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Karl Marx

Das Kapital

Kritik der politischen Ökonomie

Ungekürzte Ausgabe
nach der zweiten Auflage von 1872

Mit einem Geleitwort
von Karl Korsch aus dem Jahre 1932

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Gewidmet meinem
unvergeßlichen Freunde, dem
kühnen, treuen, edlen Vorkämpfer des Proletariats,

WI L H E L M   WO L F F

Geb. zu Tarnau, 21. Juni 1809

Gest. im Exil zu Manchester, 9. Mai 1864

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Die vorliegende Ausgabe ist ein unveränderter Nachdruck
der Ausgabe Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag 1932.

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© 2009 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
ISBN 978-3-7306-9034-5
V002
www.anacondaverlag.de

G E L E I T W O R T   Z U R   N E U E N   A U S G A B E

I

Wie Platos Buch vom   S t a a t , Macchiavells Buch vom   F ü r s t e n , Rousseaus   G e s e l l s c h a f t s v e r t r a g , so verdankt auch das Marxsche Buch vom   K a p i t a l   seine große und dauernde Wirkungskraft dem Umstand, daß es an einem geschichtlichen Wendepunkt das in die alte Weltgestalt einbrechende neue Prinzip in seiner vollen Weite und Tiefe begriffen und ausgesprochen hat. All die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fragen, um die sich die Marxsche Analyse des „Kapital“ theoretisch dreht, sind heute weltbewegende praktische Fragen, um die in allen Erdteilen der reale Kampf der großen gesellschaftlichen Mächte, der Staaten und Klassen, geführt wird. Dadurch, daß er diese Fragen so frühzeitig als die für die damals bevorstehende Weltwende entscheidenden Fragen begriffen hat, hat sich Karl Marx vor der Nachwelt als der große vorausschauende Geist seiner Zeit bewiesen. Er hätte diese Fragen aber auch als größter Geist nicht theoretisch ergreifen und seinem Werke einverleiben können, wenn sie nicht zugleich auf irgendeine Weise auch schon in der damaligen Wirklichkeit als reale Fragen gestellt gewesen wären. Es war das eigentümliche Schicksal dieses deutschen Achtundvierzigers, daß er, von den absoluten und den republikanischen Regierungen Europas aus seinem praktischen Wirkungskreis herausgeschleudert, durch diese rechtzeitige Entfernung aus den engen und rückständigen deutschen Verhältnissen erst recht in seinen eigentlichen geschichtlichen Aktionsraum hineingeschleudert wurde. Gerade infolge dieser mehrfachen gewaltsamen Verrückung seines Arbeitsfeldes vor und nach der gescheiterten deutschen Revolution von 1848 konnte der damals eben 30jährige Denker und Forscher Marx, der sich durch die theoretische Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie bereits zu einem umfassenden und tiefen Weltwissen in deutsch philosophischer Form durchgearbeitet hatte, nunmehr in seinen beiden aufeinanderfolgenden Emigrationsperioden, zuerst in Frankreich und Belgien, danach in England, auch noch in die unmittelbarste theoretische und praktische Beziehung zu den beiden zukunftskräftigsten neuen Gestaltungen der damaligen Welt treten. Das war einerseits der über die Errungenschaften der großen jakobinisch bürgerlichen Revolution hinaus zu neuen proletarischen Zielen vordrängende   f r a n z ö s i s c h e   S o z i a l i s m u s   u n d   K o m m u n i s m u s , andrerseits die aus der industriellen Revolution der Jahre 1770–1880 in England hervorgegangene   e n t w i c k e l t e   G e s t a l t   d e r   m o d e r n e n   k a p i t a l i s t i s c h e n   P r o d u k t i o n   u n d   d e r   i h r   e n t s p r e c h e n d e n   P r o d u k t i o n s-   u n d   V e r k e h r s v e r h ä l t n i s s e.

Französische politische Geschichte, englische Wirtschaftsentwicklung, moderne Arbeiterbewegung – dieses dreifache „Jenseits“ der damaligen deutschen Wirklichkeit hat Marx in jahrzehntelanger Forscher- und Denkerarbeit seinen Werken und besonders seinem Hauptwerk „Das Kapital“ auf das gründlichste einverleibt und diesem Werke damit jene eigentümliche Lebenskraft verliehen, mit der es noch heute, 65 Jahre nach seinem Erscheinen und fast 50 Jahre nach dem Tode seines Verfassers, im höchsten Grade „zeitgemäß“ geblieben ist und in vieler Hinsicht seine Zeit erst recht zu erfüllen anfängt.

