Impressum

Dietmar Beetz

Arzt im Atlantik

Ein Brief von Bord

ISBN 978-3-95655-167-3 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1971 im Verlag Neues Leben Berlin.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Auf See, am 15. Januar

Liebes,

ein Glück, dass Distanzen mitunter rein äußerlich sind; denn zwischen uns liegt im Moment immerhin reichlich ein Sechstel Erdball. Neun Tage lang und neun Nächte sind wir ohne Unterbrechung hierher unterwegs gewesen, allerdings bloß bei mittlerem Radfahrertempo: elf Meilen pro Stunde - elf KNOTEN, wie‘s in der Fachsprache heißt. Heut um acht hab ich Frühstück gemacht; da war’s in Erfurt gerade zwölf, Mittagszeit also. Bleibt zu hoffen, dass Du mit der Sprechstunde fertig gewesen und mal pünktlich zum Essen gekommen bist.

Jetzt sitze ich übrigens im Hospital - genauer: im Behandlungsraum - und überlege, was ich mit mir anfangen soll. Komisches Gefühl: an einem Vormittag, noch dazu in der Woche, zu wissen, dass kein Patient auf dich wartet. Verkehrte Welt: Hier wartet der Arzt auf Patienten und hat, was man landläufig Muße nennt - ein Zustand, der an sich nicht übel ist.

Links von meinem Schreibtisch hängt noch die Dämmerung hinterm Bullauge; außerdem meint’s die See heute gut mit uns: Gemächlich klatscht sie gegen die Schiffshaut und schaukelt den Dampfer, als wolle sie uns einschläfern - genau die richtigen Umstände also, in sich zu gehn und seinem Little eine Art Positionsmeldung zu geben.

Dabei weiß ich noch nicht, was mal auf diesen Seiten stehen wird: ein Tagebuch, ein Brief in Portionen, ein Bericht oder eine Beichte. Vielleicht alles in einem - egal auch; Dich, Liebes, brauch ich in jedem Fall am anderen Ende. Du musst erfahren, was ich hier treibe und was sich inzwischen mit mir getan hat. Wenn Du schon nicht in meiner Nähe sein kannst, sollst Du zumindest so bei mir sein.

Bei mir sein, Dich umschaun wie ich und versuchen - bitte: wenigstens VERSUCHEN, mal mit meinen Augen zu sehn. Und zurückzugehn, falls nötig, neben mir, mit mir voraus, um zu VERSTEHN, weshalb ich heute hier bin, hier sein muss. Und dass ich, obwohl Du's nach wie vor bezweifeln wirst, lieber bei Dir wär. Und immer wieder, so abgenutzt die Formulierung auch ist: Dass ich Dich brauche, dass kein Missverständnis, keine Enttäuschung, keine Bitterkeit zwischen uns aufkommen darf, dass nicht mal ein Sechstel Erdball mich von Dir entfernen kann.

Viel Tamtam - ich weiß - und hoffentlich so unnötig, wie Du sicher behaupten wirst, und ganz bestimmt zu ernst und sentimental. Völlig klar: Damit heb ich Dir die Mundwinkel nicht an. So will ich wenigstens versuchen, Deinen Neid zu provozieren oder den vorhandenen zu potenzieren; vielleicht hilft Dir das drüber weg und möbelt Dich auf.

Vernimm denn: Ich bin - ja, nun rate mal, wo ich gewesen bin! Gut eine Woche war ich nicht auf dem Dampfer; erst letzte Nacht bin ich wieder übergestiegen. Wenn Du so willst, komm ich geradewegs - wie sag ich’s nur am beiläufig-effektvollsten? Meinetwegen so: Ich komm man grad aus Richtung Kanada.

Du hast richtig gelesen: KANADA und ICH. Bist Du nun wenigstens neugierig geworden? - Schön, dann musst Du im Folgenden erst mal eine weitere Einleitung über Dich ergehen lassen; denn ohne System kommt kein Deutscher aus, und die Ortsangabe gehört nun mal dazu.

