BERND R. HOCK

Immer im

RAMPENLICHT

Mit Gott auf der Bühne
und hinter den Kulissen

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7511-1 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2021

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

MEINER GELIEBTEN EHEFRAU KERSTIN,
MEINEN WUNDERVOLLEN KINDERN ANNIKA UND DAVID
UND MEINEN GROSSARTIGEN ELTERN

INHALT

Über den Autor

Vorwort

Bühne frei für mein erstes Mal

Mein erster Blick ins Licht

Verabredung im Keller meiner Gedanken

Mitleid, Marzipan und eine Heldentat

Armer Kerl – ich?

Zögern oder weitergehen?

Der Weg in die Freiheit

»Der Bu macht sein Wech«

Siegt am Ende der Tod?

10 Alle werden mich lieben

11 Meine Freiheit hat einen Haken

12 Wächter-Gespräch

13 Kerstin

14 Der Weg der Erinnerungen

15 Erwin

16 Lebt sie noch?

17 Lieber Gott, mach mich fromm …

18 Hingekotzt

19 Neues Leben

20 Vor allem Gesundheit?

21 Ich hab’s erlebt: Er lebt!

22 Wo ist er denn, dein Gott?

23 Herzstillstand

24 Wem vertraue ich?

25 Ich kann Vater!

26 Annika – zwei Striche für ein Halleluja

27 David – Nutella am Zeh

28 Alles anders

29 Wie ist das mit den Nichtbehinderten?

30 Kommt gut nach Hause

Epilog: Vorwort für die zweite Hälfte

Dank

ÜBER DEN AUTOR

HOCK, BERND R. (Jg. 1968) lebt im Großraum Hamburg. Neben seiner Tätigkeit als Heilpraktiker für Psychotherapie tourt der Kabarettist und Entertainer gerne durch Deutschland und erzählt auf kreative Weise und mit Leidenschaft von Gottes Liebe.

VORWORT

Vielleicht sterbe ich schon morgen. Vielleicht sogar noch heute. Oder ich eifere Johannes Heesters nach und habe mit meinen fast 53 Jahren gerade mal die Hälfte meiner Lebenszeit erreicht. Möglicherweise liegen die spannendsten und wertvollsten Lebensjahre noch vor mir. Eventuell habe ich sie schon hinter mir gelassen. Ich weiß es nicht.

Fakt ist: Ich habe in dem halben Jahrhundert, in welchem ich auf dieser Weltbühne agiere, ganz schön viel erlebt. Genug für ein Buch. Für dieses Buch. Fakt ist auch, dass meine letzten zehn Lebensmonate enorm wertvoll für mich waren. Auf meiner Lebensstraße habe ich in jüngster Vergangenheit nicht nur durch die Windschutzscheibe nach vorne geblickt, sondern auch intensiv und lange in den Rückspiegel. Habe mich an vieles aus meinem Leben erinnert und es aufgeschrieben. Daraus wurde schnell mehr als ein einfaches Zurückblicken und Notieren. Ich erkannte die Chance, meine Vita genauer unter die Lupe zu nehmen.

Diese Selbstreflexion entwickelte eine Eigendynamik, die für mich immer bedeutungs- und eindrucksvoller wurde. Ich wollte mehr erfahren, wollte die psychischen und seelischen Prozesse, die in mir ablaufen, erkennen und verstehen. Deshalb habe ich mir Zeit genommen, um immer wieder in mein Innerstes, in meine Psyche, in meine Seele hineinzuschauen. Ich tat dies mit der Hoffnung, Antworten zu finden auf zahlreiche Fragen, die mich immer wieder beschäftigen:

• Was macht mich aus?

• Was lässt mich so sein, wie ich bin?

• Warum reagiere ich so, wie ich reagiere?

• Wie viel Übereinstimmung gibt es zwischen dem, was ich rede, und dem, wie ich handle?

• Warum tue ich immer noch so viele Dinge, die mir nicht guttun?

• Was tut mir überhaupt gut?

• Warum fällt es mir manchmal so schwer, zu vertrauen?

• Wem oder was vertraue ich überhaupt?

• Welche verschiedenen Bernds leben in mir und sind wann wie und warum aktiv?

Dabei entwickelte ich das immer stärker werdende Bedürfnis, mein Seelenleben konkreter und deutlicher wahrzunehmen. Deshalb habe ich versucht, es zu personifizieren, eine gängige Methode in der psychotherapeutischen Beratung, die ich auch in meiner Praxis als Heilpraktiker für Psychotherapie anwende.

Was manch einer oder manch einem auf den ersten Blick vielleicht vorkommt wie irgendein komischer spiritueller oder vielleicht sogar okkulter Kram, ist bei genauerem Hinsehen ziemlich sinnvoll. Gerade die Methode, das Seelische in uns zu personifizieren und anzusprechen, ist ja keineswegs neu. Schon König David wandte sie vor etwa 3000 Jahren an, wie wir in den ersten beiden Versen von Psalm 103 nachlesen können:

Lobe den HERRN, meine Seele,
und all mein Inneres seinen heiligen Namen!
Lobe den HERRN, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan!

Der Dichter spricht seine Seele nicht nur an, er ermahnt sie förmlich! Gedankenstopp nennen wir dies heute in der Psychotherapie, und in meiner Tätigkeit als Heilpraktiker für Psychotherapie übe ich dies immer wieder mit Patientinnen und Patienten ein. Wenn wir negativen, destruktiven Gedanken Einhalt gebieten wollen, müssen wir lernen, sie anzusprechen und abzuweisen.

»Nun reiß dich einmal zusammen, Seele! Hör auf, ständig zu jammern und alles düster zu sehen. Erinnere dich lieber einmal daran, was du alles Gutes erlebt hast, daran, was Gott dir Gutes getan hat!«, ruft David sinngemäß aus.

Auch ich möchte mich daran erinnern, was Gott mir Gutes getan hat, und mein Seelenleben besser kennenlernen. Damit sich mir alles besser erschließt, habe ich diese inneren seelischen Prägungen und Schutzmechanismen in einem »inneren Wächter« zusammengefasst und mich in Gedanken mehrfach mit ihm getroffen und unterhalten. Immer wieder habe ich so eine Reise in mein Innerstes unternommen. Diese Reisen wurden zu einem intensiven Nachdenken über mich selbst und über mein bisheriges Leben.

