Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. 1
  7. 2
  8. 3
  9. 4
  10. 5
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  33. 28
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  38. 33
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  40. 35
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  45. 40
  46. 41
  47. 42
  48. 43
  49. 44
  50. 45
  51. 46
  52. 47
  53. 48
  54. 49
  55. 50
  56. Nachwort und Danksagungen

Über dieses Buch

Hobbymalerin Lara kann es kaum glauben: Als sie ein selbstgemaltes Portrait des französischen Filmstars Brice Montaigneux auf Instagram veröffentlicht, meldet sich der Held ihrer Jugend persönlich bei ihr. Er lädt sie auf seinen Landsitz bei Bordeaux ein. Schon bei der ersten Begegnung der Beiden sprühen Funken – und aus der geplanten einen Übernachtung werden schnell mehr. Schließlich bleibt Lara ganz auf dem Weingut.

Doch die Harmonie trügt, denn Brice hat ein dunkles Geheimnis: Vor Jahren war er Verdächtiger in einem Mordfall, konnte aber nicht überführt werden. Und in seiner Villa stößt Lara auf geheimes Material, das Brice stark belastet. Er beteuert, unschuldig zu sein … aber kann sie ihm wirklich trauen?

Über die Autorin

Schon als Kind hatte Sabine Strick Spaß daran, sich Geschichten auszudenken. Nachdem zwei ihrer Schulaufsätze auf der Kinderseite der Berliner Morgenpost veröffentlicht wurden und ein von ihr geschriebenes Theaterstück in ihrer Schule aufgeführt wurde, begann sie schon als Gymnasiastin, erste Romane zu schreiben.

Später entdeckte sie auch das Reisen für sich, und viele der Eindrücke von Rundreisen durch die USA, die Karibik, den Mittleren Osten und diverse Länder Afrikas und Asiens flossen in ihre Romane ein.

Heute lebt Sabine Strick in Berlin und tüftelt in ihrer Freizeit fleißig an neuen Geschichten.

S A B I N E S T R I C K

D E A D L Y

RENDEZVOUS

Süßer Kuss der Gefahr

1

Die Boeing der Air France setzte zum Landeanflug auf Bordeaux-Mérignac an. Lara Lebailly war enttäuscht, dass sie keinen Fensterplatz bekommen hatte. Nun musste sie sich verrenken, um über die Köpfe ihrer Sitznachbarn hinweg möglichst viel von der Region zu sehen, in der sie einmal gelebt und mit der sie früher viel verbunden hatte.

Sie war hier glücklich gewesen; Benjamin war in Bordeaux geboren worden. Doch viel war passiert seitdem, und bis zum heutigen Tag war sie nie wieder zurückgekehrt.

Die Garonne glitzerte silbrig in der Nachmittagssonne, die sandfarbenen Häuser der Dörfer lagen eingebettet in Weinberge und Wälder. Hier und dort konnte man eines der unzähligen Weinschlösser ausmachen, für die Aquitanien berühmt war.

Laras Herz klopfte bis zum Hals, als die Räder des Flugzeugs auf der Landebahn aufsetzten. Allerdings galt dieses Herzklopfen weniger der Stadt, in der sie so lange nicht gewesen war, als vielmehr Brice Montaigneux, dem gefeierten Filmstar, den sie hier in Bordeaux kennenlernen sollte. Nicht bei einem Fantreffen, sondern völlig privat.

Sie war mit den Filmen von Brice Montaigneux aufgewachsen. Als er die ersten Schritte im Filmgeschäft gemacht hatte, war Lara gerade in die Vorschule gekommen. Als sie ein Teenager gewesen war, war er von den Leinwänden dieser Welt nicht mehr wegzudenken gewesen. Sie hatte ihn immer verehrt. Und bis heute flimmerte sein Gesicht regelmäßig über ihren Fernseher. Lara bedauerte nur, dass seine jüngsten TV-Produktionen in Deutschland nicht ausgestrahlt wurden.

Als die Maschine zum Stehen kam und die Passagiere die Sicherheitsgurte lösen durften, erhob sich Lara sofort und holte die flache Tasche aus der Gepäckablage, bevor der Inhalt von einem unachtsamen Passagier beschädigt werden konnte. Die sorgfältig mit Luftpolsterfolie umhüllte Leinwand auf Keilrahmen war der Grund für Laras Einladung auf den Landsitz von Brice Montaigneux. Die schwarze Mappe aus Nylon hatte sie extra in einem Künstlerbedarfsladen gekauft. Schließlich konnte sie Brice Montaigneux sein Porträt nicht in einer Plastiktüte überreichen.

Bevor sie sich an die Gepäckausgabe begab, ging Lara noch kurz in den Waschraum, um sich etwas frisch zu machen. Zwar würde Brice sie kaum persönlich vom Flughafen abholen, aber sie wollte sich vor seinem Chauffeur nicht die Blöße geben, mit Lippenstift, Puderdose und Haarbürste herumzuhantieren.

Lara bürstete ihr knapp schulterlanges mokkabraunes Haar, das leicht gelockt um ihr ebenmäßiges Gesicht fiel, und legte mattroten Lippenstift auf, der genau den Farbton ihres Kleides traf. Normalerweise stellte sie bei Reisen Bequemlichkeit über Eleganz, doch dies war eine Ausnahmesituation. Auf keinen Fall wäre sie ihrem Idol in Jeans und Sweatshirtjacke gegenübergetreten.

Während sie auf ihren kleinen Koffer wartete, vergewisserte sie sich, dass sich die auf dickem cremefarbenem Papier gedruckte Einladung griffbereit in ihrer Handtasche befand. Die goldgeprägten Initialen B.M. blitzten ihr im Briefkopf entgegen.

Als sie wenig später in der Limousine saß, die von Brice Montaigneux’ Chauffeur Daniel durch den lebhaften Nachmittagsverkehr gesteuert wurde, blickte sie sich aufmerksam um, konnte aber von Bordeaux nur einen Blick auf die Häuser der Vorstadt erhaschen.

Das Anwesen des Schauspielers lag nordwestlich vom Flughafen, versteckt in den Wäldern der Gironde. Sehr passend, einen solch verborgenen Wohnsitz zu wählen, wenn man sich von den Blicken der Öffentlichkeit abschirmen wollte.

Brice Montaigneux gehörte allerdings zu den Stars, die es nie geschafft hatten, ihr turbulentes Privatleben vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Vielleicht hatte er es auch nicht beabsichtigt, denn dieses skandalumwitterte Privatleben hatte den Erfolg seiner Filme stets unterstützt. Angefangen mit dem von Neidern erfundenen Gerücht, er habe sich die ersten Rollen erschlafen, über die tragische Geschichte seiner Jugendliebe, die er sitzen gelassen hatte, um eine andere zu heiraten, und die sich dann Jahre später umgebracht hatte, bis hin zu einem Mordfall, in den er vor drei Jahren verwickelt gewesen war. Er war nicht angeklagt worden, aber böse Zungen behaupteten, er habe sich nur dank seiner hochgestellten Beziehungen aus der Sache herauswinden können. Vor dreißig Jahren waren ihm sogar Kontakte zur Mafia nachgesagt worden. Und natürlich Liebesaffären mit den meisten bekannten Schauspielerinnen seiner Generation und, als er älter wurde, mit allen französischen Nachwuchsschauspielerinnen, die in seinen Filmen mitwirkten.