Wir beginnen mit einem Räuspern und gehen vom Allgemeinen zum Besonderen, im vorliegenden Fall vom gesamten Atlantik zum Fangplatz vor Labrador. Und weil dieser Satz seinen Zweck erfüllt und reineweg nichts gesagt hat: Nimm unsern „Atlas zur Erd- und Länderkunde“ und schlage Nordamerika auf! Hast Du? Gut, oben rechts, so zwischen Grön- und Neufundland, fast genau am Schnittpunkt von 55 Grad Nord und 55 Grad West - da sind wir im Augenblick, und von da hat vor nunmehr acht Tagen auch mein GROSSES ABENTEUER seinen Ausgang genommen.

Nicht viel zu sehn auf der Karte, zugegeben: Ein bisschen dunkles und ein bisschen helleres Blau. Der Strich dazwischen könnte den Rand der Hamiltonbank markieren; da wird der Atlantik etwa 200 Meter flach. - Sagt Dir das was? Mir nicht, wenigstens nicht viel.

Um eine genauere Vorstellung zu bekommen, musst Du schon zwei Pullover an- und darüber noch die Wattejacke ziehn. Vorsicht dann! Hinter der Tür, die an Deck führt und hier wie alle ihresgleichen SCHOTT heißt, springt Dich ein bissiges Vieh an: Luft, die so eine Bezeichnung nicht mehr verdient. Das ist Eis in gasförmigem Aggregatzustand; Nadeln sind das, unsichtbare Speerspitzen ... Kurz: Hundekalt ist es da draußen.

Uns - Polarbären, die wir ja fast schon sind - macht das natürlich so gut wie beinah überhaupt nichts aus. Wie sich’s für Seeleute gehört und in Hinsicht auf die Schiffsbewegungen empfiehlt, staken wir breitbeinig über die bereiften Planken bis zur einzigen und bemerkenswert nützlichen Grenze unseres derzeitigen Territoriums: einem Eisenrohrgeländer namens RELING. Aufgestützt wird sich nicht, weil sonst im Handumdrehn der Handschuh anfrieren würde.

Und nun nehmen wir mal optimale Umstände an: Windstille, Tageslicht. Was offenbart sich da unseren eindruckshungrigen Sinnen?

Den Ohren nichts als Gekreisch; das überfällt förmlich selbst ein lärmgewöhntes Gehör. Es wird verursacht von einer Art Ungeziefer; Du kennst sie und kennst doch die hiesige Variante nicht. Ihr Anblick ist, ästhetisch beurteilt, geradezu beleidigend und darüber hinaus geeignet, die Folgen schmarotzender Lebensweise zu demonstrieren: verfetteter Leib und verkümmerte, kaum noch flugtüchtige Flügel. Was da in Schwärmen unserem Schiff hinterherflattert und sich mit Fischverarbeitungsabfall den Kropf stopft, hat höchstens den Namen gemein mit jenem schnittigen Küstengeflügel, das auf keiner Urlaubskarte fehlen darf. Davon wenden wir uns ab.

Der Einfachheit halber blicken wir nicht zurück; denn das Deck zu beschreiben, fühlt sich der DOC - das bin ich - weder berufen noch fähig. Die ganze Installation und ihren Mechanismus muss er sich bald mal und dann sicher noch ein paarmal erklären lassen; vielleicht behält er danach auch das zugehörige Vokabular im Gedächtnis. - Erste Erkenntnis: Nicht nur unsere Nomenklatur, Liebste und Kollegin, hat’s in sich; kannst Du mir glauben.

Um aber im Text voran- und selbst umgehend wieder in die Nähe eines Heizkörpers zu kommen, lassen wir nunmehr unsern Blick - ja, was denn? - natürlich: schweifen, und zwar über Wasser, Wasser und noch einmal dieses Element, hier vorhanden in seinen drei möglichen Erscheinungsformen. Die flüssige überwiegt verständlicherweise und kann - das sei einstweilen behauptet - von manchem an Bord nicht mal mehr im Zahnputzbecher gesehen werden. Sie wird von der festen gefleckt und beschuppt. Ja, und darüber schleiert und ballt sich’s: hauptsächlich Kumulus mit verdächtig dunklen Rändern.