„Der letzte Endzweck dieses Werks“ besteht nach der eigenen Angabe des Verfassers darin, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen.“ Schon hierin liegt eingeschlossen, daß „D a s   K a p i t a l“ sich nicht darauf beschränkt, einen Beitrag zur ökonomischen Schulwissenschaft im herkömmlichen Sinne zu liefern. Gewiß füllt das Marxsche Kapital unter anderm auch in der Entwicklung der ökonomischen Theorie eine wichtige Stelle aus; seine Spuren finden sich in der gesamten ökonomischen Fachliteratur bis zum heutigen Tage. Aber das Kapital ist, wie schon sein Untertitel besagt, zugleich eine „K r i t i k   d e r   p o l i t i s c h e n   Ö k o n o m i e “, und das bedeutet durchaus nicht bloß eine kritische Stellungnahme zu den besonderen, von den einzelnen ökonomischen Forschern jeweils vertretenen Lehrmeinungen. Es bedeutet vielmehr im Marxschen Sinne auch eine Kritik der politischen Ökonomie selbst, die ja nach der geschichtlich materialistischen Anschauung von Marx nicht nur ein theoretisches System von entweder wahren oder falschen Sätzen darstellt, sondern selbst ein Stück geschichtlicher Wirklichkeit verkörpert, genauer gesagt, ein Stück jener „modern bürgerlichen Produktionsweise“ und darauf beruhenden Gesellschaftsformation, deren Entstehung, Entwicklung und Untergang, zugleich Übergang in eine neue höhere Produktionsweise und Gesellschaftsformation, den eigentlichen Gegenstand der Marxschen Forschung und Kritik im „Kapital“ bildet. Die „Kritik der politischen Ökonomie“ im Kapital erscheint insofern, wenn wir von der heute üblichen Einteilung der Wissenschaften ausgehen, nicht eigentlich als eine ökonomische, sondern vielmehr als eine geschichtliche und soziologische Theorie.

Aber auch mit dieser neuen Bestimmung, und mit einer Reihe ähnlicher, die wir noch hinzufügen könnten, sind die Forschungsweise und der Gegenstand des Marxschen „Kapital“ noch nicht in ihrem ganzen Umfang und in ihrer Tiefe erfaßt. Das „Kapital“ gehört keiner einzelnen Wissenschaft allein an, obwohl es umgekehrt erst recht nichts mit einer philosophischen Allerweltswissenschaft zu tun hat, sondern einen ganz bestimmten eigenartigen Gegenstand unter einem ganz bestimmten eigenartigen Gesichtspunkt behandelt. Man kann das Werk von Marx in dieser Hinsicht am besten mit dem berühmten Werke Darwins über den „Ursprung der Arten“ vergleichen. Wie   D a r w i n   das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur entdeckt hat, so hat   M a r x   das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte aufgedeckt, und zwar in zweifacher Weise: Einerseits als allgemeines geschichtliches Entwicklungsgesetz in der Form des sogenannten „historischen Materialismus“. Andrerseits als besonderes Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Daß dieser Vergleich keineswegs bloß auf ein äußerliches Zusammentreffen zweier geschichtlicher Daten gegründet ist (der „Ursprung der Arten“ und der erste Teil des Marxschen Kapitalwerks: „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, erschienen beide im Jahre 1859), sondern einen tieferen Zusammenhang ausdrückt, ist von Friedrich Engels in seiner Rede am Grabe des toten Freundes ausgesprochen, und auch von Marx selbst nahegelegt. Er spricht in einer der schönen und tiefen, scheinbar weit vom Thema abführenden Anmerkungen, mit denen er sein Werk fast überreich ausgestattet hat, davon, daß Darwin zuerst das Interesse auf die „Geschichte der natürlichen Technologie“ gelenkt habe, das heißt auf die „B i l d u n g   d e r   P f l a n z e n-   u n d   T i e r o r g a n e   a l s   P r o d u k t i o n s i n s t r u m e n t e   f ü r   d a s   L e b e n   d e r   P f l a n z e n   u n d   T i e r e .“   Und er stellt die Frage: „Verdient die B i l d u n g s g e s c h i c h t e   d e r   p r o d u k t i v e n   O r g a n e   d e s   G e s e l l s c h a f t s m e n s c h e n , der materiellen Basis jeder besonderen Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben?“

In diesen Sätzen ist in der Tat das Verhältnis zwischen Darwin und Marx in vollendeter Weise ausgedrückt, sowohl in der Hervorhebung des beiden Gemeinsamen, als auch in der Hervorhebung des eigentümlichen Unterschieds, wonach die Untersuchung Darwins einen im engeren Sinne naturwissenschaftlichen Entwicklungsprozeß, die Marxens einen geschichtlich gesellschaftlich praktischen, von den Menschen nicht nur erlebten, sondern auch gemachten Entwicklungsprozeß behandelt. Nur daß aus diesem Unterschied von Marx nicht, wie von manchen modernen Halbtheologen und Dunkelmännern der sogenannten „geisteswissenschaftlichen“ Forschung, der Schluß gezogen wird, daß bei der Erforschung und Darstellung dieses gesellschaftlichen Lebensprozesses der Menschen ein minder hoher Grad von begrifflicher Strenge und empirischer Treue ausreichend und ein größeres Maß von Subjektivität angemessen wäre, als in den eigentlichen Naturwissenschaften. Marx geht vielmehr von der entgegengesetzten Auffassung aus und stellt sich ausdrücklich die Aufgabe, in seinem Werke   d i e   E n t w i c k l u n g   d e r   ö k o n o m i s c h e n   G e s e l l s c h a f t s f o r m a t i o n   a l s   e i n e n   „n a t u r g e s c h i c h t l i c h e n   P r o z e ß“   d a r z u s t e l l e n .

Ob und wieweit dieser große Wurf dem materialistischen Geschichts- und Gesellschaftsforscher Marx im „Kapital“ grundsätzlich gelungen ist, darüber wird erst dann zu entscheiden sein, wenn einmal jener von Marx vor 65 Jahren ins Auge gefaßte Zeitpunkt gekommen sein wird, wo für und wider die Marxsche Theorie nicht mehr „die Vorurteile der sogenannten öffentlichen Meinung“ allein gehört werden, sondern auch das Urteil einer wirklich „wissenschaftlichen Kritik“, womit es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge noch gute Wege hat.

