Heike Malisic · Beate Nordstrand

Trau

dich

Neues wagen und
den eigenen Weg finden

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7514-2 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2021 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart

Dieses Buch ist den Lebenshungrigen gewidmet,
den Weltverbesserern, den Mutigen.
Aber erst recht den Mutlosen.

Zwar gibt es keine genaue Anleitung für Lebenskunst,
aber Heike und Beate haben herausgefunden,
dass Mut und Risiko sich lohnen. Statt schnöder Theorie liefern die beiden Freundinnen mal wieder jede Menge Beispiele aus ihrem Alltag.

Inhalt

Über die Autorinnen

Einleitung

Es war einmal …

Trau dich zu scheitern …

Trau dich, erfolgreich zu sein …

Trau dich, deinen Traum wahr werden zu lassen …

Trau dich, Entscheidungen zu treffen …

Trau dich, es zu probieren …

Trau dich, verletzbar zu sein …

Trau dich, großzügig zu sein …

Trau dich, Pause zu machen …

Trau dich, glücklich zu sein …

Was wir dir noch sagen wollen

Anmerkungen

Über die Autorinnen

HEIKE MALISIC (Jg. 1966) arbeitet seit 1998 freiberuflich als Fachfrau für Ernährungs- und Gewichtsmanagement, Coach und Referentin. Mit ihrer Familie lebt sie in Oberkirch.

BEATE NORDSTRAND (Jg. 1960) ist selbstständige Diätassistentin. Sie referiert deutschlandweit zu unterschiedlichen Aspekten der ganzheitlichen Gesundheit. Mit ihrer Familie lebt sie in Würzburg.
 
Gemeinsam haben die beiden »Lebe leichter« und »Body, Spirit, Soul« entwickelt.

Wir, das sind Heike Malisic und Beate Nordstrand, seit 2003 Freundinnen, seit 2005 ein unschlagbares Team.

»Wie wäre es …?« – mit dieser Frage begannen etliche E-Mails, Telefonate, Sprach- und WhatsApp-Nachrichten, die hin- und hergingen, um über den Inhalt dieses Buches zu beraten. Wenn wir ein neues Projekt im Kopf haben, dann sprudeln unsere Ideen nur so über. Wir denken laut, schreiben schnell, sind aufgeregt, jubeln, schweigen, spinnen Ideen weiter, speichern sie ab. Wir lassen Gedanken wieder fallen, schlafen ein paar Nächte drüber, sammeln weiter, verwerfen einiges und irgendwann haben wir einen Plan. Dann werfen wir all die guten Ideen in einen Topf, rühren um, fertig.

Das, was dabei herausgekommen ist, hältst du gerade in den Händen.

Ich, Heike, hatte zuerst mit einem Buch über Ruhe und Achtsamkeit geliebäugelt. Die letzten zwei Jahre haben mich gesundheitlich doch sehr mitgenommen und mich zu mehr Ruhe gezwungen. Beate hatte eher den Titel »Trau dich« im Kopf. Zeitgleich war die Idee eines Podcasts entstanden.

Jede von uns hatte ein paar Ideen. Kurze Überlegung, ob wir einen gemeinsamen Podcast herausbringen oder jede einen für sich. Beides hat Vor- und Nachteile. Und eigentlich könnte auch jede von uns mal ein eigenes Buch schreiben. Wir müssen ja nicht alles zusammen machen.

Aber immer wieder bekommen wir das Feedback, dass wir zu zweit ein unschlagbares Team sind. Na ja, wir glauben sowieso, dass unsere Freundschaft im Himmel arrangiert wurde. »Wenn jetzt jede von uns alleine was beginnt, dann denken die Leute, wir haben uns nicht mehr lieb«, witzelte Beate. Das wollen wir natürlich auf keinen Fall. Also schreiben wir zusammen.

