosen kein weiteres Mal zu begegnen. In seinem Wohnzimmer angekommen, trank er, bis Morpheus’Arme ihn umfingen. Nur einmal erwachte er, schweißgebadet und zitternd, ehe er vom Sofa ins Bett torkelte und erneut in tiefen Schlaf glitt, dieses Mal traumlos.
Am nächsten Abend kaufte Markus neuen Schnaps. Normalerweise besuchte er nicht zwei Tage hintereinander denselben Laden, um seinen Durst nach Alkohol zu stillen. Es musste ja nicht jeder wissen, dass er ein Säufer war – wem mache ich etwas vor? Er hatte nicht einmal vorgehabt, sich Nachschub zu holen. Doch als er mit Max an der Tankstelle vorbeigelaufen war, hatte die Sucht so fest an ihm gezerrt, dass er sich nicht hatte losreißen können.
Jetzt löste Markus den Knoten von Max’ Leine, die er am Fahrradständer festgebunden hatte, und ging zwanghaft unbekümmert weiter. Dieses Mal machte er keinen Umweg, dafür überkam ihn eine erdrückende Müdigkeit. Er unternahm einen kläglichen Versuch, mit Max im Schlepptau über die Hauptstraße zu hasten, und erreichte die Seitengasse. Ihm war, als hätte Gott selbst die Schwerkraft des Planeten erhöht. Es war ihm kaum möglich, aufrecht zu gehen.
Markus sah sich um, entdeckte eine Parkbank auf mittlerer Höhe der Straße und steuerte darauf zu. Sie lag halb hinter einem Baumstamm verborgen, der Rest wurde spärlich durch eine Straßenlaterne beleuchtet. Eine kurze Pause, ehe er sich auf den Rückweg machte, wäre jetzt genau das Richtige.
Er wurde langsamer. Mist! Auf der Bank saß schon jemand. Markus hatte einen flüchtigen Blick auf überschlagene Beine erhaschen können. Er war im Begriff, einfach daran vorbeizugehen – als Max bellte.
Irgendetwas stimmte nicht.
Markus sah genauer hin.
Auf der Bank saß eine kopflose Leiche.
Kapitel 2
»Gooott!«, stöhnte Markus. Er stieg über Max hinweg, schaltete die Kaffeemaschine ein und setzte sich an den Küchentisch. »Erinnere mich daran, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren.«
Max kratzte sich mit der Hinterpfote das Ohr.
»Ja, ich glaub auch nicht dran.« Schwerfällig stand Markus auf, um zum Briefkasten zu gehen. Mit der Zeitung in der Hand kehrte er zum Küchentisch zurück. Er blätterte sie lustlos durch. Danach schob er die Grubinger Morgenpost zur Seite und nahm sein Handy in die Hand, das neben dem Kaffeebecher lag. In die Google-Suchleiste tippte er ›Leichenfund Grubingen‹ und wählte ›News‹ aus den Kategorien aus. Er wurde sofort fündig:
Leichenfund auf einer Parkbank
In der Nacht ist der enthauptete Körper einer Frau auf einer Parkbank gefunden worden. Ein Beamter der Kriminalpolizei Grubingens, der sich derzeit in Beurlaubung befindet, …
Markus hörte auf zu lesen, schloss den Tab, legte das Handy mit dem Bildschirm nach unten zurück auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Musste ihn denn wirklich alles an seine dämliche Suspendierung erinnern?
Als Ricky sie ihm aufgebrummt hatte, war er noch dagegen gewesen, hatte gemeckert und mit der Hand auf den Schreibtisch geschlagen. Die Wut hatte ihn damals vollkommen im Griff gehabt. Die zweite Phase der Trauer. Nun steckte er in der dritten Phase fest – die innere Auseinandersetzung mit dem Verlust und der quälenden Frage, wie es weitergehen sollte. So sehr er auch gegen die Suspendierung gewesen war, jetzt war er froh darüber. Könnte sie doch bloß weiter andauern. Ihm blieb nur noch der heutige Tag. Danach galt es, sich wieder der Welt zu stellen. Leichen, Mörder, sich in die Köpfe von Irren hineinversetzen … Markus seufzte.
Nachdem er die Frauenleiche gefunden hatte, hatte er direkt Ricky verständigt. Er und die Spurensicherung hatten nicht lange auf sich warten lassen.
»Markus!« Frederick hob grüßend die Hand.
»Hey!«
»Läuft eine Party?«
Markus stutzte. Ricky deutete auf die zwei Flaschen in seiner Hand. »Oh, äh, so etwas in der Art.«
»Die Stimmung ist wohl flöten gegangen, hm?«
»Ja. Hier hat sich jemand einen kranken Scherz erlaubt.«
Frederick sog pfeifend Luft zwischen den Zähnen ein. »Ach, du Sch…«, dann lauter. »Jungs und Mädels? Tatort absichern. Wir werden einen Rechtsmediziner brauchen.«
»Ist schon unterwegs«, rief einer von der Spurensicherung.