Darunterhin, beziehungsweise darauf und dazwischen, stampft’s und schlingert’s im Übrigen vielfach, mit und ohne GESCHIRR hinterm Heck her; doch das betrachten und kommentieren wir lieber, wenn sich’s am attraktivsten gibt: bei Nacht unter einem von Nordlicht nervösen Himmel. Dann kommst du dir vor wie im heimischen Mittelgebirge: ringsum die Lichtergirlanden der Dörfer - ein LEUCHTENDER GÜRTEL, der GÄHNENDE LEERE umspannt, und inmitten der SCHWÄRZE du auf einem bedenklich SCHWANKENDEN Blatt ...

Ich soll das geschraubte Poetisieren lassen? Nicht mehr hören kannst Du das, nicht mal belächeln diese Parodie? - Ich auch nicht. Seit wenigstens zehn, vierzehn Tagen nicht mehr.

Ohnehin würde ich jetzt, beispielsweise auf der Brücke im Gespräch mit dem ALTEN, meine Faszination, wenn überhaupt, ein bisschen anders formulieren, eventuell so: „Ganz schöner TROUBLE heute.“ - Und der Alte ließe sich, um diese Möglichkeit mal fortzuspinnen, Minuten später mit ebensolcher Ergriffenheit hören: „Trouble - und wie!“ Darin läge ein ganzes Poem.

Da wir aber - siehe oben! - uns auf Tageslicht geeinigt haben, besteht momentan keinerlei Anlass zu abgründigen oder verknappten Ergüssen. Lediglich der Himmel nötigt uns noch eine Bemerkung ab, zumal es sich hierbei nicht einfach um die gewohnte Kulisse, sondern immerhin um den Himmel über dem Nordatlantik handelt.

Leider gibt diese Sonderstellung nicht viel her; denn was sich im Moment hinter den Wolken breitmacht, tut einem beinah leid: Blass sieht das aus, regelrecht bläulich gefroren. Dem geht’s also auch nicht besser als uns, wenn wir noch länger hier rumstehn.

Das zu verhindern, könnten wir nun verspätete Morgengymnastik betreiben - nicht ratsam bei unserer Dienststellung an Bord. Irgendwer wäre bestimmt bald zur Stelle - sagen wir mal: der Bootsmann.

„Wohl kalt heute, Doc?“

Da hätten wir’s, und spätestens zehn Minuten später ginge die Sache auf dem ganzen Dampfer rum: „Der Doc soll ja man für die Olympiade trainieren.“ - „So? Hätt ich ihm gar nicht zugetraut. Ja, unsre junge Intelligenz …“

Gehen wir also dem Bootsmann und allem möglichen Gerede aus dem Weg und schleunigst über Deck und NIEDERGÄNGE, was gewöhnliche Treppen sind, wieder an den Platz, den ich sowieso nicht verlassen habe.

Hier im Hospital ist es unverändert still; das heißt: Es fehlen die arbeitsbedingten Geräusche. Nirgendwo klirrt ein Instrument gegen Glas; keine Schritte klopfen einen Korridor entlang; niemand bittet den Nächsten herein. Kaum zu glauben, dass man so was vermissen kann.

Still ist es natürlich nicht absolut. Von Zeit zu Zeit schaltet sich der Kühlschrank ein, und die Wände vibrieren eigentlich immer ein bisschen. Wenn wir nach Backbord rollen, klicken im Medikamentenschrank zwei Flaschen aneinander; da muss ich gleich mal nachsehn und mit Wattepaketen SCHLINGERSICHER abpolstern.

