Ein pulsierender Neutrinostrahl ist entdeckt worden. Handelt es sich um ein rein physikalisches Phänomen? Oder aber um eine interstellare Botschaft, ausgesandt von einer der Menschheit weit überlegenen Zivilisation? Wie in seinen anderen Büchern verzichtet Stanisław Lem auch in diesem Roman auf endgültige Antworten. Er läßt ein faszinierendes Geflecht aus Hypothesen und Vermutungen entstehen, und am Ende steht das vorläufige Scheitern aller Hoffnungen.

»Daß Lem der Science-fiction, dem späten Bettelkind der literarischen Gattungsfamilie, das Tor zu den Festsälen der Kritikwürdigkeit aufgestoßen hat, ist ... ein zu blasses Lob für die schöpferische Potenz des Schriftstellers, der oft genug Weltenkonstellationen nur schuf, um sie wieder zerstören oder ihrem inneren Verfall beobachtend beiwohnen zu können.«

Dietmar Dath, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.

Stanisław Lem

Die Stimme des Herrn

Roman

Aus dem Polnischen von Roswitha Buschmann

Phantastische Bibliothek
Band 311

Suhrkamp

Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner

Titel der Originalausgabe: Głos Pana

Umschlagfoto: NASA / SPL / Agentur Focus

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Stanisław Lem 1995

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Frankfurt am Main 1981

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags Frankfurt am Main und Leipzig

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74337-9

www.suhrkamp.de

Anmerkung des Herausgebers

Mit vorliegendem Buch veröffentlichen wir ein Manuskript, das in den nachgelassenen Papieren von Professor Peter E. Hogarth gefunden wurde. Diesem großen Geist war es leider nicht mehr vergönnt, seine Aufzeichnungen, die ihn über einen längeren Zeitraum in Anspruch nahmen, endgültig abzuschließen und für den Druck vorzubereiten. Die Krankheit, der er erlag, kam ihm zuvor. Da der Verstorbene über dieses Werk, das für ihn eine Ausnahme darstellte und an dem er weniger aus Spaß als vielmehr aus Pflichtgefühl arbeitete, selbst mit den ihm Nahestehenden, zu denen ich mich zählen durfte, nur ungern sprach, ergaben sich bei den vorbereitenden Gesprächen über die Herausgabe des Manuskripts gewisse Unklarheiten und strittige Punkte. Der Wahrheit zuliebe will ich nicht verhehlen, daß im Kreise derer, denen der Text zur Kenntnisnahme vorgelegt worden war, Stimmen laut wurden, die sich gegen eine Veröffentlichung aussprachen, da sie angeblich nicht in der Absicht des Verstorbenen gelegen hätte. Da wir jedoch keinerlei dahin gehende schriftliche Erklärung seinerseits besitzen, dürfen wir annehmen, daß derlei Ansichten jeder Grundlage entbehren. Fest hingegen steht, daß es sich um ein unvollendetes Werk handelt, da der Titel fehlt und wir nur noch ein lediglich im Konzept vorhandenes gesondertes Kapitel fanden, welches – und hier liegen unsere Hauptbedenken – sowohl als Einleitung als auch als Nachwort zum Buch gelten kann.

Als zum Nachlaßverwalter bestellter Freund und Kollege des Verstorbenen habe ich mich letztendlich entschieden, besagtes Fragment, das für das Verständnis des Ganzen von wesentlicher Bedeutung ist, als Einführung zu verwenden. Der Titel »Die Stimme des Herrn« geht auf einen Vorschlag des Verlegers, Mr. John F. Killer, zurück, dem ich an dieser Stelle für die hilfreiche Unterstützung bei der Veröffentlichung der letzten Arbeit von Professor Hogarth danken möchte. Gleichfalls meinen Dank aussprechen möchte ich Mrs. Rosamond T. Shelling, die sich den nötigen Vorarbeiten mit solcher Sorgfalt widmete und der die Endredaktion des Textes oblag.

Professor Thomas V. Warren
Mathematische Fakultät der Universität Washington
Washington DC., im April 1996

Vorwort

Wenn ich auch viele Leser durch die nachfolgenden Worte vor den Kopf stoßen werde, halte ich es dennoch für meine Pflicht, sie auszusprechen. Bücher wie dieses habe ich bislang nicht geschrieben, und da es nicht der Brauch ist, daß ein Mathematiker seinen Arbeiten Ergüsse persönlicher Natur vorausschickt, könnte ich sie mir sparen.

Auf Grund von Umständen, die sich meinem Einfluß entzogen, wurde ich in Ereignisse verwickelt, die ich darstellen möchte. Die Gründe, die mich veranlassen, dieser Schilderung eine Art Bekenntnis voranzustellen, werden sich später klären. Wer über sich selbst reden will, muß sich für ein bestimmtes Bezugssystem entscheiden; möge meine jüngst erschienene Biographie aus der Feder von Professor Harold Yowitt als solches gelten. Yowitt nennt mich einen Geist allergrößten Formats, da ich stets die schwierigsten der heute zugänglichen Probleme angegangen sei. Er verweist darauf, daß mein Name immer dort zu finden gewesen sei, wo an einer radikalen Destruktion der wissenschaftlichen Überlieferung und an der Begründung neuer Theorien gearbeitet wurde, etwa bei der mathematischen Revolution, bei der Physikalisierung der Ethik oder beim »MAVO«-Projekt.

Als ich in der Lektüre bis zu der Stelle gediehen war, wo von Destruktion die Rede ist, erwartete ich hinter den Worten über meine zerstörerischen Neigungen weiterführende und kühnere Schlußfolgerungen und wähnte, endlich einen Biographen gefunden zu haben, was mich im übrigen durchaus nicht freute, denn sich selber zu entblößen ist noch immer nicht dasselbe wie – entblößt zu werden. Yowitt jedoch kehrt, gewissermaßen erschrocken über den eigenen Scharfsinn, dann – inkonsequent – zu der landläufigen Version über meine Person als eines ebenso arbeitswütigen wie bescheidenen Genies zurück und führt sogar ein paar Anekdoten aus dem eisernen Repertoire über mich an.

Ich konnte dieses Buch also getrost zu meinen anderen Biographien ins Regal zurückstellen, weil es mir seinerzeit nie in den Sinn gekommen wäre, daß ich in Bälde gegen den lobhudlerischen Porträtisten antreten würde. Dabei bemerkte ich, daß auf dem Regal nicht mehr viel Platz war. Mir fiel ein, daß ich einmal zu Yvor Baloyne gesagt hatte, ich würde sterben, wenn das Regal voll sei. Er hatte das für einen Scherz gehalten, und ich hatte nicht widersprochen, obwohl ich meine ehrliche Überzeugung geäußert hatte, deren Albernheit ihre Echtheit in nichts schmälert. Ich hatte also, um auf Yowitt zurückzukommen, noch einmal Glück gehabt oder, wie man will, auch kein Glück gehabt und bleibe, obwohl ich in meinem zweiundsechzigsten Lebensjahr achtundzwanzig meiner Person gewidmete Folianten besitze, vollkommen unbekannt. Darf man im übrigen so reden?