Dagegen wäre es eine falsche Zurückhaltung, bei der Herausgabe des Marxschen Kapitals nicht zugleich darauf hinzuweisen, in welchem eigentümlichen Verhältnis der ausgeführt vorliegende Teil dieses Werkes zu den nicht ausgeführten Teilen seines Entwurfes steht.

Ein Torso von gigantischen Ausmaßen – das ist die Form, in der uns das ökonomische Werk von Marx heute vorliegt und auch in Zukunft, trotz der noch zu erwartenden Veröffentlichung mancher bisher ungedruckter Manuskripte, in der Hauptsache unverändert vorliegen wird. Auch wenn wir von den noch viel weiter gesteckten Umrissen der früheren Marxschen Entwürfe absehen, in denen die Kritik der politischen Ökonomie von der Kritik der Philosophie, der Rechtsverhältnisse und Staatsformen, aller ideologischen Formen überhaupt, noch nicht losgelöst und als selbständige, zuerst zu bewältigende Forschungsaufgabe noch nicht aufgestellt ist, klafft ein gewaltiger Abstand zwischen dem von Marx geplanten und dem später vollendeten Werk. Zweimal hat sich Karl Marx in der Zeit nach seiner endgültigen Übersiedlung nach London 1850, wo ihn „das ungeheure Material für Geschichte der politischen Ökonomie, das im Britischen Museum aufgehäuft ist, der günstige Standpunkt, den London für die Beobachtung der bürgerlichen Gesellschaft gewährt, endlich das neue Entwicklungsstadium, worin letztere mit der Entdeckung des kalifornischen und australischen Goldes einzutreten schien“, noch einmal dazu bestimmt hatten, seine politisch ökonomischen Studien „ganz von vorn wieder anzufangen“, über den Gesamtplan des nunmehr ins Auge gefaßten politisch ökonomischen Werkes geäußert. Das erstemal in dem 1857 niedergeschriebenen, aber hernach wieder „unterdrückten“ und erst 1903 von Kautsky in der „Neuen Zeit“ veröffentlichten Manuskript zu einer „a l l g e m e i n e n   E i n l e i t u n g“, das zweitemal in dem wirklich erschienenen „V o r w o r t“ zur „K r i t i k   d e r   p o l i t i s c h e n   Ö k o n o m i e“ von 1859. Das erstemal heißt es:

„Die Einteilung ist offenbar so zu machen, daß zuerst die allgemeinen abstrakten Bestimmungen zu entwickeln sind, die daher mehr oder minder allen Gesellschaftsformen zukommen . . . Zweitens die Kategorien, die die innere Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen und worauf die fundamentalen Klassen beruhen. Kapital, Lohnarbeit, Grundeigentum. Ihre Beziehung zueinander. Stadt und Land. Die drei großen gesellschaftlichen Klassen. Austausch zwischen denselben. Zirkulation. Kreditwesen (privates). Drittens kommt die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staates. In Beziehung zu sich selbst betrachtet. Die „unproduktiven“ Klassen. Steuern. Staatsschuld. Der öffentliche Kredit. Die Bevölkerung. Die Kolonien. Auswanderung. Viertens Internationales Verhältnis der Produktion. Internationale Teilung der Arbeit. Internationaler Austausch. Aus- und Einfuhr. Wechselkurs. Fünftens Der Weltmarkt und die Krisen.“

Zwei Jahre später, als Marx „die zwei ersten Kapitel der ersten Abteilung des ersten Buches, das vom Kapital handelt“, als ein selbständiges „Heft“ (von etwa 200 Druckseiten!) unter dem Titel „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ veröffentlichte, begann er das Vorwort dieser Schrift mit dem Satze:

„Ich betrachte das System der bürgerlichen Ökonomie in dieser Reihenfolge:   K a p i t a l ,   G r u n d e i g e n t u m ,   L o h n a r b e i t;   S t a a t ,   a u s w ä r t i g e r   H a n d e l ,   W e l t m a r k t . Unter den drei ersten Rubriken untersuche ich die ökonomischen Lebensbedingungen der drei großen Klassen, worin die moderne bürgerliche Gesellschaft zerfällt; der Zusammenhang der drei andren Rubriken springt in die Augen.“

Von diesen umfassenden Plänen ist in dem später teils von Marx selbst, teils von andern vollendeten Kapitalwerk nur ein Bruchteil der ersten Hälfte zur Ausführung gelangt. Marx schreibt noch Ende 1862, als er sich schon dazu entschlossen hat, die „Fortsetzung“ des im Jahre 1859 veröffentlichten ersten Heftes „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ nunmehr selbständig unter dem Titel „Das Kapital“ erscheinen zu lassen, in einem Brief an Kugelmann, daß diese neue Veröffentlichung (worunter nicht etwa der heutige erste Band des Kapitals, sondern auch alle andern Teile des Gesamtwerks zu verstehen sind!) „i n   d e r   T a t   n u r   u m f a ß t ,   w a s   d a s   d r i t t e   K a p i t e l   d e r   e r s t e n   A b t e i l u n g   b i l d e n   s o l l t e ,   n ä m l i c h   d a s   K a p i t a l   i m   a l l g e m e i n e n.“ Er hat aber um dieselbe Zeit aus einer Reihe von äußeren und inneren Gründen den bis dahin mit geringen Veränderungen festgehaltenen Plan des Gesamtwerks erheblich eingeschränkt und sich für die Darstellung des Gesamtstoffs in drei bzw. vier Büchern entschieden, von denen das erste den P r o d u k t i o n s p r o z e ß   d e s   K a p i t a l s , das zweite den   Z i r k u l a t i o n s p r o z e ß, das dritte die   G e s t a l t u n g e n   d e s   G e s a m t p r o z e s s e s   und das abschließende vierte die   G e s c h i c h t e   d e r   T h e o r i e   behandeln sollte.