Dies half mir, zu erkennen, wie viel Unnötiges und Unsinniges sich über die Jahre in meinem Inneren angesammelt hat. Lebenslügen konnten sich nicht mehr länger verschleiern und Wahrheiten fingen an, neu zu glänzen. Auch entwickelte sich diese Form der Selbstreflexion immer mehr zu einem »Glauben-TÜV«, der dringend fällig war. Wie stand, wie steht es um mich als überzeugter Christ? Wie viel ist noch echt und authentisch und wie viel hat die geistliche Routine über die Jahre in Automatismen verwandelt?

Dies alles hat mir enorm geholfen und vielleicht können auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, etwas davon profitieren.

Vor allem aber erzähle ich in diesem Buch aus meinem Leben, von vielen schönen Begebenheiten und auch manchen weniger schönen. Bestimmt können Sie an manchen Stellen über meine Erlebnisse als behinderter Mensch herzlich lachen. Bitte tun Sie dies auch!

Applaudieren müssen Sie beim Lesen jedoch nicht. Es sei denn, wir treffen uns einmal bei einer öffentlichen Lesung. Dort freue ich mich selbstverständlich über Ihren Beifall, denn da bin ich ja wieder – mitten im Rampenlicht!

Bernd R. Hock
Im August 2020

1

BÜHNE FREI FÜR MEIN ERSTES MAL

»Ist es dein erstes Mal?«, fragt sie mich und holt ihre Maske aus der Plastiktüte. Sie wartet keine Antwort ab: »Das muss klappen hier, hörst du?! Du darfst nicht versagen, darfst dir keine Fehler erlauben. Die da draußen sind gnadenlos!«

Ich nicke – ungewohnt schüchtern.

»Ist das deine komplette Verkleidung oder ziehst du dich noch um?«, fragt sie weiter und mustert mich dabei von oben bis unten. Verunsichert betrachte ich mich im Spiegel. Ich trage das, was ich immer trage, weil es bequem und trotz meiner Körperbehinderung – meinen kurzen Armen, krummen Händen und den wenigen kleinen, deformierten Fingern – selbstständig für mich handelbar ist: Schuhe, Socken, eine dunkelblaue Jogginghose und ein rotes Sweatshirt. Ganz wichtig: ein Sweatshirt ohne Bündchen am unteren Ende. Bündchen sind etwas ganz Schreckliches für Menschen mit kurzen Armen! Sie verhindern nämlich, dass das Kleidungsstück von alleine, also nur von der Erdanziehungskraft geleitet, am Körper hinuntergleitet. Pullover mit Bündchen müssen heruntergezogen werden. Dazu braucht man eigene lange Arme oder freundliche Helfer. Mit meinem roten bündchen-freien Sweatshirt kann ich beides entbehren. Das ist Freiheit!

Corinna zieht ihre Latex-Maske über den Kopf. Ihre Stimme klingt nun gedämpft: »Mit so einer Maske auf dem Kopf bist du ganz weit vorne, musst aber auch echt Profi sein. Du musst ganz konzentriert atmen, sonst kippst du aus den Latschen, weil dir die Luft ausgeht!«

Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich habe Corinna vor circa einer Stunde kennengelernt. Wir teilen uns eine Garderobe im Backstage-Bereich, denn wir haben beide heute Abend im Rahmen einer großen Faschingsveranstaltung einen Auftritt.

»Jetzt sieht sie saudämlich aus in diesem Hühnchen-Kostüm«, denke ich. Auch die Hühnerkopf-Latexmaske reißt es nicht raus. Wie »Bibo« aus der Sesamstraße in billig! Ich finde es gar nicht witzig, sondern einfach nur peinlich.

»Na? Wie findest du mich in dem Kostüm!«, fragt sie, tänzelt mit riesigen Hühnerfüßen aus Gummi um mich herum und wackelt mit ihrem auffälligen Kunstfeder-Hintern.

»Richtig gut! Total lustig! Das wird bestimmt der Brüller, wenn du gleich auf die Bühne gehst!«, lüge ich.

»Als verrücktes Huhn trete ich schon seit fünf Jahren auf. Hier in der Rhein-Mosel-Halle in Koblenz bin ich allerdings zum ersten Mal. Das ist die beliebteste Faschingsveranstaltung in der ganzen Gegend. Wenn du hier auftrittst, wird über dich geredet. Richtig fette Promo. Die nehme ich natürlich gerne mit.«

Tausendfünfhundert Menschen! Wo ist das nächste Tier-Kostüm?! Ich will hinein, um mich darin zu verstecken.

Die Garderobentür wird geöffnet und Bettina, die zierliche, selbstbewusst wirkende Regieassistentin, steckt ihren Wuschelkopf herein: »Corinna! Du bist gleich dran. Bist du so weit?«

Corinna präsentiert sich mit einer Bewegung wie ein »Nummern-Girl« aus dem Varieté, entlockt Bettina allerdings überhaupt keine Regung. Stattdessen wendet sie sich an mich: »Bernd, nach Corinnas Hühnchen-Darbietung wird das Motto-Lied mit dem Publikum gesungen und danach bist du dran! Du kannst dich also auch gleich auf den Weg zur Bühne machen.«

Corinna hat sich schon an uns vorbeigeschoben und ist weg. Bevor auch Bettina wieder verschwindet, schaut sie mich etwas gedankenversunken an. Wie oft in solchen Augenblicken glaube ich, ihre Gedanken lesen zu können: »Ob das richtig war, den zu engagieren? Der hat keine Bühnenerfahrung, ist offensichtlich behindert – und dann hier in so einer bedeutenden Sitzung. Das geht nicht gut.«

Doch Bettina verschwindet ohne ein weiteres Wort. Ich schaue mich noch einmal im Spiegel an: platte Frisur, viel zu große Brille und viel zu großer Bauch. Mit einem Achselzucken und einem leichten Kopfschütteln verlasse ich meine Garderobe und gehe durch einen schmalen Flur. Je näher ich der Bühne komme, desto lauter wird die Musik – und ein lautes Gackern vom Band. »Okay, Corinna zieht gnadenlos durch!«, schießt es mir durch den Kopf.

