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Überarbeitete und erweiterte Ausgabe des Titels von Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter, erschienen 2009
bei C. Bertelsmann Verlag, München
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Covergestaltung: Cornelia Niere
Covermotiv: Edward Hopper, Compartment C, Car 293, 1938. © Heirs of Josephine N. Hopper/ at , / Bild-Kunst, Bonn 2021. Bridgeman Images.
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Es war der 20. Januar 2021. Der Tag, an dem Millionen weltweit vor dem Fernseher saßen und mit angehaltenem Atem verfolgten, wie eine zweiundzwanzigjährige schmale Afroamerikanerin auf dem Kapitol in Washington auf ein Podest stieg, sich ans Mikrofon stellte und mit der Rezitation eines Gedichts begann. Nicht scheu, nicht zurückhaltend, nicht fragend, ob ihr dieser Auftritt auch wirklich zusteht. Sondern mit dem sichtbaren Stolz und der genießenden Souveränität, in diesem Moment an diesem Ort zu stehen.
Formal war es der Tag der Amtseinführung des neu gewählten -Präsidenten Joe Biden. Aber fast schien es, als verschwände für die Dauer eines Gedichts der Triumph Joe Bidens über seinen unseligen Vorgänger hinter einem anderen: dem der weiblichen Stimme der Literatur in der Person Amanda Gormans, die im Rahmen der Zeremonie ihr Poem »The Hill We Climb« vortrug.
Hätte es diesen Moment vor 100 Jahren geben können? Niemals. Vor 50? Unwahrscheinlich. Immerhin, einen ähnlichen Moment gab es bereits 1993, als Maya Angelou bei der Amtseinführung Bill Clintons als Lyrikerin eingeladen war und ihr Gedicht »On The Pulse Of Morning« rezitierte.
Was dieser Tag Amanda Gormans für die Repräsentanz der weiblichen Stimme zukünftig bedeutet, das wissen wir nicht. Wir wissen allerdings, dass seine Vorgeschichte, die zweieinhalb Jahrtausende alte Geschichte des Schreibens von Frauen, alles andere als triumphal gewesen ist. Von dieser Vorgeschichte erzählt dieses Buch. Es porträtiert 100 Autorinnen, von denen die meisten eine Ausnahme sind.
Sie waren gebildeter, als für Frauen eigentlich vorgesehen; sie waren selbstbewusster, hartnäckiger – und erfindungsreicher in der Verstellung. Manche benutzten männliche Pseudonyme, andere publizierten anonym, einige gingen in Männerkleidung, um mehr von der Welt zu erfahren, als ihrem Geschlecht erlaubt war. Viele von ihnen wurden erzogen, um eine dienende Funktion auszuüben – als Ehefrau und Mutter, als Hofdame, als töchterliche Pflegekraft oder als Gouvernante. Sie hatten kaum Vorbilder für ihre Begabung, erfuhren mehr Widerstand als Ermutigung, und am Ende von allem stand oft nicht der Ruhm, sondern die Ächtung. Als »Stinkbombe der Menschheit« galt die erfolgreichste Autorin ihrer Zeit, bekannt als George Eliot, ihrer Familie, und noch Joanne K. Rowling empfahl ihr Verlag, ihren Vornamen abzukürzen, damit das Publikum sich einen männlichen Autor vorstellen konnte.
Virginia Woolfs berühmtes Gedankenspiel, was aus einer Schwester Shakespeares geworden wäre – vorausgesetzt, sie wäre genauso begabt gewesen wie ihr Bruder – ist beinahe 100 Jahre alt. Inzwischen können wir es beantworten. Bis zum 20. Jahrhundert hatten Frauen kaum eine Chance, ein Leben als Autorin zu führen. Kamen sie aus sehr privilegierten Verhältnissen – wie Madame de Sévigné, wie Annette von Droste-Hülshoff oder Emily Dickinson –, konnten sie immerhin Bildung erwerben und schreiben, mit einem Zimmer für sich allein und Zeit zu ihrer Verfügung. Doch ein Leben wie Tolstoi, wie Brecht oder Thomas Mann – selbstbewusst, großmeisterlich und von einem Kranz dienstbarer Geister umgeben – war für Autorinnen bis vor wenigen Jahrzehnten schlicht ausgeschlossen und ist es in weiten Teilen der Welt immer noch.
