BRAD GILBERT
STEVE JAMISON
MENTALE KRIEGSFÜHRUNG IM TENNIS
MENTALE KRIEGSFÜHRUNG IM TENNIS
Wie Sie mit der Strategie des legendären Erfolgstrainers bessere Spieler schlagen
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Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle Sport- und Fitnessberatung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie einen entsprechenden Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte dafür qualifizierte Personen. Der Verlag und die Autoren haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.
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1. Auflage 2021
© 2021 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Die englischsprachige Originalausgabe erschien 1993 bei Touchstone, einem Imprint von Simon & Schuster, Inc. unter dem Titel Winning Ugly: Mental Warfare in Tennis – Lessons from a Master.
© 1993 by Brad Gilbert and Steve Jamison. Einführung © 2013 by Brad Gilbert. All rights reserved.
Die deutsche Erstauflage erschien 1997 im zu Klampen Verlag mit dem gleichnamigen Titel.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Christian Klingebiel, Robert Lasser, Max Limper (Einführung)
Redaktion: Tillmann Courth
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildungen vorn: Jamey Stillings Jas; Shutterstock/Anthony Correia, Leonard Zhukovsky, lev radin, Popartic
Umschlagabbildung hinten: Shutterstock/Popartic
Layout und Satz: abavo GmbH, Buchloe
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN Print 978-3-7423-1602-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1284-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1285-0
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Für Arthur Ashe, einen Gentleman und großen Champion, der für die Würde des Menschen und den Wert des Einzelnen kämpfte
Winning Ugly?
McEnroe: Ein Meister verliert hässlich
Einführung Winning Ugly im 21. Jahrhundert
Die Welt ändert sich, aber wir bleiben, wie wir sind
Teil 1 Der frühe Vorteil
Wenn das Match beginnt, hat es schon längst begonnen
Kapitel 1 Mentale Vorbereitung: Schon vor dem Match die Nase vorn
Kapitel 2 Das Handwerkszeug: Wie die Ausrüstung zum Sieg beitragen kann
Kapitel 3 Stretchen für den Sieg
Kapitel 4 Das Einschlagen
Kapitel 5 Wie man mit der Nervosität vor dem Match fertigwird
Kapitel 6 Kluger Start: Holen Sie sich die frühe Führung
Teil 2 Kluges Spiel
Der Weg zum Erfolg
Kapitel 7 Der Schlüssel zum Sieg
Kapitel 8 Wie man die Strategie des Gegners zerstört
Kapitel 9 Die sieben versteckten Vorteilpunkte
Kapitel 10 Die Reparaturwerkstatt der Schläge
Kapitel 11 Von den Legenden lernen
Teil 3 Täuschungsmanöver und Spielchen im Kopf
Geschichten von der Tour
Kapitel 12 Die Meister der Wutanfälle: Connors und McEnroe
Kapitel 13 Lendls tödliche Waffe
Kapitel 14 Agassi – kein Tempolimit
Kapitel 15 Wie man mit Schummlern umgeht
Kapitel 16 Das Millionen-US-Dollar-Match
Kapitel 17 Immer in Turnierform
Kapitel 18 Der Weg zur Nummer eins
Kapitel 19 Andre Agassi über Winning Ugly
Dank
Die Autoren
»Wie um alles in der Welt kann dieser Typ gewinnen? Er schlägt wie ein Höhlenmensch, der einen Tennisschläger gefunden hat.« Diese unglaubliche Meinung belauschte ich beim Finale des San Francisco Classic, als Brad Gilbert Anders Järryd schlug und 32 000 US-Dollar kassierte. Der Preis war ein Teil der 1,5 Millionen US-Dollar, die er in diesem Jahr gewann. Meine Reaktion überraschte mich. Als einer von Tausenden seiner Fans, die dort den Lokalmatadoren sahen – Brad lebt nicht weit von San Francisco in San Rafael –, wollte ich keine Kritik an ihm hören. Doch ich musste zugeben, dass diese Sache mit dem Höhlenmenschen nicht ganz falsch war. Brad hat tatsächlich einen einzigartigen Stil.
Warum gewinnt er? Wie schlägt er Spieler wie Boris Becker, die stärker eingeschätzt werden? Der Augenschein trügt, und bei Brad, dessen Stil als »ugly«, hässlich, bezeichnet wird, trügt er besonders. Er hat mehr als fünf Millionen US-Dollar Preisgelder gewonnen. Er war fünf Jahre in den Top 10 der Weltrangliste und kletterte 1990 auf Platz vier. Er hat eine olympische Medaille gewonnen und die USA oft erfolgreich im Davis Cup vertreten. All das, weil er Spieler schlug, die er nach Meinung der Experten nicht hätte schlagen können. Wie macht er das?
Brad ist erfolgreich, weil er beim Tennis nachdenkt. Im mentalen Bereich ist er der Beste der Welt. Die Zuschauer sehen seine Schläge, die nicht immer schön sind. Was die Leute nicht sehen, das ist die mentale Maschinerie. Die meisten Spieler sind mental faul auf dem Platz. Brad nutzt das aus, und er glaubt, dass Sie das auch können. Jede Sekunde des Matches nutzt er, um einen Vorteil zu erzielen. Brad hat weder überwältigende Kräfte noch erstaunliche Schläge – er gewinnt, weil er den Gegner mit dem Kopf besiegt.
Winning Ugly erzählt, wie Sie dasselbe mit Ihrem Tennis machen können. Brad beschreibt sein Konzept, das Beste aus dem zu machen, was man hat. Es funktioniert. Während ich mit ihm dieses Buch geschrieben habe, lernte ich einen Teil des Tennis kennen, den ich nie beachtet hatte: den mentalen Aspekt. Mein Tennis wurde besser, auch Ihr Spiel wird es werden.
Wenden Sie Brads Konzept an. Sollte jemand kritisieren, dass Sie auf »hässliche« Weise gewinnen, sagen Sie: »Danke. Ich habe daran gearbeitet.«
Steve Jamison
John McEnroe erlebte seinen schlimmsten Albtraum. Nur – es war kein Albtraum. Es war das Masters im Madison Square Garden vor Tausenden seiner treuen, schreienden, trampelnden New Yorker Fans. McEnroe, Titelverteidiger und Nummer zwei der Weltrangliste, dämmerte an diesem Abend allmählich, dass er drauf und dran war, gegen einen Spieler zu verlieren, den er nicht mochte und dessen Spiel er verachtete. Dieser Spieler war ich. Es war erniedrigend für ihn, und er kochte.