Ich gelange an den Bühnenrand, von wo aus ich im Schutz des Seitenvorhangs das Geschehen genau verfolgen kann. Die Halle ist ausverkauft. Über 1 500 Menschen in Feierlaune warten, nein, nicht speziell auf mich, aber anscheinend mehr auf gute Satire als auf flache Gags.

Ich treffe erneut auf die Regieassistentin, die mir letzte Anweisungen gibt: »So, Bernd, nach dem Lied werden wir deinen Tisch in die Mitte der Bühne tragen und du wirst angesagt. Dann gehst du bitte direkt auf deine Position und lieferst den Beitrag ab!«

Mein Lampenfieber schießt in schwindelerregende Höhen. Ich bin der einzige Neuling in der Szene an diesem Abend und werde nächsten Monat gerade mal zwanzig Jahre alt. Okay, ich parodiere hobbymäßig Promis aus Politik, Sport und Showbusiness, für meine Begriffe aber mehr schlecht als recht. Alles bisher nur für den Hausgebrauch. Auf Geburtstagsfeiern – »Mensch, Bernd, mach doch mal den Helmut Kohl!« –, auf Schul- oder Studentenfesten und immer vor Publikum, welches mich kennt und mir wohlgesonnen ist. Niemals vor Fremden und niemals vor so einer großen Masse. Warum habe ich mich nur in dieses Engagement hineinquatschen lassen?

Corinna ist gerade dabei, sich unter verhaltenem Applaus zu verbeugen. Für meine Begriffe ist sie immer noch nicht unterhaltsam in ihrem Kostüm, nur peinlich. Jetzt verlässt sie die Bühne und kommt direkt auf mich zu: »Ein Scheiß-Publikum! Kein bisschen locker. Voll bescheuert! Bin froh, dass ich es hinter mir habe. Zieh einfach professionell durch. Hörst du? Abhaken. Toi, toi, toi!«

Ich hoffe spontan auf Feueralarm oder Stromausfall oder etwas anderes, das den sofortigen Veranstaltungsabbruch nach sich ziehen würde. Noch befinde ich mich im Schutz des Seitenvorhangs.

Der letzte Refrain des geselligen Stimmungsliedes reißt mich aus meinen Gedanken. Ich beobachte, wie zwei Bühnenarbeiter für meine Darbietung einen Tisch in die Mitte der Bühne tragen, einen Stuhl dahinterstellen, ein Mikrofon aufbauen und mein Skript bereitlegen.

Im Saal wird das Licht wieder dunkler, auf der Bühne auch. Tisch und Stuhl werden mit einem Spot ausgeleuchtet.

Irgendwie kriege ich jetzt Bock! Ganz plötzlich. Ich kann es nicht erklären, aber von der einen auf die andere Sekunde sinkt mein Lampenfieber, als hätte man mir riesige, eiskalte Wadenwickel gemacht. Ich bin bereit. Ich habe Lust. Ich will raus!

Nun sagt mich doch endlich an!

Endlich höre ich meine Stichworte: »Begrüßen Sie jetzt mit einem donnernden Applaus …«, der Sitzungspräsident muss noch einmal auf seinen Notizzettel schauen, ich laufe schon los. »… Bernd Hock!«

Ich gehe direkt zu meinem Tisch. Nicht schüchtern, nein, ich schreite festen Schrittes. Ich gehe nicht wie ein Anfänger in Trainingshose, ich trete auf!

Der Begrüßungsapplaus ist ganz und gar nicht donnernd. Kein Vorschuss, einfach Geklatsche halt. Wahrscheinlich hat das Publikum nicht mit einem »Behinderten« gerechnet.

Als ich am Tisch sitze, schaue ich ins Publikum, obwohl ich es aufgrund des Scheinwerfers gar nicht richtig sehen kann. Ich mache nichts, schaue nur. Mit mir zusammen haben an diesem Samstag, den 13. Februar 1988, 14 prominente Personen aus den Bereichen Politik, Sport, Show-Business, Kirche und Journalismus Platz genommen, die ich nun gleich in Mimik, Gestik und vor allem in ihrer Stimmlage parodieren und in meiner Satire agieren lassen werde, unter ihnen Ronald Reagan, Willy Brandt, Boris Becker und der Papst.

Die Aufregung, die ich jetzt spüre, ist gut, sie macht mich high. Gleichzeitig habe ich aber auch noch etwas Angst vor einem Texthänger oder davor, dass mir eine Parodie nicht so gut gelingen wird.

Ich beginne mit meiner Parodie der Journalisten-Legende aus dem WDR, Ernst-Dieter Lueg, und stelle alle Promis am Tisch einmal kurz vor. Die Stars parodiere ich jeweils, kurz nachdem Lueg sie vorgestellt hat, lediglich pantomimisch. Das kommt schon recht gut an und ich freue mich, dass das Publikum reagiert.

Als Ernst-Dieter Lueg stelle ich nun Helmut Kohl eine Frage. Für die Antwort ziehe ich mir eine entsprechende »Kohl-Brille« auf, modelliere mimisch das Kanzler-Doppelkinn, Zunge raus, Zunge rein und Ton zum Bild: »Also in aller Enchiedenheit, Herr Lueg …« Ich werde direkt von Applaus unterbrochen und das Orchester spielt drei Tuschs! Ich empfinde ein Glücksgefühl, welches ich in meinem späteren Leben immer nur auf der Bühne oder beim Sex empfunden habe.

»Ich krieg sie!«, denke ich. Ich bin dort, wo ich mich wohlfühle: im Mittelpunkt des Geschehens. Ich genieße die volle Konzentration des Publikums. Dass man diese Gabe professionell »Bühnenpräsenz« oder etwas deftiger ausgedrückt das »Rampensau-Gen« nennt, wusste ich damals noch nicht.

Jetzt komme ich in den sogenannten Flow, den jeder Künstler kennt. Ich koste die von mir deutlich überzeichneten Charakteristika der Promis bis ins Letzte aus, lasse mir Zeit und genieße es, dass meine Pointen und Wortspiele zünden.