Stille ist hier stets nur temporär und sprichwörtlich trügerisch. Auf der Überfahrt - das war, glaub ich, noch in der Nordsee - habe ich mich eines Abends auf ein nahezu beständig waagerechtes Lager gebettet; zwei Stunden später hätt’s mich beinah aus der Koje geschippt. Und der Behandlungsraum am nächsten Morgen - das war Dir vielleicht ein Anblick! Der Stuhl, auf dem ich sitze, lag da vorn an der Tür; Bücher und Schreibzeug waren vom Tisch gefegt und über den Boden verstreut; unter den Schlingerleisten tropften Ethanol und Gentianaviolett hervor; und der Storchenschnabel, die kostbare Operationsleuchte, lag mit zersplitterter Scheibe neben dem Röntgengerät. - Seitdem ist mir jede Stille auf See suspekt.

Was sich aus so einem scheinheiligen Zustand entwickeln kann, habe ich erst neulich wieder erlebt; aber da lief das Abenteuer, das bewusste, auf das wir nun endlich zu sprechen kommen, bereits MIT VOLLER KRAFT VORAUS.

Die Sache fing absolut harmlos an: Ich schlief, wie sich’s für einen, der von Berufs wegen gesunde Lebensweise vorzuexerzieren hat, nach Mitternacht gehört.

Nun ist ja schlafen und schlafen nicht dasselbe. Man kann als Student - Dir brauche ich das nicht zu sagen - leidlich fest beispielsweise in der Hygienevorlesung pennen. Ein VÖLLIG ANDERES SCHLAFGEFÜHL stellt sich bei frischberingten Eheleuten ein - wieder was für sich und allgemein bekannt.

Ich schlief, meinem derzeitigen Lebenswandel entsprechend, in einer spartanisch schmalen Koje, einem - wie wir zu sagen pflegen - VOLKSEIGENEN SCHIFFSBETT. Rechts von meinem Kopf klapperten hinter der Wand in der Kombüse Schüsseln und Töpfe; der Herd darunter heizte mittels thermischer Strahlung meine ohnehin hitzigen Träume auf.

Ob ich tatsächlich geträumt habe, und wenn: wovon? - Welch eine Frage! Ein Seemann träumt immer und immer nur davon; das müsstest Du doch zur Genüge aus einschlägigen Schlagern wissen. - Immerhin steckt in diesen Produkten unter dem Zuckerguss thematisch für alle Betroffenen EIN EWIG WEH UND ACH, und das wird leider noch eine ganze Weile so bleiben.

Weniger lukrativ erscheint vermutlich den textenden Zuckerbäckern die Technik; jedenfalls ist das Bordtelefon meines Wissens bislang von AMIGA her unbekannt, und ich würde auch niemandem raten, dieses Gerät zu besingen, schon gar nicht seinen Gebrauch nachts halb drei.

„Doc, komm mal hoch! Die ‚ILMENAU‘ verlangt deinen weisen Ratschlag.“

Das übliche also: ein MEDICO-Gespräch mit einem unserer Trawler, eine Konsultation auf Kurz- oder Grenzwelle. Dacht ich wenigstens, während ich unter der BACK, dem bücherbeladenen Tisch, meine Pantoffeln suchte.

Angerufen hatte Karlheinz, der GdK, was GEHILFE DES KAPITÄNS bedeutet und seefahrtbehördlicherseits für die umständlichere Bezeichnung POLITOFFIZIER dem deutschen Sprachgebrauch beigesteuert wurde. Dass diesmal tatsächlich der Arzt gemeint war und nicht der GETRÄNKSMANN oder der Dritte für eine Skatrunde, war der Anrede - „Doc“ statt einfach „Bernd“ wie sonst - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu entnehmen.

Auf der Brücke schwanden die letzten Zweifel; dafür stellten sich andere Empfindungen ein. Eine Welle aus Hitze und Hochspannung schlug mir entgegen und über mir zusammen - sicher nicht nur, weil der Kommandostand wieder mal überheizt war und auf der Radarscheibe der phosphoreszierende Zeiger kreiste.