Seiner Karriere hatte all das nie geschadet. Im Gegenteil. Da er auf der Leinwand meistens tragische Helden, zwielichtige Kriminelle und skrupellose Kommissare verkörpert hatte, hatte ihn das Publikum umso mehr mit seinen Rollen identifiziert und dafür geliebt oder auch gehasst.

Und nun sollte das alles zu Ende sein. Vor einem Jahr hatte er angekündigt, sich aus dem Filmgeschäft zurückzuziehen. Da war er achtundfünfzig gewesen und hatte sich den Ruhestand gewiss verdient. Auch wenn es an Rollenangeboten wahrscheinlich nicht mangelte und er viele seiner Filme selbst produzierte. Beim internationalen Publikum war er etwas in Vergessenheit geraten, aber in Frankreich war er nach wie vor eine Berühmtheit, beinahe ein Mythos.

»Wir sind gleich da«, kündigte der Chauffeur an, als sich der Wald ein wenig vor hohen Zäunen lichtete.

Lara griff nach einem Papiertaschentuch und wischte sich die feuchten Hände ab. Dabei war es ein nur mäßig warmer Frühsommertag, kein Grund für Schweißausbrüche. Zumal die Limousine, ein eleganter schwarzer Renault Safrane, klimatisiert war. Und sie würde auch wegen des bevorstehenden Treffens nicht vor Aufregung ins Schwitzen geraten – schließlich war sie eine lebenserfahrene Frau von fünfundvierzig und kein Teenager mehr.

Daniel stoppte kurz an einem großen Tor, um einen Code in ein Sicherheitssystem einzugeben. Die Pforte öffnete sich wie von Zauberhand. Sie fuhren durch eine gepflegte parkartige Anlage und hielten auf der Auffahrt zu einer großen lang gestreckten Villa, die im Stil eines mediterranen Landhauses gehalten war.

Daniel lud Laras Gepäck aus, öffnete ihr die Wagentür und klingelte dann an der Haustür.

Ein ältlicher Butler öffnete und rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Ah, die Künstlerin. Herzlich willkommen, Madame. Bitte treten Sie ein.«

»Vielen Dank.« Sie griff nach der Nylontasche und folgte dem Butler durch die etwas düstere Eingangshalle und ein in strenger Gediegenheit möbliertes Wohnzimmer auf eine große Terrasse, wo im Schatten von Markisen Gartenstühle und ein Tisch aus Rattan standen.

»Bonjour Madame!«

Unvermittelt war Brice Montaigneux hinter ihr aufgetaucht, und Lara erkannte ihn sofort an seiner dunklen, rauchigen und festen Stimme, noch bevor sie sich umdrehte.

Er reichte ihr die Hand und lächelte freundlich, während seine stahlblauen Augen sich durchdringend in ihre bohrten, als wolle er sie einschätzen. Sie unterzog ihn der gleichen Prüfung.

Das einstmals schönste männliche Gesicht des französischen Films war nun recht zerfurcht, die Lippen schmaler, und die Haut spannte sich nicht mehr so straff über die hohen Wangenknochen wie früher. Aber sein dunkelsilbergraues Haar war noch immer dicht, und sein hochgewachsener, breitschultriger Körper wirkte fast so sportlich durchtrainiert wie in seinen besten Zeiten.

»Hatten Sie einen guten Flug?«, fragte er höflich.

»Ja, hervorragend, vielen Dank.«

Erleichtert stellte Lara fest, dass ihre jahrelange Routine als Vorstandssekretärin wie ein Autopilot übernahm und es ihr ermöglichte, seine freundliche Begrüßung so unbefangen und selbstsicher zu erwidern, als wäre es ihr täglich Brot, weltberühmte Filmstars zu treffen.

Die Chefetagen deutscher und französischer Unternehmen waren schließlich auch eine Art Bühne. Der Unterschied war höchstens, dass sie deren prominente Vertreter nicht bereits als Teenager angehimmelt hatte.

»Bitte setzen Sie sich. Was möchten Sie trinken? Kaffee, Tee oder was zur Erfrischung?«

»Gern einen Kaffee und ein Wasser. Bei der Air France sind sie geizig geworden mit Getränken.«

Ein Problem, das ihm sicher fremd war; vermutlich flog er nur in der First-Class, und die Stewardessen zankten sich darum, wer ihn bedienen durfte.

»Henri, bitte Kaffee und Perrier. Für mich auch. Danke.«

»Und ich werde eine Schere oder einen Cutter brauchen, um das Paket aufzumachen«, rief Lara dem Butler hinterher.

»Oh ja, das Bild. Ich bin schon so gespannt.« Er setzte sich ihr gegenüber und lächelte sie verschmitzt an.

»Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Und ich danke Ihnen vielmals für die Einladung, Monsieur Montaigneux. Das war sehr großzügig.«

»Brice«, verbesserte er. »Bitte nennen Sie mich Brice.«

»Ach ja, Sie mögen es ja nicht, wenn man Sie mit Monsieur anspricht, das habe ich gelesen.«

»Was die so alles für Quatsch schreiben.« Er schüttelte den Kopf. »Darf ich Sie Lara nennen?«

Sie schmunzelte über seine etwas altmodische Höflichkeit. »Ist mir eine Ehre.« Es gefiel ihr, wie er ihren Namen aussprach: mit Betonung auf dem zweiten a, wie es auf Französisch üblich war.

Er schien noch über ihre Bemerkung nachzugrübeln. »Haben die wirklich geschrieben, ich will nicht Monsieur genannt werden?«

»Nicht kürzlich – ich glaube, es stand in einer alten Biografie.«

»Dann war das wahrscheinlich, als ich unter zwanzig war, wo ich als Komparse und Nebendarsteller angefangen habe. Ich war kaum mit der Schule fertig und fand es in der Tat komisch, mit Monsieur angeredet zu werden.«

»Geht es nicht auf dem Filmset sowieso locker zu, und alle nennen sich zumindest beim Vornamen?«

»Ja, meistens. Aber Sie werden es nicht glauben, viele Leute trauen sich das bei mir nicht.«

»Oh, das glaube ich ohne Weiteres«, sagte sie mit einem Lachen.

»Wirke ich so furchteinflößend?«

Sie legte lächelnd den Kopf schief. »Vielleicht nicht furchteinflößend, aber schon so streng, dass man befürchten kann, Sie würden einen gleich zur Ordnung rufen, wenn man zu vertraulich ist.«

Er lachte über ihre Offenheit. »Und ist das schlimm?«

Sie zuckte die Schultern. »Jedem Star seine Allüren.«

»Ich bin keine Diva mit Allüren«, protestierte Brice.