Die Promis streiten miteinander und meine Überzeichnungen sorgen immer wieder für spontanen Zwischenapplaus und Tuschs. Mein Publikum geht total ab, ich fliege durch meine Nummer. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung und Freude im Saal, dass ich es kaum fassen kann.

Ich bin ein Star! Bitte hol mich niemals jemand hier raus! Kein Defizit steht im Mittelpunkt. Man nimmt mich so wahr, wie ich gerne bin. Ich genieße es, dass ich angeguckt und beobachtet werde, weil so viel Positives rüberkommt. Ich fühle mich angenommen!

Das Schaumbad der Bewunderung ist eingelassen und ich tauche ganz tief ein und genieße. Nicht still, das bin ich nicht. Ich genieße laut. Ich gebe alles, verausgabe mich total. Schwitze wie ein Schwein und presse die verschiedenen Stimmen am Kehlkopfdeckel vorbei, bis ich im Verlauf der Nummer etwas heiser werde.

Das ist perfekt für meine abschließenden Parodien von Willy Brandt und Ronald Reagan, dem vierzigsten Präsidenten der USA. Danach mache ich den Sack zu und wünsche allen als Ernst-Dieter Lueg »eine gute Nacht!«.

Ich stehe auf und verbeuge mich. Setze mich wieder hin, denn ich muss mehrere Zugaben geben. Eine habe ich vorbereitet, dann folgen noch weitere vier, alle spontan. Als ich wieder aufstehe, um mich endgültig zu verabschieden, bleibt mein bündchen-freies rotes Sweatshirt nicht in der Position hängen, in die es durch meine gedrungene Sitzhaltung geschoben wurde, sondern fällt nach unten und verdeckt meinen untersten Rettungsring aus Fett. Perfekt! Ich trete ganz nach vorne an den Bühnenrand, die »Sau« tritt an die Rampe. Heraus aus dem grellen Licht des Scheinwerfers, der mir den Schweiß literweise aus den Poren treibt. Ich will dieses großartige Publikum sehen, mich bedanken bei den Menschen, die mich angenommen haben. Will mich suhlen im warmen Matsch der schnellen Anerkennung.

Ich kann es kaum fassen. Alle stehen auf! Standing Ovations! Die Menge jubelt mir zu. Publikum und Festkomitee feiern mich in einer Art und Weise, wie ich mir dies nicht hätte träumen lassen. Eine Applaus-Rakete nach der anderen wird gezündet.

Ich könnte weinen vor Glück. Vielleicht tue ich es auch ein wenig. Wie ein Staubsauger, an dessen Saugschlauch man bei vollem Betrieb das Rohr entfernt und der dann wild durch den Raum fliegt, versuche ich, den ganzen Zuspruch einzusaugen.

Nachdem ich mindestens eine Viertelstunde überzogen habe, gehe ich ab und trete zurück in den Schutz des Seitenvorhangs, der nun für mich kein Schutz mehr sein muss. Jeder darf mich sehen! Jeder!

Am Bühnenrand empfängt mich Corinna. Anscheinend hat sie meinen gesamten Auftritt von dort verfolgt, denn sie hat immer noch ihr Hühnchen-Kostüm an und hält die Latexmaske in der Hand. »Die sind bei dir ja richtig abgegangen!«, meint sie anerkennend, aber auch mit einer Portion Neid in der Stimme.

Von links kommt Bettina, die Regieassistentin, auf mich zu, umarmt mich und küsst mich. Ja, sie küsst mich! »Alter, das war ganz großes Kino! Richtig klasse! Du warst grandios! So war das Publikum noch nie dabei! – Machen wir nachher noch was zusammen?«

Ich spüre, wie Glückshormone tonnenweise in mir ausgeschüttet werden, und bin überzeugt, dass die Menge an Serotonin mich ab jetzt bestimmt jahrelang durch den Alltag tragen wird. Dass solche durch Beifall freigesetzten Hochgefühle nur eine Halbwertszeit bis zum nächsten Frühstück haben, werde ich erst am nächsten Morgen erfahren.

»Wie war ich?«, schießt es wie automatisiert aus mir heraus und ich registriere überhaupt nicht, welch selten dämliche Frage ich da gerade gestellt habe. Bettina wirkt für einen kurzen Augenblick völlig entgeistert. Kurz, sehr kurz friert ihr Gesicht ein, aber rasch entspannt sich ihre Mimik wieder und sie sagt, wohl in der festen Überzeugung, dass ich sie gerade hochgenommen habe: »Du bist echt ne coole Sau! Also nicht abhauen, hörst du. Ich will nachher noch mit dir feiern.«

Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie ein Bühnenarbeiter auf Hühnchen-Corinna zugeht. »Corinna! Du warst wieder sensationell!«, sagt er. Die beiden umarmen sich und beginnen zu tuscheln. Der Arbeiter blickt in meine Richtung und guckt unfreundlich. Er tuschelt weiter und ich habe das Gefühl, dass er sich abfällig über mich äußert. Während ich die beiden mit meinem Blick fixiere, laufen immer wieder Menschen an mir vorbei, die mich anlächeln, mir auf die Schulter klopfen oder mir mit wenigen Worten ihre Anerkennung ausdrücken. Ich bedanke mich beiläufig, meine komplette Aufmerksamkeit richtet sich jedoch auf den Dialog zwischen Corinna und ihrem Fan. Zu gerne würde ich mitkriegen, was die beiden jetzt über mich reden.

Plötzlich zerdrückt die eiskalte dunkle Hand der Angst meinen Magen und mein Herz kurzzeitig zu Brei. Ich meine, das Wort Behinderten-Bonus gehört zu haben. Ich will mich auf die beiden zubewegen, doch da wird der Bühnenarbeiter von hinten gerufen und Corinna marschiert Richtung Garderobe.

Hilfe suchend schaue ich mich um. Eine Dame mit Fotoapparat kommt auf mich zu, stellt sich als Redakteurin der hiesigen Lokalzeitung vor und meint: »Sie waren wundervoll! Hätten Sie gleich noch etwas Zeit für ein paar Fragen und ein Foto?«

»Natürlich!«, antworte ich und merke, wie ich wieder festen Boden in Form von Bühnen-Brettern unter die Füße bekomme. Bretter, die nur die Welt bedeuten! Aber in genau dieser Welt muss ich ein ganzes Leben lang zurechtkommen! Alleine!

