Buch
Nach einem schweren Schicksalsschlag hat es die junge Notarin Benedicta »Ben« O’Keeffe in ein Städtchen auf der irischen Halbinsel Inishowen an der rauen Küste Donegals verschlagen. Dort führt sie in einem kleinen Cottage ein zurückgezogenes Leben. Bis sie den Verkauf der alten Kirche von Whitewater abwickeln soll und bei der Begehung auf eine versteckte Krypta und ein Skelett stößt. Im Ort ist man schnell überzeugt, dass es sich bei dem Toten um Conor Devitt handeln muss, der vor sechs Jahren an seinem Hochzeitstag spurlos verschwand. Kurz darauf taucht Conors Bruder in Bens Kanzlei auf, will ihr gegenüber sein Gewissen erleichtern – und rast kurz nach dem Treffen mit seinem Auto in den Tod. Gemeinsam mit dem befreundeten Sergeant Tom Molloy versucht Ben, den rätselhaften Mordfall aufzuklären. Doch die Küstenbewohner bilden eine Mauer des Schweigens …
Weitere Informationen zu Andrea Carter finden Sie am Endes des Buches.
Andrea Carter
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Die kalten Wasser von Donegal
Kriminalroman
Aus dem Englischen
von Claudia Franz
Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Death at Whitewater Church« bei Constable, an imprint of Little, Brown Book Group, London.
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2017
Copyright der Originalausgabe © Andrea Carter, 2015
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: arcangel/2014 Mark Fearon; FinePic®, München
Redaktion: Irmgard Perkounigg
KS . Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-19183-2
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für Olive,
meine Großmutter
Kapitel 1
Der Wind war bitterkalt, und es roch nach Schnee. Ich schaute in den Himmel. Er war grau, von jenem Aschgrau, das einer Landschaft etwas Unheimliches, Außerirdisches verleiht. Obwohl es erst drei Uhr nachmittags war, schwand das Licht bereits.
»Wie, in Gottes Namen, kann jemand in einer Kirche wohnen wollen?« Paul Doherty fummelte an dem Vorhängeschloss herum, das vor dem alten schmiedeeisernen Tor hing.
Ich zuckte mit den Achseln. »Für mich wäre das auch nichts.«
»Die Interessenten drängen aber auf das Gutachten?«, fragte er.
»Liam jedenfalls. Er hat schon eine Weile nichts mehr verkauft. Als er hörte, dass du das Kartenmaterial noch nicht hast, ist er fast ausgerastet.«
Paul grinste. »Morgen hat er sein Gutachten – falls wir denn überhaupt hier reinkommen.«
Als er den Schlüssel noch einmal herumdrehte, sprang das Schloss schließlich auf. Er steckte den Schlüsselbund in seine Anoraktasche, kramte eine Mütze aus der Tasche und zog sie sich über die Ohren. Dann hob er das Tor so weit an, dass es sich ein Stück über den verwilderten Rasen schieben ließ und wir uns hindurchquetschen konnten. Ich wartete, bis er seine Kameratasche und den Rest der Ausrüstung über die Schulter gehängt hatte, dann betraten wir im Gänsemarsch den zugewachsenen Pfad. Im nächsten Moment bereute ich es, keine Handschuhe angezogen zu haben. Meine Hände wurden vom Dornengestrüpp zerkratzt, das sofort nach Betreten des Grundstücks seine Tentakel nach uns ausgestreckt hatte. Auch mein Rock erwies sich als nicht gerade ideal, aber ich war direkt vom Gericht gekommen. Der Kraftausdruck, der nun vor mir zu hören war, kam aus tiefstem Herzen.
»Paul«, schimpfte ich scherzhaft.
»Hier hört mich doch kein Schwein.«
Da hatte er nicht ganz unrecht, wenn man vom Vieh auf der Weide nebenan mal absah, das sich wegen der Kälte aneinanderkuschelte. Als wir höher kamen, erblickte ich die Klippen und den Atlantik, der sich an ihnen brach. Ohnehin nicht gerade ein einladendes Meer, wirkte er heute regelrecht feindselig: finster, dunkelblau und mit weißen Schaumkronen auf den Wellen. An diesem Flecken im Nordosten Donegals, wo der Foyle ins Meer mündete, war der Atlantik immer rau.
Nachdem wir eine Weile den Hügel emporgestiegen waren, stießen wir auf einen etwas leichter begehbaren Pfad. Und da thronte sie plötzlich, hoch über unseren Köpfen, eine finstere Silhouette vor dem fahlen Himmel. Wir blieben wie angewurzelt stehen.
Paul stieß die Luft aus. »Die Kirche von Whitewater.«
Ich schaute hoch und blies in meine Hände. »Eindrucksvoll. Spricht man eigentlich immer noch von einer Kirche, obwohl sie schon so lange säkularisiert ist?«
»Keine Ahnung.«
Er setzte seine Tasche ab und holte die Kamera heraus. Nachdem er ein Objektiv aufgeschraubt hatte, stellte er an einem Knopf den Blitz an.
»Sie wird schon lange nicht mehr benutzt, aber es wundert mich trotzdem, wie baufällig sie ist«, meinte er.
»Wie alt ist sie denn?«
»Hundertfünfzig Jahre ungefähr. Man hat sie aus hochwertigem Granit hier aus der Gegend errichtet.«
»Sicher war sie einmal sehr schön«, sagte ich.
»Siehst du die Ecksteine und den Glockenturm? Das sind typisch viktorianische Elemente.«
Die Kirche war in einem erbärmlichen Zustand. Die Giebelwand, die sich unserem Blick darbot, war vollständig mit dunklem Efeu überwuchert, und an manchen Stellen bröckelte das Mauerwerk. Die Bleiglasfenster, die sich einst in den beiden Fensterbogen befunden haben mussten, waren längst verschwunden. Nur das Steinkreuz an der Dachtraufe trotzte dem Verfall.
Der Anblick des Gebäudes hatte etwas Herzzerreißendes. Es schien, als trauerte es um die Gemeindemitglieder, die jede Woche hierhergekommen waren, um es dann schließlich im Stich zu lassen. Schnell verwarf ich den Gedanken als hirnlosen Schwachsinn. Die Kirche von Whitewater würde wiederauferstehen – das war doch etwas Gutes, oder? Sie würde jemandes Zuhause werden.
Paul ließ die Kamera sinken. »Hast du die Karten dabei?«
»Eine Karte leider nur.« Ich öffnete meine Tasche, zog ein dünnes Blatt Papier heraus und reichte es ihm. »Ich muss unbedingt den Scanner in der Kanzlei reparieren lassen, tut mir leid.«
»Mir kann es egal sein. Du bist es ja, die persönlich hier aufkreuzen musste, um sie mir zu geben. Was mich betrifft, bin ich über ein bisschen Gesellschaft sogar froh.«
Er faltete die Karte auseinander. Es war kaum mehr als eine alte Zeichnung mit ein paar groben Maßangaben.
»Das ist alles?«, fragte er.
»Leider ja. Ich habe so meine Zweifel, ob dieser Ort je ordnungsgemäß vermessen wurde. Diese Karte fand sich im alten Grundbuch.«
Er faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es in die Tasche.
»Okay. Dann muss ich beim Vermessen des Gebäudes nur darauf achten, dass die Ergebnisse nicht allzu sehr von den Maßen auf diesem Zettel abweichen.« Er schaute sich auf dem verwilderten Gelände um. »Leicht wird das nicht. Da es schon dämmert, fange ich am besten drinnen an.«
Er nahm seine Tasche, schwang sie sich über die Schulter und ging in Richtung Hauptportal. Im nächsten Moment fluchte er schon wieder, weil er an einem wilden Dornenzweig hängen geblieben war. Der Boden war mit Schutt, Metallteilchen und Unkraut übersät – Unmengen von Unkraut.
»Die Originaltür muss eindrucksvoll gewesen sein«, sagte Paul und sah hoch.
»War sie aus Holz?«, fragte ich.
Er nickte. »Vermutlich geschnitzt.«
Das konnte man sich kaum vorstellen. Man hatte sie durch eine hässliche Wellblechtür ersetzt, über drei Meter hoch und fast drei Meter breit. An den Rändern rostete sie bereits, das Material angegriffen von der salzigen Seeluft. Auch hier hing wieder ein Vorhängeschloss. Paul wühlte in seiner Tasche und holte den Schlüssel hervor.
Als das Schloss geöffnet war, glitt die Tür mühelos auf. Wir traten ein. Der Boden im Innern war ebenfalls mit Schutt übersät, und es roch feucht und muffig. Dem Unkraut konnte das allerdings nichts anhaben; es spross aus den Wänden heraus und stellenweise auch aus dem Boden. Die Kirche war nicht so dunkel, wie ich erwartet hätte, da die Fenster Licht hereinließen – und mit ihm auch Blattwerk. Der Efeu, der sich an den Außenwänden emporrankte, hatte seinen Weg ins Innere gefunden. Auf den Relikten einer Fensterbank konnte man die Reste eines Vogelnests erkennen.
»Für eine Kirche wirkt der Raum nicht sehr groß«, sagte ich.
Paul zuckte mit den Achseln. »Hier haben nie viele Menschen gelebt. Meist waren es nur ein paar Familien, die eine Art Inselleben führten.«
Während Paul seine Messungen vornahm und alles fotografierte, schlenderte ich langsam durch den Raum und betrachtete die Wände. Hier und da sah man Gedenktafeln der ortsansässigen Familien: frühzeitig verstorbene Fischer, Bauern, die sich eines langen Lebens erfreut hatten – Mitglieder einer Gemeinde, die es nicht mehr gab. Irgendwann sammelten wir unsere Sachen zusammen und traten wieder ins Freie. Draußen schwand rasch das Licht.
»Es wird gleich dunkel«, sagte ich. »Hast du noch viel zu tun?«
»Ich bin fast fertig. Für den Notfall habe ich aber eine Taschenlampe dabei. Nicht dass ich den Gedanken angenehm fände, nach Einbruch der Dunkelheit noch hier herumzulungern …«
Ich blieb stehen und sah zu, wie Paul um das Gebäude herumging und die Außenwände vermaß. Als in meiner Nähe etwas aufflatterte, zuckte ich zusammen. Eine Saatkrähe schoss über meinen Kopf hinweg und landete auf dem Kreuz an der Traufe. Drei Krähen hockten bereits dort, ordentlich aufgereiht, gespenstisch und stumm. Während ich die vier Vögel beobachtete, verlor ich das Gleichgewicht und taumelte ein Stück zurück. Ein metallisches Geräusch unter meinem Absatz ließ mich zu Boden schauen. Ich stand auf einer Art Eisengitter, einen halben Meter im Quadrat und fast zugewuchert. Als ich nach Paul rief, kam er sofort, um die Sache in Augenschein zu nehmen. Er schob das Gestrüpp mit dem Fuß zur Seite, um besser sehen zu können.
»Mist«, fluchte er. »Hat die Kirche ein Untergeschoss?«
»Keine Ahnung. Was sagt denn die Karte?«
»Vermutlich gar nichts.« Er zog sie heraus, faltete sie wieder auseinander und studierte sie noch einmal. »Nein, ein Untergeschoss ist hier nicht verzeichnet.«
Als er erneut um die Kirche herumging, folgte ich ihm.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. »O Gott.« Er deutete auf ein niedriges Eisentor in der Apsiswand. »Da ist eine Krypta. Die Kirche hat eine verdammte Krypta.«
Ich schaute ihn an.
Er seufzte. »Da ich sie nun entdeckt habe, muss ich wohl oder übel auch rein.«
An dem Tor befand sich ein Riegel, der diesmal nicht mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Er ließ sich mühelos aufschieben, und das Tor schwang zurück. Mit resignierter Miene drehte sich Paul zu mir um, holte dann die Taschenlampe hervor und knipste sie an. Der Lichtstrahl fiel auf eine schmale Treppe, die in ein düsteres Loch hinabführte.
»Es dauert nicht lange«, sagte er forsch. »Ich werfe schnell einen Blick hinein, mache ein paar Fotos und die nötigen Messungen, und dann geht’s ab nach Hause.«
»Okay.«
Er blickte auf die Uhr. »Ach Quatsch, warum fährst du nicht schon mal heim? Es ist doch gar nicht nötig, dass du noch weiter hier herumhängst.«
»Soll das ein Witz sein? Jetzt wird es doch erst spannend.«
In Wahrheit fand ich die Aussicht, allein im Dämmerlicht den zugewachsenen Pfad zurückzulaufen, nicht gerade verlockend. Paul hatte mich sofort durchschaut.
»Ich habe übrigens noch eine zweite Taschenlampe«, sagte er. »Die könntest du mitnehmen, nur für alle Fälle.«
Dankbar kramte ich sie aus seiner Tasche, schaltete sie an, blieb dann aber neben dem Tor stehen, als er seine Beine hindurchschob und sich auf die oberste Stufe setzte.
»Darf ich mitkommen?«
»Auf gar keinen Fall. Du bleibst oben und rührst dich nicht vom Fleck«, sagte er. »Die Treppe ist vielleicht einsturzgefährdet. Ich bin wenigstens versichert.« Mit diesen Worten verschwand er durchs Tor.
»Alles okay?«, rief ich ihm nach.
»Ja. Ich kann sogar stehen. Fast zumindest.«
Obwohl der Boden feucht und kalt war, kniete ich mich hin und verfolgte, wie er langsam die Treppe hinunterstieg. Das Geräusch seiner Schritte hallte von den Wänden wider. Die Stufen führten in eine kleine Kammer, die nicht höher war als zwei Meter. An den Seitenwänden befand sich etwas, das aussah wie Steinschubladen. Paul hatte recht, es war eine Krypta. Mich fröstelte.
»Wie lange wirst du da unten bleiben?«, fragte ich.
Ich hörte ihn lachen, was durch den Hall wie das Hohngelächter eines Bond-Schurken klang. »Keine Sorge. Ich bleibe nicht eine Sekunde länger als unbedingt nötig.«
Auf halbem Weg nach unten steckte er die Taschenlampe in die Armbeuge, um seine Kamera zu nehmen. Er machte ein Foto und schien dann zu zögern.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich.
»Am Fuß der Treppe liegt was.«
Er nahm die Taschenlampe wieder in die Hand und richtete den Strahl darauf. Tatsächlich, da lag etwas auf dem Boden der Kammer. In dem düsteren Licht sah es aus wie ein Haufen Lumpen. Paul stieg langsam die restlichen Stufen hinunter und blieb dann einen Moment stehen.
»Was ist es denn?«
»Eine Decke«, antwortete er.
»Eine Decke?«
»Ja. Eine alte braune Wolldecke, die wie ein Teppich aufgerollt ist.«
Ich beugte mich weiter vor und legte mich schließlich flach auf den Bauch, sodass ich mich nun fast vollständig in dem Gang befand. Nur meine Füße ragten noch hinaus. Ein feuchter, erdiger Geruch stieg mir in die Nase.
Paul stupste die Decke vorsichtig mit dem Fuß an. »Da scheint nichts drin zu sein.«
»Schau richtig rein.«
Mit verzweifelter Miene blickte er zu mir hoch.
»Dann komm ich runter.« Mühsam drehte ich mich herum, um die Füße in Richtung Treppe schieben zu können.
»Nein«, sagte er und warf mir einen warnenden Blick zu. »Ich hatte gesagt, dass du oben bleiben sollst. Du dürftest überhaupt nicht hier sein.«
Er ging in die Hocke. Selbst aus der Entfernung sah ich, dass seine Hände zitterten. Trotzdem konnte er sich überwinden, die Decke ein winziges Stück zur Seite zu ziehen. Im nächsten Moment fuhr er zurück, verlor fast das Gleichgewicht und ließ die Taschenlampe fallen, die mit einem dumpfen Knall auf dem Boden landete. Ich zuckte zusammen.
»Paul, was ist? Was ist los?«
Er stützte sich mit den Händen an der Kammerwand ab. Seine Taschenlampe war ein Stück weitergerollt und strahlte die Mauer neben ihm an. Irgendwann bückte er sich und hob sie wieder auf.
»Paul?«, fragte ich noch einmal.
Als er immer noch nicht antwortete, richtete ich mich auf und stieg so schnell, wie es angesichts der unregelmäßigen Stufen nur möglich war, die Treppe hinunter. Ich ging neben der aufgerollten Decke in die Hocke, zog ebenfalls einen Zipfel beiseite und richtete den Strahl der Taschenlampe auf das, was Paul wenige Sekunden zuvor entdeckt hatte.
Ich musste mit aller Kraft an mich halten, um den Schrei zu unterdrücken, der sich meiner Kehle entringen wollte.
Kapitel 2
»Hallo?«, wiederholte Sergeant Tom Molloy, diesmal schon leicht ungehalten. »Wer ist denn da?«
Ich hatte den Fehler begangen, die Nummer der Polizeiwache zu wählen, bevor ich wieder Luft bekam. An die Außenwand der Kirche gelehnt, atmete ich tief ein und spürte die reine, eiskalte Luft in meine Lunge strömen.
Schließlich brachte ich ein paar Worte heraus. »Tom, hier ist Ben.«
Seine Stimme wurde milder. »Himmel, Ben, wie klingst du denn? Was ist los?«
»Ich bin mit Paul Doherty oben an der Kirche von Whitewater.«
»An diesem gottverlassenen Ort auf dem Kliff? Was, zum Teufel, tust du dort?«
Paul stand ein Stück von mir entfernt und beobachtete mich. Er wirkte unruhig und trat von einem Bein aufs andere. Ich zog die Augenbrauen hoch, als er ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche holte und sich eine anzündete. Die Flamme des Feuerzeugs flackerte im Wind.
»Paul muss ein Gutachten erstellen …«, begann ich und hielt dann inne. »Aber das ist jetzt egal. Wir haben eben in der Krypta unter der Kirche ein Skelett gefunden.«
»Ihr habt was?«
»Wirklich, ein menschliches Skelett. Und Krypta hin oder her, ich bin mir ziemlich sicher, dass es nichts dort zu suchen hat.«
»Okay. Bleibt, wo ihr seid. Wartet in Dohertys Jeep auf mich oder egal, wo. Was auch immer ihr tut, bleibt zusammen. Ich bin in zehn Minuten bei euch.«
Das hielt ich für ziemlich optimistisch. Whitewater war gute fünfundzwanzig Kilometer von Glendara entfernt, und die Straßen in dieser Gegend gehörten zu den schlechtesten auf der ganzen Halbinsel Inishowen. Ich steckte mein Handy wieder in die Manteltasche und vergrub auch meine Hand eine Weile darin.
Schließlich wandte ich mich an Paul. »Ich wusste gar nicht, dass du rauchst.«
»Tu ich auch nicht«, sagte er und zog grimmig an seiner Zigarette. Sein Gesicht wirkte im Licht der Taschenlampe, die er mit dem Strahl nach oben auf den Boden gestellt hatte, ziemlich gespenstisch. »Ich habe vor fünf Jahren aufgehört. Aber ich stecke immer ein Päckchen in die Tasche, um mir zu beweisen, dass ich das gar nicht brauche.«
Ich lächelte. »In Anbetracht der Umstände kann ich dir einen kleinen Rückfall nicht verdenken.«
Ich sollte meine Worte noch bitter bereuen. Paul rauchte eine nach der anderen, bis mir im beengten Innenraum seines Jeeps der Kopf dröhnte. Sobald die Scheinwerfer des Streifenwagens der Polizei von Glendara im Rückspiegel aufleuchteten, sprang ich aus dem Wagen und sog erleichtert die arktische Luft ein. Molloy war bei mir, noch bevor ich die Tür zuschlagen konnte.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Erstaunt registrierte ich, wie tröstlich es war, seinen melodischen Corker Dialekt zu hören und sein besorgtes Gesicht zu sehen. In letzter Zeit war die Atmosphäre zwischen uns immer etwas angespannt gewesen. Seinen Blick damals und seinen überstürzten Rückzug hatte ich noch deutlich vor Augen. Ich schüttelte die Erinnerung ab. Im Moment hatte ich andere Sorgen.
»Ja. Es war nur ein Schock. Paul ist, glaube ich, ziemlich durcheinander.«
Paul nickte unmerklich, als er Molloy sah, machte aber keine Anstalten, aus dem Jeep zu steigen. Seine Hände klammerten sich immer noch ans Lenkrad.
»Okay. Lass uns hochgehen und die Sache anschauen. Auf dem Weg könnt ihr mir erzählen, was passiert ist.«
Molloy winkte zum Streifenwagen hinüber. Sein Assistent Andy McFadden stieg mit dem Handy in der Hand an der Fahrertür aus und holte seine Uniformjacke mit dem leuchtend gelben Signalstreifen vom Rücksitz. Dann ging er zu Pauls Tür hinüber.
McFadden ließ rohe Gewalt über jeden zeitraubenden Orientierungsversuch siegen und bahnte uns den Weg. Mit Hilfe eines dicken Eschenzweigs schlug er das Dornengestrüpp beiseite. Stechginster und Brombeerbüsche wirkten doppelt so groß wie bei Tageslicht.
»Jetzt erzählt mir doch mal, was ihr hier oben überhaupt zu suchen habt«, sagte Molloy.
Ich holte tief Luft. »Liam McLaughlin, der Makler, hat Paul gebeten, die alte Kirche und das Grundstück zu begutachten. Die Eigentümer wollen verkaufen.«
»Sind bei solchen Begehungen immer Anwälte dabei?«, fragte Molloy in einem Tonfall, der zum Ausdruck brachte, dass er die Antwort bereits kannte.
»Die Dokumente aus dem Grundbuch liegen bei mir. Ich musste Paul einen Lageplan bringen«, verteidigte ich mich. »Unser Scanner hat den Geist aufgegeben.«
Molloy warf mir einen schiefen Blick zu. Niemand wusste besser als er, wie neugierig ich war.
»Du arbeitest also für die Eigentümer dieses Anwesens?«
»Ja.«
Bleiches Mondlicht beleuchtete den Weg zurück zum Glockenturm, wo Paul die Führung übernahm und um das Kirchenschiff herum zu dem niedrigen Eisentor ging. Es war verriegelt, so wie wir es hinterlassen hatten. Molloy schob den Riegel zurück, und das Tor schwang auf. Er nickte McFadden zu.
»Du bleibst mit Ben hier, Andy. Und Paul, du kommst mit.«
Ich protestierte.
»Je weniger Leute da unten herumturnen, desto besser«, erklärte Molloy.
Wenige Minuten später kam Paul schon wieder die Treppe hoch und zündete sich, noch bevor er aufrecht stehen konnte, eine Zigarette an. Molloy trat hinter ihm heraus, die Miene finster.
»Tja, ihr habt recht«, sagte er. »Das sind eindeutig die sterblichen Überreste eines Menschen. Sieht so aus, als lägen sie schon eine Weile hier. Und mit ziemlicher Sicherheit gehören sie nicht einer offiziell hier beerdigten Person …«
»Ich glaube sowieso nicht, dass hier noch reguläre sterbliche Überreste liegen«, warf ich ein. »Die wird man doch umgebettet haben, als die Kirche säkularisiert wurde. Normalerweise tut man das jedenfalls.«
»Wann war das?«
»Die Kirche wurde irgendwann in den Neunzigern entweiht. Ich meine, mich zu erinnern, dass im Grundbuch etwas dazu stand.«
»Wie heißen deine Kunden eigentlich?«, fragte Molloy und zog Notizbuch und Stift aus der Tasche.
»Kelly. Ein Ehepaar – Raymond und Alison Kelly. Ich glaube, Liam hat gesagt, dass sie im Moment in den Vereinigten Staaten sind. Keine Ahnung, wann sie zurückkommen.«
Molloy machte sich eine Notiz. »Ich brauche ihre Kontaktdaten.«
Als ich das Handy aus der Tasche holte, stellte ich fest, dass der Akku leer war. »Ich habe sie jetzt nicht dabei, aber in der Kanzlei kann ich nachschauen.«
»Ich brauche sie so schnell wie möglich.«
Molloy wandte sich an McFadden, der damit begonnen hatte, das Areal mit Absperrband zu sichern. »Andy, hast du das Büro der Rechtsmedizin erreicht? Wir brauchen so schnell wie möglich jemanden aus Dublin.«
»Ja, habe ich.« McFadden richtete sich auf und massierte sich das Kreuz. »Zurzeit ist eine Rechtsmedizinerin in Letterkenny, weil sie am dortigen College eine Vorlesung hält. Unten am Tor ist die Verbindung zusammengebrochen, und ich dachte, ich rufe lieber später noch mal an, wenn wir Näheres wissen.«
»Lass mal, ich mach das schon. Nach allem, was ich gesehen habe, ist das ein Fall für einen forensischen Anthropologen.« Molloy nahm McFaddens Handy und entfernte sich.
Der Strahl von McFaddens Taschenlampe fiel auf das verriegelte Tor zur Krypta, als er mit dem Absperrband herumhantierte. Unwillkürlich starrte ich es an und hatte plötzlich wieder vor Augen, was ich eine halbe Stunde zuvor dahinter gesehen hatte. Mein Magen revoltierte.
»Wie lange besitzen die Kellys die Kirche denn schon?«, fragte McFadden und holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Keine Ahnung. Beim Kauf war ich nicht beteiligt.«
Er schüttelte den Kopf. »Mir war gar nicht klar, dass sie in Privatbesitz ist. Ich hätte gedacht, dass sie immer noch der katholischen Kirche gehört.«
»Soweit ich weiß, haben die Leute sie gekauft, um sie in eine Art Kulturerbestätte umzuwandeln. Dann bekamen sie aber Probleme.«
»Geld vermutlich«, meinte McFadden. »Das traurige Schicksal des Keltischen Tigers.«
»Vermutlich. Oder Probleme mit Baugenehmigungen«, sagte ich. »Seither hat sich ja nichts getan.«
McFadden stieß einen Pfiff aus. »Ob sie wohl wussten, was da im Keller liegt?«
Molloy, den ich in der Dunkelheit gar nicht hatte zurückkommen sehen, bedachte McFadden mit einem missbilligenden Blick.
»Wir haben Glück«, verkündete er dann. »Wie es der Zufall will, ist die Rechtsmedizinerin auch forensische Anthropologin und befindet sich gleich um die Ecke. Sie ist schon auf dem Weg.«
Dann wandte er sich an mich. »Nicht dass ich McFaddens Schnellschüsse schätze, aber hältst du es für möglich, dass deine Kunden von der Leiche wissen?«
»In dem Fall wäre es eher unwahrscheinlich, dass sie jemanden die Kirche inspizieren lassen, oder?«, entgegnete ich.
»Sergeant«, sagte McFadden plötzlich. »Schauen Sie sich das an.« Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Boden vor dem Eingang zur Krypta. Irgendetwas blinkte im Gras.
Molloy zog ein Taschentuch aus der Tasche und hob den Gegenstand damit auf. Es war ein Vorhängeschloss, ähnlich wie es am Eingangstor und am Kirchenportal hing. Man hatte es einfach aufgesägt. Er kratzte sich am Kinn. »Sieht so aus, als hättest du recht. Vielleicht wissen sie von nichts.«
Er reichte McFadden das Taschentuch mit dem Schloss. »Einer von euch muss hier sein, wenn die Rechtsmedizinerin kommt. Ich bin mir sicher, dass sie ein paar Fragen hat.«
»Natürlich«, sagte ich sofort.
»An dich hatte ich eigentlich nicht gedacht«, erklärte Molloy. »Paul war schließlich der Erste am Fundort.«
Paul hatte noch kein Wort gesagt, seit er aus der Krypta zurückgekehrt war. Jetzt nickte er unglücklich, einen resignierten Ausdruck im Gesicht.
»Es würde mir aber nichts ausmachen«, beharrte ich.
»Ich könnte mir vorstellen, dass eine Menge Arbeit auf dich wartet«, sagte Molloy streng. »Außerdem brauche ich so schnell wie möglich die Kontaktdaten deiner Kunden.«
»Okay. Ich ruf dich an und gebe die Daten durch. Und sie selbst muss ich natürlich auch anrufen, um ihnen mitzuteilen, was passiert ist.«
Molloy runzelte die Stirn. »Es wäre mir lieber, du würdest mir das überlassen. Das ist mein Job.« Er reichte mir eine Taschenlampe. »Und, Ben?«
Ich schaute auf.
»Vermutlich muss ich dir nicht sagen, dass du für dich behalten solltest, was du hier gesehen hast, oder?«
Eine halbe Stunde später erreichte ich Glendara und das alte Reihenhaus, in dem die Kanzlei O’Keeffe & Co. untergebracht ist. O’Keeffe & Co. ist meine Kanzlei, seit ich sie vor sechs Jahren von meinem Vorgänger, der in den Ruhestand gegangen war, übernommen habe. Es ist die nördlichste Kanzlei Irlands – letzter Rechtsbeistand vor Island, wie ich am liebsten auf meinen Briefkopf setzen würde.
Als ich die Straße überquerte und die Leute von Laden zu Laden eilen sah – beschäftigt mit ihren Kindern und ihren tausend Tüten, mit ihrem Leben und ihren Familien –, verspürte ich eine vertraute Leere. Als Zugereiste in einer Stadt zu leben, in der die meisten Einwohner ihr ganzes Leben verbracht haben, ist nicht gerade einfach. In düsteren Momenten habe ich das Gefühl, dass sich meine Rolle darin erschöpft, andere Menschen zu beobachten und ihnen bestimmte Dinge zu erleichtern. Als hätte ich nur ein halbes Leben und würde gar nicht wirklich zählen, weil hier niemand meine »Leute« kennt. Aber ich habe Gründe dafür, hier zu sein, und meine Entscheidung getroffen.
Mein Name ist Ben O’Keeffe. Eigentlich Benedicta, was ich der Begeisterung meiner Eltern für eine obskure italienische Heilige aus dem fünften Jahrhundert verdanke, aber die vollständige Version kommt nur selten zum Zug. »Ben« ist ganz nach meinem Geschmack, obwohl der Name gelegentlich interessante Missverständnisse verursacht.
Leah war in die Buchhaltung vertieft, als ich die Kanzlei betrat. Leah McKinley ist meine Empfangsdame, Anwaltsgehilfin und noch vieles mehr, alles in einer Person. An einem ruhigen Nachmittag hat sie mal eine Stellenbeschreibung für ihren Job konzipiert, für jeden Buchstaben des Alphabets eine Funktion: Adjutantin, Buchhalterin, Caféhaus-Express … Sie verstehen schon. Wir sind ein Zwei-Frau-Betrieb.
Molloy hatte mich gebeten, den Mund zu halten, aber ich vertraue Leah blind – zumal sie vertraglich zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Nachdem ich ihr erzählt hatte, was geschehen war, ließ ich sie mit offenem Mund sitzen und begab mich nach oben an meinen Schreibtisch. Ich suchte Adresse und Telefonnummer der Kellys heraus und wählte Molloys Handynummer. Da sich nur die Mailbox meldete, hinterließ ich eine Nachricht. Dann ging ich zum Aktenschrank und zog eine dicke Eigentumsübertragungsakte heraus.
Ich entnahm ihr ein großes Bündel Grundbucheinträge, löste das rosafarbene Bändchen, mit dem sie zusammengehalten wurden, und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Einen nach dem anderen las ich die Titel und fand schließlich, was ich gesucht hatte: die Urkunde der letzten Übertragung der Kirche von der Treuhandverwaltung der katholischen Kirche auf Raymond und Alison Kelly. Ich faltete das Papier auseinander und suchte das Datum. Die Kellys hatten die Kirche von Whitewater am 14. Dezember 2005 gekauft – in jener Zeit also, als alle Iren große Pläne hatten und das Geld auf der Straße lag.
Dann ging ich die anderen Papiere durch, bis ich auf die Profanierungsurkunde von 1995 stieß. Ich wollte sie mir gerade zu Gemüte führen, als ich unten Stimmen hörte. Die Person, mit der sich Leah unterhielt, sprach laut und mit einem ausgeprägten Akzent. Ich hatte sie zwar erwartet, aber so schnell nun auch wieder nicht. Die Einzelheiten der Unterredung verstand ich nicht, aber der Schallpegel deutete darauf hin, dass es Leah mit einem wahren Nervenbündel zu tun haben musste. Ihre erleichterte Miene, als ich am Fuß der Treppe erschien, bestätigte meinen Verdacht. Vor ihrem Schreibtisch hatte sich Raymond Kelly aufgebaut.
»Ich kann nicht warten!«, rief er soeben. »Ich muss auf der Stelle mit ihr sprechen.«
»Mr Kelly?«, sagte ich.
Er fuhr herum.
»Was soll das, verdammt?«, fragte er und breitete hilflos die Arme aus. »Ich schalte nach der Landung in Belfast mein Handy ein und habe eine Nachricht von einem gewissen Molloy. Was, zum Teufel, ist hier los?«
»Kommen Sie mit hoch«, forderte ich ihn auf.
Er folgte mir die Treppe hinauf. »Ich bin eigentlich auf dem Weg zur Polizeiwache. Dieser Molloy sagte etwas von einer Leiche. Eine beschissene Leiche?«
In meinem Büro verzichtete er auf den Platz, den ich ihm anbot, und marschierte wie ein Löwe im Käfig auf und ab. Ein paar Schritte nach links, ein paar Schritte nach rechts.
»In der Krypta unter der Kirche wurden die sterblichen Überreste eines Menschen gefunden«, erklärte ich. »Zufälligerweise war ich zugegen, als das geschah.«
Kelly blieb wie angewurzelt stehen und schaute mich mit vorwurfsvoller Miene an.
»Was hatten Sie denn da zu suchen?«
»Liam hatte mich gebeten, Paul eine Karte von dem Anwesen zu bringen.«
»Klingt ja, als wäre die ganze verdammte Stadt da oben gewesen.«
Ich zählte innerlich bis zehn. »Paul brauchte die Karte für sein Gutachten«, erklärte ich so ruhig wie möglich. »Was die Knochen betrifft, weiß man bisher weder, wie alt sie sind, noch wie lange sie schon dort liegen. Das wird man erst erfahren, wenn die Rechtsmedizinerin ihre Untersuchungen abgeschlossen hat.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Vermutlich ist sie jetzt schon dort.«
»Gütiger Gott.« Kelly fuhr sich mit den Fingern durchs lichte Haar. »Und warum wollen die mit mir sprechen? Denken die, ich hätte etwas damit zu tun?«
»Das hat niemand behauptet.«
»Woher soll ich denn wissen, wie das Ding dorthin gekommen ist?«
»Hören Sie, wollen Sie sich nicht vielleicht setzen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich meine, warum sollte ich wohl eine Ortsbegehung zulassen, wenn ich eine beschissene Leiche da versteckt hätte?«
»Genau das habe ich auch gesagt. Vermutlich will man einfach nur mit Ihnen sprechen, weil Sie der Eigentümer des Anwesens sind.«
Jetzt blieb er endlich stehen und wirkte für einen Moment wie ein kleiner Junge. »Würden Sie vielleicht mit mir auf die Wache kommen?«
»Wenn Sie das wünschen.«
Seine Schultern sackten leicht herab. Er setzte sich, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und legte den Kopf in die Hände.
»Warum habe ich dieses elende Gebäude nur gekauft? Seit ich es zum ersten Mal zu Gesicht bekam, hat es mir nur Kopfschmerzen bereitet. Ich habe einen viel zu hohen Preis dafür bezahlt, konnte partout keine Baugenehmigungen bekommen, und dann ist die Wirtschaft eingebrochen. Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich denken, dass auf dem Ding ein Fluch liegt – dass man nichts Besseres verdient, wenn man eine säkularisierte Kirche kauft, um etwas daraus zu machen.«
Ich lächelte. »Die Kirche von Whitewater kann man sicher nicht für den Zusammenbruch der irischen Wirtschaft verantwortlich machen.«
»Vermutlich nicht, aber dennoch … Viel Glück hat sie mir jedenfalls nicht gebracht, das können Sie nicht bestreiten.«
»Nein«, gab ich zu. »Aber die jüngsten Entwicklungen hätte man auch nicht vorhersehen können.«
Kelly schaute düster auf den Stapel Dokumente auf meinem Schreibtisch. »Sind das die Grundbucheinträge?«
»Ja. Warum?«
»Steht da etwas über einen Fluch drin?«
McFadden rutschte auf den Knien hinter dem Empfangstresen herum, als wir eintraten.
Ich beugte mich über den Tresen und fragte: »Ist der Sergeant schon zurück, Andy?«
Er schaute auf. »Nein. Der ist noch bei der Kirche.«
Kelly, der neben mir stand, stöhnte auf.
»Das ist Raymond Kelly«, sagte ich. »Der Eigentümer. Tom wollte mit ihm sprechen.«
McFadden stand auf. »Ah, okay. Ich kann schon einmal ein paar Dinge zu Protokoll nehmen, wenn es Ihnen recht ist, Mr Kelly.«
Er hatte es gerade einmal bis zu Kellys Adresse geschafft, als sich die Tür zur Polizeiwache öffnete und Molloy, in Begleitung einer attraktiven Blondine in einem dunklen Hosenanzug und flachen Schuhen, eintrat. Sie waren in eine Unterhaltung vertieft, und Molloy blickte nur kurz in unsere Richtung, als sie an uns vorbeigingen. Die Frau schaute ebenfalls auf, und als sich unsere Blicke kreuzten, sah ich unvermittelt in ein Gesicht, von dem ich aus tiefstem Herzen gehofft hatte, es nie wiedersehen zu müssen. Ohne Vorwarnung fühlte ich mich um acht Jahre zurückversetzt, in diesen grässlichen Gerichtssaal, wo ich dieser Frau zum letzten Mal begegnet war. Ich klammerte mich an den Tresen und wandte mich ab. Sekunden später hörte ich, wie die Tür zum Vernehmungsraum hinten in der Wache zuschlug.
Die Zeit stand still, bis die beiden wieder auftauchten. Ich folgte ihnen mit dem Blick, als sie zur Tür gingen. Molloy neigte den Kopf, um mitzubekommen, was die Frau sagte. Tausend Nadeln bohrten sich in meinen Hals, und ich zwang mich, wegzusehen und mich darauf zu konzentrieren, was Kelly auf McFaddens Fragen antwortete. Irgendwann hörte ich die Eingangstür zufallen und spürte Molloy an meiner Seite.
»War das die …?«, fragte ich. Meine Stimme klang sonderbar.
»Das war die Rechtsmedizinerin.« Er musterte Kelly. »Und der Herr ist?«
»Raymond Kelly, der Eigentümer der Kirche von Whitewater.«
»Danke, dass Sie gekommen sind, Mr Kelly. Ich bin mir sicher, dass die Angelegenheit für Sie ziemlich unangenehm sein muss, aber wir wären Ihnen wirklich sehr verbunden für jede Art von Hilfe. Geben Sie mir noch ein paar Minuten, dann würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
Kelly nickte missmutig. Molloy warf mir einen Blick zu und schaute dann Richtung Vernehmungsraum. Als ich ihm folgte, war mir nicht klar, ob meine Beine mich tragen würden. Er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Tür.
»Noch gibt es nicht viel«, erklärte er. »Der Tote war ein Mann. Der Rechtsmedizinerin zufolge deutet der Verwesungsgrad darauf hin, dass er mindestens fünf Jahre tot sein muss. Die Leiche ist vollständig skelettiert, aber das wusstest du ja schon.«
Ich sah zu Boden, weil ich das grausige Bild noch klar vor Augen hatte.
»Mehr kann man nach der vorläufigen Untersuchung nicht sagen, auch über die Todesursache gibt es noch keine Erkenntnisse. Wir wissen noch nicht einmal, ob die Knochen von jemandem dorthin gebracht wurden oder ob der Mann dort gestorben ist.«
Ich riss mich zusammen. »Um Gottes willen, hoffentlich nicht. Was für ein Ort zum Sterben.«
»Wenn, dann war es auch kein Unfall, das wissen wir mit Sicherheit. Das Tor war doch von außen verriegelt, als ihr gekommen seid, oder?«
»Ja.«
»Das bestätigt Dohertys Aussage. Mit oder ohne Vorhängeschloss, das Tor kann nicht von innen geöffnet werden. Die Gitterstäbe sind zu eng. Der Mann müsste eingesperrt worden sein.«
»Gütiger Gott.«
»Gütiger Gott, in der Tat. Die Rechtsmedizinerin hat veranlasst, dass die Knochen ins Krankenhaus in Letterkenny gebracht werden. Sie wird noch heute Nacht eine vollständige Obduktion vornehmen, dann sollten wir morgen früh schlauer sein.«
Molloy öffnete die Tür. »Deinen Kunden kenne ich übrigens, glaube ich. Er besitzt ein paar Pubs im Westen von Donegal und einen in Buncrana, oder? Und sammelt er nicht in großem Stil Spenden für die Hospizbewegung?«
»Ja, das ist er.«
»Möchtest du dabeibleiben, wenn ich ihn befrage?«