»Ich bin zu direkt, oder?«

»Ich mag das. Und ich mag es, wenn die Leute nicht von mir eingeschüchtert sind.«

Henri brachte zusammen mit den Getränken auch die gewünschte Schere, und vorsichtig begann Lara, die Klebestreifen aufzuschneiden, die die Luftpolsterfolie zusammenhielten, und die auf Keilrahmen gespannte Leinwand auszuwickeln.

Brice betrachtete zufrieden sein Porträt in Acryl. »Sehr schön, noch besser als auf dem Foto.«

»Monsieur … Brice, ich weiß, dass Sie auch Kunstsammler sind«, begann Lara zögernd. »Warum wollten Sie ein Bild von mir kaufen? Ich habe absolut keinen Namen auf dem Kunstmarkt.«

Er hob belustigt die Augenbrauen, die fast so spitz wie ein Accent circonflexe über seinen recht großen Augen saßen. »Darf ich kein Bild kaufen, einfach nur weil es mir gefällt?«

»Natürlich, nur … Sie hätten sich von weit besseren Profimalern porträtieren lassen können.« Durstig griff sie nach ihrem Glas und trank von dem stark sprudelnden Perrier.

»Ich habe mich zwei Mal von Profis malen lassen. Das eine sieht aus wie ein Foto – bloß gibt es ja schon unendlich viele Fotos von mir. Auf dem anderen habe ich blaue und grüne Flecken auf dem Gesicht, irgendwie nicht sehr schmeichelhaft, obwohl von einem bekannten Maler. Aber bei Ihrem sieht man, dass es gemalt ist, und trotzdem ist es natürlich. Und Sie haben etwas eingefangen, was mir gefällt. Was ich früher mal hatte, aber schon lange nicht mehr fühle … Außerdem: dieses Bild hat sehr viel weniger als die anderen gekostet, ein echtes Schnäppchen für mich. Da war also noch Luft für Ihr Flugticket.« Er lächelte sie spitzbübisch an.

»Wie kommt es überhaupt, dass Sie das Bild gesehen haben? Schauen Sie sich tatsächlich alle Fotos an, die bei Instagram mit Ihrem Namen getaggt werden?«

»Nein, aber Mitarbeiter meiner PR-Agentur tun das. Sie wissen, dass es mich interessiert, wenn ich gemalt werde, und wenn es gut aussieht, schicken sie mir das Foto. Allerdings fand ich bis jetzt nie eines interessant genug, um es kaufen zu wollen.«

»Und warum wollten Sie mich persönlich kennenlernen? Nicht dass ich mich darüber beschweren möchte, im Gegenteil, ich fühle mich sehr geschmeichelt, nur wundert es mich. Sie hätten es sich ja auch einfach per Post schicken lassen können.«

Brice schwieg einen Moment, als überlegte er, wie viel er preisgeben wollte. »Es hat mich interessiert, wer dieses Porträt von mir gemalt hat«, begann er schließlich. »Also habe ich mir Ihre Profile bei Instagram und auch bei Facebook angesehen. Da sind ja so einige Fotos von Ihnen selbst drin, auch drei oder vier etwas ältere …«

»Stimmt. Es ist jetzt gerade eine Art Mode, bei Facebook seine Jugendfotos zu posten.«

»Ich habe festgestellt, dass Sie einer Frau ähnlich sehen, die ich mal gekannt habe, und das hat mich neugierig gemacht.« Ein Schatten flog über sein Gesicht.

»Anna Dell’Olio«, vermutete Lara.

Er nickte knapp.

»Mir haben früher öfter Leute gesagt, dass ich ihr ähnle.«

»Auf den Fotos mehr als in Wirklichkeit.«

»Dann sind Sie jetzt enttäuscht?«

»Nein, gar nicht. Sie sind eine mindestens genauso schöne Frau.« Er schenkte ihr ein etwas trauriges Lächeln, und die beiden steilen Falten zwischen seinen Augenbrauen vertieften sich. »Und es ist mir auch lieber, wenn Sie ihr nicht zu ähnlich sehen.«

Zu viele schmerzhafte Erinnerungen?, dachte Lara, wagte aber nicht, es auszusprechen. Ihre Direktheit endete an der Intimsphäre anderer Leute.

Die italienische Schauspielerin Anna Dell’Olio und Brice Montaigneux waren in den Achtzigerjahren das Traumpaar des europäischen Kinos gewesen. Bis Brice plötzlich eine andere geheiratet hatte, deren Schwangerschaft daran vermutlich nicht unbeteiligt gewesen war. Sechs Monate nach der Hochzeit war sein Sohn Thierry geboren worden. Anna hatte sich zunächst mit anderen Männern getröstet und ihre Karriere weiterverfolgt. Sie hatten sogar noch einen Thriller zusammen gedreht, der ein Welterfolg geworden war, und es hieß, sie seien Freunde geblieben. Sieben Jahre nach der Trennung von Brice war sie tot in ihrem Haus bei Rom aufgefunden worden, und die Obduktion hatte nie eindeutig klären können, ob es Selbstmord gewesen war oder ein Unfall durch zu viele Tabletten und Alkohol. Sie war erst Mitte dreißig gewesen. Brice’ Ehe war zu dieser Zeit ebenfalls in die Brüche gegangen.

»Ich frage mich manchmal, wie Anna heute aussehen würde«, sagte Brice leise. »Vielleicht so wie Sie.«

Lara unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass sie dreizehn Jahre jünger war als Anna. Allerdings – wenn diese noch leben würde, hätte sie vermutlich ein Lifting hinter sich, würde sich regelmäßig Botox spritzen lassen und wahrscheinlich tatsächlich kaum älter aussehen als Lara.

»Haben Sie zufällig italienisches Blut?« Er nahm einen Schluck Kaffee.

»Nein. Ich bin halb Deutsche, halb Französin. Mein Vater war Franzose, und ich bin in Paris geboren und aufgewachsen.«

»Ah, deswegen haben Sie einen französischen Namen und sprechen so perfekt Französisch. Und jetzt leben Sie dauerhaft in Frankfurt?«

»Ja, schon seit vielen Jahren. Nur der Arbeit wegen. Und mein Sohn studiert dort.«

»Was studiert er denn?«

»Medizin.«

»Donnerwetter. Und was macht Ihr Mann?«

Lara nippte an ihrem Kaffee, um Zeit zu gewinnen. Sie sprach nur ungern über Benjamins Vater. »Ich bin schon seit vielen Jahren geschieden. Mein Exmann ist in Frankreich geblieben.«

»Ein Franzose also.«

»Ja.«

Brice schien zu spüren, dass das Thema ihr unangenehm war, und wechselte es.

»Was machen Sie beruflich? Sie sind keine Profikünstlerin, oder?«

»Ich bin Chefsekretärin. Genauer gesagt, ich war. In den letzten Jahren war ich Vorstandssekretärin bei einer großen deutschen Aktiengesellschaft. Dann gab es vor einem Jahr eine Fusion, mein Chef musste gehen, und ich gleich mit.« Ihre Finger spielten ein wenig nervös miteinander, und sie hoffte, dass Brice nicht nachhaken würde.