Markus biss sich auf die Lippen. Das Gewusel hatte er nicht vermisst. Die Spurensicherung hing gelbes Absperrband um den Tatort und stellte kleine nummerierte Schilder auf. Zu viele Menschen auf zu kleinem Raum. Polizeiwagen mit grellem Blaulicht versperrten den Weg. Es war, als kämen sie näher, als wollten sie Markus die Luft zum Atmen rauben. Was war nur aus ihm geworden?
»Alles okay, Markus?«, fragte Frederick und legte eine Hand auf seine Schulter. »Du siehst blass aus.«
»Ja, es ist nur …« Er suchte nach den passenden Worten.
Ricky schien ihn zu verstehen. Er nickte andächtig. »Kein Blut«, sagte er nach einer Weile.
»Hm?«
»Es gibt kein Blut. Der Mörder muss die Frau woanders getötet haben, um sie dann hier zur Schau zu stellen.«
Markus drehte sich um und betrachtete den Leichnam genauer. Ricky hatte recht, Blut gab es kaum, nur auf der Brust des Körpers prangte ein rostbrauner Fleck. Ein Mann der Spurensicherung scheuchte die beiden zur Seite, ehe sie näher darauf eingehen konnten.
»So«, begann Ricky, »wenn wir schon mal hier sind …«,druckste er herum. Markus verkrampfte sich innerlich, er wusste, welche Frage nun folgen würde. »Wie geht’s dir, alter Freund?«
Wie soll’s mir schon gehen, du stumpfsinniger Flachwichser? Meine Frau wurde ermordet! Markus fuhr sich mit der Hand über die Stirn, in der Hoffnung, den teuflischen Miniatur-Markus zum Schweigen zu bringen. »Oh, du weißt schon, man lebt weiter und macht das Beste draus. Oder so.«
Wieder nickte Frederick. »Hör zu, ich habe mir überlegt, ob du nicht vielleicht schon jetzt mit der Arbeit …«
»Nein!« Markus schrak vor seiner eigenen Stimme zurück. Ein paar Spurensicherer drehten sich zu ihm um und setzten dann ihre Arbeit fort.
Markus räusperte sich. »Entschuldige, Ricky, aber diese letzten beiden Tage brauche ich noch. Okay?«
»Ja, verstehe. Es ist nur, wir sind unterbesetzt und … aber ich verstehe das absolut! Nimm dir die Zeit, die du brauchst.«
Dann komme ich nie wieder. »Danke.«
»Herr Dezernatsleiter Weimar?«
Frederick drehte sich um. Für Markus sahen die Männer und Frauen von der Spurensicherung alle gleich aus in ihren weißen Ganzkörperanzügen, mit den festgezogenen Kapuzen und dem Mund-Nasen-Schutz. Er hatte immer vorgehabt, sich ihre Namen einzuprägen – was schwierig war, wenn er stets nicht mehr als ihre Augen zu Gesicht bekam –, war aber nie dazu gekommen. Heute interessierten ihn ihre Namen herzlich wenig.
»Wir haben etwas gefunden.« Der Mann von der Spurensicherung winkte Frederick zu sich, Markus zögerte, dann folgte er den beiden. Vor der nächsten Einfahrt blieben sie stehen.
Markus holte tief Luft und ließ sie langsam entweichen.
»Ich denke, das ist die Zunge des Opfers«, sagte der Spurensicherer. »In anderen Einfahrten wurden Augen und Ohren gefunden. Wir werden das natürlich im Labor prüfen lassen.«
Frederick verschränkte die Arme vor der Brust. »Und der Kopf?«
Der Mann zuckte die Achseln. »Wir suchen noch.«
Frederick drehte sich um. »Der Rechtsmediziner ist da. Markus, wir brauchen deine Aussage, kommst du mit aufs Revier?«
Innerlich hatte sich alles in ihm gesträubt, doch er war mitgefahren. Hatte erzählt, wie er von der Tankstelle gekommen war und die Leiche gefunden hatte. Und zuhause hatte er in einem Zug die halbe Flasche Schnaps geleert und war auf der Couch eingeschlafen. Jasmin hatte ihn auch in dieser Nacht heimgesucht.
Sleima maunzte und riss Markus aus seinen Gedanken. Der Kater blickte mit geweiteten Pupillen auf und schnurrte.
»Na, Rabauke?«
Wieder ein Maunzen.
Markus beugte sich lächelnd zu ihm runter und streichelte ihm den Kopf. Das Tier schloss genüsslich die Augen und rieb seine Wange an Markus’ Hand.
Normalerweise ging Sleima lieber seiner Wege, statt sich von Markus Streicheleinheiten zu holen. Jassi und Sleima waren dagegen ein Herz und eine Seele gewesen. Hatte sie sich auf das Sofa gesetzt, war der Kater kurze Zeit später auf ihren Schoß gesprungen. Er war ihr auf die Toilette gefolgt und hatte jedes Mal freudig miaut, sobald sie das Haus betreten hatte.