Die Zwangspause und -ruhe kam während des Corona-Shutdowns im Frühling 2020. Alle unsere Auswärtstermine waren abgesagt worden. Für uns eine völlig unbekannte Situation, die wir gerne so genommen haben, wie sie kam. Abends rechtzeitig ins Bett. Täglich ausgedehnte Spaziergänge. Eine perfekte, ausgewogene Work-Life-Balance. Gearbeitet haben wir trotzdem. Motivierende Newsletter verschickt, Impulse für Lebe leichter und Body Spirit Soul1 geschrieben, unsere Lebe-leichter-Coaches und Body-Spirit-Soul-Kursleiterinnen mit Ermutigung versorgt und die ersten Podcast-Folgen aufgenommen. Und währenddessen gingen unsere Überlegungen hin und her, wie ein neues Buch aussehen könnte.

Dabei stand uns unser zehnjähriges Lebe-leichter-Jubiläum 2021 vor Augen. Vor zehn Jahren haben wir uns auch ganz schön was getraut und sind über uns hinausgewachsen. Wir sind selber immer wieder erstaunt, was seitdem passiert ist und wie wir uns immer mehr zugetraut haben. Unser großes Anliegen besteht darin, Menschen zu ermutigen, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Eben: sich was zu trauen.

So entstand die Idee unsere eigenen Traudichs mit dir zu teilen.

»Wie wäre es, wenn wir einfach mal Traudichs sammeln und daraus die Hauptkapitel machen?«

»Wie wäre es, wenn wir zu den Kapiteln unsere eigenen Traudich-Geschichten schreiben, unsere persönlichen Siege und Pleiten, private und berufliche?«

»Wie wäre es, wenn wir mal so richtig ausholen und verraten, was uns im Leben stärker gemacht hat? Unsere Erfolge, aber auch unsere Niederlagen?«

»Wie wäre es, wenn sich jede zuerst einmal ein paar Kapitel raussucht und die passenden Geschichten dazu schreibt?«

»Wie wäre es, wenn erst einmal jede nur ein Kapitel schreibt, um zu schauen, wie das zueinander passt?«

»Wir wäre es, wenn wir auf unsere Unterschiedlichkeit zu sprechen kommen?«

»Wie wäre es, wenn wir mal erzählen, unter welchen Umständen wir groß geworden sind?«

Beate und ich haben ganz unterschiedliche Erfahrungen in unserer Kindheit gemacht. Während Beate in glücklichen Verhältnissen aufwuchs, Liebe, Geborgenheit und Annahme erfahren hat, verlief meine Kindheit eher unter schwierigen Umständen.

Weil die Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich unter dem Einfluss der Erfahrungen in der Kindheit stattfindet, fangen wir einfach mal beim Anfang an.

Heikes Geschichte

Ich habe keine Ahnung, wie meine Mutter damals reagierte, als sie feststellte, dass sie mit mir schwanger war. Die Beziehung zu meinem Vater endete so schnell, wie sie begonnen hatte. Übrig geblieben war ich. Vor ein paar Jahren erzählte mir meine Mutter die ganze Geschichte aus ihrer Sicht. Sie lebte damals noch bei ihrer alleinerziehenden Mutter. Ihren Vater kannte sie kaum, da die Ehe ihrer Eltern geschieden wurde, als meine Mutter noch sehr klein war. Meine Oma war eine strenge Frau, die es nicht zuließ, dass meine Mutter mich bei sich großzog. Im sechsten Monat schwanger musste sie in ein Mütterheim, damit die Nachbarn bloß nicht mitbekamen, dass sie ein uneheliches Kind erwartete. Es waren die Sechziger.