»Und Sie haben noch keinen neuen Job gefunden?«, fragte er nur.

»Ich habe nicht besonders ernsthaft gesucht. Ich hab mich ziemlich ausgebrannt gefühlt und wollte eine Auszeit nehmen. Auch, um mich mehr der Malerei widmen zu können.«

»Mit Erfolg, wie man sieht.« Brice wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Porträt zu. »Kommen Sie, wir werden einen geeigneten Platz dafür im Haus suchen. Mal sehen, wo es am besten wirkt.« Er erhob sich und nahm die Leinwand. »Dabei zeige ich Ihnen auch das Gästezimmer, wo Sie übernachten werden. Oder haben Sie andere Pläne?«

»Nein. Ich nehme sehr gern Ihre Einladung an, bis morgen früh zu bleiben.«

»Wann geht Ihr Rückflug?«

»Erst in fünf Tagen. Ich will mich noch in Bordeaux umsehen, wenn ich schon mal hier bin.«

»Ja, das sollten Sie unbedingt. Bordeaux hat sehr viel Charme. Genau wie die ganze Region.«

»Ich weiß. Ich habe hier früher einige Jahre gelebt. Aus den Medien weiß ich, dass sich die Stadt sehr modernisiert und verändert hat, und das würde ich gern sehen.«

»Wann haben Sie hier gelebt?«

»Anfang bis Mitte der Neunzigerjahre.«

»Oh, da wird sich so einiges für Sie verändert haben. Bis auf einige Dreckecken, die gibt es immer noch.«

Sie folgte ihm durch das Erdgeschoss des Hauses, und Brice musterte prüfend seine Wände, an denen bereits etliche Gemälde verschiedener Stilrichtungen hingen.

»Ich glaube, ich werde es erst einmal im Büro aufhängen. Später suche ich einen besseren Platz. Eigentlich nutze ich den Raum mehr als Bibliothek«, erklärte er, als sie das Zimmer betraten.

»Das wirkt sehr gemütlich.« Lara musterte die Bücherregale und den großen Ledersessel mit dem kleinen runden Tischchen davor.

Brice nahm ein kleines Landschaftsbild vom Haken und stellte es zur Seite. Dann betrachtete er die Rückseite des Porträts.

»Im Keilrahmen ist schon ein Loch, Sie können es direkt so aufhängen.«

»Ja, das wird das Einfachste sein. Vielleicht lasse ich es später noch rahmen.«

Er hängte sein Konterfei auf und trat einige Schritte zurück, um es zu begutachten. »Passt perfekt hierhin. Was meinen Sie?«

»Es harmoniert sehr gut mit der Farbe der Wand.«

»Bevor ich es vergesse …« Brice öffnete eine Schreibtischschublade und holte einen schmalen weißen Umschlag hervor, den er Lara gab. »Das ist für Sie, die vereinbarte Summe. Und jetzt zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.«

Sie folgte ihm über eine große gewundene Holztreppe in den ersten Stock. Laras Koffer stand bereits in einem kleinen Schlafzimmer, das mit zierlichen hellen Holzmöbeln, einer in Pastellfarben geblümten Tapete und dazu passenden Vorhängen und Bettüberwurf sehr feminin wirkte.

»Das Gästebad ist am Ende des Flurs. Sie sind nächste Nacht mein einziger Gast, also können Sie frei darüber verfügen.«

»Wunderbar. Vielen Dank … Brice.« Bei der natürlichen Autorität, die er ausstrahlte, fiel es ihr fast schwer, ihn beim Vornamen zu nennen.

»Sie müssen mir nachher beim Abendessen unbedingt mehr über sich erzählen, Lara. Sie wissen vermutlich so ziemlich alles über mich – jedenfalls all den Mist, der gedruckt wird –, und ich weiß so gut wie nichts über Sie. Ich finde das unfair.« Er lächelte sie an.

»Interessiert Sie das denn?«, staunte sie.

»Warum sollte es nicht? Ich bin jetzt im Ruhestand, ich habe Zeit, mich für meine Mitmenschen zu interessieren.« Er blinzelte ihr zu und wandte sich ab. »Ich lasse Ihnen ein bisschen Zeit, sich auszuruhen. Abendessen gibt es um neunzehn Uhr dreißig.« Er verließ den Raum. Zurück blieb der herbe Duft seines erlesenen Aftershaves.

Lara ließ sich mit weichen Knien auf das Bett sinken.

2

Brice und Lara saßen sich allein an dem langen Eichenholztisch im Esszimmer gegenüber. Stilvolle dunkle Möbel, weißes Leinen, poliertes Silber, das im Kerzenschein glänzte, Henri in seiner Butler-Livree, der die Speisen auftrug – Lara fühlte sich wie in einem historischen Film. Oder noch eher wie in einem Traum. Dinierte sie wirklich mit Brice Montaigneux und plauderte mit ihm über ihr Leben? Versenkte er tatsächlich immer wieder seine im Kerzenlicht dunkel schimmernden Augen in ihre und hörte ihr aufmerksam zu?

Das Essen war köstlich, und Lara liebte gutes französisches Essen, doch an diesem Abend erschien es ihr wie störendes Beiwerk, auf das sie sich nicht so richtig konzentrieren konnte.

»Seit wann leben Sie wieder in Deutschland?«, fragte Brice.

»Genau genommen bin ich zwei Mal nach Deutschland zurückgegangen. Das erste Mal mit zwölf, nachdem mein Vater gestorben ist. Meine Mutter hatte Heimweh und ist mit mir und meinem Bruder nach Mainz gegangen, in ihre Heimatstadt. Ich habe da die Schule fertig gemacht und dann in Heidelberg meine Ausbildung zur Europasekretärin. Danach habe ich angefangen in München zu arbeiten. Allerdings nur kurz, denn inzwischen hatte ich mich in einen Franzosen verliebt und bin mit ihm nach Bordeaux gegangen. Benjamin ist kurz danach geboren worden. Wegen der Arbeit sind mein Mann und ich nach Paris gezogen. In Bordeaux findet man nicht so leicht was, wenn man nicht von hier stammt.«

Brice nickte. »Ich weiß. Wir sind hier sehr regionalbewusst. Erst die Bordelaisen, dann die restlichen Franzosen, und Ausländer möglichst gar nicht. Jedenfalls war es noch so in den Neunzigern, als Sie hier gelebt haben. Inzwischen hat es sich etwas gelockert. Wir sind kosmopolitischer geworden. Also sind Sie wieder in Ihre Geburtsstadt Paris zurückgekehrt.«

»Ja. Fünf Jahre später Scheidung.« Lara nahm einen langen Schluck von dem exzellenten Bordeaux. »Ich brauchte einen Tapetenwechsel, und Benjamin war noch nicht in der Schule. Ich hatte auch gleich ein tolles Jobangebot. Als Vorstandssekretärin bei dem großen Unternehmen in Frankfurt, wo ich bis vor einem Jahr gearbeitet habe. Da habe ich zugegriffen. Auch weil meine Mutter gesundheitlich ziemlich angeschlagen war und ich sie nicht allein lassen wollte. Mein Bruder ist nämlich gleich nach dem Abi nach Paris zurückgekehrt, hat dort studiert und eine Familie gegründet. Er hat sich an Deutschland nie so richtig gewöhnen können.« Lara lachte ein wenig und schnitt einen Bissen von dem zarten Filetsteak ab.