Seine Augen verrieten ihn zuerst. Er hatte den Blick eines Kindes, das gerade Nachbars Katze angezündet hatte: panisch und gemein. Sein Gesicht verwandelte sich in die hasserfüllte McEnroe-Fratze. Bei einem Seitenwechsel giftete er zu mir herüber: »Gilbert, du verdienst es nicht, mit mir auf demselben Platz zu stehen.« Wir gingen dicht aneinander vorbei. Für den Fall, dass ich ihn nicht verstanden hatte, fügte er hinzu: »Du spielst grottig … grottig!«
Mit McEnroe ging es weiter abwärts. Er beklagte sich über das elektronische Auge an der Linie, stritt im zweiten Satz erregt mit einem Zuschauer und kassierte später eine Verwarnung wegen einer obszönen Geste. John war vollkommen fertig. Er beschimpfte sich selbst, schmiss den Schläger, stürmte über den Platz und verhöhnte das Publikum – seine eigenen Fans. Manchmal sah es so aus, als hätte er einen öffentlichen Nervenzusammenbruch.
Es war ein starker Auftritt. Doch der Kerl, der es »nicht verdiente«, mit ihm auf demselben Platz zu stehen, gewann in drei harten Sätzen. Genauer: zwei harte Sätze. Der dritte war locker: 5:7, 6:4, 6:1. Beim Matchball war John wie ein Schmusekätzchen. Aber das war noch nicht alles.
Er ließ anschließend eine Bombe hochgehen. McEnroe kündigte im Alter von 27 Jahren seinen Rücktritt an. Und zwar auch wegen mir! Mac erklärte, er brauche Urlaub: »Wenn ich gegen Spieler wie ihn verliere, muss ich mich fragen, was ich auf dem Platz noch verloren habe.« Wenn er dachte, ich sei beleidigt, lag er falsch. Seine Worte schmeichelten mir. In sieben vorherigen Matches gegen ihn hatte ich nur einen Satz gewonnen, der Sieg im Masters war für mich ein Riesenerfolg. Zu riesig, wie sich herausstellen sollte, aber dazu später.
John McEnroe und ich sind nie die besten Freunde gewesen. Das kann passieren, wenn zwei Leute sich nicht mögen. Er denkt, ich mache miese Schläge. Ich denke, sein Auftreten ist nicht in Ordnung. Doch die Wahrheit ist, dass McEnroe recht hat. Theoretisch müsste er gegen mich gewinnen. Und das müssten auch Becker, Agassi, Connors, Chang, Edberg, Courier, Forget, Sampras, Stich, Wheaton und viele andere Spieler mit besseren Schlägen und besseren Fähigkeiten.
Mein Glück ist, dass Tennisspiele nicht auf dem Reißbrett, sondern auf dem Platz entschieden werden. Und weil das so ist, konnte ich diese und andere Spieler schlagen – zum Gegenwert von fünf Millionen US-Dollar. 1991 war ich Achter der ewigen Preisgeldliste. Zählt man andere Einkünfte und Schaukämpfe dazu, die Ergebnis dieser Siege waren, kam ich 1993 auf einen Tennis-Gesamtverdienst von knapp acht Millionen US-Dollar. Hässlich gespielt? Auf zur Bank.
Es funktionierte, weil ich meine Begabung und meine Fähigkeiten gezielt einsetzte und so mein Potenzial voll ausschöpfte. Das verbesserte meine Siegeschancen. Deshalb konnte ich Spieler schlagen, die man für besser hielt. Sie können das auch. Machen Sie das Beste aus dem, was Sie haben: besseres Tennis ohne bessere Schläge.
Eines möchte ich Ihnen als Erstes zu Ihrem Spiel sagen. Die größten Fortschritte in kürzester Zeit machen Sie dann, wenn Sie die in jedem Match bestehenden Möglichkeiten, sich einen Vorteil zu verschaffen, besser erkennen und nutzen. Die großen und die kleinen Gelegenheiten. Spieler vernachlässigen besonders die kleinen Gelegenheiten – aus Dummheit oder Faulheit. Wenn Sie das hässlich nennen wollen, bitte sehr: Spielen Sie hässlich. Verbessern Sie Beobachtung und Analyse, nutzen Sie Ihr Wissen. Ihre Siegeschancen werden um 20 Prozent oder mehr steigen.
Die meisten Wochenend-, Club- und Freizeitspieler sind auf dem Tennisplatz kopflos. Sie laufen herum, ohne nachzudenken und ohne Plan. Und deshalb sind sie zu packen. Von zwei Spielern mit ungefähr gleichen Fähigkeiten gewinnt der, der die Entwicklungen und Möglichkeiten vor, während und nach dem Match erfasst und nutzt.
Der Typ im schicken kleinen Sportwagen sieht wie der Gewinner aus. Ich setze mein Geld lieber auf den Schrauber im aufgemotzten Serienwagen, der weiß, wie er sich durchmogelt. Das gilt auch für Tennis. Gute Schläge sind okay. Im Spiel geht es aber um viel mehr als das. Kluges Tennis ist ein Drei-Stufen-Prozess:
Chancen erkennen
Optionen analysieren
Chancen nutzen durch Einsatz der besten Option
Erkennen, analysieren, Kapital daraus schlagen. Das gilt vor, während und nach einem Match für alle Aspekte des Spiels: mentale, körperliche und emotionale. Auch die Ausrüstung gehört dazu. Beispiel gefällig? Eine frühe Gelegenheit ist die Bespannung des Schlägers. Beziehen Sie sie in Ihre Vorbereitung ein. Je nach Gegner und Bedingungen sollten Sie die richtige Option wählen.
In Tennisvereinen und auf öffentlichen Plätzen wird zu rund 85 Prozent die falsche Wahl getroffen. Später sage ich Ihnen, wie Sie das am besten ausnutzen können. Es macht nur einen ganz kleinen Teil Ihres Spiels aus, ist aber eine Gelegenheit. Man muss nur wissen, wie man sie umsetzt.
Es gibt noch viele andere Felder, die ein kluger Spieler nutzt, um einen Vorteil zu erzielen. Wenn Sie aus diesen Gelegenheiten oft genug und in verschiedenen Varianten Kapital schlagen, werden Sie wahrscheinlich gewinnen.
»Ich halte sein Spiel nicht für sonderlich gut. Aber mit seiner mentalen Stärke gleicht er das aus.«
David Wheaton nach einer Niederlage gegen Brad Gilbert
Ein Tennismatch beginnt – im Gegensatz zu Seilspringen – nicht, wenn es anfängt, und es endet nicht, wenn es vorbei ist. Tennis fängt außerhalb des Platzes an, setzt sich fort in der Matchvorbereitung, dann natürlich während des Matches und geht sogar weiter, wenn der letzte Punkt gemacht ist. Kluge Spieler wissen, wie man sich auf ein Match vorbereitet und wie man seine Emotionen im Griff behält, wenn das Spiel läuft. Sie wissen, wie sie ihren Weg durch das Match finden und riskante Schläge zur falschen Zeit vermeiden. Kluge Spieler beobachten, was im Match passiert, und analysieren ihre Beobachtungen. Sie wissen, wie sie daraus Kapital schlagen können.
Natürlich erfordert das eine gewisse Disziplin und Anstrengung. Ich erwähne es, weil die meisten Spieler sich den Hintern aufreißen, um einen bestimmten Schlag zu verbessern. Sie nehmen Trainerstunden, üben mit der Ballmaschine, schlagen gegen eine Wand, trainieren bei großer Hitze. Blut, Schweiß und Tränen, das volle Programm. Wenn sie dann diesen einen Schlag verbessert haben, denken sie nicht eine Minute darüber nach, wie dieser Schlag im Match effektiv eingesetzt werden kann. Das nenne ich kopflos. Harte Arbeiter, aber kopflos.
Dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie Ihre Chancen erkennen, unter Ihren Optionen auswählen und Ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen können, um von der Vorbereitung bis zum Ende eines Matches Kapital daraus zu schlagen. Wie Sie sich mental und körperlich auf die Schlacht auf dem Platz vorbereiten. Wie Sie den verschiedenen Spielweisen begegnen. Wie Sie im Match entscheidende Entwicklungen erkennen. Wie Sie mit Druck und Nervenflattern fertigwerden. Und mehr.
Es sind die Kernpunkte dessen, was ich in einer Tenniskarriere gelernt habe, die mich bis zu einem Platz unter den Top 5 der Weltrangliste geführt und mir ein Bankkonto eingebracht hat, von dem ich nicht einmal geträumt hätte. Wenden Sie diese Punkte auf Ihr Spiel an. Manche Ideen liegen auf der Hand, andere nicht unbedingt. Einige lassen sich in Ihrem Spiel umsetzen, andere nicht. Aber immer geht es um den am meisten vernachlässigten Aspekt beim Tennis: den mentalen Bereich. Wir beginnen vor dem ersten Ball.
Brad Gilbert
Lassen Sie mich Ihr Tennisgedächtnis mit einer Frage testen: Wer führte die Weltrangliste an, als Winning Ugly 1992 veröffentlicht wurde? Wenn Sie mit »Monica Seles und Jim Courier« geantwortet haben, haben Sie bestanden. Vieles hat sich seitdem geändert, aber vieles ist auch gleich geblieben. Vermutlich kommen deshalb immer noch so viele Tennisspieler auf mich zu und sagen mir, wie sehr ihr Spiel heute noch von Winning Ugly profitiert, viele Jahre nachdem ich das Buch der ahnungslosen Tenniswelt präsentiert habe.
Nichts tut meiner Laune und meinem Herzen wohler als ein Amateur oder Profi, der bei einem Turnier mit einer Ausgabe von Winning Ugly auf mich zukommt, damit ich sie signieren kann. Wunderbar! Für mich ist das das schönste Kompliment. Und deshalb möchte ich an der Originalausgabe kein Wörtchen ändern. Sie wird so, wie sie ist, eine starke Wirkung auf Ihr Spiel haben. Das kann ich Ihnen versprechen.
Ich möchte jedoch einige Ideen hinzufügen, und dazu ist diese brandneue und umfassende Einführung gedacht; sie soll Winning Ugly auf den Stand des 21. Jahrhunderts bringen.
Meiner Meinung nach ereigneten sich die drei größten Veränderungen im Tennis seit der Niederschrift von Winning Ugly in den Bereichen Ausrüstung, Bodenbelag und Fitness. (Vielleicht sollte ich eine vierte hinzufügen: den Videobeweis per Hawk-Eye. Er ist gut für das Spiel und noch besser für die Fans, denn er befriedigt unsere Neugier mit knallharten Beweisen bei knappen Entscheidungen.)
Ausrüstung: Hightechsaiten aus Polyester und ultraleichte Schläger haben die Schlagkraft mutieren lassen. Profis und bessere Amateurspieler können damit viel schnellere Bälle schlagen, irrsinnigen Spin erzeugen und neue Angriffswinkel finden. Grundschläge werden zu Granaten, Aufschläge zu Bomben. (Rafael Nadals Ball dreht sich mit bis zu 5000 Umdrehungen pro Minute – mehr als doppelt so schnell wie Bälle von Pete Sampras oder Andre Agassi in ihrer Blütezeit.) Der Ball wird jetzt so hart und mit so viel Spin geschlagen, dass er praktisch deformiert über das Netz auf den Gegner zuschießt.
Bodenbelag: Die Oberflächen von Tennisplätzen auf der ganzen Welt sind sich ähnlicher als je zuvor – Gras ist langsamer; Sand ist schneller; Hartplätze lassen den Ball mehr springen. All dies sorgt für viel bessere Spiele – für die Fans schöner anzuschauen und für Kommentatoren wie mich interessanter zu besprechen.
Fitness (für mich die größte Veränderung): Die sportliche Form und muskuläre Fitness der Tennisprofis des 21. Jahrhunderts und die daraus resultierende Beweglichkeit sind ausgeprägter als je zuvor.
Mit »Beweglichkeit« meine ich großartige Beinarbeit gepaart mit enormer Schnelligkeit, mit Balance, Geschicklichkeit und Flexibilität sowohl in der Offensive als auch in der Defensive, dazu mit genügend Ausdauer, um all das bis zum Sieg abzurufen. Die Beweglichkeit profitiert unter anderem von Fortschritten bei Kraft und Kondition. Überlegene Fitness ist heute eine Grundvoraussetzung, wenn man mithalten möchte, und ein erstklassiger Fitnesstrainer wird ebenso hoch geschätzt wie ein guter Tenniscoach. Kombiniert mit der neuen Ausrüstungstechnologie erhält man das heutige Supertennis, das von Superspielern gespielt wird.
Zum Beispiel kann Novak Đoković – der Djoker – nacheinander in fünf verschiedene Ecken rennen – zack, zack, zack, zack, zack –, dann den Ballwechsel an sich reißen, einen Winner schlagen und anschließend einen Spagat hinlegen. Er, Rafa und wenige andere halten dies vier Stunden lang durch. Sie haben die erstaunliche Fähigkeit, sich innerhalb von nur 20 Sekunden zu erholen. Sie lassen Tennis spielend leicht aussehen, und das verblüfft mich immer wieder.
Ich sehe heute Ballwechsel, die es vor ungefähr 20 Jahren nicht gab. Es ist, als schaute man bei einem Videospiel zu (oder wie ich auf ESPN2 kommentiert habe: »Wii-Tennis gucken«), und es hat Spieler hervorgebracht, die ich »Allrounder« nenne und die von jedem Punkt des Platzes aus großartig spielen können. Das daraus resultierende Tennis ist unglaublich anzusehen und hat diesem Sport ein neues goldenes Zeitalter beschert.
Wo wird das Spiel in 20 Jahren stehen? Erleben wir Aufschläge mit 300 Stundenkilometern? Möglich wär’s. Noch erstaunlicher wäre es, wenn Spieler solche Aufschläge noch retournieren würden.
Als Gesicht des Tennis im 21. Jahrhundert gilt bisher Roger Federer. Fed hat 2004 die Spitze der Weltrangliste erobert und sie bis 2008 gehalten, als Nadal sie für ein Jahr besetzte, dann erneut Fed, dann wieder Nadal – danach übernahm der Djoker. Aber Federers Vermächtnis – 20 Slams, bis heute die meisten im Herrentennis – ist das größte. Er allein hat die Messlatte so hoch gelegt, dass andere gezwungen waren, es ihm nachzutun, wenn sie mithalten wollten. Rafa und der Djoker taten es. Andere werden folgen.
Bei den Männern habe ich noch nie eine stärkere Top 4 erlebt als Fed, Rafa, den Djoker und Andy Murray. Ich bezweifle, dass wir noch lange ein derart starkes Vierergespann an der Spitze sehen werden – vielleicht sogar nie wieder.
Bei den Frauen ist es Serena, auch wenn Venus ebenfalls staunenswert ist. Serena und Venus sind das Beste, was dem Frauentennis im 21. Jahrhundert passieren konnte, weil sie das Spiel in jeder Hinsicht durcheinandergebracht haben. (Dennoch könnte sich eine Steffi Graf in Topform gegen jede der Williams-Schwestern behaupten, weil sie so athletisch spielte und über so mächtige Grundschläge wie ihren legendären Rückhand-Slice verfügte – ein Mörderschlag. Auch mental war sie äußerst belastbar, genau wie Venus und Serena.)
Alte Tennisfans behaupten gern, die 1980er-Jahre hätten das größte Ensemble von Spielerfiguren im Tennis hervorgebracht: McEnroe, Connors, Becker, Evert, Navratilova, Lendl, Borg und weitere. Aber die heutige Spielerriege ist aufgrund der erwähnten Veränderungen und der Sportler wegen, die diese Veränderungen in ihr Spiel integrieren, noch spannender.
Je mehr sich allerdings das Tennis für die Profis ändert, desto mehr scheint es für Amateurspieler gleich zu bleiben – und heutzutage könnte man selbst mich fast schon als Amateur bezeichnen.
Beim Verfassen von Winning Ugly ermahnte mich Steve Jamison immer wieder, mich darauf zu konzentrieren, was Amateurspieler von Profis über den mentalen Anteil des Tennisspiels lernen können. An dieser grundlegenden Erkenntnis hat sich nichts geändert: Sie können Ihr Tennisspiel am schnellsten und am umfassendsten verbessern, indem Sie Ihre Denkweise verbessern; indem Sie Ihre Gedanken genauso hart trainieren wie Ihre Schläge.
Die neuen Superstars, die die Tenniswelt im 21. Jahrhundert dominieren, bieten Ihnen zusätzliche Ansätze zum mentalen Management, die Sie sich für Ihr eigenes Waffenarsenal aneignen können. Moderne Konzepte für das mentale Match werden Ihnen helfen, Spieler zu besiegen, die Ihnen eigentlich überlegen sind – die vielleicht besser schlagen, aber nicht besser denken.
Beginnen wir mit Roger Federer. Ist Ihnen aufgefallen, dass Feds Socken bei den French Open nicht schmutzig werden – und das auf Sand? Und dass der Kerl kaum ins Schwitzen gerät? Wie ist das möglich? Vor allem auf roten Sandplätzen – es haut mich jedes Mal um. Alle anderen machen sich dort schmutzig und schwitzen um die Wette. Warum nicht Federer? Zum Teil liegt es daran, dass er einfach so perfekt ist: Seine Bewegungen sind absolut makellos, elegant, mühelos und effizient. Und er besitzt die Fähigkeit, Spiele mit der womöglich besten Vorhand zu diktieren, die es im Tennis je gegeben hat. (Vielleicht kommt ihm Nadal noch nahe.)
Aber Folgendes können wir von Fed lernen: Zwar hat er nicht den stärksten Aufschlag unter den Weltklassespielern, aber er nutzt ihn am besten und gewinnt so über 90 Prozent seiner Aufschläge. Wie kann das sein? Zum Teil liegt es daran, dass er mit unglaublicher Genauigkeit und Zuverlässigkeit platziert. Manche Spieler können eine Münze treffen; Federer trifft ein Sandkorn. Ein mächtiger, druckvoller Aufschlag ist zwar viel wert, aber als Rückschläger findet man viel leichter ein Mittel gegen wuchtig geschlagene Bälle als gegen gut platzierte. Hier ein kleiner Tipp: Wenn der Gegner mit seinem knallharten Aufschlag ständig punktet, ist die Lösung ganz einfach: Stellen Sie sich bloß einen Schritt hinter die Stelle, von der aus Sie bisher die Aufschläge angenommen haben. Das Ergebnis wird Ihnen gefallen.
Was lernen Sie also? Arbeiten Sie daran, die eigenen Aufschlagspiele zu halten, und üben Sie dazu in erster Linie das Platzieren: Bewegen Sie Ihren Aufschlag ein wenig auf dem Platz. Sie müssen nicht Roger Federer heißen, um mit gut platzierten Aufschlägen Erfolge zu erzielen. Lassen Sie den Gegner im Ungewissen. Und denken Sie daran: Wenn Sie nur eine Sache üben wollen, dann üben Sie Ihren Aufschlag! Er ist oft der wichtigste Schlag im ganzen Spiel.
Ich glaube, dass Rafa ausgerechnet dann in seiner Komfortzone ist, wenn er das Gefühl hat, nicht gut genug zu sein und noch besser werden zu müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Also frickelt er immer an irgendeinem Element seiner bereits fantastischen Spielweise herum, ist nie zufrieden und versucht immer, sich weiter zu steigern. Verbessern, verbessern, verbessern! Er mag es nicht, wenn man ihm sagt, er sei der Größte, weil er sich dieser Geisteshaltung absolut nicht hingeben will.
Rafa hat lieber das Gefühl, eben nicht der Beste zu sein, sondern stetig besser werden zu müssen. Deshalb arbeitet er immer weiter an seinem großartigen Tennis. Wenn ich bei Turnieren mit ihm spreche, tüftelt er immer an irgendetwas herum – seinem Griff, seinem Wurf, was auch immer. Die Leidenschaft, die Rafa auf dem Platz zeigt, wenn er im fünften Satz eines Grand-Slam-Finales steht, ist dieselbe Leidenschaft, mit der er jenseits des Platzes seine technische Finesse und damit sein bereits exzellentes Spielniveau verbessert. Rafa Nadal gibt immer eine Million Prozent, egal ob im Match oder im Training – wahrscheinlich sogar beim Frühstück. Seine Hingabe ist vollkommen.
Was Sie daraus lernen? Versuchen Sie immer und ohne Unterlass, besser zu werden und Ihr Tun und Denken im eigenen Spiel auf die nächste Stufe zu heben. Wenn schon einer der größten Spieler in der Geschichte des Tennissports das Gefühl hat, sein Spiel sei niemals gut genug, können Sie das ruhig auch haben. Und ich ebenso. Hier ein Beispiel von mir selbst.
Als ich noch Tennisprofi war, habe ich meine Gegner verrückt gemacht, indem ich allem hinterherrannte, nie einen Ball aufgab und um jeden Punkt kämpfte. Ich führte einen Zermürbungskrieg. Und heutzutage? Beine und Lunge sind nicht mehr dieselben wie vor 20 Jahren, das musste ich mir irgendwann ehrlich eingestehen. Also habe ich versucht, wie Rafa an meiner Technik zu feilen, um die Ballwechsel in meinen Seniorenspielen schneller beenden zu können. Dazu musste ich stärkere Bälle aus der Mitte des Platzes spielen und hoffen, dass sie entweder gar nicht oder schwach zurückkamen, sodass ich meine Laufarbeit reduzieren konnte.
Als ich anfing, an meiner Schlagtechnik zu feilen, ging ich meiner Frau gehörig auf die Nerven, weil ich ständig mit dem Tennisschläger in der Hand durchs Haus lief und einen imaginären Ball mit flacherer Vorhand zu schlagen übte.
Ich kann mit Stolz sagen, dass ich es geschafft habe, eine härtere, flachere und kraftvollere Vorhand zu entwickeln – ohne eine einzige Lampe zu zerdeppern. Die Australier nennen solche Fleißarbeit »hard yards«, und ich habe meine Version davon in Wohnzimmer, Esszimmer und Küche hinter mich gebracht. Dann war ich bereit, raus auf den Platz zu gehen.
Seien Sie wie Rafa – immer unzufrieden mit Ihrem Spiel! Sind Sie ein guter, fleißiger Tüftler, der immer nach Verbesserung strebt, dann werden Sie mit Sicherheit ein besserer Spieler, der öfter gewinnt.
Wo wir schon bei der Selbstverbesserung sind – Novak Đoković hat für uns alle eine substanzielle Lektion zum Thema Zielsetzung, nämlich: Geben Sie sich nicht mit Ergebnissen zufrieden, die unter Ihrem vollen Potenzial liegen. Machen Sie es sich nicht bequem. Und vielleicht hatte es sich der Djoker an einem Punkt seiner Karriere bequem gemacht.
Wissen Sie noch, wie er jahrelang – von 2007 bis 2010 – auf dem dritten Platz hängen blieb? Und haben Sie auch vor Augen, wie er im Dezember 2010 im Finale des Davis Cup Serbien zum Sieg gegen Frankreich führte? Und erinnern Sie sich, was dann geschah? Er konnte nicht mehr verlieren.
2011 gewann er zehn Turniere, darunter die Australian Open, Wimbledon und die US Open, dabei stellte einen Weltrekord für das meiste Preisgeld in einer einzigen Saison auf (zwölf Millionen US-Dollar). So etwas passiert, wenn man 41 Begegnungen hintereinander gewinnt, was nur John McEnroe mit seinen 42 Siegen in Folge übertrifft.
Was bewirkte dieses atemberaubende Upgrade? Einerseits stellte er auf glutenfreie Ernährung um, das führte meines Erachtens zu einer besseren Atemtechnik. Andererseits beschloss er, an seinen Aufschlag zu glauben: Novak hatte ohne Erfolg an seiner Aufschlagtechnik gebastelt, also kehrte er zu seiner ursprünglichen Technik zurück, diesmal mit Erfolg. Nachdem er in den ersten drei Quartalen von 2010 der einzige Spieler in den Top 50 mit durchschnittlich mehr Doppelfehlern als Assen gewesen war, lieferte er nun einen viel beständigeren, zuverlässigeren und produktiveren Aufschlag. Diese beiden Veränderungen waren wichtig, aber meiner Meinung nach fand die größte Veränderung im Kopf des Djokers statt.
Als er den Davis-Cup-Sieg für Serbien errang, machte es klick in seinem Kopf und rüttelte ihn auf, höhere Ziele anzupeilen und tief im Innern Kraft zu schöpfen für große Leistungen, die historisch werden sollten. Der Triumph im Davis Cup machte ihn – glaube ich – hungriger darauf, der Beste in der ATP-Tour zu sein.
Etwas Ähnliches stieß womöglich Andy Murray zu, den man die ewige Nummer vier nannte und der vier Grand-Slam-Finale verloren hatte, einschließlich Wimbledon 2012 gegen Roger Federer. Zuvor hatte Murray Ivan Lendl – acht Grand-Slam-Einzeltitel – an Bord geholt, um endlich den Makel loszuwerden, dass er der beste Spieler war, der noch nie ein Major-Turnier gewonnen hatte. Ivan hatte ebenfalls seine ersten vier Teilnahmen an Slam-Endspielen vermasselt, hatte aber weitergekämpft, an sich geglaubt und sich schließlich seine acht Meisterschaftstitel verdient. Als guter Coach, der er war, flößte er Andy eine ebenso massive Unerbittlichkeit ein, wie sie dem Schotten möglicherweise zuvor gefehlt hatte. Murrays Seuche riss endlich ab, ob Sie es glauben oder nicht, mit seiner Vier-Satz-Niederlage gegen Federer im erwähnten Wimbledon-Finale 2012. Denn in der Niederlage erkannte Lendl, dass Andy zum ersten Mal bei einem Slam-Finale wirklich konkurrenzfähig gewesen war – er hatte den ersten Satz gewonnen und beinahe noch ein paar weitere.
Aus meinen Gesprächen mit Ivan entnehme ich, dass er sich nach der Niederlage von Wimbledon in der Arbeit mit Andy auf das Positive konzentrierte und ihm seine stark verbesserte Leistung im Vergleich zu seinen vorherigen Endspielen deutlich machte, die er wirklich aussichtslos Satz für Satz verloren hatte. Folgendes könnte meine Vermutung belegen: Ein paar Wochen nach der Niederlage in Wimbledon schlug Andy seinen Rivalen Federer mühelos im Match um die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen 2012. Obwohl dies keine Grand-Slam-Begegnung war, erklärte Ivan Lendl das Match zu einem »Major« und behauptete, Andy habe hiermit seinen ersten Grand Slam gewonnen! Mit dieser Verkündigung kürte er Murray sozusagen zum Grand-Slam-Champion. Ob das wohl eine Last von Murrays Schultern nahm? Was denken Sie?
Man traut es Ivan gar nicht zu (denn wenn er in der VIP-Loge ein Match verfolgt, wirkt er so ernst und mürrisch), aber er hat Andy Murray positives Denken gelehrt. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass Andy diese Lendl-hafte Zähigkeit, Hartnäckigkeit und positive Einstellung beibehielt und eine ganze Reihe von Slams gewinnen konnte.
Was lernen Sie daraus? Sie sind besser, als Sie glauben; Sie können auf einem höheren Level spielen, als Sie denken; und Sie haben das Potenzial, Spieler zu schlagen, die angeblich besser sind. Wenn Sie Wettkampfsportler sind und nicht nur der Fitness wegen spielen (wobei »Cardio-Tennis« großartig ist), dann finden Sie sich nicht mit dem ab, was Sie erreicht haben; geben Sie sich nicht mit weniger zufrieden. Wenn Sie sich selbst einen Ruck geben, werden Sie Erfolg haben. Wie Murray und der Djoker können Sie das Blatt wenden und Spieler schlagen, die zuvor Sie geschlagen haben.
Diese Nie-zufrieden-Einstellung habe ich am deutlichsten bei einer Spielerin vorgefunden, die ich ihrer großen Intensität und Energie auf dem Platz wegen gerne »Sparky« nenne. Justine Henin war mit 1,65 Metern und 57 Kilo zwar ein bisschen zierlich, spielte aber überlebensgroßes Riesenhammer-Tennis. Sie hätte sich damit zufriedengeben können, eine gute Defensivspielerin zu sein, wie es ihr jedermann (angesichts ihrer Größe) riet, sie aber lehnte das ab.
Justine hatte für sich eine andere Art von Tennis im Sinn. Sie nutzte ihr unglaubliches Timing, um Aufschläge und Vorhandbälle zu kontern, und kultivierte eine der besten Rückhandtechniken, die es im Frauentennis je gegeben hat. Sie wurde dank ihres Willens zur dominanten Offensivspielerin, indem sie sich der gängigen Lehrmeinung widersetzte und nicht auf die meisten Experten hörte. Das gefällt mir sehr. Gegen alle Wahrscheinlichkeit gewann sie trotz ihrer kleinen Statur mit großem Tennis sieben Grand Slams. Kleine Frau – großes Spiel.
Henin wuchs durch Willenskraft über sich hinaus. Keine leichte Sache, aber sie schaffte es. Und vielleicht können Sie das auf Ihre Weise auch. Manchmal muss man dem eigenen Bauchgefühl folgen, um das zu tun, was man für richtig hält, und es dann so entschlossen durchziehen, wie es Justine zu Beginn ihrer Karriere getan hat.
Bei einem anderen weiblichen Superstar lässt sich ein Erfolgsrezept beobachten, das Sie in Ihr Spiel oder vielmehr in Ihr Denken übernehmen sollten. Serena Williams hat wie auch ihre Schwester Venus schwerwiegende Aussetzer im Kurzzeitgedächtnis. Damit meine ich Folgendes: Wenn ihr ein Punkt, ein Spiel, ein Satz oder ein Match misslingt, besitzt sie die Fähigkeit, mental reinen Tisch zu machen – also sofort alles zu vergessen und sich nicht davon runterziehen zu lassen. Wie agieren wir Amateurspieler? Wir vermasseln ein paar Bälle und verlieren ein paar Spiele, und schon steigt es uns zu Kopf: Wir verlieren das Zutrauen, werden unsicher und zaghaft. Ich kenne das Gefühl. Mir ging es auf Turnieren oft so. Wenn Sie sich selbst fertigmachen, stehen – wie Sie noch in Winning Ugly lesen werden – auf einmal zwei Spieler auf dem Platz, die gegen Sie spielen. Einer davon sind Sie!
Nehmen Sie sich Serenas und Venus’ Gedächtnisschwäche – ihre Fähigkeit, nach vorn und nicht nach hinten zu schauen – zum Vorbild und eifern Sie diesem Verhalten nach. Wenn eine der Schwestern aus dem Tritt kommt, fällt sie nicht gleich vom Glauben ab; sie steckt ihre Punktverluste weg und spielt Ball für Ball, ohne sich um den Punktestand oder die eigenen Fehler zu kümmern. In ihrem Kopf beginnt jeder Ballwechsel neu und unbeleckt von vorherigen Fehlern.
Diese wunderbare Schwäche des Kurzzeitgedächtnisses hilft den Williams-Schwestern, ihr Ziel im Auge zu behalten. Ihre Gegnerinnen wissen das; sie wissen, dass insbesondere Serena in solchen Situationen sehr gefährlich sein kann, weil sie nie aufgibt, immer an sich und ihr Tennis glaubt und nach Fehlern umso härter und besser kämpft. Das ist beängstigend, wenn man sich auf der anderen Seite des Netzes befindet.
Wenn man allerdings sehr viele Spiele sieht, erlebt man irgendwann etwas, von dem man nie gedacht hätte, dass man es erleben würde, und während der French Open 2012 habe ich es erlebt: Serena Williams, die noch nie – niemals! – in der ersten Runde eines Grand-Slam-Turniers ausgeschieden war, verlor in der ersten Runde ein Match gegen eine Spielerin, die auf Platz 111 der Weltrangliste stand. Dabei lag sie einen Satz vorn und führte den Tiebreak des zweiten Satzes 5:1. Wie konnte das geschehen? Ganz einfach: Das Blatt hatte sich gewendet, und manchmal ist das Schicksal gegen einen, selbst wenn man Serena Williams heißt und die Gegnerin einen dreistelligen Ranglistenplatz innehat.
Hier eine falsche Schiedsrichterentscheidung, dort ein eigener Fehler, dazu eine Gegenspielerin, Virginie Razzano, die zu Bestform aufläuft und Unterstützung von Heimspielfans bekommt – und plötzlich verliert man die Oberhand. Bis dahin kann es lange dauern, aber dann geht es schnell.
Mehrmals in dem dreistündigen Match war Serena nur zwei Punkte vom Sieg entfernt und wendete auch noch sieben gegnerische Matchbälle ab. Beim achten Versuch schaffte es Razzano endlich. Das war gewiss ein verheerender Schlag für Serena, oder? Nein. Im Gegenteil.
Ihre Antwort auf Reporterfragen gleich nach dem Spiel gefiel mir sehr: »So ist es nun mal.« Was man daraus lernen kann? Gewinnen ist schon schwer genug, wenn man an das eigene Tennisspiel glaubt; wenn man Selbstzweifel zulässt, ist es unmöglich. Beseitigen Sie Ihre Selbstzweifel durch taktische Aussetzer des Kurzzeitgedächtnisses, und ich verspreche Ihnen Spielergebnisse, an die Sie sich gerne erinnern. Ein gutes Mittel dazu ist, nach einer Niederlage aufzuschreiben, was Sie während des Matches richtig gemacht haben; ziehen Sie eine positive Erfahrung aus dem negativen Erlebnis.