Von diesen vier Büchern des Kapital ist nur noch eines von Marx selbst vollendet worden. Es erschien als Band 1 des Kapital in erster Auflage 1867, in zweiter Auflage 1872.   Das   z w e i t e   u n d   d r i t t e   B u c h   wurden nach Marxens Tode von seinem Freunde und Mitarbeiter Friedrich Engels auf Grund vorhandener Manuskripte fertiggestellt und als Band II und III des Kapitals 1885 und 1894 herausgegeben. Dazu kommen noch die 1905–1910 von Kautsky, ebenfalls auf Grund Marxscher Manuskripte, herausgegebenen drei Bände „Theorien über den Mehrwert“, die zusammen als ein gewisser Ersatz für das   v i e r t e   Buch des „Kapital“ betrachtet werden können. Streng genommen handelt es sich dabei allerdings nicht mehr um eine Fortsetzung des Kapital, sondern nur noch um den teilweisen Abdruck eines älteren, von Marx bereits August 1861 bis Juni 1863 niedergeschriebenen Manuskripts, welches niemals dazu bestimmt war, einen Teil des „Kapital“ darzustellen, sondern lediglich die Fortsetzung des 1859 erschienenen ersten Heftes „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ bildet. Schon Engels hatte den Plan gehabt, den kritischen Teil dieses Manuskripts, nach Beseitigung der zahlreichen von ihm bereits für die Ausarbeitung von Buch II und III verbrauchten Stellen, als Buch IV des „Kapital“ zu veröffentlichen. Dagegen hat Marx selbst bei der Herausgabe des ersten Bandes des „Kapital“ nicht einmal den bereits erschienenen Teil des Manuskripts „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ unverändert übernommen, sondern ihn in den ersten drei Kapiteln des neuen Werkes noch einmal von Grund aus umgearbeitet. Eine der wichtigsten Aufgaben künftiger Marx-Herausgeber wird darin bestehen, durch eine ungekürzte Ausgabe des Gesamtmanuskripts „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ auch diese erste und einzige von Marx selbst zu Ende durchgeführte Gesamtdarstellung seines Gedankengebäudes der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Trotz des gewaltigen Abstandes zwischen dem geplanten und dem wirklich vollendeten Werk stellt aber das Marxsche „Kapital“, und sogar auch   d e r   e r s t e   B a n d   d e s   K a p i t a l   f ü r   s i c h   a l l e i n , nach Form und Inhalt ein vollkommen abgerundetes Ganzes dar. Man darf sich die Sache nicht so vorstellen, als ob Karl Marx, der bei der Niederschrift des ersten Buches im Geiste auch schon die folgenden Bücher des Gesamtwerkes vollendet vor sich sah, nun wirklich in dieses erste seiner vier Bücher nur einen abgemessenen vierten Teil seiner Gedanken hinein getan hätte. Gegen diese Vorstellung spricht schon die von Rosa Luxemburg vor 30 Jahren in einer ausgezeichneten Studie zum Kapital hervorgehobene Tatsache, daß doch auch schon vor dem, im Jahre 1894 endlich erschienenen, dritten Bande des Kapital jahrzehntelang in Deutschland, wie in allen Ländern, „die Marxsche Lehre als Ganzes auf Grund des einen ersten Bandes popularisiert und aufgenommen“ und „nirgends eine theoretische Lücke verspürt wurde“. Es hat auch wenig Sinn, diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Inhalt und Wirkung des Kapital dadurch lösen zu wollen, daß man meint, in diesem ersten Bande würde bereits die Beziehung zwischen den beiden großen Klassen der modernen bürgerlichen Gesellschaft, der Gesamtkapitalistenklasse und der Gesamtarbeiterklasse, sowie die auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel hinzielende Gesamtentwicklungstendenz der gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsweise erschöpfend geklärt, während die in den folgenden Bänden behandelten Fragen der Kapitalzirkulation und der Verteilung des Gesamtmehrwerts auf die selbständigen kapitalistischen Einkommensformen Profit, Zins, Handelsgewinn, Grundrente usw. für die Arbeiterklasse theoretisch und praktisch minder wichtig wären. Abgesehen davon, daß es nach der Theorie des Marxschen Kapital nicht zwei, sondern drei grundlegende Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft gibt (Kapitalisten, Lohnarbeiter, Grundeigentümer), wäre es eine unbeschreibliche Verflachung der Marxschen Theorie, wenn man ihr unterschieben wollte, daß sie das ökonomische Bewegungs- und Entwicklungsgesetz der modernen Gesellschaft aus dem Bereich der Produktion und den diesem Bereich unmittelbar entspringenden Widersprüchen und Kämpfen allein, unter Absehung von den Vorgängen des Zirkulationsprozesses und den durch die Zusammenfassung beider im Gesamtprozeß noch hinzutretenden Gestaltungen, ableiten wollte.