Doch: wie viel hat sich geändert! Nahezu 70 Namen in diesem Buch kommen aus dem 20. Jahrhundert. Aus der Epoche, in der Frauen fast überall wählen dürfen, Zugang zu Bildung haben, in denen Lebensläufe unabhängig vom Familienschicksal möglich sind. In der ihre Handicaps sich, nicht ohne Kampf, langsam lösen. Und in der sie ihrerseits Vorbilder sind, nicht selten ambivalent. Denn viele dieser Autorinnen, die heute berühmt und erfolgreich sind – wie Siri Hustvedt und Hilary Mantel, wie Olga Tokarczuk und Leïla Slimani – erzählen davon, wie lust-, aber auch leidvoll es ist, eine Autorin zu sein, mit einem weiblichen Körper und einer nichtmännlichen Erfahrung. Die, wo immer sie leben, vergleichbar und doch besonders ist.
Um diese Weite des Blicks geht es in diesem Buch.
100 sind nicht alle. Der Form eines Kanons zuliebe mussten wir eine Auswahl treffen und auf etliche Autorinnen verzichten. Wir haben das unabdingbare Kriterium der literarischen Qualität mit dem historisch und biografisch Exemplarischen verknüpft. Jede und jeder, der das Buch in der Hand hat, wird Namen vermissen und sie hinzufügen. Es wäre in unserem Sinn und im Sinn des 20. Januar 2021 – einem Tag der weiblichen Stimme der Literatur.
Leïla Slimani war 2014 auf einmal da mit einer klaren, harten, fast atemlosen und zugleich berührenden Sprache, mit der sie sofort einen völlig eigenen Ton gefunden hatte. Und sie fiel auf mit einem Sujet, das den Erwartungen zuwiderlief. Die junge französisch-marokkanische Schriftstellerin schrieb in ihrem ersten Roman über eine sexsüchtige Frau. Eine, die gar nicht anders kann, als sich immerzu auszuliefern und zu verausgaben, sich zu verletzen und sich verletzen zu lassen, ruhelos, getrieben, die überall mit Männern schläft und immer härter, während sie zugleich ein bürgerliches Leben führt, in Paris als Journalistin arbeitet, mit einem Arzt verheiratet ist, der von ihrer Nymphomanie nichts weiß und mit ihr einen kleinen Jungen hat.
»Warum haben Sie Ihr erstes Buch über eine Nymphomanin geschrieben?«, wurde Slimani gefragt, als sie zwei Jahre später den renommierten Prix Goncourt für ihren Roman schon gewonnen hatte. Und Leïla Slimani fragte zurück: »Warum nicht?« Von Anfang an habe sie keine Lust gehabt auf »diese Idee der Frau als positive Figur«, sondern habe über eine Frau schreiben wollen, die feige sei und schwach, die lügt und zerstört. »Nur wusste ich lange nicht, was der Motor meiner Antiheldin sein könnte.« Dann habe sie eine Dokumentation über Dominique Strauss-Kahn, den ehemaligen Direktor des Internationalen Währungsfonds, und dessen Sexsucht gesehen. »Und da wusste ich, dass ich über eine Frau schreiben will, die unter diesem Zwang leidet.« Sie habe viel recherchiert, viele Berichte gelesen, mit Betroffenen in Foren gesprochen. Die Verzweiflung dieser Menschen sei entsetzlich. Sie verspürten ständig den Drang, von einem anderen Körper gepackt zu werden, müssten sich fühlen und empfänden dabei am Ende aber überhaupt nichts. »Es ist einfach nie genug, nie.«