Ich ahne nicht, dass Gott persönlich mich ziemlich genau drei Jahre später im Herzen ansprechen und beginnen wird, im »Rampen-Saustall meiner Gefühlsabhängigkeiten« aufzuräumen. Noch viel weniger ahne ich, dass dieses Aufräumen ziemlich lange dauern wird.

Gut gelaunt sehe ich noch einmal hoch zum Bühnenscheinwerfer, der gerade eine Gruppe junger Musiker anstrahlt. Ich schaue in dieses Scheinwerferlicht, in dessen Kegel ich mich getraut habe. Dick, mit kurzen Armen, in Trainingshose und mit Sweatshirt ohne Bündchen.

Der Spot bewegt sich, verfolgt das Bühnengeschehen. Ich blicke ihm versonnen nach. Das hat zwanzig Jahre früher schon einmal viel bewirkt, in einem Kreißsaal in Landau in der Pfalz.

2

MEIN ERSTER BLICK INS LICHT

Es gibt Geburtstage, an die kann man sich ein Leben lang erinnern. Der Fünfzigste zum Beispiel, der groß gefeiert wurde. Oder der Achtzehnte. Endlich volljährig! Oder meinetwegen auch der Dreiundvierzigste, weil man etwas ganz Unpassendes geschenkt bekommen hat, Tante Rosi sich ein Glas Rotwein über ihr nagelneues Satinkleid gekippt hat oder Onkel Harald und Onkel Franz sich am späten Abend ziemlich betrunken fürchterlich über Politik gestritten haben.

Wie ist es mit dem echten Geburts-Tag? Die persönliche Stunde null! Der Tag, an dem man das Licht der Welt erblickt hat!

Daran hat man keine bewussten Erinnerungen, man kennt ihn nur aus Erzählungen. Ich natürlich auch. Trotzdem glaube ich, ziemlich genau zu wissen, wie meine Geburt abgelaufen und was unmittelbar danach geschehen ist. Diese Sicherheit gründet sich auf intensive Gespräche mit meiner Mutter und ihre Erinnerungen an den 15. März 1968 und auf meine nicht logisch erklärbare Herzens-Überzeugung: »Genau so muss es gewesen sein damals, als Gott wollte, dass ich lebe!«

Ich bin splitternackt und es geht mir gut. Sehr gut! Ich habe alles, was ich brauche: Nahrung, Wärme und irgendwie rundherum gute Gefühle.

Obwohl? So ganz stimmt das nicht. Heute nicht. Heute fühlt es sich anders an, irgendwie unruhiger. Zumindest seit ein paar Stunden. Es rumpelt und gluckert um mich herum. Mehr als sonst. Gedämpft nehme ich aufgeregte Menschen da draußen wahr, die irgendetwas vorbereiten, was mit mir zu tun hat.

Der Herzschlag meiner Mutter, dem ich stets so nah bin, ist schneller als sonst. Schneller, wuchtiger, unregelmäßiger. Okay! Es ist etwas enger hier drinnen geworden in den letzten Wochen, aber das ist noch lange kein Grund umzuziehen! Warum denn auf einmal so ein Stress? Hoffentlich beruhigt sich die Lage gleich wieder!

»Herr Doktor, ich glaube Sie können sich schon einmal bereit machen. Bei der Frau Hock geht das jetzt langsam los«, höre ich dem Treiben zu und spüre, dass Veränderungen mit großer Tragweite wohl nicht mehr abwendbar sind. Auch mein Herz pocht jetzt heftiger als sonst.

Irgendetwas drückt massiv. Dann wieder diese Stimme: »Oh! Steißlage!« Mit heftigem Druck werde ich aus meiner wunderbaren Behausung, in der es mir die letzten neun Monate so gut ging, in einen viel zu engen Kanal gepresst.

Sag mal, packt mich da jemand am Hintern?! Wieder Druck. Panik! Was soll denn das alles? Kann es nicht einfach für immer so bleiben, wie es ist?

Danach geht es verhältnismäßig schnell und ziemlich brutal weiter. Ich bin nicht sicher, ob ich das alles überleben werde, was mir da gerade passiert: Stöhnen vor Schmerzen, Kommandos, Druckwellen, Herzrasen, Enge, heftiges Schaukeln, Schwindel, Panik, Atemnot, wieder Druck und plötzlich wird es verdammt hell. Hell und richtig kalt.

»Es ist ein Junge!«

Ich bin jetzt vollkommen schutzlos! Blut und andere glibberige Massen kleben überall, auch in meinem Mund und meinen Nasenlöchern. Ich will schreien. Es geht nicht.

Dass hinter mir meine total erschöpfte Mutter liegt, merke ich nicht. Dass vor mir eine Frau und ein Mann total erschrocken sind, nehme ich irgendwie wahr. Auch dass der Mann im weißen Kittel sehr schnell dafür sorgt, dass ich auf einen Untersuchungstisch gebracht werde, entgeht mir nicht.

»Was isch donn do los? Der kreischt jo gar net, der Bu!«, ruft meine Mutter sorgenvoll im Pfälzer Dialekt.

Der Gynäkologe, der ihr immer noch den Rücken zudreht, mich verdeckt und untersucht, antwortet: »Der kreischt glei, awwer er hot ebbes on de Ärm!« (»Der schreit gleich, aber etwas mit seinen Armen stimmt nicht.«)

Meine Mutter fragt zunächst nicht weiter nach, sie ist zu erschöpft. Fühlt sich kraftlos und hilflos. Die Untersuchungen mit dem Hörrohr während der Schwangerschaft meiner Mutter sind alle unauffällig gewesen. Niemand hat etwas Außergewöhnliches bemerkt – bis jetzt.

Ich bin immer noch unter Schock und immer noch so still wie später mein ganzes Leben nicht mehr. Ich werde sauber gewischt und es wird weiter an mir herumgedoktert. Ich bemerke eine gedrückte und traurige Stimmung im Kreißsaal und spüre, dass ich wohl der Grund dafür bin.

Endlich kann ich schreien und tue dies auch. Vielleicht aus Wut. Die Hebamme bringt mich frisch gesäubert und eingewickelt zu meiner Mutter und legt mich auf ihren Bauch. Meine allererste, kleine Bühne!