»Und Sie?«

»Ich bin hin- und hergerissen. In Deutschland fühle ich mich wie eine Französin und in Frankreich wie eine Deutsche.« Sie seufzte. »Also immer etwas anders als die anderen.«

Während Brice Lara zuhörte und sie beobachtete, fühlte er sich schmerzlich an Anna erinnert. Die gleichen lebhaften braunen Augen unter fein gezeichneten Brauen, die edlen ebenmäßigen Züge mit den langen Grübchen in den Wangen, wenn sie lächelte, das weiche, lockige braune Haar und auch die gertenschlanke und dennoch weibliche Figur. Anna war lediglich etwas kleiner gewesen. Und sogar die schmalen, sorgfältig manikürten Hände ähnelten denen Annas, nur dass Lara sparsamer gestikulierte. Sie war eben keine Italienerin. Und sie wirkte weniger emotional, weniger zerbrechlich als Anna. Konnte sie sich in ihrem Beruf im rauen Klima von Vorstands- und Geschäftsführungsetagen sicher auch nicht leisten. Ihr spürbarer Pragmatismus tat ihm gut. Eine Frau von Welt, die mit beiden Beinen auf dem Boden und im Leben stand, das gefiel ihm.

Seit Carine hatte er sich nicht mehr so für eine Frau interessiert. In ihm keimte eine Idee, aber er wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Er musste selbst noch einmal darüber nachdenken, bevor er entschied, ob er sich darauf einlassen wollte.

*

Als Lara am nächsten Morgen für das Frühstück ins Esszimmer ging, traf sie dort auf Brice, der Zeitung las und einen Café Crème trank.

»Guten Morgen. Gut geschlafen?«, erkundigte er sich.

»Ja, wunderbar. Und Sie?« Sie setzte sich ihm gegenüber, wo ein unbenutztes Gedeck auf sie wartete.

»Ich auch.« Er lächelte sie an.

»Kann mich Daniel heute Vormittag nach Bordeaux fahren?«, fragte Lara und nahm ein Croissant aus dem Körbchen, das auf dem Tisch stand.

»Er ist gerade mit der Haushälterin zum Einkaufen losgefahren. Danach, wenn Sie wollen. Ich will jetzt in meinem Weingut und auf meinem Gestüt nach dem Rechten sehen. Möchten Sie vielleicht mitkommen?«

»Ja, richtig: Wein, Pferde und Immobilien.« Lara erinnerte sich, dass Brice als avisierter Unternehmer galt, dem seine Geschäfte und Investitionen in den letzten Jahren angeblich mehr Millionen eingebracht hatten als die Filmrollen.

»Vergessen Sie nicht die Herrenkosmetik.« Vergnügt klopfte er sich auf die zart gebräunte Wange.

»Stimmt. Für die Anti-Aging-Produkte sind Sie selbst Ihr bestes Modell«, erwiderte sie kess. »Ist Ihr Aftershave auch Ihre eigene Kreation?«

»Natürlich. Ich habe es in erster Linie für mich selbst kreieren lassen.«

»Es riecht sehr verführerisch. Macht bestimmt jede Frau schwach. Obwohl Sie dafür mit Sicherheit noch nie die Hilfe eines Duftes nötig hatten.«

»Sie flirten ja mit mir«, stellte er amüsiert fest.

»So kurz vor dem Abschied werde ich mutig.« Lara verrührte lächelnd Zucker in ihrem Kaffee, den Henri ihr inzwischen eingeschenkt hatte. »Gibt es eigentlich noch dieses Damenparfüm unter Ihrem Namen – wie hieß es noch gleich?«

»Temps d’amour.«

Allein schon, wie er mit seiner rauen Stimme das Wort amour aussprach, schickte Lara einen wohligen Schauer über den Rücken. Und sein Blick, jetzt nicht mehr prüfend, sondern voller Schalk und Interesse in ihre Augen versenkt, gab ihr den Rest. Himmel, rief sie sich streng zur Ordnung. Jetzt verliebe dich nicht noch wirklich in ihn. In einer Stunde siehst du ihn nie wieder, außer im Fernsehen.

»Richtig, temps d’amour. Ich habe es geliebt als junge Frau. Es wurde nur kurze Zeit in den Neunzigern hergestellt, oder?«

»Genau. Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«

»Ja. Die Antwort ist Ja.« Lara hatte inzwischen vergessen, was die Frage gewesen war, aber sie wollte sich nicht die Blöße geben zuzugeben, dass ihr kleiner Flirt sie so aus dem Tritt gebracht hatte.

»Gut, ich freue mich. Dann fahren wir los, sobald Sie gefrühstückt haben.«

Brice setzte sich selbst ans Steuer seines Mercedes Cabrio, und das nicht nur, weil Daniel mit der Limousine zum Einkaufen unterwegs war.

»Hin und wieder fahre ich gern selbst, damit ich es nicht verlerne«, erklärte er. »Nur den Stadtverkehr kann ich nicht leiden, da lasse ich mich lieber fahren.«

Brice’ Weingut lag im Médoc, jener fruchtbaren Region zwischen Bordeaux und Atlantikküste, die Weine hervorbrachte, die zu den besten der Welt gezählt wurden. Zahlreiche Schlösser verschiedener Größen und Epochen lagen an der route des vins, der berühmten Weinstraße, die dem Verlauf der Garonne folgte, bis sie zusammen mit der Dordogne in die Gironde mündete.

Lara war früher oft mit ihrem Mann und Sohn die route des vins entlanggefahren. Oder zum Baden an die langen Strände von Lacanau und Arcachon.

»Ich liebe diese Gegend«, sagte sie wehmütig aus ihren Gedanken heraus. »So nahe am Meer und Strand, und die vielen Kiefernwälder, die Seen, die Weinberge und Schlösser … Und auch die geheimnisvollen nebligen Wälder der Landes und der Gascogne. Ich habe das vermisst in all den Jahren.«

»Für mich ist Aquitanien auch die schönste Region Frankreichs. Liegt sicher daran, dass es meine Heimat ist. Warum sind Sie nie wieder hergekommen, wenn Sie es so lieben?«

Sie seufzte. »Zu viele Erinnerungen. Noch vor zehn Jahren hätte ich es nicht gekonnt.«

»Verstehe.« Er warf ihr einen nachdenklichen Seitenblick zu.