Dominique Strauss-Kahn, dem vor seinem Sexskandal im Jahr 2011 sogar Chancen auf das französische Präsidentenamt eingeräumt worden waren, wurde während einer privaten Reise am John-F.-Kennedy-Flughafen in New York wegen des Vorwurfs versuchter Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Freiheitsberaubung eines Zimmermädchens des New Yorker Hotels festgenommen. Um Vergewaltigung und Freiheitsberaubung allerdings geht es in dem, was Leïla Slimani schildert, nicht. Adèle, wie ihre weibliche Hauptfigur heißt, hat innerhalb des Kontextes, in dem sie arbeitet, keine Machtposition inne und bringt nicht andere unter ihre Kontrolle, indem sie ihnen Gewalt antut (die Strauss-Kahn abstritt und für die er strafrechtlich nicht belangt werden konnte). Vielmehr lässt sich das, was sie vollzieht und was Slimanis Roman seriell schildert, eher in der paradoxalen Figur der versuchten Selbstermächtigung durch Selbsterniedrigung beschreiben: Adèle erobert reihenweise Männer. Aber es ist eben nicht nur der befreundete Kollege, durch den ihr Doppelleben irgendwann auffliegt. Es sind auch bezahlte Männer, von denen sie sich brutal schlagen lässt: »Sie war es, die gesagt hat: ›Das reicht nicht‹, die geglaubt hatte, mehr ertragen zu können. Fünfmal, vielleicht zehn-, hat er ausgeholt und sein spitzes knochiges Knie auf ihre Scheide krachen lassen.« Oder, schon früher, noch bei ihren Eltern, der Nachbar aus dem achten Stock, »der so fett ist, dass Adèle Mühe hatte, sein Glied unter den Falten seines Bauches zu finden. Sein Glied, das schwitzte unter seinem Fett und glühte vom Scheuern der enormen Schenkel«.
Leïla Slimani wuchs mit ihren beiden Schwestern in Rabat auf. Ihre Mutter, eine Elsässerin mit algerischen Wurzeln, war Ärztin. Ihr Vater von 1977 bis 1979 Wirtschaftsminister von Marokko, später leitete er eine Bank. Im Elternhaus wurde Französisch gesprochen. Nach der Schule ging sie zum Studium nach Paris an die Eliteuniversität Sciences Po und berichtete als Journalistin für die Zeitschrift über nordafrikanische Themen. Als sie ihren ersten Roman veröffentlicht hatte, ging sie auch auf Leserreise nach Marokko. Damals kamen Frauen auf sie zu und erzählten ihr von ihrem Verhältnis zum Sex. Obwohl sie in den Städten lebten und emanzipiert waren, fühlten diese Frauen sich nicht frei. Es gibt immer noch Gesetze, nach denen Menschen für vor- oder außerehelichen Sex eingesperrt werden können. Sie werden selten angewandt, aber sie sind da. Und so berichteten ihr die Frauen, wie sie unter dem ständigen Versteckspiel litten. Manche hatten sich sogar ihre Jungfräulichkeit zurückbilden lassen, um einen Ehemann zu finden.