Professor Yowitt schrieb über mich nach Regeln, die nicht er aufgestellt hat. Nicht alle Personen der Öffentlichkeit dürfen auf die gleiche Art betrachtet werden. Der Kleinheit großer Künstler darf man mittlerweile nachspüren, und manche Biographen scheinen nachgerade zu glauben, eine Künstlerseele müsse mit kleinen Gemeinheiten abgepolstert sein. Großen Gelehrten gegenüber ist noch immer das alte Schema verbindlich. Den Künstler erkennen wir bereits als an seinen Körper geschmiedeten Geist, ein Literaturwissenschaftler darf sich über die Homosexualität eines Oscar Wilde auslassen, doch man kann sich schwerlich einen Wissenschaftshistoriker vorstellen, der sich analog dazu mit den Schöpfern der Physik befaßt. Die haben unanfechtbar, vollkommen zu sein, und die historische Veränderung besteht allein in unterschiedlichen Angaben über ihren Aufenthaltsort. Ein Politiker darf ein Schurke sein, ohne aufzuhören, ein großer Politiker zu sein, ein genialer Schurke hingegen, das ist eine Contradictio in adjecto: Schurkenhaftigkeit macht Genialität hinfällig. Das verlangen heute die Regeln.

Eine Psychoanalytiker-Gruppe aus Michigan versuchte zwar, diesen Zustand zu ändern, doch hat sie die Sünde der Trivialität begangen. Den Hang zum Theoretisieren, der bei Physikern zutage tritt, leiteten diese Forscher aus sexuellen Hemmungen ab. Die psychoanalytische Lehre entdeckt das Tier im Menschen, das vom Gewissen derart fatal zugeritten wird, daß sich das Tier unter dem frommen Reiter unwohl fühlt und der Reiter in seiner Position nicht minder, weil seine Anstrengung ja nicht nur dahin geht, das Tier zu bändigen, sondern es auch noch unsichtbar zu machen. Die Konzeption, nach der ein altes Tier in uns steckt, das die neue Vernunft ohne Sattel auf seinem Rücken trägt, ist ein Gemisch aus verschiedenen primitiven mythologischen Vorstellungen.

Die Psychoanalyse serviert uns die Wahrheit auf infantile, das heißt »gymnasiale« Weise: Brutal und überstürzt erfahren wir durch sie Dinge, die uns schockieren und uns daher zum Gehorsam zwingen. Es kommt mitunter vor, wie just in diesem Falle, daß eine sich zwar der Wahrheit nähernde, doch billige Vereinfachung gerade soviel taugt wie eine Lüge. Einmal mehr werden uns Dämon und Engel, Bestie und Gott, in manichäischer Umarmung verschlungen, vorgeführt, und noch einmal wird der Mensch durch seinesgleichen für unschuldig erklärt als ein Kampfplatz von Kräften, die in ihn gefahren sind, ihn ausstopfen und sich in seiner Haut breitmachen. Und so ist denn die Psychoanalyse vor allem ein »Gymnasialismus«. Skandale sollen uns den Menschen erklären, und das ganze Drama des Daseins spielt sich zwischen dem Schwein und dem sublimierten Wesen ab, in das die Anstrengung der Kultur dieses zu verwandeln vermag.

Und so müßte ich denn eigentlich Professor Yowitt dankbar dafür sein, daß er mein Bildnis im klassischen Stil gehalten und die Methode nicht bei den Psychologen von Michigan entliehen hat. Ich habe nicht vor, besser über mich zu sprechen, als sie es getan haben würden, aber zwischen einer Karikatur und einem Porträt ist immerhin ein Unterschied.

Ich glaube zwar nicht, daß jemand, der der Gegenstand von biographischen Arbeiten ist, über bessere Kenntnisse verfügt, als seine Biographen sie besitzen. Ihre Situation ist günstiger, weil sie Unklarheiten durch unzulängliche Angaben rechtfertigen können, was zu der Annahme berechtigt, daß der Beschriebene, wenn er lebte und dies wollte, ihnen die fehlenden Informationen hätte zur Verfügung stellen können. Der Beschriebene hingegen verfügt über nichts weiter als über Hypothesen zur eigenen Person, die wohl als seine Hervorbringungen, aber nicht unbedingt als jene fehlenden Bausteine Aufmerksamkeit verdienen mögen.

Bei genügendem Einfallsreichtum vermag eigentlich jeder eine ganze Reihe von eigenen Lebensläufen zu schreiben, die sich zu einer nur faktographisch geschlossenen Sammlung fügen. Selbst verständige, doch junge und also aus Unerfahrenheit naive Personen sehen darin nichts außer Zynismus. Sie sind im Irrtum, denn es handelt sich nicht um ein moralisches, sondern um ein erkenntnistheoretisches Problem. Die metaphysischen Glaubensrichtungen stehen keineswegs in ihrer Zahl den mannigfaltigen Glaubensvorstellungen nach, denen der Mensch zur eigenen Person anhängen kann – der Reihe nach, in verschiedenen Lebensabschnitten, und mitunter auch zur gleichen Zeit.

Und so behaupte ich auch nicht, ich könnte viel mehr als die Vorstellungen vermitteln, die ich seit ungefähr vierzig Jahren über mich habe, und als das einzige Besondere daran erscheint mir der Umstand, daß sie nicht schmeichelhaft für mich sind. Diese Unschmeichelhaftigkeit beschränkt sich jedoch nicht auf das »Herunterreißen der Maske«, welches der einzige, dem Psychoanalytiker verfügbare Trick ist. Von einem genialen Menschen beispielsweise zu sagen, er sei moralisch ein Schwein gewesen, heißt noch nicht unbedingt, ihn dort zu treffen, wo womöglich seine private Schande sitzt. Ein »den Gipfel der Epoche erreichender Intellekt«, wie es bei Yowitt heißt, wird von solcherart Diagnose nicht berührt. Die Schmach des Genies kann seine intellektuelle Vergeblichkeit sein, die Selbsterkenntnis, wie wenig gesichert alles ist, was es vollbracht hat. Genialität, das ist nie aufhörendes Zweifeln – vor allem anderen. Jeder einzelne von den Großen hat sich jedoch dem Druck der Allgemeinheit gebeugt, hat die ihm zu Lebzeiten errichteten Denkmäler nicht zertrümmert und damit sich selbst nicht in Zweifel gezogen.