Sofort nach meiner Geburt kam ich für einige Zeit in ein Kinderheim, danach wurde eine Pflegefamilie für mich gefunden. Mein Urvertrauen war angeknackst. Ein Jahr später kam mein Vater zurück. Für meine Mutter damals die einzige Möglichkeit, mich wieder zurückzubekommen. Damit begann das Desaster. Es gab viel Streit, Gewalt und unschöne Erfahrungen, bei denen ich nicht ins Detail gehen möchte. Meine Eltern haben es sicherlich so gut gemacht, wie sie eben konnten, aber als Kind habe ich die Folgen der katastropalen Ehe zu spüren bekommen.

Das Grundgefühl, an das ich mich erinnere, war Angst.

Angst, verlassen zu werden, Angst, allein zu sein, Angst, nicht geliebt zu sein, Angst vor Versagen, Angst, Erwartungen nicht zu entsprechen, Angst vor Unberechenbarkeit, vor dem Donnerwetter, Angst, mich zu blamieren, Ärger zu bekommen, nicht genug zu haben, zu kurz zu kommen, keine Freunde zu haben, zu widersprechen.

Als Kind war mir das nicht so bewusst, aber durch den Kontakt zu anderen bekam ich eine Ahnung davon, dass Familie eigentlich anders gelebt wird.

Die schönsten Erinnerungen habe ich an Weihnachten. Wenn mein Vater mit uns zur Oma fuhr, wir dort den Nachmittag verbrachten und währenddessen meine Mutter den Tannenbaum schmückte und die Geschenke unter den Baum stellte. Nach unserer Rückkehr mussten wir vor der geschlossenen Wohnzimmertür warten, bis Mutter das Glöckchen klingelte. Weihnachten war immer Frieden. Auch bei uns.

Eins meiner Highlights war meine große Barbie-Ausstattung. Ich hatte eine Tante in Amerika, die uns regelmäßig zu Weihnachten Pakete schickte. Für mich waren immer Barbie und Co. dabei. Schon in den 70ern hatte ich einen Swimmingpool, einen Campingwagen, ein Zelt und anderes Zubehör, das es in Deutschland noch nicht zu kaufen gab. Mit meinen Barbie-Figuren spielte ich regelmäßig heile Familie. An einem Tag kam mein Vater von der Arbeit nach Hause und es gab ein riesiges Donnerwetter wegen unserem unaufgeräumten Zimmer. Er beförderte meine komplette Barbie-Sammlung in die große Mülltonne vor unserem Haus. Die Nachbarskinder bekamen davon Wind und freuten sich über neues Spielzeug. Ich muss damals neun Jahre alt gewesen sein.

Solche Ausbrüche haben sich seitdem wiederholt. Mein Herz fing jedes Mal vor Angst an zu rasen, wenn mein Vater im Anmarsch war. Wenn ich aus meinem Zimmer heraus die Autotür hörte, wenn er die Treppe hochkam, den Schlüssel in die Wohnungstür steckte. Ich war immer in Habachtstellung. Ich teilte mir damals mit meinem drei Jahre jüngeren Bruder ein Zimmer. Wir zwei lagen schon im Bett, da gab es mal wieder einen Streit zwischen meinen Eltern. Plötzlich riss mein Vater die Tür zu unserem Zimmer auf und machte ein großes Theater, weil es nicht aufgeräumt war. Er zog alle Schränke auf und schmiss unsere ganzen Sachen auf den Boden. Danach bekamen wir beide eine Tracht Prügel. Mein Bruder und ich saßen anschließend weinend im Bett und legten einen Schwur ab: »Das werden wir ihm NIE verzeihen.« Wir verabredeten sogar ein Codewort, mit dem wir uns über Jahre an diesen Schwur erinnerten. Sehr viel später erst erkannte ich, wie wichtig Vergebung ist.