»Außerdem, seit Benjamin aus dem Gröbsten raus ist, sind wir oft ins außereuropäische Ausland in Urlaub gefahren. Wir wollten was von der Welt sehen.«

»Das ist nur zu verständlich.« Brice lenkte den Wagen in die breite Auffahrt eines imposanten Schlosses aus dem siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert. »Wir sind da. Darf ich vorstellen: Châteaux Montaigneux.«

»Wow, das Schloss ist nach Ihnen benannt worden?«

Er lachte. »Nein. Es hat noch immer seinen alten Namen, und unter diesem wird auch der Wein vermarktet. Aber Châteaux Montaigneux würde gut klingen, finden Sie nicht?«

»Allerdings! Warum leben Sie nicht hier?«

»Weil ich mein Landhaus schon vorher hatte und daran hänge. Ich finde es auch gemütlicher als ein zugiges altes Schloss, wo ständig was repariert werden muss. Außerdem wollte ich nicht die Familie auf die Straße setzen, die seit Generationen darin lebt. Sie sind nach wie vor Geschäftsführer des Weingutes und verstehen sehr viel von Weinherstellung. Im Gegensatz zu mir. Aber ich versuche, ständig dazuzulernen. Ich werde Ihnen was davon zeigen.«

In der folgenden Stunde führte Brice Lara über das Weingut, ließ sie von den heranreifenden Trauben kosten und zeigte ihr den feuchtkalten Weinkeller, wo der Médoc in großen Holzfässern gelagert wurde. Es schien ihm Freude zu machen, ihr alles zu erklären, er wirkte fast wie ein kleiner Junge, der seine Eisenbahn vorführen wollte.

Lara fragte sich plötzlich, ob er wohl einsam war und deshalb solchen Gefallen an ihrer Gesellschaft fand. Sie rief sich ins Gedächtnis, was sie durch unautorisierte Biografien und Klatschzeitungen über sein Liebesleben wusste. Nach seiner gescheiterten Ehe und dem Tod von Anna Dell’Olio hatte er wieder eine Lebensgefährtin gefunden, mit der er rund zehn Jahre zusammen gewesen war, bis sie tragischerweise an Krebs gestorben war. Die Regenbogenpresse verdiente sich eine goldene Nase mit Artikeln über den Fluch, mit dem das Liebesleben des Brice Montaigneux belegt war.

Ein Jahr später hatte er eine junge Schweizerin kennengelernt, Corinne, Carine oder so ähnlich. Oder war sie Belgierin gewesen? Jedenfalls hatte sie ihm zwei Töchter geboren. Und die hatte sie dann mitgenommen in ihr Heimatland, als die Beziehung zu Brice gescheitert war. Vermutlich sah er seine Töchter nicht sehr häufig. Lara konnte sich nicht erinnern, ob sein Sohn Thierry bereits Kinder hatte.

In den letzten Jahren hatte sie Brice’ Leben nicht mehr so intensiv verfolgt – in Deutschland war er ein wenig in Vergessenheit geraten und nur noch selten in den Klatschzeitungen aufgetaucht, und Lara war zu beschäftigt mit anderen Dingen gewesen, um im Internet nach Informationen zu suchen. Es genügte ihr, ihn hin und wieder im Fernsehen in seinen alten Filmen anzuschmachten.

Zerstreut lauschte sie, was er ihr über die feinen Tannine erzählte, die langer Alterung standhielten, über Weine mit reizvoller Frucht in der Jugend, über Harmonie und Finesse im Bukett und im Gaumen. Seine tragende Stimme hallte in dem dunklen Gewölbe, obwohl er nicht sehr laut sprach.

Die feuchte Kälte des Weinkellers drang langsam durch ihr dünnes Sommerkleid und ließ sie frösteln.

Ritterlich zog Brice sein Jackett aus und hängte es ihr um die Schultern. »Wir werden nach oben gehen und auf der Terrasse Mittag essen, was halten Sie davon?«

Lara nickte. »Wunderbare Idee.«

*

Nach dem Essen fuhren sie weiter zu Brice’ Gestüt, das etwa eine halbe Stunde Fahrtzeit vom Weingut entfernt lag.

Brice wechselte einige Worte mit seinen Mitarbeitern, begutachtete die Pferde, die in den geräumigen Boxen standen, und ging dann mit Lara auf die Koppel hinaus, wo sich weitere Pferde aufhielten. Ein prächtiger Rappe, dessen Muskeln unter dem glänzenden Fell spielten, kam nah ans Gatter.

Brice tätschelte seinen Hals. »Das ist Artemis, mein besonderer Liebling.« Er zauberte zwei Stück Würfelzucker aus seiner Jackentasche hervor und hielt sie dem Rappen vor das Maul. »Können Sie reiten?«, erkundigte er sich.

»Nein. Ich mag Pferde, aber ich hatte nie Gelegenheit, reiten zu lernen. Und Sie?«

»Ich habe schon früh reiten gelernt. Als Jugendlicher habe ich in den Ferien meistens als Pferdebursche gearbeitet, um mir was dazuzuverdienen. Und da durfte ich auch selber reiten. Und später, als ich den Western und den historischen Film gedreht habe, wo ich viel im Sattel sitzen musste, habe ich zur Vorbereitung noch etliche Reitstunden genommen. Seit ich das Gestüt hier habe, reite ich auf meinen Pferden aus, wenn ich Zeit habe. Aber nicht auf Artemis, das ist ein wertvolles Rennpferd, ein Vollblütler, der schon viele Preise geholt hat. Wir haben auch einige geduldige Reitpferde, die sich für Anfänger eignen.«

»Wollten Sie heute ausreiten?«

»Heute nicht. Das Wetter wäre jetzt sowieso nicht geeignet dafür.« Er machte eine Handbewegung zum Himmel hin, an dem sich seit einer Stunde dunkle Wolken zu ballen begannen.

Und schon fielen die ersten dicken Tropfen, gefolgt von Donnergrollen. Der Rappe entzog sich Brice’ streichelnden Händen und trabte zum Unterstand, gefolgt von den beiden anderen edlen Rennpferden. Am Gatter der Koppel erschien der Pferdebursche, um die kostbaren Tiere zum Stall zurückzubringen.

Brice und Lara beeilten sich, zum Wagen zurückzukommen.

Als sie eine Dreiviertelstunde später vor seinem Landhaus vorfuhren, ging ein wahrer Wolkenbruch nieder. Eine weiße Wand aus Regen. Brice stellte den Motor aus und löste seinen Sicherheitsgurt, blieb aber sitzen.

»Warten wir das Schlimmste ab. Seit meinem Tauchfilm bin ich etwas wasserscheu«, scherzte er.

Sie lachte. »Kann ich mir vorstellen.«

Sie schwiegen einen Moment. Lara genoss es, in der Intimität des Wageninneren mit Brice allein zu sein, während der Regen auf das Auto trommelte, die Scheibenwischer tanzten und in der Ferne der Donner grollte.

Dann wandte er ihr das Gesicht zu. »Sagen Sie, Lara, wollen Sie nicht hierbleiben?«

»Was genau meinen Sie?«, fragte sie verblüfft. Im Auto bleiben? Oder in Frankreich?