Wenn ich als Person mit Genie, das mir von mehreren Dutzend gelehrten Biographen bescheinigt wird, überhaupt irgend etwas über geistige Höhepunkte aussagen kann, dann nur soviel, daß die Klarheit des Denkens ein lichter Punkt auf einem Gelände unerschöpflicher Finsternis ist. Genie ist nicht einfach nur Licht, sondern vor allen Dingen beständiges Wahrnehmen des uns umgebenden Dunkels, und seine normale Feigheit besteht darin, sich im eigenen Glanze zu sonnen und, solange dies möglich ist, nicht über dessen Grenzen hinauszuschauen. Ungeachtet dessen, wieviel authentische Kraft ihm innewohnt, bleibt immer noch ein erheblicher Rest, der nur vorgetäuschte Kraft sein kann.

Für die grundlegenden Eigenschaften meines Charakters halte ich Feigheit, Bosheit und Stolz. Der Zufall wollte es, daß dieser Dreifaltigkeit ein ganz bestimmtes Talent zu Gebote stand, das sie zu verbergen wußte und scheinbar umwandelte, und dabei half ihm die Intelligenz, im Leben eine der nützlichsten Einrichtungen, um angeborene Eigenschaften zu maskieren, sofern eine solche Operation als wünschenswert erscheint. Seit über vierzig Jahren benehme ich mich wie ein hilfsbereiter und bescheidener Mensch, bar aller Merkmale professionellen Dünkels, weil ich mich in ebendiesem Verhalten sehr lange und beharrlich geübt habe. Wie weit ich mich auch in meine Kindheit zurückversetze, immer war mein Leben von der Suche nach dem Bösen bestimmt, worüber ich mir übrigens verständlicherweise nicht im klaren war.

Meine Bosheit war isotrop und vollkommen uneigennützig. An weihevollen Orten, wie in der Kirche oder in der Nähe besonders würdiger Personen, dachte ich mit Vorliebe an Dinge, die mir verboten waren. Daß der Inhalt dieser Gedanken albern und kindisch war, will gar nichts besagen. Ich machte meine Experimente einfach auf der Ebene, der ich seinerzeit gewachsen war. Ich erinnere mich wirklich nicht, wann ich die ersten Versuche in dieser Richtung machte. Ich erinnere mich lediglich an den schneidenden Schmerz, die Wut, die Enttäuschung, die mich später jahrelang verfolgten, als sich herausstellte, daß ein Kopf, der voller schlechter Gedanken steckt, an keinem Ort und in niemandes Nähe vom Blitz getroffen wird, daß ein Ausscheren aus der richtigen Ordnung keinerlei, aber auch nicht die geringsten Konsequenzen nach sich zieht.

Wenn man so etwas überhaupt von einem nur wenige Jahre alten Kind sagen kann, dann wünschte ich mir jenen Blitz oder eine andere schreckliche Bestrafung und Buße herbei, forderte sie heraus und haßte den Ort meines Daseins, die Welt, dafür, daß sie mir bewiesen hatte, wie vergeblich alles Tun, also auch die böse Tat im Geiste, ist. Und so ließ ich meine Wut niemals an Tieren aus, ja nicht einmal am Gras, hingegen peitschte ich die Steine, den Sand, malträtierte ich Einrichtungsgegenstände, quälte das Wasser, und in Gedanken zertrümmerte ich die Sterne, um sie dafür zu bestrafen, daß ich ihnen gleichgültig war, und handelte so in einer Wut, die immer ohnmächtiger wurde, je besser ich begriff, wie lächerlich und töricht meine Handlungsweise war.

Etwas später hielt ich meinen Zustand, den ich durch Selbsterkenntnis erreicht hatte, für etwas wie ein schmerzliches Unglück, mit dem sich absolut nichts anfangen ließ, da es zu nichts nutze war. Ich sagte, meine Bosheit war isotrop: denn zuallererst bedachte ich mich selbst damit. Die Form meiner Hände, meiner Füße, meine Gesichtszüge verdrossen mich, sobald ich sie im Spiegel sah, so wie sie uns gewöhnlich nur an anderen ärgern und stören. Als ich noch größer wurde, fand ich, daß man so unmöglich leben könne. Schritt für Schritt beschloß ich, wie eigentlich ich zu sein hätte, und von Stund an strebte ich nur noch danach, mich an das einmal aufgestellte Programm zu halten – im übrigen mit wechselnder Konsequenz.

Eine Autobiographie, die damit beginnt, daß Bosheit im Verein mit Stolz und Feigheit als Grundlagen des Geistes aufgeführt werden, ist vom deterministischen Standpunkt aus mit einem logischen Trugschluß belastet. Denn wenn wir annehmen, daß alles in uns von vornherein angelegt ist, war auch mein Widerstand gegen die innere Bosheit schon angelegt, und der Unterschied zwischen mir und anderen besseren Menschen würde sich lediglich darauf beschränken, daß die Quelle der Handlungen jeweils anderswo zu suchen ist. Was jene aus freien Stücken tun, mit geringem Aufwand, weil sie doch einer natürlichen Neigung folgen, praktizierte ich ihr zum Trotz, also gewissermaßen künstlich. Aber ich selbst war es ja, der sich diese Taten abverlangte, mithin war ich – so betrachtet – in der Endbilanz dennoch zu Redlichkeit und Güte prädestiniert. Wie Demosthenes sich einen Stein in den stotternden Mund legte, so senkte ich mir Eisen in meinen Geist, um ihn gerade auszurichten.

Allein in dieser Gleichsetzung offenbart der Determinismus seinen ganzen Widersinn. Eine Schallplatte, auf der Engelsgesänge aufgezeichnet sind, ist moralisch nicht um ein Haar besser als eine, auf der Zeter- und Mordiogeschrei ertönt. Nach dem Determinismus war jemand, der besser sein wollte und es werden konnte, von vornherein dazu bestimmt, ebenso wie jemand, der es sein wollte, aber nicht sein konnte, oder auch jener, der nicht einmal versuchte, es sein zu wollen. Dieses Bild ist falsch, denn die auf der Platte aufgezeichneten Kampfgeräusche sind nicht der wirkliche Kampf. Da ich meinen Eigenaufwand kenne, darf ich behaupten, daß meine Kämpfe nicht eingebildet waren. Der Determinismus meint einfach etwas ganz anderes – die Kräfte, mit denen das physikalische Kalkül operiert, tun hier nichts zur Sache, ähnlich wie man ein Verbrechen nicht entschuldigen kann, indem man es in die Sprache atomarer Wahrscheinlichkeitsgrößen übersetzt.