»Da bin ich, Mama! Wahrscheinlich nicht ganz so, wie du dir das vorgestellt hast, tut mir leid. Entschuldigt alle hier im Kreißsaal! Ich wollte euch bestimmt nicht erschrecken!«

Irgendwann am Abend sind meine Mutter und ich endlich ganz allein in einem Klinikzimmer. Nicht, weil meine Eltern sich den Luxus eines Einzelzimmers leisten können, sondern vielmehr deshalb, weil man andere Wöchnerinnen durch meine Anwesenheit nicht beunruhigen will.

Es ist so aber auch genau richtig für Mama und mich. Schön, dass wir beide jetzt endlich einmal allein sind! Sie legt mich an ihre Brust und ich beruhige mich. Angeschmiegt an warme weiche Haut ist es zwar nicht ganz so angenehm wie in der Gebärmutter, aber doch durchaus akzeptabel.

Ich glaube, meine liebe Mutter ist noch ziemlich aufgewühlt. Sie schaut mich an. Was sie wohl denkt? »Wie soll des donn alles werre? Wie solle ma donn des alles schaffe? Ma wääß jo noch gar net, was der Bu noch fer Behinnerunge hot?« (»Wie soll das bloß alles werden? Wie sollen wir das alles schaffen? Wer weiß, was der Junge vielleicht noch für Behinderungen hat?«)

Ich verfolge mit meinen glänzenden Augen wachsam ein flackerndes Deckenlicht. Kein Rampenlicht, wie es mich später in Koblenz und anderswo erwarten wird, einfach eine stinknormale, defekte Neonröhre. Mal flackert sie auf der einen, mal auf der anderen Seite. Da flackert plötzlich wohl auch etwas im Herzen von Mama auf, die mich beobachtet. Eine wohltuende Wärme breitet sich aus. Freude bricht sich Bahn. Endlich etwas Mutterglück. Sie bleibt mit ihren Gedanken im Heute, im Hier, im Jetzt. Dies ist spürbar für mich, denn Mama wird ruhiger. Ihre Ruhe überträgt sich über die Muttermilch auch auf mich. Die Nabelschnur wurde gekappt, eine neue Leitung ist gelegt.

Dankbar beobachtet meine Mutter meine interessierten Augen und weiß ganz plötzlich: »Also am Kopp hot der Bu nix!« (»Also eine geistige Behinderung hat der Junge nicht!«)

Das scheint Trost und Ermutigung genug. Genug für jetzt. Genug für diesen Moment. Genug für uns beide.

Mama streichelt meinen Kopf und gibt mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Die Deckenleuchte verliert an Bedeutung und ich schaue in das Gesicht meiner Mutter. Ich fühle mich geborgen. Sie schaut mich an. Sie nimmt mich an. Sie lächelt. Fürs Erste bin ich in Sicherheit. Vielleicht lässt es sich hier draußen doch leben?!

Hier, auf dieser großen Weltbühne!

3

VERABREDUNG IM KELLER MEINER GEDANKEN

Irgendwie bin ich immer auf einer Bühne, immer auf irgendeinem Präsentierteller. Bin einfach nie inkognito, mit meiner besonderen Figur. Sobald ich mich in freier Wildbahn bewege, werde ich beobachtet. Mal verstohlen aus dem Augenwinkel heraus, mal direkt, mit weit aufgerissenen Pupillen wie bei einer Waldohreule. Unzählige Augen haben mich seit meiner Geburt vor über einem halben Jahrhundert beobachtet, manche angestarrt.

Lachende Augen, die mich ermutigt haben. Barmherzige Augen, die mich getröstet haben. Schöne Augen, die mich angezogen haben. Gierige Augen, die mich ausgezogen haben. Elektrisierende Augen, die mich gierig gemacht haben. Bedrohliche Augen, die mich in die Flucht geschlagen haben. Traurige Augen, die mich verunsichert haben. Unehrliche Augen, die mich wütend gemacht haben. Vielsagende Blicke ohne Worte. Leere Blicke mit vielen Worten.

Viele Augen-Blicke in meinem Leben habe ich nicht vergessen. Diese Beobachtungen machten und machen jede Alltagssituation zu einem kleinen Bühnenauftritt: Vorhang auf! Wir spielen heute das Stück: Bernd an der Supermarktkasse!

Das Bezahlen beim Discounter an der Kasse ist unter normalen Umständen ein recht unspektakulärer Moment. Es sei denn, man hat gerade sechzehn Leute hinter sich in der Schlange und einem selbst fällt das Portemonnaie aus der Hand und die Geldmünzen rollen munter auf dem Boden herum. Die Bühne ist bei mir nicht der Augenblick, der Moment, als solcher, sondern es sind die Augen-Blicke, die Augen, die aus der Schlange hinter mir heraus auf mich blicken. Diese Menschen, die mich beobachten, werden rasch zu Publikum. Meinem Publikum!

Wenn ich gut drauf bin und es mir zum Beispiel auf Anhieb gelingt, mit meinen drei Fingern mein Portemonnaie aus meiner Tasche zu holen, Cent für Cent aus dem Geldbeutel zu fummeln und das Münzgeld der Verkäuferin abgezählt hinzulegen, dann genieße ich den stillen Applaus des Schlangen-Publikums hinter mir in Form von anerkennenden Augen-Blicken: Beeindruckend, wie der das kann. Oft gab und gibt es auch lauten Applaus! Anerkennung! Lob! Ehrliche und tiefe Wertschätzung! Zahlreiche Augenblicke allerdings waren bedrohlich und einige, so erinnere ich mich, hatten nahezu Vernichtungspotenzial.

Genau vor diesen vernichtenden Blicken, vor diesen Bedrohungen, hat er mich in über fünf Jahrzehnten immer zuverlässig und sicher bewahrt. Keinen einzigen Tag hat er sich freigenommen, nie hat er wegen Krankheit gefehlt. Niemals hat er gestöhnt, dass ihm die Arbeit zu anstrengend sei. Stets hat er dafür gesorgt, dass ich mit meiner Situation leben konnte und in relativer Sicherheit war. So manches Mal hatte ich es ihm zu verdanken, dass ich überlebt habe. Er war immer zur Stelle, höchst effektiv und zu einhundert Prozent verlässlich.