Kaum hatte ich das Schott aufgestoßen, zog der RUDERGÄNGER den Kopf zwischen die Schultern; so duckt man sich vor nahendem Sturm, und so lassen sich am besten lautlose akustische Entladungen registrieren.

Der Alte - einunddreißig Jahre jung und von Ehrgeiz ständig elektrisiert - fuhr bei meinem Anblick auf seinem JAGDSITZ herum: Blick durch die KLARSICHTSCHEIBE gerichtet, beharrlich ein Punkt am ereignisfreien Horizont fixiert.

Neben ihm, an die FISCHLUPE gelehnt, stand Karlheinz. Seine Lippen kräuselten sich noch unterm Nachklang einer Widerrede; auch er war anscheinend erst bei meinem Eintreten verstummt. Wenigstens antwortete er auf meinen Gruß, und er gab noch gratis einen Kopfruck in Richtung des Schiffsherrn hinzu, begleitet von entsprechender Bewegung der Lider links; das war ja nun wirklich mehr, als man von einem höflichen Menschen ohne Weiteres erwarten konnte.

„Rudi, komm mal! Der Doc ist da“, sagte der Kapitän.Ohne sich umzudrehn, überließ er mir Hörer und UKW-Bereich.

Das vertraute Knacken in der Muschel, nachdem ich die Taste gedrückt hatte und auf Empfang gegangen war. Dann erfuhr ich die Bescherung: Auf der „Ilmenau“ war in der Fischmehlanlage ein Schauglas geplatzt, und der FISCHMEHLER - sein Name entfiel mir sogleich - hatte ausgerechnet in diesem Moment vor der Unglücksapparatur gestanden.

„Das ganze Gesicht - eine Blase, Herr Doktor, die Brust und die Arme, die Beine und so, Herr Doktor, er schreit, er brüllt, wir haben ihn ausgezogen, was sollen wir noch tun?“

„DOLCONTRAL gegen die Schmerzen - das zuerst. Sie wissen doch, wie man spritzt? Nicht ausgekocht? Na, dann tun Sie das bitte sofort. Ich komm rüber. Natürlich; ich zieh mich bloß an.“

Wieder ein Knacken; danach war es still. Auf der Mattscheibe des Radargerätes glommen grüne Punkte auf, verblassten und wurden neu entfacht; sie spiegelten sich in der Fensterscheibe, hinter der ein Teil der Schiffe auch ohne Technik deutlich genug an ausreichender Positionsbeleuchtung zu erkennen war. Gleichförmig kratzte ein Schreibarm Strich neben Strich auf die Registriertrommel: Impulse, die über die Fischlupe kamen. Soweit ich’s verstand und von meinem Winkel her ausmachen konnte, ging uns da ein pfündiger Schwarm geradewegs ins Geschirr.

„Kommt rüber! Natürlich! Zieht sich bloß an!“

Da hatte ich die Bestätigung, und das war zugleich der zündende Blitz. Wie Gewitterregen prasselten die Worte los; eine Zeit lang sprachen der Kapitän und sein Gehilfe synchron: der Alte mit verhaltener Wut, Karlheinz begütigend und belustigt. Sie wiederholten sich dabei und wiederholten vermutlich, was schon öfter und zuletzt vor meinem Eintreten geredet worden war.

Soviel weiß im allgemeinen jeder Nautiker von seinen paar Dutzend Stunden medizinischen Unterrichts in Wustrow her: was mit einem Medico-Gespräch erledigt werden kann und was die unmittelbare Hilfe eines Arztes verlangt. Hier sah’s von vornherein nach HAUSBESUCH aus. Hausbesuch hieß aber SCHLAUCHBOOTEINSATZ, Schlauchbooteinsatz - erst mal STOPP!

Zieh hin, mein Schwarm; es wär zu schön gewesen. Wir müssen leider hieven; leer bleibt unser Steert und schlaff - verdammt! Warum? Weil so ein Trottel übersteigen will, weil so ein Vollidiot ein Schauglas in die ...