In einem hat Yowitt unbestritten recht: Ich war immer auf das Schwierige aus. Gelegenheiten, wo ich meiner angeborenen Bosheit freien Lauf lassen konnte, verwarf ich für gewöhnlich als zu leicht. Wenn es auch sonderbar, ja sogar widersinnig klingen mag: Ich habe meinen Hang zum Bösen nicht überwunden, weil ich vom Guten als dem größeren Wert so angetan gewesen wäre, sondern ich habe so gehandelt, weil ich sein Vorhandensein in mir erst dann voll spürte. Für mich zählte die Anstrengung, die mit der Arithmetik der Moral nichts zu schaffen hat. Und so vermag ich wirklich und wahrhaftig nicht zu sagen, was aus mir geworden wäre, wenn nun die Veranlagung, nur Gutes zu tun, die erste angeborene Eigenschaft meiner Natur gewesen wäre. Wie gewöhnlich muß eine Überlegung, in welcher wir versuchen, uns selber in einer anderen als der vorgegebenen Gestalt zu erfassen, und dabei die Gesetze der Logik verletzen, sehr schnell Schiffbruch erleiden.

Ein einziges Mal entsagte ich nicht dem Bösen. Diese Erinnerung knüpft sich an den langen, grauenhaften Todeskampf meiner Mutter, die ich liebte und deren Auflösungsprozeß während der Krankheit ich zugleich überaus wach und gierig verfolgte. Ich war damals neun Jahre alt. Sie, die Heiterkeit, Kraft, ja nachgerade majestätische Ausgeglichenheit in Person, lag niedergestreckt in einem sich hinschleppenden und von den Ärzten hinausgezögerten Sterben. An ihrem Bett, in dem verdunkelten, von Arzeneigestank erfüllten Zimmer, hatte ich mich noch in der Gewalt, aber einmal, als ich sie verließ und schon die Tür hinter mir zugemacht hatte und sah, daß ich allein war, schnitt ich eine übermütige Grimasse zum Schlafzimmer hin, und weil mir das noch nicht genügte, rannte ich in mein Zimmer und tanzte keuchend, mit geballten Fäusten, vor dem Spiegel herum, während ich Fratzen schnitt und vor unbändiger Freude kicherte. Vor Freude? Ich verstand sehr wohl, daß meine Mutter im Sterben lag, und seit dem Morgen hatte ich mich der Verzweiflung überlassen, und diese Verzweiflung war ebenso echt wie jenes unterdrückte Kichern. Ich entsinne mich genau, wie es mich entsetzte, und gleichzeitig ließ ich damit alles hinter mir, was ich bisher erfahren hatte, und in diesem Schritt lag eine vernichtende Erleuchtung.

Noch in der Nacht, als ich allein lag, suchte ich zu begreifen, was geschehen war, und unfähig dazu, brachte ich mich mit der gebührenden Bemitleidung meiner selbst und meiner Mutter zu Tränen, bis ich einschlief. Ich hielt diese Tränen sicherlich für Sühne, doch danach, als ich die immer schlechteren Nachrichten, die die Ärzte meinem Vater brachten, erlauschte, begann alles von vorn. Ich fürchtete mich, auf mein Zimmer zu gehen, und suchte damals bewußt die Nähe von Menschen. Der erste Mensch, der mir Angst einjagte, war also ich selbst.

Der Tod meiner Mutter stürzte mich in eine kindliche Verzweiflung, die durch keinerlei Vorbehalte beeinträchtigt war. Mit ihrem letzten Atemzug endete die Faszination. Zusammen mit ihr erlosch die Angst. Diese Geschichte ist so undurchsichtig, daß ich nur Hypothesen aufzustellen vermag. Ich hatte den Niedergang eines Absolutums beobachtet, das sich als Täuschung entpuppte, einen schändlichen, obszönen Kampf, weil die Vollkommenheit dabei zerfiel wie der letzte Lumpen. Hier war die Ordnung des Lebens mit Füßen getreten worden, und obwohl die Menschen über mir das Repertoire dieser Ordnung sogar für derart düstere Gelegenheiten mit besonderen Beigaben ausstatteten, wollte dieses Beiwerk doch nicht zu dem passen, was da vor sich ging. Man kann nicht mit Würde, mit Anmut brüllen vor Schmerzen, ebensowenig wie vor Lust. In der Nachlässigkeit der Zerstörung erahnte ich die Wahrheit. Vielleicht erkannte ich in dem, was da hereinbrach, die stärkere Seite, also entschied ich mich für sie, weil sie die Oberhand gewann.

Mein heimliches Lachen hatte nichts zu tun mit den Schmerzen meiner Mutter. Vor diesen Schmerzen empfand ich nur Angst, sie waren der unvermeidliche Begleiter des Sterbens, das begriff ich wohl. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte sie von ihren Schmerzen befreit, ich wünschte mir weder, daß sie litt, noch daß sie starb. Zu einem wirklich vorhandenen Mörder wäre ich weinend und flehend hingestürzt, wie jedes andere Kind, doch da es den nicht gab, konnte ich lediglich die Perfidie der zugefügten Grausamkeit in mich aufnehmen. Ihr aufgedunsener Leib verwandelte sich allmählich in eine monströse Karikatur seiner selbst, verhöhnt und sich krümmend unter diesem Hohn. Mir blieb keine andere Wahl, als entweder mit ihr zu sterben oder sie zu verlachen, also wählte ich, Feigling, der ich war, das Gelächter des Verrats.

Ich kann nicht sagen, ob es wirklich so war. Der erste Lachkrampf packte mich beim Anblick der Zerstörung, und vielleicht wäre mir diese Erfahrung erspart geblieben, wenn meiner Mutter eine ästhetischere Todesart beschieden gewesen wäre, einem stillen Einschlafen vergleichbar, denn dies ist eine von den Menschen positiv bewertete Form. So war es jedoch nicht, und gezwungen, meinen eigenen Augen zu trauen, stand ich wehrlos. Der in früheren Epochen rechtzeitig herbeigeholte Chor der Klageweiber hätte das Gewimmer meiner Mutter übertönt. Die Degeneration der Kultur hat jedoch die magischen Praktiken zum Friseurhandwerk degradiert, denn der Bestattungsunternehmer – auch das hatte ich erlauscht – schlug meinem Vater verschiedene Gesichtsausdrücke vor, zu denen er ihre Todesgrimasse umformen könne. Daraufhin verließ mein Vater das Zimmer, und ich spürte für einen kurzen Augenblick, wie mich ein solidarisches Gefühl durchzuckte, weil ich ihn verstand. Ich dachte später unzählige Male an diese Agonie.

Die Version vom Lachen als Verrat erscheint mir unzureichend. Verrat ist das Ergebnis von Erkenntnis, was aber macht, daß uns die Zerstörung anzuziehen vermag? Was für eine finstere Hoffnung schöpft der Mensch aus ihr? Ihre totale Nutzlosigkeit vereitelt jede rationale Deutung. Diesen gierigen Zug haben zahlreiche Kulturen vergeblich zu ersticken getrachtet. Er ist etwas, das uns ebenso unwiderruflich mitgegeben ist wie unsere zwei Beine. Demjenigen, der bei seiner Suche nach der Ursache eine Hypothese des Vorbedachts nicht akzeptiert, weder in Gestalt der Vorsehung noch der des Teufels, bleibt lediglich das rationale Surrogat der Dämonologie: die Statistik. Aus dem verdunkelten Zimmer voller Zersetzungsgestank also führt die Spur zu meiner mathematischen Menschwerdung. Mit den Formeln der Stochastik versuchte ich den abscheulichen Zauber zu bannen. Aber auch dies ist nur eine Vermutung, folglich eine Selbstverteidigungsreaktion des Verstandes.