heißt das Buch, das Leïla Slimani aus diesen »Gesprächen mit Frauen aus der islamischen Welt« gemacht hat. Sie hat darin auch auf Adèle Bezug genommen. Denn für sie steht ihre weibliche Hauptfigur, die im Roman maghrebinische Wurzeln hat, für Marokko und seine Schizophrenie. Das Ehe-, Familien- und Erbrecht beruht noch immer auf der Scharia. Zugleich sind die Marokkaner große Pornokonsumenten. Abtreibungen sind verboten. Slimani zufolge werden davon täglich aber um die 600 vorgenommen. »Mein erster Roman«, schreibt sie in , »ist deshalb keine Ausnahmeerscheinung. Ich würde sogar sagen, es ist kein Zufall, dass ich eine Frau wie Adèle erschaffen habe: eine frustrierte Frau, die lügt und ein Doppelleben führt. Eine Frau, die von Gewissensbissen und ihrer eigenen Unaufrichtigkeit zerfressen ist, die Verbote umgeht und keine echte Lust empfindet. Adèle ist in gewisser Weise eine etwas überspannte Metapher für die Sexualität junger Marokkanerinnen.«
Dass ihr erster Roman dennoch sehr wohl eine Ausnahmeerscheinung ist, liegt an diesem schnellen, direkten Slimani-Ton, der auf Umschweife gerne verzichtet. Es ist eine Sprache, für die sie 2016 für – das Buch verkaufte sich in Frankreich über eine Million Mal und wurde in 40 Sprachen übersetzt – den Prix Goncourt bekam. Diesmal allerdings ging es nicht um Sex, sondern um Mord: »Das Baby ist tot«, lautet der erste Satz des Romans, ein paar Absätze weiter erfährt man, dass auch die Schwester des Babys ihren Verletzungen erliegen wird. Zwei Kinder sterben, erstochen von ihrer Nanny auf den ersten drei Seiten. Dann geht Slimani in der Zeit zurück, erzählt vom sehr normalen Alltag einer ganz normalen Familie: Paul und Myriam sind »Bobos«, wie man sie treffender nicht beschreiben könnte. Sie sind beide Mitte dreißig, Paul ist Musikproduzent, Myriam Juristin, sie leben im 10. Arrondissement in Paris. Als sie Kinder bekommen, suchen sie eine Nanny – und finden Louise.
Den Plot für ihren Roman hatte Slimani einige Jahre zuvor in einer Zeitung gefunden: 2012 erstach eine Nanny in der Upper East Side die beiden Kinder, auf die sie aufpasste. Ohne Motiv und ohne Grund. Sie hatte Geldprobleme und fühlte sich in eine Sackgasse gedrängt. Leïla Slimani erinnerte die Meldung an Emmanuel Carrère und seinen Non-Fiction-Roman , in dem ein Mann eines Tages seine gesamte Familie niedermetzelt, nur dass Slimani ihre eigene Perspektive fand – als Frau, Ehefrau, Mutter und Schriftstellerin. Sie erzählt die Kindsmordgeschichte vor dem Hintergrund der Klassenfrage und verarbeitet Anspielungen auf »Nanny-Geschichten« der Film- und der Literaturgeschichte: von der amerikanischen Filmproduktion »Die Hand an der Wiege« bis hin zu Pamela Travers’
Ende 2017 ernannte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron Slimani – nachdem sie einen Posten als Ministerin für Kultur abgelehnt hatte – zu seiner persönlichen Beauftragten zur Pflege des französischen Sprachraums. Dabei sollte sie »das Verhältnis zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien verändern und es auf Augenhöhe heben«. Macron hatte bereits auf der Frankfurter Buchmesse, deren Gastland Frankreich 2017 war, Slimanis Namen exemplarisch für seine Überzeugung genannt, »dass Lesen und Literatur einer Gesellschaft dabei helfen können, sich besser zu verstehen«. Die Schriftstellerin, die sich parteipolitisch nicht engagiert, hatte Macron und seine Bewegung »En Marche« im Wahlkampf gegen den rechten Front National unterstützt und der Delegation um Macron angehört, die Marokkos König Mohammed . und dessen Familie einen Freundschaftsbesuch abstattete.
Das Amt der Botschafterin für Frankofonie nahm sie an – und begann zugleich an einer Trilogie zu arbeiten, die sich mit dem Kolonialismus auseinandersetzt und deren erster Band , 2020 erschien. Er erzählt von Mathilde und Amine, einer Elsässerin und einem marokkanischen Offizier, die kurz nach dem Krieg heiraten und sich in der Nähe von Meknès niederlassen. Ihre Geschichte orientiert sich an der Biografie von Slimanis Großeltern. Im Land der anderen leben beide: nicht nur die Französin, die sich bald damit abfinden muss, dass viele der ihr absurd erscheinenden Regeln hier für Männer und Frauen in unterschiedlicher Weise gelten. Auch Amine, der von den Besatzern »Mohammed« genannt oder herablassend geduzt wird. Slimani schildert, welchen Druck dies auf eine Ehe ausübt und was es für eine Familie bedeutet, in einer revolutionären Situation keinem der beiden Lager anzugehören. Demütigungen und rassistische Gewalt waren in Marokko in den späten Vierziger- und Fünfzigerjahren alltäglich. Gewalt wurde dabei nicht nur von Franzosen gegen Marokkanerinnen und Marokkaner, sondern auch von den marokkanischen Nationalisten gegen französische Siedler verübt.