„Walter, Mensch, nun geh mal in dich! Tust ja grad, als wär der Doc dran schuld oder Charlie.“

Ein Blick von Walter: seitlich, schief wie die Schiebermütze auf dem Kopf; die Erwiderung dann wieder gegen die Klarsichtscheibe gefaucht.

„Hieven, hieven - jetzt! Kaum eine halbe Stunde geschleppt, und - hier, guckt euch das an!“ Die Faust wies auf die Fischlupe. „Anzeichen über Anzeichen!“

„Walter, hast ja recht; aber was soll das?“

So und so weiter - vielleicht drei Minuten lang, vielleicht auch vier, aber länger nicht. Zwischendurch - das muss um der Wahrheit willen betont werden - hatte der Alte der Decksmannschaft das Kommando gegeben: „Klar zum Hieven!“ Ob mit diesen Worten, weiß ich nicht; Kommandos hab ich noch nie behalten. Auch die Maschine war schon vom Rudergänger per Telefon benachrichtigt worden. Zeit hatten wir also nicht verloren, wohlgemerkt.

Der Meinungsaustausch, ums mal so zu nennen, dauerte indessen an; und weil mir ein paar der geäußerten Standpunkte wichtig erscheinen, muss ich leider noch einige Zeilen lang Deine Geduld strapazieren. Die Sorgen des Schiffsherrn kann man nicht abtun; dahinter steckt außer dem oben erwähnten Ehrgeiz allerhand Ökonomisches und - lach mich aus meinetwegen! - allerhand an sogenanntem persönlichem Glück.

Machen wir mal eine simple Rechnung auf: Von den 67 Männern und Burschen und den 14 Frauen und Mädchen an Bord geht’s bestimmt den meisten wie mir: Daheim wartet irgendein Little auf sie - verzeih diese sachlich-summarische Kopplung! und selber zählen sie ebenfalls die Tage bis zum WIEDERSEHN, manche übrigens wie einige Soldaten der Volksarmee: Sie schneiden Abend für Abend einen Zentimeter vom Bandmaß ab. - Das ist gewissermaßen die Basis für jede Berechnung.

Nächster Schritt: Die Laderäume fassen, aufgerundet, 600 t Filet - abgesehen vom Fischmehl und Tran, die wir nicht für unsere Gleichung brauchen. Produziert werden maximal 30 t pro Tag: aber da muss uns schon Fisch von Ferkelgröße ins Netz gehn, und den gibt’s hier oben seit Jahren nicht mehr. Weiter: 30 t Filet verlangen 90 t Kabeljau; denn mehr als ein Drittel lässt sich kaum von den Gräten schneiden. 90 t aber - die wollen erst mal gefangen sein. Das wären 1800 KORB oder Zentner Lebendgewicht; und ein HOL von 300 Korb, möchte ich behaupten, kann beinah nur in einem Steert aus Seemannsgarn an Deck gehievt werden; fabrikübliches Netzmaterial platzt bei solcher Belastung meist, wenn die Walze aus Fischleibern die SLEEP hochgeschleift wird. - Soweit die Fakten.

In unseren Interessenbereich übertragen bedeutet das, frühestens nach 20 Tagen Fangzeit VOLL SCHIFF zu sein - theoretisch; denn in der Praxis mischen da eine Menge Faktoren mit: Sturm, der Fang und Verarbeitung unmöglich macht; SAURE-GURKEN-ZEIT, was heißt, dass man drei Stunden schleppt und dann ein Beutelchen mit schlappen zwanzig Korb hievt; Unterbrechung durch Maschinenschaden und Schlauchbooteinsatz, um hier mal nur die beiden häufigsten Möglichkeiten zu nennen. Wenn man dann nach vierzig Tagen VON AB kommt, ist das schon sensationell; dann hat die Reise, auch die Überfahrten mitgerechnet, nicht mal volle zwei Monate gedauert.

Liebes, stell Dir vor; In fünf Wochen könnte ich bei Dir sein! Zu verlockend - diese Aussicht, zu verführerisch, um sie nicht jeden Tag in allen Einzelheiten und gleich ein paarmal durchzukosten.