Ordnung gehörte nicht zu meinen Fähigkeiten, sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Auch die schlimmsten Disziplinarmaßnahmen brachten nicht den gewünschten Erfolg. Der einzige Ort, an dem ich Ordnung lernte, war bei meiner Oma. Sie wachte mit Argusaugen darüber, dass ich meine Sachen SOFORT an den Platz räumte, wo sie hingehörten. Ich verbrachte meine Ferien gerne bei ihr. Trotz ihrer Strenge. Bei ihr musste ich mit geradem Rücken auf dem Stuhl sitzen. Hin und wieder mit Bügel im Rücken. Ihr habe ich wohl meine gerade Haltung zu verdanken. Während sie täglich mit einer Kehrmaschine den Teppich saugte, musste ich mit einem Kamm die Teppichfransen gerade kehren. Meine Oma brachte mir das Stricken, Häkeln und Nähen bei. »Langes Fädchen, faules Mädchen«, lehrte sie mich. Und: »Halte Ordnung, liebe sie, es erspart dir viel Zeit, Arbeit und Müh.« Sie kochte den allerleckersten Wirsing. Bei ihr war Ruhe und Beständigkeit.

Es gab vieles, was ich mir anders gewünscht hätte, aber es war nicht alles schlecht. Als Kind, das in den Siebzigerjahren groß wurde, gehörten Gummitwist und Seilspringen zu meinen Lieblingssportarten. Und Hula-Hoop. Bis heute schaffe ich es, stundenlang mit Schwung den Ring über die Taille zu schwingen. Gelernt ist gelernt. Was ich nie gut konnte: Handstand, werfen und fangen. »Das kannst du wirklich nicht«, bestätigen auch meine Kinder. Außer Basketball. Körbe werfen klappt.

Als ich 12 Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Ich blieb mit meinem Bruder umständehalber bei meinem Vater, seiner neuen Partnerin und ihrer Tochter. Wir zogen damals vom Dorf in die Großstadt. Wir wohnten in Köln, meine Mutter zog nach Bremen. Sie lernte einen neuen Partner kennen und heiratete wieder. Ich weiß noch, als ich sie damals das erste Mal zusammen mit meinem Bruder besuchte. So viel Ruhe, Geborgenheit und Harmonie hatte ich noch nie in meinem Leben erfahren. Für mich stand fest: Ich ziehe zu ihr. Noch im Zug auf der Rückfahrt von Bremen nach Köln erzählte ich meinem Bruder davon. Er war sofort hellauf begeistert und wollte auch. Drei Wochen später zog er um.

Warum ich die Entscheidung traf, doch nicht zu gehen, weiß ich nicht mehr. Vielleicht wollte ich meinen Vater nicht enttäuschen. Vielleicht erhoffte ich mir aber auch ein besseres Leben, wenn ich mit ihm allein blieb. Ich war damals 13 oder 14 und die pubertierende Egozentrik hatte mich voll im Griff. Das führte unter anderem dazu, dass es mir in der Schule wichtiger war, beliebt zu sein, als gute Noten zu schreiben. Die achte Klasse wiederholte ich freiwillig, weil ich sonst mit dem Französischunterricht nicht hätte weitermachen können. Aber auch in den folgenden Jahren nahm ich das mit dem Lernen nicht so wichtig. Ich tat das Nötigste, um den Durchschnitt zu halten. Außer in meinem Lieblingsfach: Mathematik. Logisches Denken war schon immer meine Stärke. Wenn es heute bei uns am Tisch ums Rätselraten geht, rufen die Kinder schon immer: »Mama macht nicht mit.«

Als junges Mädchen hatte ich einige Träume. Einige traute ich mich anzugehen, andere nicht. Ich wollte gerne Klavier spielen lernen und tanzen. Mein Vater stellte mich vor die Wahl: Klavierunterricht oder Tanzschule. Ich wählte die Tanzschule.