Dabei kenne ich ihn gar nicht richtig. Genau genommen weiß ich noch nicht allzu lange, dass es ihn überhaupt gibt und was ich ihm alles zu verdanken habe. Und heute sind wir verabredet. Ich will ihn treffen. Will ihn kennenlernen. Nicht um mich zu bedanken. Nicht um mit ihm gemeinsam ein Dienstjubiläum zu feiern. Nein! Ich möchte ihn treffen, um ihn zu feuern! Rausschmeißen will ich ihn! Kündigen! Fristlos! Deshalb habe ich mich auf diesen Weg gemacht, um ihn zu treffen. Von seiner Existenz erfahren habe ich in einer psychotherapeutischen Sitzung.

Am Anfang kam mir das etwas komisch vor. Ich glaube an Gott! Ich glaube an einen liebenden Gott! Glaube an Jesus Christus, an die Kraft des Evangeliums! Da brauche ich doch nicht noch irgend so einen, so einen … so einen … Wächter. Wächter, ja, so haben wir ihn genannt in dem Therapiegespräch.

Mir ist mulmig zumute. Ich fühle mich, als würde ich einen kalten dunklen unterirdischen Gang betreten. Irgendwie tue ich das auch, wenn ich mich so ins Erinnern und Reflektieren begebe. Ich mache das immer öfter in letzter Zeit. Versuche, zu rekonstruieren, wo so manche Verhaltensweisen von mir herkommen. Will erkennen und verstehen, in welchen Situationen was, wie und durch wen genau in mich hineingeprägt wurde. Wo Verletzungen entstanden sind und wo ich fast unmerklich verschiedene Schutzmechanismen entwickelt habe, die in diesem inneren Wächter zusammengefasst sind. Ich steige sozusagen hinab in den Keller meines Unterbewusstseins.

Und das fühlt sich tatsächlich an wie ein dunkler Gang. Kühl ist es auch. Kalt wird mir ums Herz, wenn ich gedanklich zu weit vordringe. Manchmal wage ich es nicht, weiterzudenken, so wie man sich im Dunkeln auf einer Kellertreppe nicht weitertraut. Dann muss ich mich behutsam vortasten in meinen Gedanken. Das fällt mir mitunter ziemlich schwer. Genauso wie es mir im realen Leben schwerfällt, mich mit meinen kurzen Armen in der Dunkelheit irgendwo entlangzutasten.

Unsicherheit überkommt mich: »Warum habe ich mich auf diesen blöden Weg gemacht?«, rufe ich, um mich nicht ganz im Unterbewusstsein zu verlieren. »Weil es so nicht mehr weitergehen kann, Bernd!«, schießt es mir sofort durch den Kopf.

Mein Herz schlägt kräftig und schnell. Sehr schnell und unregelmäßig. Schweißperlen drängen auf meiner Stirn von innen nach außen, um sich ihren Weg an den Schläfen hinunter zum Hals zu bahnen. Ich habe Angst! Angst vor dem, was ich vielleicht da in meinem tiefsten Inneren finden werde.

Plötzlich sehe ich vor meinem inneren Auge ein Licht. Eigentlich ist es nur ein kleiner heller Schimmer. Wirklich nur ein klein wenig Helligkeit und ich weiß, dass ich noch weit abschweifen muss, bis meine Gedanken aus der Dunkelheit heraus dieses Licht berühren können. Soll ich meine innere Reise abbrechen oder mich weiter vorwagen?

Im Rückspiegel meines Lebens erkenne ich bei genauerem Hinsehen ganz deutlich, dass es mich und die Umstände um mich herum stets positiv verändert hat, wenn ich mich dafür entschieden habe, aus dem Dunkeln heraus ins Licht zu treten. Sichtbar zu werden. Unsichtbar ist nichts für mich. Für die Unsichtbarkeit bin ich nicht gemacht. Unscheinbar ist kein Adjektiv, welches mich zutreffend beschreibt. Daher bin ich lieber öffentlich, offensiv, angreifbar. Obwohl, ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich das lieber bin. Aber hatte ich bisher eine Wahl?

Tatsache ist, dass das Leben am intensivsten wird, wenn man sich aus der Deckung wagt. Im Verborgenen regieren Tristesse und Langeweile. Man spürt nichts, irgendwann nicht einmal mehr sich selbst. Es gibt dann kein Feedback von anderen, mit dem man sich auseinandersetzen müsste. Doch in dem Moment, in dem ich mich aus der Deckung in die Öffentlichkeit wage, prasseln die Reaktionen der anderen auf mich ein wie Hagelkörner in einem heftigen Graupelschauer. Kleine Hagelkörner, die einfach so an mir abtropfen, aber auch größere Brocken, die Dellen verursachen. Zwischendurch gibt es aber auch wohltuende lauwarme Regenschauer der Bewunderung.

Eine Ausgewogenheit wäre schön. Eine Balance zwischen einem unbeachteten Leben und einzelnen Reaktionen von anderen.

Oh Mann, ist das alles kompliziert! Ich brauche jetzt erst mal Schokolade! Schokolade und Marzipan!

4

MITLEID, MARZIPAN UND EINE HELDENTAT

Marzipan und Schokolade waren eigentlich immer genug da. Bis heute.

War ich als Kind noch auf die »Auslieferung der Ware« durch alte Menschen, die Mitleid mit mir hatten, angewiesen, so erhalte ich meine absolute Lieblingsschokolade Ritter Sport Marzipan heute an jeder Tanke.

Diese Schokoladentafel in ihrer rot glänzenden Hülle hat durchaus so ihre Tücken. Nicht dass ich etwa Schwierigkeiten hätte, die Leckerei aus der Verpackung zu lösen. Nein, das mit dem Knicken und Aufreißen bekomme ich locker mit zwei Fingern auf meinem Oberschenkel im Auto hin. Sogar angeschnallt. Das Durchbrechen der Schokoladentafel an der Sollbruchstelle verursacht jedoch Schokokrümel, die mir beim Essen unbemerkt überall hinfallen, vorzugsweise in die Brusttasche meines Oberhemdes, wo sie kleine braune Flecken auf dem Stoff erzeugen.