»Ob Sie noch eine Nacht bleiben wollen. Oder auch gleich bis Freitag. Die nächsten beiden Tage habe ich sowieso in Bordeaux zu tun. Sie könnten morgens mit mir hinfahren, und Daniel fährt Sie herum, während ich in meiner Firma bin. Und am Freitagnachmittag bringt er Sie wieder zum Flughafen.«

»Das ist wahnsinnig nett von Ihnen.« Laras Herz machte einen Hüpfer, aber trotzdem zögerte sie ein wenig. Weniger aus Bescheidenheit als vielmehr, weil sie gern ihre Unabhängigkeit hatte. Andererseits war es auf diese Weise natürlich viel bequemer und kostengünstiger. Und sie würde Brice noch einige Male mehr zu Gesicht bekommen. Das gab den Ausschlag.

»Sehr gern. Das ist ein tolles Angebot. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen –«

Brice winkte ab. »Ach, kommen Sie. Das Gästezimmer steht sonst leer, und Daniel langweilt sich sowieso, wenn er in Bordeaux auf mich wartet. In welchem Hotel haben Sie reserviert?«

»Im Ibis Styles Meriadeck.«

»Können Sie das kostenfrei stornieren?«

Sie warf einen Blick zur Uhr. »Die heutige Nacht wohl nicht mehr. Aber die anderen beiden schon.«

Lara fragte sich, ob Brice ihr dieses Angebot machte, um mit ihr anzubandeln. Und ob sie das wirklich wollen würde.

Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, etwas mit einem Mann anzufangen, der auf die sechzig zuging. Ihr derzeitiger Lover in Frankfurt war erst dreiunddreißig. Dafür war er ein stets abgebrannter Künstler, der sich nur zu gern bei ihr durchschnorrte und für den sie nicht die Einzige war. Lara duldete das nur, weil sie ihn aufrichtig gern hatte, weil er ein so guter Liebhaber war und sie seinen knackigen Körper liebte. Und vor allem, weil es ihr an interessanteren Angeboten mangelte. Es war ihr völlig klar, dass es mit ihm keine gemeinsame Zukunft geben konnte.

Natürlich hatte sie früher hin und wieder von einem Abenteuer mit Brice Montaigneux geträumt. Welche Frau nicht! Aber wenn Träume von der Realität eingeholt wurden, war das etwas anderes. Er war nicht nur für sein gutes Aussehen und seinen Charme bekannt. Auch von Arroganz, Chauvinismus und Jähzorn war hin und wieder die Rede gewesen. Allerdings hatte sie von alldem noch nichts bemerkt.

Und er hatte ihr schließlich keinen Heiratsantrag gemacht, sondern nur angeboten, drei weitere Nächte sein Gast zu sein. Großzügigkeit und Gastfreundschaft hatten die Biografen auch erwähnt, erinnerte sie sich. Vielleicht fühlte er sich tatsächlich ein wenig einsam und mochte einfach ihre Gesellschaft.

Sie würde es darauf ankommen lassen. Und sollte er eines Abends auf ihrer Bettkante sitzen, würde sie ihn gewiss nicht hinunterschubsen, auch wenn er kein jugendlicher Adonis mehr war und wahrscheinlich nicht mehr als einen One-Night-Stand wollte. Genau genommen war die Aussicht auf eine Nacht mit ihm extrem reizvoll, auch wenn sie nur eine mehr in seiner sicher beachtlichen Sammlung sein würde. Unwillkürlich rutschte sie ein wenig tiefer in ihren Sitz und dachte daran, dass ein Kuss bei der Musik von trommelndem Regen und tanzenden Scheibenwischern seinen Charme hätte.

»Gehen wir.« Brice schaltete die Scheibenwischer aus. »Der Regen hat nachgelassen.«

3

Lara staunte darüber, was in Bordeaux in den letzten zwanzig Jahren alles neu gestaltet worden war.

Die Stadt mit ihren geradlinig strengen ockerfarbenen Fassaden wirkte aufgelockert durch einige moderne Bauten aus Glas und Chrom, allen voran die Cité du vin, ein futuristischer Bau in einer Form, die Lara an ein U-Boot denken ließ. Wo früher Busse und Autos endlos im Stau gestanden hatten, schnurrte nun eine hochmoderne Straßenbahn leise durch die Stadt. Die engen Gassen in der Altstadt hingegen warteten noch auf Renovierung und hätten eine fabelhafte Kulisse für einen Film abgegeben, der im Mittelalter spielte.

Gepflegte Prachtmeilen wechselten sich mit toten Plätzen ab, und wie Brice es erwähnt hatte, gab es auch ausgesprochen dreckige Ecken mit tierischen und menschlichen Hinterlassenschaften. Und es gab auch immer noch jene dringend renovierungsbedürftigen Viertel mit abstoßenden Fassaden und bröckelndem Putz. Aber das hatte von jeher zu Bordeaux gehört – es war pompös und schäbig immer im Wechsel.

Lara ließ sich eine Stunde von Daniel herumfahren und freute sich an den Dingen, die ihr neu waren, wobei sie bei so manchen nicht wusste, ob sie es tatsächlich noch nie gesehen hatte oder ob sie sich nur nicht mehr erinnerte.

Danach verspürte sie den Wunsch, allein zu sein, und verabredete mit Daniel, wo er sie am späten Nachmittag treffen sollte, kurz bevor sie zusammen Brice aus dem Büro abholen würden. Sie gab ihm auch ihre Handynummer, falls sich an Brice’ Plänen etwas ändern sollte. Und dann genoss sie es, sich allein in der Menschenmenge treiben zu lassen.

Lara machte eine Fahrt auf der Garonne, die genauso schlammig bräunlich wie früher war. Die Ufer allerdings waren sehr viel moderner und belebter als früher, da an den Kais nun unzählige kleine Restaurants und Souvenirläden lagen. Der Pont d’Aquitaine thronte so gewaltig wie eh und je zwischen den beiden Hälften der Stadt.

Als Lara auf dem Schiff saß, wollte sie sich den Erinnerungen an das kurze idyllische Familienleben hingeben, das sie in der Gironde mit Franck und Benjamin geführt hatte, doch seltsamerweise schoben sich immer wieder Brice’ stahlblaue Augen davor. Er war wie seine Heimatstadt, sinnierte sie. Eine imposante Fassade, hinter der sich das eine oder andere schmutzige Geheimnis verbergen mochte. Und dennoch reizte es sie mehr denn je, hinter die prächtige Fassade zu sehen, ihm näherzukommen.

Das fehlt mir gerade noch, dachte sie seufzend. Mich für einen Mann zu interessieren, den ich nicht haben kann. Denn Brice war auch am Vorabend der perfekte Gentleman geblieben, hatte beim Essen charmant mit ihr geplaudert und ihr dann eine gute Nacht gewünscht, um sich auf sein Zimmer zurückzuziehen. Anscheinend hatte er doch kein Interesse an ihr als Frau, und seine Gastfreundschaft war reine Höflichkeit.