In muss Mathilde sich in der patriarchalischen Kolonialgesellschaft Marokkos behaupten und wird doch ewig eine Fremde bleiben. Das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, kennt Slimani gut. »Manche«, hat sie 2021 in einem Interview gesagt, »sehen in mir ›die Marokkanerin vom Dienst‹, andere wiederum die ›bourgeoise Französin‹, die sich um nichts Sorgen machen muss. Andere betrachten mich als die ›neue ‹. Ich lasse diese Zuordnungen inzwischen von mir abprallen. Wichtiger als die Frage, wer man ist, ist die Frage, was man macht. Wir werden durch unser Handeln definiert.« Mit ihrer Trilogie kehrt sie auch zum Thema Sexualität zurück: Es sei ihr »darum gegangen, das gemeinsame Schicksal von Frauen und Kolonisierten darzustellen«, so Slimani bei einer Buchvorstellung ihres Romans 2020 in einer Pariser Buchhandlung. »Der Kolonialismus war nicht nur ein ökonomisches und politisches Unternehmen, sondern auch ein sexuelles.«
Wie sehr das Bild Afrikas in der westlichen Literatur von den Vorurteilen weißer Schriftsteller verzerrt ist, hat der nigerianische Autor Chinua Achebe vor bald 50 Jahren in einem berühmten Essay am Beispiel von Joseph Conrads Romanklassiker eindrucksvoll beschrieben: Afrika als Ort ohne Sprache, ohne Geschichte, ohne Menschlichkeit, ohne Hoffnung. Literarischen Zerrbildern dieser Art setzte Achebe sein aus der eigenen Perspektive entwickeltes Romanwerk entgegen und wurde so zum Begründer einer neuen, selbstbewusst afrikanischen Romanliteratur, die Maßstäbe setzte und auch schwarze Autoren in Amerika anzog und inspirierte: »Achebes Werk befreite meine künstlerische Intelligenz wie nichts zuvor«, so die Nobelpreisträgerin .
Auch die junge, aus Nigeria stammende und zum internationalen Literaturstar aufgestiegene Chimamanda Ngozi Adichie beruft sich auf Chinua Achebe. Das fünfte Kind eines Akademikerpaares wuchs auf dem Unicampus in Nsukka auf – zeitweise sogar in einem einst von Achebe bewohnten Haus. Schon im Kindergarten lernte sie lesen und schreiben und fing umgehend an, ihre Großmutter zu unterrichten, die Analphabetin war. Als Schulkind verschlang sie die Kinderbücher von Enid Blyton und schrieb auch bald selbst auf Englisch Geschichten, die in Großbritannien spielten und in denen nur weiße Figuren auftraten. »Das seltsame Gefühl, das man hat, wenn man sich in der Literatur verzerrt widergespiegelt sieht – sich eigentlich darin gar nicht wiederfindet –, ist Teil meiner eigenen Kindheit«, erinnert sie sich.