Ich weiß sehr wohl, daß sich das, was ich hier schreibe, zu meinen Gunsten verkehren ließe, wenn man unwesentlich die Akzente verschöbe, und irgendeiner meiner späteren Biographen wird versuchen, das zu tun. Er wird beweisen, daß ich mit meinem Intellekt meinen Charakter bezwungen und einen heldenhaften Sieg davongetragen habe, beschimpft aber habe ich mich aus einem Verlangen nach Selbstreinigung heraus. Ein solches Machwerk würde Freuds Spuren folgen: Er ist zum Ptolemäus der Psychologie geworden, denn ein jeder kann nun nach seinem Muster die menschlichen Phänomene ausdeuten, indem er Epizykel auf Epizykel schichtet: Dieses Gebäude spricht uns an, denn es ist ästhetisch. Er hat die idyllische Version gegen die Groteske ausgetauscht, ohne zu wissen, daß er ein Gefangener der Ästhetik bleibt. Als ob es darum ginge, in der Anthropologie die Oper durch die Tragikomödie zu ersetzen.

Mein postumer Biograph möge sich keine Umstände machen. Ich brauche keine Apologeten, all meine Anstrengung geht zurück auf eine von keinem Schuldgefühl behaftete Neugier. Ich wollte begreifen, ausschließlich begreifen, nichts weiter. Die Uneigennützigkeit des Bösen ist ja der einzige Anhaltspunkt im Menschen für die theologische Argumentation. Die Theodizee antwortet auf die Frage, woher eine Eigenschaft stammt, die weder in der Natur noch in der Kultur ihren Ursprung hat. Ein beständig tief in der Materie humanistischer Erfahrung steckender und dadurch anthropozentrischer Intellekt kann sich letztlich mit der Vision von einer Schöpfung abfinden, die einen leicht makabren Scherz darstellt.

Der Gedanke an einen Schöpfer, der sich ganz einfach amüsiert hat, ist verlockend, doch geraten wir dabei in einen Teufelskreis: Wir stellen ihn uns nicht boshaft vor, weil er uns so gemacht hat, sondern weil wir selbst so sind. Jene Nebensächlichkeit und totale Unbedeutendheit des Menschen dem Weltall gegenüber, von der uns die Wissenschaft Kunde gibt, macht indessen den manichäischen Mythos zu einem an Trivialität grenzenden primitiven Einfall.

Ich will es noch anders ausdrücken: Falls eine Schöpfung stattgefunden hat, was ich im übrigen gedanklich gar nicht zulasse, dann hatte das Wissen, das dafür unbedingt erforderlich war, bereits einen Stand erreicht, wo kein Platz mehr war für dümmliche Scherze. Alldieweil – und das ist eigentlich schon mein ganzes Credo – etwas wie eine vollkommene Weisheit des Bösen nicht möglich ist. Die logische Überlegung sagt mir, daß der Schöpfer kein kleiner Gauner, kein Manipulator sein kann, der sich ironisch an dem ergötzt, was er da schafft. Was wir für das Ergebnis eines boshaften Eingriffs halten, könnte allenfalls als gewöhnliche Fehlkalkulation, als Irrtum verstanden werden, dann aber begäben wir uns auf das Gebiet einer nicht existierenden Theologie fehlbarer Gottheiten. Nun, und eben die Domäne ihrer Baupraktiken ist nichts anderes als das Gebiet, auf dem ich mein Leben lang gearbeitet habe, das heißt die Statistik.

Jedes Kind macht unbewußt Entdeckungen, aus denen die Welten eines Gibbs und eines Boltzmann erwachsen sind, weil ihm die Wirklichkeit als eine Vielzahl von Möglichkeiten erscheint, die es leicht, gleichsam spontan, aussondern und zum Leben erwecken kann. Das Kind ist von vielen virtuellen Welten umgeben, der Pascalsche Kosmos, dieser im uhrwerkartigen Gang erstarrte, mäßig bewegliche Leichnam, ist ihm völlig fremd. Die versteinerte Ordnung der Reife zerstört später jenen ursprünglichen Reichtum. Wenn dieses Bild von der Kindheit einseitig erscheint, schon weil das Kind seiner Unwissenheit und nicht seiner Wahl die innere Freiheit verdankt, so ist dies letzten Endes jedes Bild. Aus dem Zusammenbruch der Phantasie habe ich nur ein paar Reste mit hinübergerettet – eine Art fortwährender Mißbilligung der Wirklichkeit, die im übrigen eher etwas mit Zorn zu tun hat denn mit Verneinung. Schon mein Lachen war eine Absage, womöglich eine wirksamere als der Selbstmord. Ich bekenne mich zu ihm mit meinen zweiundsechzig Jahren, die Mathematik aber war nur die spätere Konsequenz dieser Haltung. Sie war meine zweite Fahnenflucht.

Ich meine das im übertragenen Sinne – doch man wolle mich bis zu Ende anhören.

Ich verriet meine im Sterben liegende Mutter, also alle Menschen, ich entschied mich durch mein Gelächter für die ihnen überlegene Macht, wenn sie auch abscheulich war, weil ich keinen anderen Ausweg sah. Doch später machte ich die Erfahrung, daß ich diesen unseren Gegner, der alles ist, der sich auch in uns eingenistet hat, ebenfalls verraten konnte, zumindest bis zu einem bestimmten Grade, weil die Mathematik unabhängig ist von der Welt.

Die Zeit enthüllte mir, daß ich mich ein zweites Mal getäuscht hatte. Sich wirklich für den Tod und gegen das Leben und für die Mathematik, gegen die Welt zu entscheiden, geht nicht an. Eine wirkliche Entscheidung bedeutet nur den eigenen Untergang. Denn was immer wir auch tun, wir tun es innerhalb des Lebens, und die Erfahrung lehrt, daß auch die Mathematik kein vollkommener Zufluchtsort ist, denn sie ist in der Sprache zu Hause. Diese Pflanze der Information hat in der Welt Wurzeln geschlagen und in uns. Dieser Vergleich hat mich immer schon verfolgt, sogar als ich ihn noch nicht in die Sprache eines Beweises zu übersetzen vermochte.