Manchmal, wenn er ihn betrachtete, war Markus, als sähe er Vorwürfe in den grünen Augen des Tieres. »Du hast sie sterben lassen«, sagten sie. Doch sobald Markus sich elend fühlte, schien der Kater es zu spüren. Dann kam er an, so wie jetzt, schnurrte und schmiegte sich an ihn.
»Ihr Katzen seid schon ein ulkiges Völkchen«, sagte er und kraulte den Kater hinter den Ohren. »Danke.«
Sleima hatte genug Liebe verteilt. Er tapste davon, um es sich auf dem Sofa bequem zu machen, rollte sich zusammen und vergrub das Gesicht in seinem Fell.
Markus lächelte. Wie jedes Mal, wenn er seine beiden Fellnasen betrachtete, füllte sich sein Herz mit Wärme. Wer brauchte schon Menschen um sich, wenn er Max und Sleima hatte?
Gerade, als er sich wieder zu seinem Kaffee umdrehen wollte, bemerkte Markus etwas auf dem Wohnzimmertisch. Er stand auf, verließ die Küche und betrat das Wohnzimmer. Mit zusammen gezogenen Augenbrauen nahm er den Gegenstand in die Hand. Er sah aus wie eine kleine Dynamitstange. ›Donnerteufel‹ stand in fettgedruckten schwarzen Buchstaben darauf.
Ein Feuerwerkskörper. Er konnte sich nicht erinnern, ihn dorthin gelegt zu haben, nicht einmal, dass er einen besaß. »Sonderbar …«
Markus ging zum Wohnzimmerschrank und verstaute den Böller in der obersten der drei Schubladen. Einen Augenblick zögerte er, dann zuckte er die Achseln.
* * *
Am letzten Abend seiner Suspendierung stand Markus erneut vor Jasmins Grab. Er hatte sich entschieden, dieses Mal deutlich eher zum Friedhof zu gehen, damit er sich frühzeitig ins Bett begeben konnte (mich besaufen), um an seinem ersten Arbeitstag ausgeschlafen (halbwegs nüchtern) zu erscheinen. Frederick hatte ihm kaum Ruhe gelassen.
»Eine weitere Leiche ist gefunden worden, Markus«, hatte er ihm am Telefon erzählt. »Ich bin mir sicher, wir haben es hier mit …«.
Doch Markus hatte ihn nicht weiterreden lassen. »Ein Tag, Ricky. Bitte. Lass mir diesen letzten Tag.«
Nach langem Schweigen hatte Frederick eingewilligt.
In der Ferne läutete die Turmuhr neun Mal. Nur ein weiterer Besucher schien sich mit ihm auf dem Friedhof zu befinden, ein alter Mann, der sich auf seinen Gehstock gestützt hatte, als Markus an ihm vorbeigegangen war. Er hatte den Mann nicht gegrüßt, vermutlich hatte der ihn nicht einmal bemerkt. Umso besser.
»Entschuldigen Sie«, erklang eine Frauenstimme hinter ihm. »Haben Sie vielleicht eine Harke?«
Markus blickte an Jasmins Grabstein vorbei. Er sah keine Harke. »Leider nicht, tut mir leid«. Er ließ den Blick schweifen und entdeckte eine, die an dem nebenstehenden Stein lehnte. »Aha! Aber da steht eine. Warten Sie, ich bringe sie Ihnen.«
Markus balancierte über die Grabeinfassung, griff sich die Forke und reichte sie der Frau.
Sie hatte schulterlanges blondes Haar, war in schwarzer Jeans und Bluse gekleidet, und ihre Augen waren von dunklen Ringen umrandet. Die Frau lächelte, und ihr Gesicht hellte sich schlagartig auf.
Markus erhaschte einen Blick unter die Maske der Trauer und empfand sofort eine Art Sympathie, die ihn irritierte.
»Vielen Dank«, sagte sie.
»Gerne.« Er bemerkte, dass er sie ein wenig zu lange ansah und kratzte sich die Nase. »Ich bin Markus Penning. Markus.«
»Nathalie Helfer. Nennen Sie mich Nat.« Sie prostete ihm mit der Harke zu wie mit einem Getränk. »Danke noch mal. Ich bringe Sie Ihnen gleich wieder.«
»Oh, es ist ja nicht mal meine.«
»Na, dann erst recht.« Ihr Grinsen wurde breiter und sie wandte sich ab.
Markus verharrte einen Augenblick, dann drehte er sich wieder zu Jasmins Grab um. Meine Frau ist kein halbes Jahr tot, und ich starre schon anderen Frauen hinterher, meldete sich der teuflische Miniatur-Markus zu Wort.
»Hat geklappt.«
Markus zuckte zusammen. Nathalie war wieder da.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Nein, nein! Haben Sie nicht, ich habe nur …« Er fuchtelte mit den Händen herum und kam sich dabei bescheuert vor.
Nathalie nickte. »Ich verstehe schon. Ich rede auch oft mit den Toten.«
Markus hielt inne, vor seinem inneren Auge blitzte Jasmins verweste Hand auf, die sich auf seine Schulter legte, er hörte ihre Stimme, verzerrt und eine Spur zu schrill. »Markus«. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab.