DANIEL KOWALSKY
ELKE BROSKA (ILLUSTRATION)

KÄPTEN STURM

DIE GEHEIMNISVOLLEN LOGBÜCHER

SCM ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-26993-2 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2021 SCM Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart

Inhalt

Vorgeschichte: Auf der Pirateninsel

1. Das alte Schmugglerhaus

2. Eine wichtige Nachricht

3. Die geheime Tür

4. Das Haus der Diebe

5. Ein merkwürdiger Fund

6. Erwischt

7. Wo ist die Fortsetzung?

8. In der Scheune

9. Auf Messers Schneide

10. Der große Betrug

11. Die Piraten von Wargate

12. Das Geheimnis der Piraten

13. Das Vermächtnis der Schmuggler

14. In höchster Gefahr

15. Die Ostsee

16. Flucht aus Wargate

17. Wo wohnt der Schwarze Pirat?

18. DrageØya – die Dracheninsel

19. Schlüssel gesucht

20. In der Burg des Schreckens

21. Nichts wie weg

22. Ein Schiffbrüchiger

23. Die Piratenflotte

Epilog: Wo ist das nächste Logbuch?

Lenny
11 Jahre alt
Ruhiger als seine Schwester Anne
Er kann sehr schnell rennen und weit springen, aber ganz schlecht Bälle werfen.

Anne
8 Jahre alt
Lieblingsfach: Deutsch. Hassfach: Mathe
Obwohl sie oft mit ihrem Bruder Lenny streitet, hält sie immer zu ihm, wenn es drauf ankommt.

Wilbert Boynen Sturm
Kapitän der Esmeralda
21 Jahre alt
Beste Freunde: Seebär und Brummel

Safira Alminetti
11 Jahre alt
Artistin
Sie hasst es, das Schiffsdeck zu schrubben.

VORGESCHICHTE:
AUF DER PIRATENINSEL

ZUR ZEIT DER SEEFAHRER UND PIRATEN

Die elfjährige Safira schaute aus dem Fenster der Hütte, in die sie eingesperrt war. Es war schon lange dunkel und gleich Mitternacht. Aber Safira konnte alles gut erkennen, denn der Mond schien durch eine dünne Schleierwolke vom Himmel herab.

Dort draußen saßen sie, etwa ein Dutzend Piraten, an ihrem Lagerfeuer. Wie jeden Abend tranken sie unglaublich viel Rum, bis sie völlig betrunken waren und beinahe umkippten.

Ein Schauder lief Safira den Rücken hinunter. Schnell wandte sie sich ab und blickte auf die staubige Strohmatratze, die in einer Ecke des kleinen Kerkers lag. Wie gerne würde sie sich jetzt einfach hinlegen und schlafen. Sie war so müde und kaputt.

Aber sie durfte nicht schlafen, noch nicht. Nein, das würden die Piraten niemals zulassen. Denn um Punkt Mitternacht war es wieder so weit: Da musste sie auf einer kleinen Bühne Kunststücke vorführen, ob sie nun wollte oder nicht.

Safira Alminetti war nämlich eine sehr begabte Zirkus-Artistin. Sie war so gelenkig, dass sie sich durch die engsten Spalten und Gänge zwängen konnte. Außerdem konnte sie wie kein anderer klettern und balancieren. Auch mehrere Saltos hintereinander waren für sie eine Kleinigkeit.

Die Piraten wussten das und verlangten von ihr, immer schwierigere und gefährlichere Kunststücke vorzuführen. Und wenn einer von ihnen nicht ganz zufrieden war, warf er faule Eier oder überreife Tomaten nach ihr, wie das bei Piraten so üblich war.

Hatte nicht erst gestern der Piratenkapitän sogar ein Messer nach ihr geworfen, nur weil sie einen Salto nicht richtig hinbekommen hatte? Glücklicherweise hatte sie dem Messer gerade noch so ausweichen können.

Safira hatte Angst. In wenigen Minuten würde der einäugige Pirat kommen und sie auf die kleine Holzbühne bringen …

Plötzlich hörte sie, wie der Riegel der Kerkertür zur Seite geschoben wurde. Der einäugige Pirat stapfte herein und brüllte: „So, du dumme Göre, jetzt bist du wieder dran. Du kommst jetzt mit mir mit!“

Er fasste sie am Arm und ging mit ihr zur Bühne. Und dann stand sie wieder vor den grölenden und fluchenden Piraten, die so eklig nach Rum stanken.

„Ich habe Kopfschmerzen!“, sagte Safira zu dem Einäugigen.

Doch der Pirat kannte kein Erbarmen. „Stell dich nicht so an! Sonst bekommst du morgen nichts zu essen. Los, führ deine Kunststücke vor! Zeig, was in dir steckt!“

Also gab Safira alles, damit die Piraten zufrieden waren. Sie ergriff ein Tau, das an einem Baum hing, und schwang mehrmals daran hin und her. Dann ließ sie es an der höchsten Stelle los und machte einen dreifachen Salto. Etwas hart, aber dennoch sicher kam sie anschließend auf dem Boden zum Stehen. Die Piraten grölten laut vor Begeisterung und gaben Safira Applaus.

Doch Safira konnte sich nicht darüber freuen, weil ihr der Kopf wehtat. Und sie wusste auch, dass der Jubel nur von kurzer Dauer war. Die Piraten wollten mehr sehen, vor allem noch gefährlichere Kunststücke.

„Ich kann nicht mehr!“, jammerte sie leise vor sich hin.

Aber es nützte nichts, denn jetzt kam der Höhepunkt des Abends: ein Seiltanz in schwindelerregender Höhe. Safira verließ die kleine Bühne und ging auf einen hohen Baum zu. Geschickt kletterte sie hinauf – bis zu der Stelle, an der ein Seil befestigt war. Von unten hörte sie, wie die Piraten sie begeistert anfeuerten:

„Safira! Safira! Safira …“

Die junge Artistin schaute auf das Seil, das in knapp vier Metern Höhe von einem Baum zum anderen gespannt war. Darunter war kein Wasserteich oder Sicherungsnetz, ja, nicht einmal Gras, sondern nur ein harter Boden, der mit Steinen übersät war.

Safira wusste: Wenn sie aus dieser Höhe auf die Steine fallen sollte, würde sie sich bestimmt einige Knochen brechen.

Doch das Verletzungsrisiko war noch nicht einmal das Schlimmste. Es gab etwas anderes, vor dem ihr noch mehr graute: Genau in der Mitte der zu überwindenden Strecke befand sich eine tiefe Grube, in der ganz viele Schlangen herumkrochen. Wie gebannt starrte Safira dorthin.

Ekel überkam sie und ihr Herz raste vor Aufregung.

Schließlich holte sie tief Luft. Sie musste sich konzentrieren, sonst war alles aus. Sie musste über dieses Seil balancieren. Und dabei durfte sie auf keinen Fall nach unten schauen.

Normalerweise wäre es für sie gar kein Problem gewesen, über so ein Seil zu spazieren. Doch heute – heute war alles anders. Ihr war schon ein wenig schwindelig. Bestimmt würde sie das Gleichgewicht nicht halten können und geradewegs in die Schlangengrube stürzen …

Nein! Das durfte nicht sein. Safira sprach sich selber Mut zu: „Du schaffst das, Safira!“

Zitternd nahm sie die Balancierstange in die Hand, die sie bei ihren vorigen Auftritten in der Baumkrone zurückgelassen hatte, und trat barfuß aufs Seil. Der Mond erleuchtete alles mit hellem Schein.

„Safira, Safira, Safira!“, brüllten die Piraten.

Schritt für Schritt bewegte sich die junge Artistin über das stark schwankende Seil, unter sich den Steinboden. Anstatt hinunterzuschauen, blickte sie auf das Ziel am anderen Ende. So konnte sie mühsam das Gleichgewicht halten.

Doch mit einem Mal wurde sie unsicher. Wie weit war sie schon gekommen? War die Schlangengrube etwa genau unter ihr?

Obwohl Safira dagegen ankämpfte, konnte sie nicht anders, als nach unten zu schauen. Dabei fiel ihr Blick direkt in die Grube, in der es vor Schlangen nur so wimmelte …

Entsetzen packte sie. Das Blut schoss ihr in den Kopf und ihr wurde schwarz vor Augen. Sie begann zu schwanken und ließ die Balancierstange fallen.

Jetzt stand sie ohne irgendein Hilfsmittel auf dem Seil und versuchte mit rudernden Armen, das Unglück noch abzuwenden.

Doch es gelang ihr nicht. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte hinab …

In diesem Moment bewegte sich ein Busch, der direkt neben der Schlangengrube stand. Blitzschnell kam ein junger Mann zum Vorschein, der nun mit ausgestreckten Armen über die Schlangengrube hinwegsprang.

Genau zur richtigen Zeit! Denn Safira plumpste ihm direkt in die Arme.

Ehe sie sich versah, war sie auf der anderen Seite gelandet. Zwar hatte der junge Mann so viel Schwung, dass er mit Safira in seinen Armen zu Boden fiel. Aber da an dieser Stelle hohes Gras wuchs, verletzte sich keiner von beiden.

Erleichtert lagen sie nebeneinander im Gras.

Sekunden später stand der junge Mann auf, reichte Safira die Hand und zog sie hoch.

„Wer bist du?“, fragte Safira und schaute ihren Retter bewundernd an.

Der hob seinen Hut auf, der ihm bei dem Sprung vom Kopf gefallen war, drückte ihn gegen die Brust und verbeugte sich. „Käpten Boynen Wilbert Sturm – zu deinen Diensten!“

Danach setzte er seine Kopfbedeckung – einen typischen Seefahrerhut mit einer Fasanenfeder als Schmuck – wieder auf und grinste breit.

Die Piraten, die Safiras spektakuläre Rettung mit angehaltenem Atem verfolgt hatten, waren stumm vor Staunen. Alle starrten auf den gut aussehenden Fremden, der blonde Haare hatte und eine schneidige Kapitänsuniform trug.

Wer war dieser Kerl, der Safira so wagemutig vor dem Sturz in die Schlangengrube bewahrt hatte? Wo kam er so plötzlich her? Und vor allem: Was hatte er überhaupt auf ihrer Pirateninsel zu suchen?

Entschlossen stand der Piratenkapitän auf und marschierte auf Safira und den Blonden zu. „Wer bist du und was machst du hier?“, fragte er barsch.

Mit leuchtenden Augen, die vor Abenteuerlust nur so sprühten, schaute Safiras Retter ihn an. „Sagte ich bereits! Mein Name ist Boynen Wilbert Sturm. Und ich bin hier, um euch Piratenpack mal so richtig kräftig in die Suppe zu spucken.“

Da fing der Pirat schallend an zu lachen und drehte sich zu seinen Leuten um. „Habt ihr das gehört? Der Kerl will uns drohen! Leute, das wird ein Spaß!“, verkündete er mit seiner rauchig-krächzenden Stimme.

Er wandte sich wieder zu dem Blonden um.

Doch der hatte schon seinen Degen gezückt und hielt ihn dem Piraten nun direkt an den Hals.

Dann machte er mit der Waffe eine blitzschnelle Bewegung nach unten. Dabei durchschnitt er dem Piraten den Gürtel seiner Hose, sodass diese hinunterrutschte und der Pirat nur noch in seinen Unterhosen dastand.

Gleich darauf wanderte die Klinge wieder an den Hals des Piraten. „Stimmt! Macht mir echt einen Riesenspaß, das Ganze“, erklärte der junge Mann ganz gelassen. „Und wenn du jetzt schön brav und artig bleibst, dann lasse ich dich am Leben!“

Besorgt betrachtete Safira den Piraten, dessen Augen vor Zorn glühten. Was würde jetzt geschehen?

Dann schaute sie wieder auf ihren Retter. Der ließ sich von dem bösen Blick des Piraten nicht einschüchtern. Im Gegenteil – er schien sich seiner Sache sicher zu sein, denn er legte die Finger seiner linken Hand in den Mund und pfiff laut.

Als ob sie auf dieses Signal nur gewartet hätten, traten plötzlich zehn bewaffnete Seeleute aus dem Dickicht hervor. Sie richteten ihre Gewehre auf die völlig verdutzten Piraten.

„Die Hände hoch und hinter den Kopf! Bleibt sitzen und macht keine Dummheiten!“, rief ihnen ein kräftig gebauter Matrose im Befehlston zu. Er hatte einen Vollbart und trug eine lustige blaue Kappe mit gelben Tupfern.

Alle gehorchten – das heißt fast alle, denn zwei Piraten sprangen auf und griffen nach ihren Waffen. Einer von ihnen war der Einäugige, der Safira so schlecht behandelt hatte.

Doch der bärtige Matrose, dessen Spitzname Seebär lautete, trat ihnen sofort entgegen. Er holte aus und streckte die beiden mit seiner rechten und linken Faust gleichzeitig nieder. Dann packte er sie und setzte sie unsanft auf ihren Platz zurück, wo sie nun kleinlaut sitzen blieben.

Einem anderen Matrosen sah man an, dass er ebenfalls bärenstark war. Er trug eine rote Kappe mit weißen Punkten, unter der lockige braune Haare hervorwucherten. „Sonst noch jemand, der Lust auf eine Sonderbehandlung hat?“, fragte er die Piraten.

Alle schwiegen, und der Matrose, der Brummel genannt wurde, fuhr fort: „Keiner? Na gut, dann verrate ich euch mal, wie es weitergeht: Also, ihr marschiert jetzt einzeln, einer nach dem anderen, in diese Hütte dort.“

Er zeigte auf das kleine Gebäude, in das Safira noch kurz zuvor eingesperrt gewesen war. „Und wenn ihr alle lieb seid und mitmacht, dann tun wir euch nichts. Wer ist der Erste, wer meldet sich freiwillig?“

Niemand bewegte sich. Alle blieben still sitzen.

„Keiner! Na gut, dann suche ich mir eben selber einen Freiwilligen aus!“ Er packte einen der am Tisch sitzenden Piraten am Kragen, stellte ihn mit unglaublicher Kraft auf den Boden und erklärte: „So! Du bist der Erste! Los! Abmarsch!“

Ohne zu widersprechen, lief der Pirat zur Hütte und ging hinein. Nach und nach folgten ihm auch die anderen – natürlich „ganz freiwillig“ –, bis sich alle dicht gedrängt in dem kleinen Raum befanden. Keiner wollte sich mit Brummel oder Seebär anlegen.

Zuletzt schloss Seebär die Tür, verriegelte sie von außen und grinste breit.

Wütend rief der Piratenkapitän durch die Gitterstäbe, mit denen das Fenster gesichert war: „Und was passiert jetzt?“

Da trat Käpten Boynen Wilbert Sturm vor und sagte lachend: „Nichts! Wir verlassen jetzt diese hübsche Insel, und ihr bleibt in der gemütlichen Zelle zurück. Ich bin mir sicher, dass sich keiner von euch einsam fühlen wird.“

Er wandte sich ab und tat so, als ob er gehen wollte.

„Ihr könnt uns doch hier nicht einfach verrotten lassen!“, protestierte der Pirat. Es klang allerdings nicht mehr zornig, sondern ziemlich kleinlaut.

„Na gut! Wir sind ja keine Unmenschen“, erwiderte Käpten Sturm, während er sich wieder zu ihm umdrehte.

Er holte eine Nagelfeile aus seiner Tasche und hielt sie dem Piratenkapitän vor die Nase. „Diese Feile verkaufe ich dir für zwanzig Goldstücke. Damit könnt ihr die Gitterstäbe durchsägen. Bis zum Sonnenaufgang in fünf Stunden solltet ihr das locker schaffen. Sind wir im Geschäft?“

Nach längerem Hin und Her ließen sich die Piraten darauf ein – ihnen blieb ja auch nichts anderes übrig. Jeder holte murrend ein oder zwei Goldstücke aus seiner Hosentasche und überreichte sie Safiras Rettern.

Gut gelaunt kehrten Käpten Sturm und seine Männer dann zu ihrem Schiff zurück, das in einer versteckten Bucht vor Anker lag. Mit dabei war Safira, die jetzt überhaupt keine Kopfschmerzen mehr hatte.

Käpten Sturm legte einen Arm um ihre Schulter und schaute sie mit seinen freundlichen Augen an. „Ich habe vorhin zugesehen, als du deine Kunststücke vorgeführt hast. Deshalb weiß ich, dass du Safira heißt und eine großartige Artistin bist. Wenn du willst, darfst du uns ab jetzt auf unseren Seereisen begleiten. Möchtest du das?“

Safira strahlte über das ganze Gesicht. „Aber natürlich!“

„Dann gehörst du von heute an zu uns!“

„Safira lebe hoch!“, brüllten die Seeleute wie aus einem Munde. Mit vereinten Kräften warfen sie die überglückliche Elfjährige in die Luft, um sie danach sanft wieder aufzufangen.

„Auf zu neuen Abenteuern!“, rief Safira begeistert.

1. Das alte Schmugglerhaus

Heutige Zeit

Die achtjährige Anne stupste ihren Bruder an, der neben ihr auf dem Rücksitz des Familienautos saß. „Hey, Lenny, ist das da vorne vielleicht unser neues Haus?“

„Glaub ich nicht“, antwortete Lenny, der erst vor Kurzem elf Jahre alt geworden war. „Papa hat mir vor der Abfahrt verraten, dass wir in ein uraltes Schmugglerhaus ziehen. Sieht das etwa uralt aus?“

Anne schüttelte den Kopf. „Nein, das ist viel zu neu.“

„Eben! Unser neues Zuhause ist über dreihundert Jahre alt.“

Stirnrunzelnd fuhr Anne sich durch ihre langen blonden Haare. „Aber ich verstehe das nicht. Das war das letzte Haus vom Ort Bodenwald. Und Papa hat gesagt, dass wir in Bodenwald wohnen werden, stimmt’s, Mama?“

Viola, die Mutter von Lenny und Anne, war von der langen Reise erschöpft. Deshalb zuckte sie nur mit den Schultern, anstatt zu antworten.

„Unser neues Zuhause liegt etwas außerhalb von Bodenwald. Aber es wird euch sicher gefallen“, erklärte nun Andreas, der Vater.

Familie Schmidt war auf dem Weg in ihre neue Heimat Mecklenburg-Vorpommern. Sie hatten dort ein großes Haus gekauft, das mitten im Wald und trotzdem gar nicht weit entfernt vom Meer war.

Jetzt verließ Papa die Hauptstraße und lenkte den Wagen auf einen Schotterweg, der direkt in den Wald führte. Nach dreihundert Metern kamen sie zu einer Lichtung. Und da sahen sie es – ihr neues Zuhause.