In der Mathematik suchte ich das, was kostbar gewesen war an der Kindheit – die Vielzahl der Welten, die die Bande zu der aufgezwungenen Welt so leicht zerreißt, als wohnte dieser nicht die Kraft inne, die auch in uns selber steckt und die nur tief genug verborgen liegt, damit wir ihr Vorhandensein vergessen können. Doch dann überzeugte ich mich wie jeder Mathematiker staunend, wie umwerfend überraschend und unglaublich vielseitig jene Beschäftigung ist, die anfangs einem Spiel zu ähneln scheint. Man dringt voller Stolz in sie ein und trennt offen und sichtbar das Denken von der Welt ab – durch willkürliche Entscheidungen, die in ihrer Apodiktik der Schöpfung gleichkommen, nehmen wir einen endgültigen Schnitt vor, der uns von jenem Gewühl separieren soll, in dem wir zu leben haben.

Und siehe, just diese Absage, dieser ganz radikale Bruch führt uns zum Kern der Erscheinungen, und die Flucht erweist sich als Eroberung, die Desertion als Begreifen und der Bruch als Versöhnung. Doch zugleich machen wir die Entdeckung, daß die Flucht nur eine scheinbare war, da wir doch zu dem zurückkehren, vor dem wir davonzulaufen suchten. Der Feind mausert sich zum Verbündeten, wir werden einer Reinigung teilhaftig, bei welcher die Welt uns schweigend zu erkennen gibt, daß wir sie nur durch sie selbst überwinden können. So ist die Furcht gebannt und verkehrt sich in Faszination an jenem besonderen Zufluchtsort, wo die innersten Bereiche ja gerade wieder die Oberfläche unserer einen, einzigen Welt berühren.

Die Mathematik offenbart den Menschen niemals in dem Grade, bringt ihn niemals so zum Ausdruck, wie das jede andere menschliche Arbeit tut: Der Aufhebungsgrad der eigenen Körperlichkeit, den man in ihr erreicht, ist mit nichts vergleichbar. Durch diese Worte neugierig Gewordene verweise ich auf meine Arbeiten. Hier kann ich nur das eine sagen, daß die Welt der menschlichen Sprache ihre Gesetze eingeimpft hat, als die Sprache eben im Entstehen begriffen war. Mathematik schlummert in jedem gesprochenen Wort, und sie braucht nur aufgefunden, nicht aber erfunden zu werden.

Was an ihr die Krone ist, läßt sich nicht trennen von ihrer Wurzel, denn sie entstand nicht im Verlaufe von dreihundert oder achthundert Jahren Zivilisationsgeschichte, sondern in den Jahrtausenden der Sprachentwicklung: auf dem Reibungsfeld zwischen Mensch und Umwelt, zwischen den Menschen und zwischen den Strömen. Die Sprache ist weiser als der Intellekt eines jeden von uns, ebenso wie der Körper jedes einzelnen Menschen klüger ist und mehr weiß als er selbst, denn er ist von sich aus allseitig im Strom des Lebensprozesses. Wir haben das Erbe dieser beiden Evolutionen, der lebenden Materie und der Materie der Informationssprache, noch nicht ausgeschöpft, und schon träumen wir davon, über die Grenzen beider hinauszugehen. Diese Worte mögen billige Philosophiererei sein, doch meine Beweise für die sprachliche Genese der mathematischen Begriffe, also dazu, daß diese Begriffe weder durch die Zählbarkeit der Dinge noch durch den Scharfsinn des Verstandes entstanden, sind es nicht mehr.

Die Gründe, die mich Mathematiker werden ließen, sind gewiß kompliziert, und einer von den wichtigsten ist Können, ohne das ich in meinem Fach gerade soviel ausgerichtet hätte wie ein Buckliger als Rekordanwärter in der Leichtathletik. Ich weiß nicht, ob Motive, die den Charakter und nicht das Können betreffen, eine Rolle bei der Geschichte gespielt haben, die ich erzählen möchte, aber ich darf diese Möglichkeit nicht ausschließen, denn die Sache selbst ist von solchem Kaliber, daß daneben weder natürliche Scham noch Stolz von Belang sein können.

Für gewöhnlich pflegen Memoirenschreiber in der Aufrichtigkeit ihrer Bekenntnisse sehr weit zu gehen, wenn sie meinen, was sie über sich selbst zu enthüllen haben, sei unsagbar wichtig. Ich mache, umgekehrt, die absolute Unwichtigkeit meiner Person zur Voraussetzung meiner Aufrichtigkeit, das heißt, zu Redseligkeit, die ich grundsätzlich für unausstehlich halte, zwingt mich allein der Umstand, daß ich nicht weiß, wo in der Persönlichkeitsstruktur die statistische Laune aufhört und wo die für die gesamte Gattung gültige Regel beginnt.

Auf den unterschiedlichsten Gebieten kann man ein reales Wissen erwerben oder auch nur eines, das uns geistige Bequemlichkeit verschafft, wobei sich beide Wissensarten durchaus nicht zu decken brauchen. Diese beiden Arten von Wissen auseinanderzuhalten, ist in der Anthropologie nahezu unmöglich. Wenn wir nichts so wenig kennen wie uns selbst, dann wohl deshalb, weil wir immer wieder nach Wissen darüber verlangen, was den Menschen geformt hat, das es in Gestalt von Information nicht gibt, und wir, ohne uns darüber klar zu werden, von vornherein ausschließen, daß eine Verquickung von x-beliebigen Zufällen und allertiefster Notwendigkeit denkbar wäre.

Irgendwann einmal erstellte ich ein Programm für das Experiment eines Freundes. Dieses Experiment beruhte darauf, im mathematischen Milieu einer Rechenmaschine eine Familie von neutralen Wesen zu modellieren, das heißt von Homöostaten, die jenes Milieu allmählich erkennen sollten, ohne daß sie anfangs irgendwelche »emotionale« oder »ethische« Eigenschaften besaßen. Diese Wesen vermehrten sich natürlich nur in der Maschine, folglich als das, was der Laie als bestimmte Form von »Rechenoperationen« bezeichnen würde, und nach einigen -zig »Generationen« tauchte immer von neuem bei sämtlichen »Exemplaren« eine Eigenschaft auf, die uns ganz unerklärlich war: etwas wie eine Entsprechung der »Aggressivität«. Nach unsagbar mühseligen und vergeblichen Kontrollberechnungen begann mein verzweifelter Freund schließlich, wirklich nur noch aus Verzweiflung, den allerunwesentlichsten Begleitumständen des Versuchs nachzugehen, und dabei stellte sich heraus, daß ein bestimmtes Relais auf Veränderungen der Luftfeuchtigkeit reagierte, die zu dem unerkannten Urheber der Abweichung geworden waren. Ich komme nicht umhin, an diesen Versuch zu denken, während ich dies schreibe, denn könnte es nicht so gewesen sein, daß uns die soziale Entwicklung auf einer Exponentialkurve aus dem Tierreich herausgetragen hat, uns, die wir grundsätzlich für einen solchen Höhenflug nicht vorbereitet waren? Die Reaktion der Sozialisierung begann, kaum daß menschliche Atome die erste Bindungsfähigkeit zeigten. Diese Atome waren ein nur biologisch vorgefertigtes Material, fähig, typisch biologische Kriterien zu erfüllen, jene Bewegung aber, jener Stoß nach oben, riß uns heraus und trug uns empor in den Raum der Zivilisation. Kann nicht solch ein Start in dem biologischen Material zufällig Übereinstimmendes miteinander verknüpft haben, so wie eine Sonde, die, auf den Meeresgrund entsandt, mit ihrem Greifer neben dem, worauf sie ausgerichtet ist, auch unwichtiges Gerümpel und Geröll von dort mit aufnimmt? Ich erinnere an das feucht werdende Relais der zuverlässigen Rechenmaschine. Weshalb eigentlich sollte jener Prozeß, der uns hervorgebracht hat, in irgendeiner Hinsicht vollkommen gewesen sein? Und doch wagen weder wir noch unsere Philosophen den Gedanken, daß die Endgültigkeit und Einzigartigkeit der Existenz der Gattung durchaus die Perfektion nicht einschließt, die bei ihrer Entstehung Pate gestanden haben soll – genau wie Perfektion auch an der Wiege jedes einzelnen Individuums nicht zugegen ist.

Es ist höchst aufschlußreich, daß die Zeichen unserer Unvollkommenheit als Artvertreter niemals, nicht von einer einzigen Glaubensrichtung als das anerkannt wurden, was sie schlechterdings sind, nämlich als Resultate von Fehlleistungen, sondern im Gegenteil, fast alle Religionen gehen darin überein, daß die Unvollkommenheit des Menschen das Ergebnis eines Zusammenpralls zweier antagonistischer Demiurgenperfektionen ist, die sich gegenseitig ins Handwerk pfuschten. Die helle Vollkommenheit stieß mit der dunklen zusammen, und es entstand der Mensch: so lautet ihre Formel.

Meine Konzeption klingt nur dann vulgär, wenn sie falsch sein sollte – und ob sie es ist, das entzieht sich unserer Kenntnis. Der erwähnte Freund hat sie grotesk umformuliert, indem er sagt, nach Hogarth ist die Menschheit ein Buckliger, der, da er nicht weiß, daß man auch gerade gewachsen sein kann, seit Jahrtausenden nach Zeichen einer höheren Notwendigkeit für seinen Buckel sucht, weil er bereit ist, jede Version zu akzeptieren außer der einen, daß sein Gebrechen purer Zufall ist, daß ihn niemand aus höherer Absicht damit bedacht hat, daß es absolut zu gar nichts dient, weil die Verschlingungen und Seitenpfade der Anthropogenese es eben so mit sich brachten.

Aber ich wollte von mir reden und nicht von der Gattung. Ich weiß nicht, woher sie in mir rührt und worauf sie zurückgeht – aber noch jetzt, nach so vielen Jahren, vermag ich in mir eine Bosheit zu entdecken, die nicht alt geworden ist, denn die Energien des primitivsten Instinktlebens altern niemals. Sollte ich Ärgernis erregen? Über -zig Jahre hinweg habe ich als Rektifikationskolonne gewirkt und ein Destillat produziert, das sich aus einem Stapel von Arbeiten sowie der durch diese meine Arbeiten ausgelösten Hagiographien zusammensetzt. Wenn ihr sagt, die Innereien einer Apparatur, die ich unnötigerweise ans Tageslicht zerre, gingen euch nichts an, so wollt bedenken, daß ich in der Reinheit der Kost, mit der ich euch bewirtet habe, die dauerhaften Zeichen aller meiner Geheimnisse erblicke.

Die Mathematik war nicht mein Arkadien, sie war vielmehr der Strohhalm des Ertrinkenden, war die Kirche, welche ich, der Ungläubige, betrat, weil darin die Treuga Dei herrschte. Meine wichtigste mathematische Arbeit hat man als destruktiv bezeichnet – nicht zufällig. Nicht durch Zufall stellte ich die Grundlagen der mathematischen Deduktion und die Begriffe des Analytischen in der Logik unwiderruflich in Frage. Ich richtete die Werkzeuge der Statistik gegen diese Grundlagen, bis sie sie auseinandersprengten. Ich war außerstande, ein Teufel in der Unterwelt und ein Engel im Sonnenlicht zu sein. Ich schuf, aber auf Schutt und Trümmern, und Yowitt hat recht: Ich habe mehr Wahrheiten weggenommen als neue beigesteuert.

Diese negative Bilanz hat man der Epoche zur Last gelegt, nicht mir, weil ich nach Russell und nach Gödel kam, nachdem ersterer Risse in den Fundamenten des Kristallpalastes entdeckt und der zweite diese Fundamente ins Wanken gebracht hatte. Man sagte also, ich hätte in Übereinstimmung mit dem Geist der Zeit gehandelt. Gewiß doch. Aber ein dreieckiger Smaragd hört nicht auf, ein dreieckiger Smaragd zu sein, auch wenn er zu einem menschlichen Auge wird – in einem Mosaikbild.

Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, was aus mir geworden wäre, wenn ich innerhalb einer der viertausend sogenannten primitiven Kulturen geboren worden wäre, die der unseren vorausgegangen sind, in jenen Abgründen von achtzigtausend Jahren, die unsere mangelnde Phantasie zum Vorfeld, zum Wartezimmer der eigentlichen Geschichte zusammenschrumpfen läßt. In manchen wäre ich sicherlich zuschanden gegangen, doch in anderen hätte ich mich, wer weiß, womöglich um vieles besser verwirklichen können – als ein Erleuchteter, der dank der Gabe, Elemente zu kombinieren, die ich mit auf die Welt brachte, neue Riten und Magien schafft. Vielleicht hätte ich ohne den Hemmschuh, den die Relativierung jeglichen begrifflichen Seins in unserer Kultur bildet, widerstandslos Orgien der Zerstörung und der Zügellosigkeit zur heiligen Handlung erheben können, weil man in jenen uralten Kreisen den Brauch praktizierte, die Tagesgesetze zeitweilig und wiederholbar außer Kraft zu setzen, mit anderen Worten, die Kultur zu sprengen (sie war der Boden, der Fels, das Absolutum, und dennoch kam man bewundernswerterweise drauf, daß selbst das Absolutum Lücken haben sollte!), um der hartgewordenen Masse überschüssiger Energien freien Lauf zu lassen, die in keinem kodifizierten System unterzubringen sind und die sich nur zum geringen Teil in der kriegerischen und der familiären Maske ausleben können, an der Kandare von Sitte und Brauch.