Bei ihrer Niederlage hat Serena vieles richtig gemacht, um dem Sieg so nahe zu kommen. Sie kämpfte unermüdlich weiter, als sie sich einem Matchball nach dem anderen stellen musste. Das waren große Pluspunkte. Schauen auch Sie sich die Pluspunkte Ihrer Spielleistung an und bauen Sie darauf auf. Schauen Sie sich die Minuspunkte an und bessern Sie sie aus. Bauen Sie auf und bessern Sie aus. Machen Sie immer weiter. Sagen Sie sich: »So ist das nun mal.«
Serena hasst es, ein Match zu verlieren, erst recht ein Grand-Slam-Match, aber für sie war diese furchtbare Niederlage nichts, was sie runtergezogen hätte. Stattdessen hat sie es genutzt, um besser zu werden – viel besser. Statt nach New York zurückzukehren, ging sie zur Pariser Tennisakademie von Patrick Mouratoglou, um sich beraten zu lassen und ihr Spiel aufzupolieren. Sie nutzte die Schlappe – ihr Schulterzucken bedeutete keineswegs, dass die Niederlage in Frankreich für sie nicht sehr schmerzlich war –, um sich intensiv auf die bevorstehenden Herausforderungen vorzubereiten: auf Wimbledon, die Olympischen Spiele 2012 und die US Open.
Ich glaube, dass ihr Kampfgeist, ihre Zähigkeit und ihre Charakterstärke durch die French-Open-Niederlage gegen Razzano angefacht wurden, denn was darauf folgte, war unglaublich: Serena gewann die Einzel- und Doppelmeisterschaften in Wimbledon, olympisches Gold im Einzel und Doppel sowie den Einzeltitel bei den US Open! Meines Erachtens stand das alles in direktem Zusammenhang mit ihrer Reaktion auf die Niederlage in Paris.
Amateurspieler, die eine schwere Niederlage erleiden, werden häufig wochenlang depressiv und spielunfähig, weil sich das Erlebnis verheerend auf ihr Denken auswirkt. Nicht so Serena. Sie weigert sich, sich selbst fertigzumachen. So sollten Sie es auch mit Ihrem eigenen Spiel halten.
Jetzt muss ich endlich loswerden, was mich an Amateurspielern und ihrem Tennis am meisten stört: Zu oft steht bei ihnen die Risiko-Ertrags-Berechnung auf dem Kopf. Wenn sie bei einem Ballwechsel im Hintertreffen sind – beispielsweise wenn sie weit hinten ins Doppelfeld gedrängt wurden –, versuchen sie noch den unwahrscheinlichen Meisterschlag zu spielen, der ihnen vor ein paar Jahren mal gelungen ist. Wenn sie hingegen mitten auf dem Platz einen Ball bekommen – gleich hinter der Grundlinie –, denken sie plötzlich: »Oooh, so einen einfachen Ball will ich nicht verpatzen.« Also spielen sie ihn sicher, schieben ihn einfach übers Netz. Ich möchte solchen Spielern zurufen: »Wieso? Was denkt ihr euch dabei?« Jetzt ist die Zeit, aggressiver zu werden, ein Risiko einzugehen und den Einsatz zu erhöhen. Der Ball befindet sich in ihrer Trefferzone, und sie haben eine gute Gelegenheit, einen bedrängenden Ball zu spielen oder sogar einen Punkt zu erzielen. Solche Chancen gilt es zu nutzen!
Was lernen wir? Keine Scheu zu haben, wenn der Punktgewinn auf dem Präsentierteller liegt; und nicht nach dem Punkt zu grapschen, wenn man den Ballwechsel retten muss.
Aber Amateurspieler werden oft vorsichtig, wenn sie aggressiv werden sollten, und aggressiv, wenn sie vorsichtig sein sollten. (Dasselbe passiert bei höher springenden Bällen: Man steht da und lässt sich vom Ball spielen und versucht, aus dem Nichts einen großartigen Return zu schlagen. Tun Sie das nicht. Laufen Sie ein paar Schritte zurück und geben Sie dem Gegner einen neutralen, ebenso höher springenden Ball zurück.)
Vielleicht ist Ihnen beigebracht worden, nie zurückzuweichen. Nun, ich sage: Weichen Sie ruhig zurück und halten Sie den Ballwechsel am Laufen, indem Sie einen neutralen Ball zurückspielen und Ihre Chance abwarten. Erst wenn Sie diese Chance kommen sehen – etwa einen Ball mitten auf dem Platz –, gehen Sie auf Risiko und erzwingen einen Punkt. Federer ist vielleicht in der Lage, von jedem Punkt des Stadions einen Winner zu spielen, auch von der Hot-Dog-Bude aus, aber Amateurspieler sollten realistischer berechnen, wann sie das Risiko erhöhen können, um mehr Ertrag rauszuholen.
Als Letztes präsentiere ich noch eine Tennislektion aus unwahrscheinlicher Quelle, nämlich von Metallica, meiner Lieblingsband, und ihrem Schlagzeuger Lars Ulrich, der mein Kumpel ist. (Sein Vater Torben war in den 1950er- und 1960er-Jahren ein Top-Tennisprofi in Dänemark und womöglich der vielseitigste Player, den die ATP-Tour jemals gesehen hat.) Lars und Metallica treten immer noch rund um die Welt vor großen Menschenmengen auf, obwohl die Jungs keine Teenager mehr sind. Aber ihre Leidenschaft ist immer noch groß. Lars ist heute Mitte fünfzig und gibt immer noch jeden Abend alles – durchgeschwitzt spielt er so hart wie nie zuvor vor einem Publikum, das größer ist als je zuvor. Sie alle nehmen ihren Erfolg nicht als gegeben hin und tun alles dafür. Eine Million Prozent, wie Rafa.
Was ist die Lehre daraus? Wenn Sie im Tennis wie im Leben etwas tun, was Sie lieben, dann ehren und respektieren Sie es, indem Sie alles geben, was Sie in sich haben. Nehmen Sie es niemals als selbstverständlich hin, denn bald genug wird es Ihnen genommen. Die Zeit kennt keine Gnade. Seien Sie jedes Mal dankbar, wenn Sie auf den Platz gehen. Glauben Sie mir, ich bin es. Wenn Sie das Glück haben, Tennisspieler zu sein, müssen Sie erkennen, dass es ein Privileg ist, auf dem Platz zu stehen und das Spiel spielen zu dürfen.