„Dort vorne ist es!“, rief Lenny begeistert. „Wir sind angekommen! Endlich!“

„Ja, das ist unser neues altes Haus, in dem wir ab heute wohnen werden“, bestätigte Papa. „Gefällt es euch?“

Zögernd erwiderte Anne: „Weiß nicht. Hier ist es ziemlich einsam und unheimlich! Warum habt ihr ausgerechnet dieses Spukhaus gekauft und nicht ein ganz normales Haus im Ort?“

Papa schmunzelte. „Erstens ist das hier kein Spukhaus, sondern ein altes Bauernhaus, das einmal Schmugglern gehört haben soll. Und zweitens gefällt es Mama und mir.“

Auch Mama lächelte jetzt. „Na, es war vor allem günstig, sodass wir es uns leisten konnten. Die erste Etage ist neu renoviert und bewohnbar. Und im Erdgeschoss gibt es eine große Küche mit Kamin. Die anderen drei Räume im Erdgeschoss werden wir vorerst nicht nutzen.“

„Reicht uns der Platz?“, wollte Lenny wissen. Ihre bisherige Wohnung war ziemlich beengt gewesen, was manchmal zu Streit zwischen den Geschwistern geführt hatte.

„Klar“, versicherte Mama. „Die Küche ist wirklich riesig. Darin ist Platz für einen großen Esstisch. Und vor den Kamin passt sogar noch unsere Sofagarnitur.“

Papa nickte. „Auf diese gemütliche Sitzecke freue ich mich schon. Dort können wir abends Bücher lesen und uns im Winter die Füße wärmen.“

„Im ersten Stock haben wir zwei Bäder, ein großes Schlafzimmer und zwei Kinderzimmer. So hat jeder von euch seinen eigenen Bereich, in dem er sich ausbreiten kann. Und falls uns das immer noch nicht reicht, können wir die Zimmer im Erdgeschoss renovieren.“

„Außerdem gibt es einen großen Dachboden!“, schob Papa nach.

„Auch einen Keller?“, fragte Anne.

„Ja, aber der ist sehr klein. Er besteht eigentlich nur aus einem Raum, in dem wir Vorräte lagern können.“

Neugierig deutete Lenny auf eine Scheune, die sich neben dem Haus befand. „Und was ist damit? Gehört das auch noch dazu?“

Papa nickte. „Ja, die Scheune gehört uns ebenfalls. Es ist gut, dass du das erwähnst, weil ich euch eines gleich von vornherein sagen will: Dort dürft ihr auf keinen Fall reingehen, jedenfalls vorerst noch nicht. Ist das klar?“

Lenny schaute seinen Vater verständnislos an. „Und warum sollen wir die Scheune nicht betreten?“

„Weil das gefährlich sein könnte“, übernahm seine Mutter die Antwort. „Dort liegen Sensen und andere landwirtschaftliche Werkzeuge herum, an denen man sich verletzen kann. Und wir wissen wir im Augenblick noch gar nicht, was sich unter dem aufgeschichteten Heu befindet. Wir möchten verhindern, dass euch etwas passiert.“

„Aber wir sind doch keine kleinen Kinder mehr“, widersprach Anne empört. „Bitte!“

„Nein, das seid ihr nicht“, bestätigte Papa. „Und deshalb solltet ihr einsehen, dass wir lediglich auf eure Sicherheit bedacht sind. Die Scheune ist für euch tabu. Ende der Durchsage!“

Lenny runzelte die Stirn. Er hasste Verbote! Insgeheim beschloss er, sich nicht an diese Regel zu halten. Er würde irgendwann mal heimlich in den Schuppen reingehen.

Doch das hatte Zeit. Zunächst einmal wollte er sich in Ruhe das Haus anschauen. Denn dort gab es bestimmt auch einiges zu entdecken.

Andreas durchschaute seinen Sohn. „Lenny! Denk nicht einmal dran, die Scheune zu betreten, sonst gibt es richtig Ärger!“, warnte er.