Erst bei der Lektüre von Achebes Roman , 1958 (dt. ), der das Leben in einem afrikanischen Dorf zum ersten Mal aus der Perspektive seiner Bewohner schilderte, entdeckte Adichie im Teenageralter, dass auch ihre eigene Welt in Büchern vorkommen konnte. Sie, der ihre bisherige Schulerziehung die vorkoloniale Geschichte Afrikas vorenthalten hatte, fand hier eine facettenreiche afrikanische Welt und komplexe Figuren, die ihre Vorfahren hätten sein können. Auch die bei ihr zu Hause praktizierte Form der Zweisprachigkeit – ein Englisch, das durchsetzt ist mit Einsprengseln aus der oralen Igbo-Tradition – fand sie in Achebes Romanen wieder. Sie erlebte einen »glorreichen Schock«, stellte ihr kindliches Schreiben über England ein und fing an, kurze Geschichten aus ihrer Welt zu erzählen. Nach dem Schulabschluss begann sie erst ein Studium der Medizin, folgte dann einer älteren Schwester nach Philadelphia und machte Abschlüsse in Politikwissenschaft sowie Creative Writing.
2003 erschien in New York ihr erster Roman (dt. ), die Geschichte der 15-jährigen Kambili in einer verstörend brutalen Welt. Der Roman spielt im Nigeria der frühen Neunzigerjahre, wo wechselnde Militärdiktatoren Angst und Schrecken verbreiten. Und er spielt in einer wohlhabenden Familie, wo der zum Christentum konvertierte Vater – ein reicher Fabrikbesitzer und Zeitungsverleger – Frau, Sohn und Tochter mit seinem fanatischen Katholizismus tyrannisiert. »Things started to fall apart at home« lautet der erste Satz des Romans im Original, eine Anspielung auf den Titel jenes Achebe-Romans, der die jugendliche Autorin einst so stark berührte. Auch in Komposition und Figurenzeichnung orientiert sie sich deutlich am selbst gewählten Mentor. Sie führt eine Reihe differenziert gezeichneter Figuren ein und schafft effektvolle lokale Kontraste, so zum Beispiel – als Gegengewichte zu Kambilis Familienhölle – das Heimatdorf von Kambilis Großvater, der noch den alten Göttern anhängt. Und daneben die modernere Welt auf dem Campus von Nsukka, wo eine warmherzige Tante als Dozentin der Universität von Nigeria mit ihren Kindern wohnt. Diese Familie lebt in prekären Verhältnissen, genießt aber eine Freiheit im Denken und im Umgang, von der Kambili und ihr Bruder nur träumen können. Wie diese Kinder aus so scharf kontrastierten Welten aufeinander zugehen, wie dabei die Verängstigten von den Glücklicheren profitieren und mit Lebenslust, Kampfgeist und Freiheitsdrang angesteckt werden – das führt Adichie in packenden Szenen und Dialogen vor.
Der international erfolgreiche Roman wurde 2004 für den Booker Prize nominiert. Zu diesem Zeitpunkt studierte Adichie bereits Afrikanistik in Yale. 2006 erschien ihr zweiter Roman (dt. ). Der Titel erinnert an die aufgehende Sonne in der Fahne von Biafra, jenem abtrünnigen Staat im Osten Nigerias, der nur drei Jahre existierte und dessen Name zum Synonym wurde für einen Krieg, der in einer Hungerkatastrophe endete. Es gibt viele Darstellungen des Biafrakriegs in der nigerianischen Literatur. Adichie gehört zur dritten Generation von Autoren, die sich damit befassen. Sie haben die Katastrophe nicht mehr selbst erlebt, kennen aber die Dämonen der Vergangenheit aus den Erzählungen ihrer Eltern. Adichie hat den Roman ihren beiden im Krieg umgekommenen Großvätern gewidmet. Ihr geht es um Erinnerung und Mitgefühl, sie will festhalten, was dieser Krieg mit den Menschen gemacht hat. Und es geht ihr um die Korrektur von Bildern Afrikas, die im Westen kursieren, wo man den riesigen Kontinent gerne betrachtet als einen »Ort wunderschöner Landschaften, wunderschöner Tiere und unergründlicher Menschen, die sinnlose Kriege führen, an Armut und sterben, unfähig sind, für sich selbst zu sprechen, und die darauf warten, von einem freundlichen, weißen Ausländer gerettet zu werden«, so Adichie in ihrem Talk von 2009 »The Danger of a Single Story«. Darin plädiert sie dafür, die Definitionsmacht einer langen Darstellungstradition, für die Afrikaner nach einem Wort von Rudyard Kipling »halb Teufel, halb Kind« waren, abzulösen durch ein möglichst vielstimmiges Erzählen aus afrikanischer Perspektive: Black Voices Matter wäre die entsprechende Devise.