Am späten Nachmittag stieg Lara am verabredeten Treffpunkt wieder in die Limousine und fuhr mit Daniel zu Brice’ Unternehmen, das im Zentrum von Bordeaux lag, nahe der Place du Parlement, einem italienisch anmutenden Platz mit einem großen Springbrunnen in der Mitte, der von vielen Restaurants umgeben war.

Lara fand, dass die prachtvolle Architektur von Bordeaux dem Betrachter zwar imponieren musste, ihn aber gleichzeitig auf Distanz hielt. Auch dies genau wie bei Brice, schoss es ihr durch den Kopf, als sie ihn aus dem Gebäude treten sah. Sehr gut aussehend in seinem maßgeschneiderten grauen Anzug und dabei so unnahbar wirkend.

Brice setzte sich zu Lara in den Fond der Limousine, stellte seinen Laptop auf die Knie, klappte ihn auf und schaltete ihn ein. »Entschuldigen Sie, ich muss schnell was fertig machen.« Er setzte seine Lesebrille auf und zog ein Bündel Dokumente aus seiner Aktentasche.

»Lassen Sie sich Zeit.« Lara schaute aus dem Fenster und betrachtete zuerst die vorbeisausenden Gebäude der Stadt und danach die Landschaft.

Heftiges Trommeln auf der Tastatur und gereiztes Knurren neben ihr ließen sie aufmerksam werden, und sie warf ihrem Nachbarn einen Seitenblick zu. Diesen genervten Gesichtsausdruck, der den verbissenen Kampf mit der Technik begleitete, kannte sie zur Genüge von ihrem alten Job.

»Kann ich helfen?«

»Vielleicht. Ich muss diese Präsentation bis heute Abend per Mail an die Aktionäre verschicken. Meine Sekretärin war schon weg, als sich die letzten Zahlenkorrekturen ergeben haben. Außerdem will ich im Titel was ändern. Aber ich kriege dieses verdammte Ding nicht dazu, es zu tun!«

Erbost hämmerte er auf die Enter-Taste.

Lara löste ihren Sicherheitsgurt, um näher an ihn heranrücken zu können. »PowerPoint? Da müssen Sie den Titel im Folienmaster ändern, auf den einzelnen Seiten geht das nicht.«

»Im was?«

»Das da unten anklicken.« Sie schob seine Hand beiseite und ließ den Mittelfinger über das Touchpad gleiten. In diesem Moment nahm Daniel etwas zu scharf eine Kurve. Lara wurde gegen Brice geworfen, ihre Hand rutschte ab und landete auf seinem Oberschenkel, dicht an seinem Schritt.

»Ups, pardon!« Peinlich berührt hob sie die Hand.

»Und ich hatte schon befürchtet, so was würde mir nie wieder passieren«, sagte er humorvoll. Er nahm ihre Hand, die wie erstarrt in der Luft hing, und legte sie sanft auf die Tastatur zurück.

In Lara schoss plötzliche Hitze empor, obwohl sie von den Wechseljahren bisher noch keinerlei Anzeichen verspürte.

»Wo waren wir stehen geblieben?« Bei seiner verwirrenden Nähe blieb ihre Konzentration auf der Strecke.

»Folienmaster«, erwiderte Brice. In seinen Mundwinkeln zuckte ein amüsiertes Lächeln.

»Geben Sie mir den Laptop«, forderte Lara. Sie würde gewiss nicht über seinem Schoß hängend seine Präsentation korrigieren – auch wenn die Vorstellung etwas in ihr zum Prickeln brachte.

Es war ein Leichtes für sie, die gewünschten Korrekturen durchzuführen und auch noch schnell die Begleitmail zu tippen und die Präsentation beizufügen. Schon wenige Minuten später konnte sie Brice den Laptop zurückgeben.

»Jetzt brauchen Sie die Mail zu Hause nur noch abschicken.«

»Vielen herzlichen Dank, Sie haben mir sehr geholfen«, sagte er erleichtert, klappte das Gerät zu und verstaute es in seiner Tasche.

»Ich kann heute Abend nicht mit Ihnen essen«, sagte er dann. »Ich muss zu einem dämlichen Geschäftsessen, das man mir spontan aufs Auge gedrückt hat.«

»Schade«, murmelte Lara.

»Ich werde Henriette anweisen, Ihnen Essen zu machen. Und dann können Sie frei über mein Wohnzimmer und den Fernseher verfügen. Ich habe einen Schrank voller DVDs. Und falls Sie sich sehr langweilen, gibt es auch alle meine Filme auf DVD

»Oh, auch diesen noch ziemlich neuen Dreiteiler Kommissar Francis Frédignac? Den habe ich noch nie sehen können, außer einige Ausschnitte auf You-Tube.«

»Ja, den habe ich auch.«

»Wunderbar«, sagte sie zufrieden. »Dann lassen Sie sich nur Zeit bei Ihrem Essen.«

Brice drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger.

*

Brice war froh, als das Abendessen mit den Geschäftspartnern endlich vorbei war. Mit der Zeit fand er immer weniger Gefallen an solchen Treffen. Er gähnte. In der letzten Nacht hatte er schlecht geschlafen, hatte wirre Träume gehabt, in denen sich Anna und Lara vermischt hatten, und war mit einem merkwürdigen Gefühl in der Brust erwacht.

Er warf einen Blick zur Uhr und fragte sich, ob Lara wohl noch auf war.

Als er im Fond seiner Limousine saß und sich von Daniel nach Hause fahren ließ, sah er im Display seines Smartphones, dass er eine neue Mail erhalten hatte. Ah, sehr gut, der Bericht der Detektivagentur über Lara Lebailly, den er am Vortag in Auftrag gegeben hatte. Er öffnete die Mail und überflog den Inhalt. Plötzlich runzelte er die Stirn. Damit hatte er nicht gerechnet. Es passte nicht so recht zu dem Bild, das er sich von ihr gemacht hatte. Brice ließ das Handy sinken und starrte aus dem Fenster, wo Bäume und Büsche als dunkle Schatten vorbeisausten. Für den Rest des Heimwegs grübelte er darüber nach, ob er seine Pläne ändern sollte.

Als er kurz vor Mitternacht sein Haus betrat, fand er Lara schlafend auf der Couch im Wohnzimmer vor. Der Fernsehbildschirm zeigte das DVD-Menü, und auf dem Tisch lag die DVD-Hülle, die sein Foto mit Pistole in der Hand trug.

Nachdenklich sah er auf Lara hinunter und beschloss, nicht von seinem Vorhaben abzuweichen und sie vorerst auch nicht zur Rede zu stellen. Er selbst hatte schließlich auch seine Leichen im Keller – nahezu buchstäblich.

Brice widerstand der Versuchung, ihr über das Haar oder die Wange zu streicheln. Stattdessen nahm er die dünne Wolldecke, die zusammengefaltet auf einer Armlehne der Couch lag, und breitete sie über Lara aus. Dann schaltete er Fernseher und DVD-Player aus, löschte das Licht und verließ leise den Raum.