Ich passe einfach nicht genug auf. Ich esse dieses Zeugs viel zu hastig, fresse es regelrecht. Ach könnte ich Süßigkeiten doch mehr genießen und langsamer, ja achtsamer essen. So wie meine frühere Kommilitonin Anja.

Wir begannen unseren gemeinsamen Studientag Anfang der Neunzigerjahre nicht selten mit einem Käffchen und einem Schokoriegel. Bei schönem Wetter setzten wir uns vor dem Unigebäude auf die Treppe. Wenn Anja zum ersten Mal an ihrem Kaffee nippte, hatte ich meinen Riegel bereits komplett inhaliert. Kurz bevor wir zu unserer Vorlesung aufbrachen, packte auch Anja ihren Schokoriegel aus, betrachtete ihn und biss genüsslich ein Stückchen ab. Sie kaute lange, bevor sie die Köstlichkeit ihren Hals hinuntergleiten ließ. Die restlichen zwei Drittel wickelte sie wieder in das Papier, verstaute alles in ihrer Tasche und wir beide gingen studieren. In der Mittagspause packte Anja die Schokolade erneut aus, biss wieder ab, genoss und steckte das letzte Drittel abermals in ihre Tasche. Am Ende des Studientages, wenn wir erneut auf der Treppe vor dem Gebäude saßen, ließ sie das letzte Stück der Köstlichkeit auf ihrer Zunge zergehen. Menschen mit einem solch achtsamen Essverhalten haben meinen höchsten Respekt.

Ich hingegen verschlinge Schokolade, und dies meist heimlich. Genieße nicht im Licht, sondern fresse Süßes oft im Dunkeln. Süßigkeiten sind für mich nicht in erster Linie ein gelegentliches Genuss-, sondern eher ein schambehaftetes Suchtmittel und erfüllen unterbewusst Funktionen, die sich mir noch nicht bis ins Detail erschlossen haben, sondern vielmehr irgendwo in der hintersten Ecke vergraben sind. Nur ganz kurz, genau in dem Moment, in dem die Schokomasse meine Mundhöhle ausfüllt, genieße und entspanne ich für einen Augenblick. Danach quält mich sofort mein schlechtes Gewissen wieder – und mein starkes Übergewicht.

Eine große Rolle spielte Schokolade schon, als ich noch ein Kind war, besonders im Zusammentreffen mit alten Menschen – fast immer mit alten Damen, um präzise zu sein. Die Begegnungen liefen stets nach einem ähnlichen Schema ab: Eine alte Frau sah mich irgendwo in freier Wildbahn, entdeckte meine kurzen Arme, lächelte mich an und kippte fast unmittelbar und meist weinerlich einen Container Mitleid über mir aus. Ich wurde verlegen und unsicher, konnte die Traurigkeit meines Gegenübers nicht einordnen, spürte aber, dass ich sie einfach nur mit meinem Dasein ausgelöst hatte. Dies verunsicherte mich. Was nun? Sollte ich Trost spenden? Die alte Frau streichelte mir dann fast immer ungefragt über den Kopf, bevor ihre Hand in eine Lederhandtasche griff und eine Tafel Schokolade zum Vorschein brachte. Diese wurde mir fast immer mit den gleichen Worten übergeben: »Da, Biewel, hoscht e Schoklaad.« (»Hier, mein Junge, hast du eine Tafel Schokolade.«)

Ich begriff nicht, was sich da abspielte, bemerkte aber, dass sich im Moment der Schokoladenübergabe ein Happy End ankündigte und sich die Lage deutlich entspannte. Also verinnerlichte ich unbewusst. »Schokolade entspannt! Schokolade heilt! Schokolade macht alles wieder gut!« Meist bekam ich Sarotti, manchmal Alpina und selten Lindt. Sarotti mochte ich nicht, Alpina ging und Lindor von Lindt war das große Los.

Heute müssen Kinder bis zum 31. Oktober warten, sich übelst verkleiden, sich schreckliche Fratzen ins Gesicht schminken, allen Mut zusammennehmen, an Haustüren klingeln und Menschen mittels sinnfreier Reime zur Herausgabe von Süßigkeiten nötigen. Ich hatte manchmal sogar mehrmals täglich mein ganz persönliches, gruseligsüßes Straßen-Halloween, bekam Saures verpackt in Süßem.

Einem Kind mit einer offensichtlichen Körperbehinderung gibt man Schokolade. Einem geschwächten Igel gibt man Milch. Einem obdachlosen Bettler am Straßenrand gibt man nichts, der kauft sich sowieso nur Alkohol. Alle drei Thesen sind Bullshit!

Natürlich wurde ich nicht von Anfang an mit Schokolade ernährt. Als ich meinen holprigen Umzug von der Gebärmutter auf die Bauchdecke meiner Mutter erfolgreich hinter mich gebracht hatte, gab es erst einmal Muttermilch.

Für meine Ursprungsfamilie, meine Großeltern und besonders für meinen drei Jahre älteren Bruder Rainer war es mehr als eine schwere Herausforderung, als meine Eltern mit mir vom Krankenhaus nach Hause kamen. Da wurde nicht einfach das süße kleine Baby, der knuffige Nachwuchs, heimgebracht. Ich war nicht einfach der neue, der jüngste Hock, ich war auch ein Schock! Doch nach einer gewissen Zeit stellte sich so etwas wie Normalität ein. Wunden der Traurigkeit und Verzweiflung verheilten, Narben auf den Seelen blieben bis zuletzt. Teilweise sind sie heute noch da. Ich glaube, bei uns allen.

Im Großen und Ganzen entwickelte ich mich gut, wurde akzeptiert und geliebt. Nur der allererste Moment in der Begegnung von mir und anderen Menschen war halt immer anders. Man erschrak zunächst. Man wusste nicht so recht, ob einen nun das hübsche, meist fröhlich lächelnde Kindergesicht erfreuen oder die fehlgebildeten Arme traurig machen sollten. Auch heute noch stört es mich enorm, ängstigt und verunsichert mich, ja macht mich manchmal fast wütend, wenn ich das Gefühl habe, dass Leute bei meinem Anblick erschrecken.

Thomas Gottschalk moderierte 151-mal die Samstagabendshow Wetten, dass …?Dallas