Die ist glänzend umgesetzt in Adichies Erzählband , 2008 (dt. ). Knapp und eindringlich zeichnet sie hier in zwölf Kurzgeschichten heutige Lebenswelten von Afrikanern beiderlei Geschlechts und jeden Alters, sowohl in Nigeria als auch in den . Wie in markanten Schnappschüssen sind hier die unterschiedlichsten Schicksale festgehalten. Da ist der auf dem Campus von Nsukka behütet aufgewachsene Professorensohn, der seine Eltern bestiehlt. Da ist die junge Frau, die mit ansehen musste, wie ein Schlägertrupp der Regierung ihren vierjährigen Jungen erschießt. Jetzt will sie nur noch weg und stellt sich deshalb vor der amerikanischen Botschaft in Lagos in die endlose Schlange für ein Visum. Aber dann schafft sie es nicht, der kühlen amerikanischen Visumbeamtin detailgenau zu erzählen, was sie gerade erlebt hat, und sich so mit Aussicht auf Asyl als das Opfer darzustellen, das sie in Wahrheit ist.
Und da sind die nigerianischen Immigrantinnen in Amerika – eine neue Figurengruppe in Adichies Werk. Sie sind in die aufgebrochen wie ins »Gelobte Land« und finden sich in desolaten Umständen wieder. Die Heldin der Geschichte schlägt sich als Kellnerin durch. Amerikanische Ignoranz (Fragen wie: Habt ihr in Afrika auch richtige Häuser? Gibt es dort Autos? Und was ist los mit deinem Haar?) erlebt sie als Demütigung. Nicht einmal ihr verständnisvoller weißer Freund kann ihr das »Ding um ihren Hals« abnehmen, jene erstickende Gefühlsmischung von Fremdheit und Heimweh, die ihr wie ein Seil um den Hals liegt und die Luft abschnürt.
Amerika ist für Adichie, deren Bücher bisher in Nigeria spielten, als Schauplatz neues Terrain. Es war erwartbar, dass sie es betreten würde, denn zum Zeitpunkt der Publikation des Bands lebte sie schon seit mehr als einem Jahrzehnt in den und hatte inzwischen jenen durch die Kränkungen des Assimilationsdrucks geschärften Blick auf die neue Umgebung entwickelt, der sich bei Immigranten wohl überall auf der Welt einstellt. Nur: In ihrem Erzählband hat sie die Situation von schwarzen Einwanderern in die als derart deplorabel beschrieben, dass sie bei der Promotion ihres Buchs in Amerika von leicht vergrätzten Gesprächspartnern Sätze zu hören bekam wie »Sie mögen uns wohl nicht besonders«.
Mit der ihr eigenen Verve hat sich Adichie dagegen verwahrt und betont: Sie liebe Amerika als ihre zweite Heimat, doch sei ihre Zuneigung komplizierter Art, nämlich »kritikfreudig«.
Genau diese Art von Liebe hat sie in ihrem dritten Roman (2013) zur Antriebskraft ihres Schreibens gemacht. Schon im Titel spielt der Roman auf sein zentrales Thema an: nigerianische Erfahrungen von Emigration und Heimkehr, die jedoch nicht nur in afrikanischem Kontext von Interesse sind, da Migranten überall auf der Welt ähnliche Erfahrungen machen mit den Mechanismen, die in Gesellschaften Ausschluss oder Zugehörigkeit regulieren.