Ich bin auch dankbar dafür, dass ich im 21. Jahrhundert immer noch im Fernsehen Tennis auf der ganzen Welt kommentieren darf. Tennis ist immer in Bewegung, ständig im Umbruch: Die Spieler, die Ausrüstung, die Schlagtechnik, die Plätze, die Schläger, die Bälle wechseln und ändern sich. Ich liebe es, ein Teil davon zu sein. Aber eines fehlt mir: das Lampenfieber. Ich wache gerne vor Aufregung über ein bevorstehendes Match morgens um halb vier auf, egal ob ich selbst spiele (als ich noch Profi war) oder ob ein Profi spielt, den ich trainiere.
Es gibt nichts Schöneres als diese Nervosität und Spannung, wenn man weiß, dass in wenigen Stunden zwei Männer die Arena betreten und nur einer von ihnen als Gewinner hervorgehen wird. Fürs Fernsehen kommentieren ist großartig, ich habe große Freude daran. Ich sage schlaue Dinge und auch dämliche, aber das macht mich nicht nervös. Es macht Spaß, die Aktionen der Spieler zu zerpflücken und über Strategien und Taktiken zu sprechen, aber das ist kein Vergleich dazu, als stünde ich selbst auf dem Platz. Es ist nicht wie die Nervosität, die ich vor einem Duell spüre. Die macht richtig Spaß.
Und deshalb ist Tennis so großartig, egal auf welchem Level man spielt. Ein Bezirksligist kann bei einem Aufstiegsspiel oder Turnierfinale ebenso viel Spaß und Spannung erleben wie ein ATP-Profi. Hoffentlich steigert Winning Ugly auch im 21. Jahrhundert noch Ihre Freude vor und beim Spiel, indem es Ihnen mehr Möglichkeiten zum mentalen Management aufzeigt, die Sie zu einem besseren Spieler machen können – hier und heute. Glauben Sie mir, Sie sind nicht weit davon entfernt, die Spieler zu schlagen, die zuletzt Sie geschlagen haben. Winning Ugly verrät Ihnen, wie. Viel Glück!
»Ich halte nicht viel von Brad Gilbert.«
John McEnroe
Als ich 1982 Profi wurde, war dies eine meiner ersten Lehren: Man kann schon im Vorteil sein, bevor das Match überhaupt angefangen hat. Ich realisierte, dass die weltbesten Spieler ihr Match lange vor dem ersten Aufschlag beginnen. Sie sind sofort voll da und wollen ihrem Gegner möglichst schnell an die Gurgel gehen. Als ich für die Teams des Foothill Junior College und Pepperdine spielte, kam ich einfach auf den Platz und legte los. Während des ersten Satzes fand ich mental und körperlich in das Match hinein. Damit kam ich oft durch, weil meine Gegner es genauso machten. Gehen Sie auch so an Ihre Matches heran?
Bei den Profis war diese Herangehensweise keine so gute Idee. Gegen McEnroe, Lendl, Connors und andere alte Haudegen klappte das nicht. Wenn ich ins Spiel gefunden hatte, waren manche Matches schon vorbei. Einmal verlor ich die ersten 16 Punkte. Das Match war so schnell vorbei, dass sich das Duschen kaum lohnte. Ich lernte auf die harte Tour – es war brutal.
Die Topspieler kamen mit der Erwartung auf den Platz, mich genüsslich zu verspeisen. An den ersten Bissen dachten sie bereits, seitdem sie wussten, dass ich auf dem Speiseplan stand. Sie brauchten keine vier oder fünf Spiele, um Appetit zu entwickeln, sie waren vom Start weg hungrig. Der Hauptgang: überbackener Gilbert.
Kein Rhythmus, kein Plan, keine Kontinuität, ein paar frühe Breaks warfen mich hoffnungslos zurück. Von den klugen Spielern auf der Tour wurde ich regelmäßig verprügelt. Sie wussten etwas, was ich nicht wusste.
Was ich durch Hinschauen, Zuhören und meine Niederlagen herausbekam, war einfach. Die Kerle, die da draußen Geld machten, knöpften sich ihre Opfer (mich zum Beispiel) schon vor, wenn die noch gar nicht in Sicht waren. Die schlauen Spieler gingen die Informationen über ihren nächsten Gegner durch, sobald sie wussten, wer es war. Das nahm seinen Anfang schon Stunden vor dem Match. Diese Spieler wollten so früh wie möglich einen Vorteil erzielen, und das auf jede Art und Weise. Die beste Chance dazu war für sie eine gute mentale Vorbereitung. Und das bedeutet: eine frühe mentale Vorbereitung.
Ich will Ihnen verraten, wann die Vorbereitung nicht beginnt. Sie beginnt nicht, wenn Sie den Platz betreten. Ihr Gegner kann das so handhaben, Sie sollten es nicht. Ein kluger Spieler beginnt mit der Vorbereitung, wenn das Match ansteht oder noch eher. Sie setzt sich fort im Umkleideraum und dann auf dem Platz.
Die Vorbereitung beginnt im Kopf. Normalerweise ist das Gehirn der letzte Körperteil, der aktiviert wird – wenn überhaupt. Tennisspieler machen eine Minute lang falsche Dehnübungen, schlagen ein paar Vorhände und drei Aufschläge, dann heißt es schon: »Lass uns anfangen.« Selbst die Muskeln werden kaum aufgewärmt, noch weniger aber wird auf die mentale Vorbereitung geachtet. Es ist dumm, seinen Verstand zu vergeuden. Tennisspieler machen das ständig.
Gewöhnen Sie sich an, über ihren Gegner und das Match nachzudenken, bevor Sie den Austragungsort überhaupt erreichen. Kommen Sie mit dem Auto, beginnt ihre Vorbereitung im Wagen. Kommen Sie zu Fuß, ist es auf dem Gehweg. Wie auch immer, die Vorbereitung beginnt auf dem Weg zum Match.
Ich habe es gern noch früher. Am Abend vor einem Match denke ich in meinem Hotelzimmer über das Spiel nach. Ich gehe im Kopf sogar Ballwechsel durch. Ich sehe mich Bälle schlagen und Punkte machen. Ich lasse Ballwechsel vor meinem geistigen Auge ablaufen, die ich mit meinem Gegner schon einmal gespielt habe. Ich visualisiere, wie ich gegen diesen Spieler ganz bestimmte Bälle schlage. Als ob ein Video abläuft. Am Morgen setze ich das fort.
Das fünfminütige Einschlagen, das man von den großen Turnieren kennt, täuscht wahrscheinlich. Es sieht so aus, als ob wir einfach auf den Platz stiefeln mit dieser riesigen Tasche über der Schulter, ein paar Minuten schlagen und dann anfangen. Die meisten von uns haben sich schon den ganzen Tag vorbereitet – mit Schlagtraining, Stretching, Lockerungsübungen, Massage und vor allem diesem intensiven In-sich-Gehen.