Vernünftig war es, rational, jene Fesseln und sozialen Regeln hin und wieder entzweizuhauen. Die Gruppentrance, das freigesetzte und von betäubenden Rhythmen und Giften gepeitschte Pandämonium war ein Öffnen der Sicherheitsventile, durch die das Agens der Zerstörung ausströmte, jene Barbarei war durch diese besondere Erfindung dem Menschen angepaßt. Das Prinzip des Verbrechens, aus dem man aussteigen kann, des reversiblen Wahnsinns, des innerhalb der sozialen Ordnung rhythmisch pulsierenden Risses, wurde zunichte gemacht, und nun müssen alle jene Kräfte im Geschirr gehen, Tretmühlen betätigen, Rollen spielen, die für sie zu eng und immer falsch bemessen sind, also nagen sie an allem, was alltäglich ist, sind heimlich überall, weil sie nirgendwo unter eigenem Namen auftreten dürfen. Jeder von uns ist von Kind auf an irgendein öffentlich zugelassenes Stück von sich selbst gekettet, was ausgewählt, geschult wurde, den Consensus omnium erlangte, jeder hegt und pflegt diesen Sektor, glättet, vervollkommnet ihn, hätschelt nur ihn, auf daß er sich so gut wie möglich entwickle, und jeder tut so, als wäre er – der doch nur ein Teilchen ist – ein Ganzes. Ein Stumpf mit Ganzheitsanspruch!

Wie weit ich mich auch zurückerinnere, immer habe ich eine Ethik vermißt, die in der Sensibilität ihre Wurzeln hat. Wohlweislich habe ich mir eine Art Prothese dafür aufgebaut. Für ein solches Vorgehen brauchte ich jedoch einen guten Grund, denn Gebote im leeren Raum anzusiedeln ist dasselbe, wie zur Beichte zu gehen, ohne an sie zu glauben. Ich behaupte nicht, ich hätte mein Leben so theoretisch geplant, wie ich es hier darstelle. Ich habe mir für mein Tun auch nicht im nachhinein Axiome zurechtgezimmert. Ich bin immer auf ähnliche Art und Weise vorgegangen, zu Anfang allerdings unbewußt. Meine Motive erriet ich später.

Wenn ich mich für einen von Grund auf guten Menschen hielte, wäre ich gewiß nicht fähig, das Böse zu verstehen.

Ich wäre der Meinung, die Menschen begingen es mit Vorbedacht – immer mit Vorbedacht, täten also das, was sie vorher beschlossen hätten, denn ich fände keine anderen Quellen für Niedertracht in meinem eigenen Erleben. Ich kannte mich jedoch besser aus, weil ich gleichzeitig sowohl um die eigenen Neigungen als auch um die Schuldlosigkeit an ihnen wußte, denn ich hatte ja denjenigen, der ich bin, in mir vorgefunden, ohne gefragt worden zu sein, ob ich eine solche Struktur gutheiße.

Nun, und daß der eine Sklave den anderen unterdrückt, damit die Kräfte, die beiden innewohnen, befriedigt werden, daß die eine Schuldlosigkeit die andere quält, wenn auch nur die geringste Chance besteht, sich solchem Druck zu widersetzen – das beleidigte meinen Verstand. Wir sind uns selber vorgegeben, und wir können diese Gaben im Ganzen nicht anders denn erfolglos in Frage stellen, aber wenn sich auch nur die geringste Chance vor uns auftut, uns dem, was wir vorfinden, entgegenzustellen – wie sollten wir sie nicht nutzen? Nur solche Entscheidungen und solche Handlungen sind unser ausschließlicher, menschlicher Besitz, ebenso wie die Möglichkeit des Selbstmords: dies ist der Bereich der Freiheit, in welchem das unerwünschte Erbe ausgeschlagen wird.

Bitte haltet mir nicht entgegen, ich widerspräche mir selbst, mir, der ich in der Ära des Höhlenmenschen die Zeit sah, in der ich mich besser hätte verwirklichen können. Wissen ist irreversibel, es kann sich nicht ins Dunkel einer süßen Unwissenheit zurückziehen. Zu jener Zeit hätte ich Wissen nicht besessen, und ich hätte es nicht erlangen können. Das, was ich besitze, muß ich nutzen. Ich weiß, daß uns ein Zufall zusammengesetzt und strukturiert hat, und ich sollte willfährig allen Direktiven folgen, die in zahllosen Ziehungen blindlings ausgelost wurden?

Mein »principium humanitatis« ist insofern ein besonderes, als, wenn es jemand von Grund auf Gutes auf sich selbst anwenden wollte, er – laut der Direktive, »die eigene Natur zu überwinden« – Böses tun müßte, um sich selbst in seiner menschlichen Freiheit zu bestätigen. Mein Grundsatz ist also nicht dazu angetan, allgemein angewandt zu werden, doch ich sehe auch keinerlei Veranlassung, weshalb ich die ethische Panazee für die Menschheit finden sollte. Die Verschiedenartigkeit, die Ungleichheit ist den Menschen mitgegeben, und so beinhaltet denn Kants Forderung, die Maxime individuellen Handelns solle zugleich als allgemeines Gesetz gelten können, ungleiche Gewalt, die den Menschen zugefügt wird, und indem sie die individuellen Werte einem übergeordneten Wert, der Kultur, opfert, handelt sie ungerecht. Ich sage auch durchaus nicht, jeder sei nur in dem Maße Mensch, in welchem er ein durch den eigenen Willen gezähmtes Ungeheuer ist. Ich habe meine rein privaten Motive, meine eigene Strategie dargelegt, die im übrigen nichts in meinem Innern verändert hat. Nach wie vor ist meine erste Reaktion auf die Kunde von jemandes Unglück ein Funken Schadenfreude, und ich versuche nicht einmal mehr, derlei Regungen zu unterdrücken, weil ich weiß, daß ich nicht an die Stelle herankomme, wo das gedankenlose Kichern haust, doch ich antworte mit Widerstand, und ich handele deshalb gegen mich selbst, weil ich so handeln kann.

Wenn ich wahrhaftig vorhätte, meine eigene Biographie zu schreiben, die sich angesichts der Bände in meinem Regal als Antibiographie erwiese, brauchte ich mich für diese Geständnisse nicht zu rechtfertigen. Aber ich verfolge einen anderen Zweck. Das Abenteuer, das ich beschreibe, besteht darin, daß die Menschheit mit etwas in Berührung gekommen ist, das Wesen, die nicht zu ihrer Gattung gehören, ins Dunkel der Gestirne hinausgeschickt hatten. Eine Situation, die historisch erstmalig und darum wohl gewichtig genug ist, um die Notwendigkeit einzusehen, genauer, als dies die Konvention erlaubt, darzulegen, wer eigentlich bei dieser Begegnung unsere Seite vertrat. Zumal weder meine Genialität noch die Mathematik hinreichten, daß sie unvergiftete Früchte hervorbrachte.

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