Als »Americanah« gelten in Nigeria Rückkehrer aus den , die sich Angebereien leisten wie einen demonstrativ amerikanischen Akzent. Der ehrgeizig konstruierte Roman spielt auf mehreren Zeitebenen und drei Kontinenten: in Lagos, London und den . Er setzt ein mit der hinreißend beschwingt erzählten Geschichte einer Teenagerliebe unter Angehörigen der Mittelschicht im Lagos der Neunzigerjahre. Die aufs Leben neugierige Ifemelu und der Büchernarr Obinze lernen einander in der Schule kennen. Sie trennen sich zu Beginn ihrer Studienjahre, da Ifemelu ein -Stipendium ergattern kann, und versprechen sich, Kontakt zu halten. Das klappt eine Weile, misslingt dann aber wegen Ifemelus Depression in der schwierigen Zeit gleich nach ihrer Einwanderung. Als sie sich nach 15 Jahren in Lagos wiedertreffen, haben sich beide stark verändert, wenn auch nicht in der vom Titel nahegelegten Weise. Beide haben die Abgründe afrikanischen Immigrantenlebens im Westen kennengelernt. Und dennoch ist ihnen danach ein steiler sozialer Aufstieg gelungen. Obinze, der in London als illegale Putzkraft geschuftet hat, wird nach Lagos abgeschoben, kommt aber gerade rechtzeitig zurück, um mittels anrüchiger Machenschaften vom Wirtschaftsboom zu profitieren. Als Immobilientycoon scheint er jetzt im Geld zu schwimmen, hat Frau und Tochter und das, was in der nigerianischen »Arschkriechergesellschaft« am wichtigsten ist: beste Beziehungen.
Ifemelu wiederum ist es gelungen, in Princeton akademische Grade und eine Eigentumswohnung zu erwerben. Und sie ist eingeweiht sowohl in die Feinheiten der akademischen Debatten über Identitäts-, Diversitäts-, Gender- und Rassefragen in den als auch in den dortigen Alltagsrassismus, dessen Grundregeln sie in ihrem für Immigranten wie sie selbst gegründeten Blog so zusammenfasst: »Die Weißen nach vorn, die Braunen nach hinten, die Schwarzen raus!« Fragen nach der Hierarchie unter Hautfarben werden hier behandelt, aber auch Lifestyleprobleme wie die nach der für schwarze Amerikanerinnen mit beruflichen Ambitionen angemessenen Frisur und ihren gesundheitlichen Folgekosten (Preisfrage: Wäre Obama Präsident, wenn seine Frau ihr Haar als Afro trüge?). Etliche Blogbeiträge sind in den Roman eingelassen. Sie haben Scharfsinn und Witz. Doch der Lesbarkeit des umfangreichen Romans ist damit nicht gedient. Gelegentlich verschwindet sein Personal wie in einem vom Info-Bombardement der Blogtexte verdunkelten Wimmelbild.
Der Roman wurde ein Welterfolg. 2012 hat Adichie sich in einem weiteren Talk als Feministin geoutet (, dt. ), wurde von der Popsängerin Beyoncé dafür in einem Song gefeiert und ließ später einen kleinen Erziehungsratgeber für eine Freundin folgen, die Mutter geworden war: (2017). Verheiratet mit einem aus Nigeria stammenden Mediziner, lebt die Autorin inzwischen in Baltimore und in Lagos und hat eine kleine Tochter. Im Jahr 2021 widmete sie ihrem eben verstorbenen Vater ein berührendes Buch der Erinnerung: . Dessen deutscher Titel formuliert ihre wichtigste Erkenntnis bei der Verarbeitung dieses Todes .
Aber die vielleicht beste Nachricht ist, dass Adichie Ende 2020 wieder zum Schreiben von Storys zurückgefunden hat. heißt ihre jüngste, bisher nur im englischen Original und als E-Book publizierte Geschichte, die von der Geburt eines kleinen Jungen erzählt, an dessen Bettchen in einer amerikanischen Klinik die Lebensfäden von einer Handvoll unvergesslicher afrikanischer Figuren zusammenlaufen.
Sie ist also durchaus noch da, die große Geschichtenerzählerin Chimamanda Ngozi Adichie. Und es ist noch einiges von ihr zu erwarten.