Die wirkliche Lösung des hier vorliegenden Problems besteht darin, daß Marx im ersten Buch des Kapital seine Untersuchung nur formell auf den Produktionsprozeß des Kapitals eingeschränkt, tatsächlich aber in diesem   T e i l   zugleich   d a s   G a n z e   der kapitalistischen Produktionsweise und der daraus hervorgehenden bürgerlichen Gesellschaft mit all ihren ökonomischen und sogar noch darüber hinaus mit all ihren juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Erscheinungsformen als eine Totalität begriffen und dargestellt hat. Es ist dies eine notwendige Folge der von Marx aus der Hegelschen Philosophie, trotz aller materialistischen „Umstülpung“ ihres idealphilosophischen Inhalts, formell ziemlich unverändert übernommenen   d i a l e k t i s c h e n   D a r s t e l l u n g s w e i s e , die, in dieser Hinsicht ähnlich der modernen axiomatischen Methode der mathematischen Naturwissenschaften, den bei der Forschung im Detail angeeigneten Stoff nachträglich in einem scheinbar logisch konstruktiven Verfahren aus gewissen einfachen Grundbegriffen deduktiv ableitet. Über die Vorzüge oder Nachteile dieser dialektischen Darstellungsweise in der politischen Ökonomie ist hier nicht zu urteilen. Genug, daß Marx sie im „Kapital“ in vollendeter Weise angewendet hat und daß hiermit allein schon die Notwendigkeit für ihn gegeben war, bei der Untersuchung des Produktionsprozesses des Kapitals zugleich das Ganze der kapitalistischen Produktionsweise und der darauf gegründeten bürgerlichen Gesellschaft zur Darstellung zu bringen. Auf dieser besonderen, dialektischen Darstellungsweise des Kapital beruhen auch gewisse noch zu erörternde Schwierigkeiten, die gerade aus der eigentümlichen „Einfachheit“ der in den Anfangskapiteln des Werkes auftretenden begrifflichen Entwicklungen für den in dieser Hinsicht ungeübten Leser entspringen.

Neben diesem ersten und hauptsächlichen gibt es auch noch einen zweiten Grund für die auffallende Tatsache, daß trotz der von Marx ausdrücklich ausgesprochenen und immer wieder eingeschärften formellen Beschränkung der Untersuchung des ersten Bandes auf den „Produktionsprozeß des Kapitals“ doch gerade dieser erste, und einzige von Marx selbst redigierte, Teil des Kapital in weit höherem Grade als das durch die weiteren Bände ergänzte Gesamtwerk auf jeden Leser den Eindruck der Ganzheit macht und „nirgends eine Lücke verspüren läßt“. Dieser zweite Grund besteht in der schlechthin künstlerischen Form, die der im einzelnen oft spröden und scheinbar unnötig gezwungenen Schreibweise von Marx im ganzen eignet. Wie für einige der historischen Schriften von Marx, vor allem die Schrift über den „18.   B r u m a i r e   d e s   L o u i s   B o n a p a r t e“, so gilt besonders auch für den   e r s t e n   B a n d   d e s   K a p i t a l   das Urteil, mit dem einmal Marx in einem privaten Briefe an Friedrich Engels das gutgemeinte Schelten des Freundes über die immer wieder hinausgezögerte Fertigstellung des angeblich längst abgeschlossenen Werkes zu beschwichtigen versucht hat: „Welche Mängel sie immer haben mögen, das ist der Vorzug meiner Schriften, daß sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen. Mit der Jakob Grimmschen Methode ist dies unmöglich und geht überhaupt besser für Schriften, die kein dialektisch Gegliedertes sind.“ (Marx Brief an Engels, 31. Juli 1865.)

II

So, wie es nun als „artistisches Ganzes“, als wissenschaftliches Kunstwerk vor uns liegt, übt das „Kapital“ auf jeden unvoreingenommenen Leser einen starken und bestrickenden Reiz aus, der auch dem Ungeschulten über die meisten der angeblichen und wirklichen Schwierigkeiten der Lektüre hinweghelfen wird. Mit diesen Schwierigkeiten hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Man kann mit einer gewissen, gleich näher zu erklärenden Einschränkung kühnlich die Behauptung aussprechen, daß für solche Leser, wie sie Marx ausdrücklich vorausgesetzt hat („Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen“), das „Kapital“ eigentlich weniger Schwierigkeiten enthält, als irgendeines der mehr oder weniger viel gelesenen andern Hauptwerke der ökonomischen Fachliteratur. Sogar in der Terminologie wird, zumal in dieser Ausgabe, wo von der großen Anzahl der im Marxschen Text vorkommenden fremdsprachlichen Ausdrücke nur noch ein kleiner Teil unverdeutscht geblieben ist und auch diese größtenteils in dem hinzugefügten Fremdwörterverzeichnis erklärt sind, der zum Selbstdenken überhaupt befähigte Leser kaum auf ernsthafte Schwierigkeiten stoßen. Einige Kapitel, wie die von Marx in dem Brief an Kugelmann vom 11. Juli 1868 für dessen Frau als „zunächst lesbar“ empfohlenen Kapitel 8, 11–13, 24, über den „Arbeitstag“, „Kooperation, Teilung der Arbeit und Maschinerie“, „Ursprüngliche Akkumulation“, die zusammen schon mehr als zwei Fünftel des gesamten Werkes ausmachen, sind in der Tat so überwiegend beschreibend und erzählend – und in welchen Farben beschreibend, mit welcher fortreißenden Kraft erzählt! -, daß sie von jedem ohne Mühe verstanden werden können. Aber auch unter den nicht mehr überwiegend beschreibenden und erzählenden Kapiteln gibt es noch einige, die fast ebenso einfach zu lesen sind wie jene andern, und zugleich den Vorzug haben, daß sie uns schon mitten in die Theorie des Kapitals hineinführen. Wir würden daher dem ungeübten Leser nach unserer eigenen Beurteilung der Dinge statt jenes Rezepts, welches Marx – hierin dem Vorurteil seiner Zeit einen leichten Tribut entrichtend – in dem erwähnten Brief sozusagen „für Damen“ gegeben hat, lieber einen anderen Weg empfehlen, auf dem er sicher sein kann, das volle Verständnis der Theorie des Kapital ganz ebensogut, wenn nicht sogar besser, als beim Beginn mit den schwierigeren ersten Kapiteln, zu erlangen. Er beginne also mit einem gründlichen Studium des 5. Kapitels: „A r b e i t s p r o z e ß   und   V e r w e r t u n g s p r o z e ß“ [Unterabschnitt 1 a), in dieser Ausgabe S. 179 Mitte]. Er wird auch hier zunächst einige Schwierigkeiten zu überwinden haben, aber diese liegen alle in der Sache und nicht, wie manches in den vorhergehenden Kapiteln, zugleich an gewissen, eigentlich unnötigen Künstlichkeiten der Darstellungsform. Was hier gesagt ist, bezieht sich direkt und gradezu auf handgreifliche Wirklichkeiten, zunächst auf die handgreifliche Wirklichkeit des menschlichen   A r b e i t s p r o z e s s e s . Hart und klar tritt von allem Anfang an die für das richtige Verständnis des Kapital grundlegende Tatsache hervor, daß dieser   w i r k l i c h e   A r b e i t s p r o z e ß   unter den Bedingungen der gegenwärtig herrschenden   k a p i t a l i s t i s c h e n   P r o d u k t i o n s w e i s e   nicht nur eine Erzeugung von Gebrauchswerten für menschliche Bedürfnisse darstellt, sondern zugleich eine Erzeugung von verkäuflichen Waren, Verkaufswerten, Tauschwerten oder kurz gesagt „Werten“. Nachdem der Leser hier, in der wirklichen Produktion, den zwieschlächtigen, zwiespältigen Charakter kennengelernt hat, der dieser kapitalistischen   P r o d u k t i o n s w e i s e   anhaftet, und ebenso der   A r b e i t   selbst, sofern sie von Lohnarbeitern für die Besitzer der Produktionsmittel, von   P r o l e t a r i e r n   für   K a p i t a l i s t e n   geleistet wird, wird er später viel besser imstande sein, den Sinn und die Tragweite jener schwierigeren Untersuchungen der drei ersten Kapitel über den zwieschlächtigen Charakter der   W a r e   als Trägerin des Gebrauchswerts und Tauschwerts, über den zwieschlächtigen Charakter der   w a r e n p r o d u z i e r e n d e n   A r b e i t   und über den Gegensatz von   W a r e   u n d   G e l d   zu begreifen.

Aber so weit sind wir noch gar nicht. Jene ersten Kapitel, den eigentlichen Stein des Anstoßes und Ärgernisses für mehrere Generationen von Marxlesern, können wir vorläufig noch ganz beiseite lassen, obwohl ein beträchtlicher Teil davon für uns jetzt bereits vollkommen zugänglich wäre. Das gilt besonders für die „A n a l y s e   d e r   W e r t s u b s t a n z   u n d   d e r   W e r t g r ö ß e“ in den beiden ersten Unterabschnitten des ersten Kapitels, von denen Marx im Vorwort sagt, daß er sie gegenüber der Darstellung in der Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ nunmehr „möglichst popularisiert“ habe. Dagegen gilt es keinesfalls für den dann folgenden dritten Unterabschnitt, über die „W e r t f o r m“, den Marx selbst in den 13 Jahren 1859–72 nicht weniger als viermal in verschiedenen Formen dargestellt hat, und bei dem es sich „in der Tat um Spitzfindigkeiten handelt“. Es gilt aus anderen, noch zu erörternden Gründen auch nicht für den 4. Unterabschnitt über den „F e t i s c h c h a r a k t e r   d e r   W a r e   u n d   s e i n   G e h e i m n i s“. Das kurze 2. Kapitel ist wieder leicht, das 3. dagegen für den Anfänger äußerst schwer verständlich.

Am besten tut also der von uns vorausgesetzte, noch völlig ungeschulte Leser, wenn er sich auf dieser Stufe auf die ersten Kapitel überhaupt noch nicht näher einläßt, sondern von dem genauer studierten 5. Kapitel nach einer vorerst nur ganz flüchtigen Durchsicht des 6. und 7. Kapitels alsbald übergeht zu jenem 8. Kapitel über den   A r b e i t s t a g , von dessen besonders leichter Lesbarkeit wir schon weiter oben gesprochen haben. Hier fügen wir nur hinzu, daß dieses 8. Kapitel auch seinem Inhalt nach einen der wichtigsten Teile, in mancher Hinsicht den Höhepunkt des ganzen Marxschen Kapitalwerks darstellt. Das 9. Kapitel mit seinen kunstvoll abstrakten und hur dialektisch gesprochen „einfachen“ Ausführungen ist nunmehr unter allen Umständen ganz zu übergehen. Aus dem 10. Kapitel entnehmen wir vorläufig nur so viel, daß wir den von Marx auf den ersten Seiten dieses Kapitels mit der größten Klarheit auseinandergesetzten Unterschied zwischen dem „a b s o l u t e n“ und dem „r e l a t i v e n“   M e h r w e r t   begreifen lernen; das ist der Unterschied zwischen der Vermehrung der für den Profit geleisteten Mehrarbeit durch die absolute Verlängerung des Arbeitstages (Kapitel 8), und der Vermehrung der Mehrarbeit durch die relative Verkürzung des für die Erhaltung des Arbeiters selbst notwendigen Teils der Arbeitszeit infolge allgemeiner Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit. Dann folgen wiederum die von Marx als besonders leicht empfohlenen   K a p i t e l   11–13, mit Bezug auf die hier nur noch nachzutragen ist, daß sie zwar tatsächlich alle drei, aber doch nur in sehr ungleichem Maße, als „leichte Lektüre“ zu bezeichnen sind. Am einfachsten ist das 120 Seiten lange 13. Kapitel über „Maschinerie und   g r o ße   I n d u s t r i e “, das zugleich nach Form und Inhalt einen neuen Höhepunkt des Werkes darstellt. Das 11. und 12. Kapitel bieten demgegenüber schon etwas größere Schwierigkeiten begrifflicher Natur, und namentlich das 12. Kapitel über die „Manufaktur“ enthält neben einigen sehr leicht lesbaren Abschnitten auch einige zunächst schwerer eingehende Unterscheidungen; es empfiehlt sich daher, vom ersten Unterabschnitt dieses Kapitels, der den „d o p p e l t e n   U r s p r u n g   d e r   M a n u f a k t u r“ erörtert, unter Überspringung der beiden folgenden gleich zum vierten und fünften Unterabschnitt überzugehen, die die „T e i l u n g   d e r   A r b e i t   i n n e r h a l b   d e r   M a n u f a k t u r   u n d   i n n e r h a l b   d e r   G e s e l l s c h a f t“   und   den   „k a p i t a l i s t i s c h e n   C h a r a k t e r   d e r   M a n u f a k t u r“ behandeln.

Mit dem Bisherigen hat der Leser eine große Hauptsache vorläufig bewältigt. Er hat den   e i g e n t l i c h e n   A r b e i t s-   u n d   P r o d u k t i o n s p r o z e ß,   und damit den wirklichen Kern des Kapitals, kennengelernt. In zweiter Linie gilt es nun, diesen Arbeits- und Produktionsprozeß in seine Umwelt und in den   z e i t l i c h e n   Z u s a m m e n h a n g   hineinzustellen. Dazu lese man zunächst den dritten Unterabschnitt des 4. Kapitels: „K a u f   u n d   V e r k a u f   d e r   W a r e   A r b e i t s k r a f t “, danach den VI. Abschnitt über den „A r b e i t s l o h n “, unter vorläufiger Weglassung des auch für den Fachmann ziemlich schwierigen 20. Kapitels über die „Nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne“, das heißt also zunächst nur die drei Kapitel 17–19 über   A r b e i t s l o h n ,   Z e i t l o h n ,   S t üc k l o h n.

Als nächstes folgt nun zweckmäßig der ganze VII.   A b s c h n i t t , der den einzelnen Produktionsprozeß hineinstellt in den ununterbrochenen Fluß der   R e p r o d u k t i o n   u n d   A k k u m u l a t i o n , d. h. in die – bis zu einer gewissen Grenze – fortwährende Selbsterhaltung und Weiterentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und der aus ihr hervorgehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Auch in diesen Abschnitt fällt wieder eins jener von Marx für Frau Kugelmann empfohlenen, besonders leichten Kapitel. Es ist das wegen seines atemberaubenden Tempos und hinreißenden Schwunges mit Recht berühmte 24. Kapitel über „D i e   s o g e n a n n t e   u r s p r ü n g l i c h e   A k k u m u l a t i o n “. In der Tat bildet dieses leicht lesbare 24. Kapitel samt anhängendem 25. Kapitel über die Theorie und Praxis des „M o d e r n e n   K o l o n i a l s y s t e m s “ in sachlicher Hinsicht den dritten Höhepunkt des Marxschen Werkes. Wir empfehlen trotzdem unseren Lesern, sich dieses von Marx als krönender Abschluß gedachte Kapitel auch wirklich bis zum Schluß aufzuheben, sofern man überhaupt das ganze Werk mit all seinen leichten und schweren Teilen zu bewältigen gedenkt. Für dieses Vorgehen sprechen mehrere Gründe. Zunächst einmal gehören auch schon die vorhergehenden Kapitel 21–23 dieses Abschnitts größtenteils zu den weniger schwierigen Teilen des Buches. Ferner aber kann der Anfänger durch die Vorwegnahme jenes 24. Kapitels über die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ unter Umständen auch in die Irre geführt werden. Er kann sich dazu verleiten lassen, mit Franz Oppenheimer und vielen anderen diese Marxsche Theorie der ursprünglichen Akkumulation, die einen unentbehrlichen Bestandteil, aber doch nur einen und nicht einmal den zentralen Teil der Marxschen Theorie des Kapitals darstellt, für die ganze Theorie des Kapitals, oder doch für deren entscheidende   G r u n d l a g e   zu versehen. Der Leser tut also besser, die vier Kapitel des VI. Abschnitts über den   A k k u m u l a t i o n s p r o z e ß   in der Reihenfolge zu lesen, in der sie im „Kapital“ stehen, um dann, nach dem ersten vorläufigen Durchbruch durch das ganze Werk, nunmehr mit dem genaueren Studium seiner einzelnen Teile zu beginnen.

III

Für eine tiefere Erfassung der Theorie des „Kapital“ sind vor allem zwei Punkte aufzuklären. Den einen davon haben wir eben bereits berührt, als wir die falschen Vorstellungen erwähnten, die vielfach – sowohl innerhalb des marxistischen Lagers als auch bei den Gegnern – über die Bedeutung des Ursprünglichen Akkumulations-Kapitels im Rahmen der Gesamttheorie des „Kapital“ verbreitet sind. Allgemeiner gesprochen, handelt es sich hier nicht nur um dieses eine Kapitel, sondern im Zusammenhang damit noch um eine ganze Anzahl anderer Abschnitte an verschiedenen Stellen des Kapitalwerkes, die nur nicht zu besonderen Kapiteln ausgewachsen sind. Dazu gehören unter andern der bereits früher erwähnte vierte Unterabschnitt des ersten Kapitels über den „F e t i s c h c h a r a k t e r   d e r   W a r e   u n d   s e i n   G e h e i m n i s “, der dritte Unterabschnitt des 7. Kapitels über „S e n i o r s   l e t z t e   S t u n d e “, der sechste Unterabschnitt des 13. Kapitels über die „K o m p e n s a t i o n s t h e o r i e   b e z ü g l i c h   d e r   d u r c h   M a s c h i n e r i e   v e r d r ä n g t e n   A r b e i t e r “ und die beiden – mit dem Ursprünglichen Akkumulationskapitel am engsten zusammenhängenden – Unterabschnitte des 22. Kapitels über die „i r r i g e   A u f f a s s u n g   d e r   R e p r o d u k t i o n   a u f   e r w e i t e r t e r   S t u f e n l e i t e r   s e i t e n s   d e r   p o l i t i s c h e n   Ök o n o m i e“ und über den „s o g e n a n n t e n   A r b e i t s f o n d s “. Alle diese – und noch eine sehr große Anzahl ähnlicher Ausführungen, die in allen Teilen des Kapitals auftreten – haben das Gemeinsame, daß sie in einem engeren Sinn des Worts eine „Kritik“ der politischen Ökonomie darstellen, als dies das ganze Werk gemäß seinem Untertitel auch sonst schon tut. Man erkennt dies schon äußerlich an dem direkten Hinweis auf die „irrige Auffassung“ einzelner Ökonomen (Senior) oder der politischen Ökonomie insgesamt, und an der Bezeichnung der hier untersuchten Gebilde als „Geheimnis“ als etwas „Sogenanntes“, wohinter in Wahrheit etwas ganz Anderes verborgen ist, und ähnlichen Wendungen mehr.

Näher zugesehen, zerfallen diese im engeren Sinne des Worts „kritischen“ Auseinandersetzungen des „Kapital“ wiederum in zwei verschiedenartige Bestandteile von sehr verschiedener Bedeutung. Bei dem einen handelt es sich um eine gewöhnliche „Kritik“ im schulmäßigen Sinne. Das ist überall da der Fall, wo Marx sich und seinen Lesern das Vergnügen bereitet, die scheinwissenschaftlichen theoretischen Seitensprünge eines der späteren, nachklassischen Periode der bürgerlichen Ökonomie angehörigen Gelehrten von seinem überlegenen wissenschaftlichen Standpunkt recht nach Herzenslust zu zerzausen. Hierher gehört z. B. die glänzende Abfertigung der „Theorie“ des bekannten Oxforder Professors   N a s s a u   W.   S e n i o r   über die Bedeutung der „letzten“ Arbeitsstunde im 7. Kapitel (diese Ausgabe S. 222–27) und der von demselben „ernsthaften Gelehrten“ bei einer andern Gelegenheit „entdeckten“, in der bürgerlichen Ökonomie bis zum heutigen Tage fortlebenden „Theorie“ von der sogenannten „Abstinenz“ des Kapitals (diese Ausgabe S. 549–51). Diese Teile der ökonomischen Kritik von Marx gehören zu den amüsantesten Abschnitten des Kapital, und verbergen überdies unter ihrer kritisch satirischen Hülle fast immer noch einen beträchtlichen sachlichen Bestand von bedeutungsvollen, hier dem Leser gleichsam „spielend“ beigebrachten Einsichten. Sie gehören trotzdem streng genommen nicht zum Kerngehalt des Kapital, sondern würden ihre Stelle ebensogut in dem von Marx geplanten „vierten Buch“ über die „Geschichte der Theorie“ gefunden haben, von dem er selbst einmal (am 31. Juli 1865) an Engels schreibt, daß es im Gegensatz zu den theoretischen Teilen (den ersten drei Büchern) mehr einen „historisch literarischen“ Charakter haben sollte, und für ihn selbst „relativ der leichteste Teil“ sein würde, da „alle Fragen in den drei ersten Büchern gelöst sind, dies letzte also mehr Repetition in historischer Form ist“.

S. 22831S. 524536575