Schnell lenkte der Elfjährige ab. „Was ist mit Opa Abraham und Oma Sarah? Ziehen die auch hier bei uns ein?“

Mama schüttelte den Kopf. „Nein, die behalten ihre Wohnung in Bodenwald. Aber ich bin froh, dass wir jetzt endlich ganz nah bei ihnen wohnen.“

„Ja, das ist wirklich genial“, stimmte Lenny zu. „Früher war es eine halbe Weltreise, wenn wir sie besuchen wollten. Und jetzt können wir einfach mit dem Fahrrad zu ihnen fahren. Ich freu mich.“

„Das war auch einer der Gründe, warum wir hierherziehen wollten“, erklärte Mama. „Außerdem hat Papa hier eine gute Arbeit gefunden. Er ist jetzt der neue Manager eines Ferienhotels.“

„Papa ist Chef!“, riefen Lenny und Anne wie aus einem Munde und klatschten einander ab.

Schon vor einigen Minuten hatte Papa das Auto vor dem Haus geparkt und den Motor abgestellt. Nun forderte er die anderen auf: „Alles aussteigen, bitte! Herzlich willkommen im alten Schmugglerhaus von Bodenwald!“

Nach dem Abendessen putzte Familie Schmidt erst einmal die Wohnung. Alle mussten mithelfen, auch Lenny und Anne.

„Wann kommt denn der Umzugswagen?“, stöhnte Lenny, der überhaupt keine Lust zum Putzen hatte. Lieber hätte er dabei geholfen, die Möbel hereinzutragen.

„Erst morgen“, erklärte Papa. „Aber wenn ihr eure Aufgaben erledigt habt, könnt ihr euch gerne mal im Haus umschauen.“

Das ließen sich Lenny und Anne nicht zweimal sagen. Als sie mit allem fertig waren, machten sie sich sofort aus dem Staub. Und weil es draußen zu regnen angefangen hatte, kletterten sie auf den Dachboden, der über eine Holzleiter zu erreichen war.

Dieser Raum war vollgestopft mit alten Gegenständen, die dem vorigen Besitzer des Hauses gehört hatten. Er war im Alter von 99 Jahren gestorben, und offenbar hatte sich keiner seiner Erben für diese Sachen interessiert.

Ganz im Gegensatz zu Anne und Lenny: Sie schauten sich jeden Winkel des großen Dachbodens genau an, denn es gab viel zu entdecken. Anne bewunderte ein paar ausgestopfte Tiere. Ein Papagei, der schon ein wenig zerrupft aussah, gefiel ihr besonders. Lenny interessierte sich hingegen mehr für ein Fernrohr und ein paar alte Seekarten, die er in einem verstaubten Schrank fand.

Unter ein paar uralten Teppichen kam eine große Holzkiste zum Vorschein, die mit einem schweren Metallriegel verschlossen war.

„Was da wohl drin ist?“, überlegte Anne.

Lenny fuhr über das raue Holz, das mit Metallstreben versehen war, und pfiff durch die Zähne. „Das ist eine echte Seefahrerkiste! Sie sieht auf jeden Fall genauso aus wie die in dem Seefahrermuseum, in dem ich letztes Jahr mit Opa Abraham gewesen bin.“

Er schob den Riegel zurück und versuchte, den Deckel der Kiste anzuheben, was ihm aber nicht gelang. „Du, Anne, hilf mir mal, das Ding aufzumachen!“

Gemeinsam zogen sie an einer robusten Halterung am Deckel. Und mit vereinten Kräften gelang es ihnen tatsächlich, die Kiste zu öffnen.

„Da drin ist ein Hut!“, rief Anne aufgeregt.

„Ja, ein Seefahrerhut, und daneben liegt eine Seefahreruniform“, stellte Lenny begeistert fest. Er ergriff den Hut und setzte ihn auf.

„Steht dir überhaupt nicht“, kicherte Anne. „Sind das wirklich Seefahrerklamotten?“