Wie ich mich kenne, werde ich spätestens in Höhe der SHETLANDS dem Funker auf die Bude rücken. Da sitz ich dann inmitten seiner Apparate, und ihr Zirpen ist ein Vorschuss auf Amselschlag, auf - was weiß ich. Psychisch bin ich gestimmt wie an jenem Maienabend unter der Normaluhr auf dem Anger, als ein gewisses Fräulein mich geschlagene fünfundvierzig Minuten hat warten lassen. Ein wenig mischt sich in meine Stimmung auch die vierzehnmal vor Examenstüren überstandene; theoretisch muss man als Seemann ja auf alles gefasst sein: Wer weiß schon, ob sein Little noch sein Little ist. - Ob man das überhaupt über RADIO RÜGEN rausbekommen kann?

Nein, ich warte lieber, wenn schon, bis zum Sund, beseh mir erst noch HELSINGÖR und HAMLETS SCHLOSS; und bevor dann KOPENHAGEN in Sicht kommt, ruf ich kurz mal Erfurt Nummer soundso an: „Hallo, Madam, wie ham wir’s denn? Leg schnell auf; ich bin gleich da; nur noch ein Katzensprung ..."

Geht auch nicht; da fehlt das Überraschungsmoment. Obwohl ich - keine Sorge! - mich, wenn’s so weit ist, rechtzeitig anmelden werde, verzichtet meine liebste Heimkehrversion auf dergleichen. Darin verschlaf ich den Sund und den Tümpel dahinter, und erst vor der Mole von WARNEMÜNDE erschein ich an Deck.

„Soso, Warnemünde. Und das dort ist Rostock? Schon vergessen, wie heimatliche Gefilde sich anschaun. Das Grün an den Bäumen - wer hätte geglaubt, wie weit wir mal wieder im Jahr sind!“

Die Manöver im Becken von MARIENEHE verfolg ich gelassen. Dem Hafenarzt, der sich - wer lacht da? - seit Stunden an der PIER unseretwegen die Beine vertritt, wink ich ein seefahrerübliches „Hallo!“ zu, echt angloamerikanisch zwischen den Zähnen zerquetscht; schließlich ist man ein FAHRENSMANN, der von See kommt; das verpflichtet.

Die ersten Schritte seit Wochen auf Festland: Breitbeinig wiegend natürlich; dem kindischen Wunsch, sich zu bücken und mit diesem Boden allerlei Unsinn anzustellen, widerstehen wir mannhaft. Wir lenken die längst auf Hochglanz polierten Sonntagsschuhe - aber das will ich lieber nicht versprechen - vorbei an einladenden Lokalitäten; in der MITROPA erwischt’s uns dann doch.

„Diese versoffnen Hochseefischer“, hör ich noch irgendwo auf dem Bahnsteig.

„Sie Pinkel, Sie, wenn Sie mal ein Filet fr. . . Tschuldchung, wenn Sie mal ein Filet in die Pfanne haun, dann ist dieses Filet von diesen besoffnen Burschen da bei minus zwanzig bis dreißig Grad - na, und so weiter, wem sag ich das?“

„Nichts wird gesagt, Doc; gesungen wird.“

Also denn: „In der Heimat ... Drei, vier!“

Wer mault da? - Selber Barbaren! Und wenn schon: Poeten, dichtet was Bessres für solchen Bedarf; unsre Kehlen vertragen in jeder Hinsicht, in jeder Hinsicht allerhand.

Aber auch der Gesang verebbt. In Güstrow steigen die ersten aus; in Leipzig oder Halle sind wir nur noch ein übermüdetes Grüppchen.

„Na, bis dann also!“

Doch das unterschlagen wir lieber: Wer wird schon gern dran erinnert, dass fünf Tage später die ganze Herrlichkeit vorbei ist? - Fünf Tage, und zwei davon auf der Bahn, na ja.