Das war ab sofort das Highlight meiner Woche. Bei einem Wettbewerb gewann ich sogar den zweiten Platz und sah mich schon als Profitänzerin auf der Bühne. Mit 15 Jahren kam der Wachstumsschub. Innerhalb von ein paar wenigen Monaten schoss ich auf 1,76 m in die Höhe. Superschlank, mit langen Beinen bekam ich damals den Vorschlag, mich als Model zu bewerben. Lach jetzt ruhig, aber wenn dir so was im Alter von 16 Jahren gesagt wird, dann bist du schon geschmeichelt und beginnst, von einer Karriere zu träumen. Aber nur kurz, denn natürlich wusste ich, dass Tanzen und Modeln brotlose Künste sind. Außerdem wollte ich sowieso Nachrichtensprecherin werden, am liebsten bei der Tagesschau. Leider lispele ich etwas, vor allen Dingen, wenn ich aufgeregt bin, und damit war dieser Traum schon zerplatzt, bevor er richtig geträumt war.

In der Schule standen die Praktika an. Mit meinem Zahlenverständnis brauchte ich nicht lange zu überlegen. Ich ging zur Bank. Nach dem Praktikum war mir klar: Ich werde Bankkauffrau. Doch auf jede meiner Bewerbungen bekam ich eine Absage.

Zu Hause spitzte sich die Situation zwischen meinem Vater und mir zu. Ich war mittlerweile 16 Jahre alt und wurde quasi zu Hause eingesperrt. Zur Schule gehen, putzen, lernen und lesen waren die einzigen Dinge, die ich durfte. Dabei wäre ich zu gerne mit Freunden auch abends zum Tanzen gegangen. Ich wurde rebellischer und mutiger. Einmal habe ich mich widersetzt, mit dem Ergebnis, dass plötzlich mein Vater vor mir in der Disco stand.

Es gab so viele andere Situationen, an die ich mich gar nicht mehr erinnern und die ich auch nicht erzählen möchte. Kurz vor meinem 17. Geburtstag stand ich wieder vor der Entscheidung wegzugehen. Ich war drei Wochen bei meiner Mutter zu Besuch und hatte gehofft, dass sie mich fragen würde, ob ich zu ihr ziehen wolle. Ich selbst traute mich nicht zu fragen. Was würde passieren, wenn sie Nein sagte? Praktisch gesehen war ein Umzug schwierig, da sie zusammen mit ihrem neuen Mann und meinem Bruder in einer 3-Zimmer-Wohnung lebte. Wo sollte ich da unterkommen?

Zurück von meinem Besuch eskalierte es zu Hause. Ich wusste, mein Vater würde mich niemals gehen lassen. Ich traf meine Entscheidung. Ohne ihm oder meiner Mutter Bescheid zu sagen, packte ich ein paar Sachen zusammen und verließ Köln. Für immer. Das war am 11. April 1983, zwei Monate vor meinem 17. Geburtstag. Während der gesamten Zugfahrt hatte ich Angst, dass mein Vater mein Fehlen frühzeitig bemerken und mich an irgendeinem Bahnhof abfangen würde. Auch wusste ich nicht, wie meine Mutter reagieren würde.

Als ich bei ihr zu Hause ankam und die Treppe zu ihrer Wohnung hochlief, stand sie an der Tür, schlug die Hände vors Gesicht und rief: »Kindchen, was machst du denn hier?« »Mama, schick mich bitte nicht wieder weg.« Dann brach ich in Tränen aus und fiel ihr um den Hals. Für meine Mutter war völlig klar, dass ich bleiben konnte. Sie hatte nur nicht erwartet, dass ich zu ihr ziehen wollte. Wir hatten uns beide damals nicht getraut zu fragen. Nach all den Jahren der Angst war das die mutigste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. Meine Mutter sagt heute noch: »Es war die beste Entscheidung deines Lebens.«

Anfangs schloss ich mich bei jedem Klingeln an der Haustür im Badezimmer ein. Ich hatte Angst, dass mein Vater mich wieder zurückholen wollte. Er drohte meiner Mutter ständig damit am Telefon. Und er weigerte sich, mir meine persönlichen Sachen zu schicken. Ich weiß, dass ich ihn mit meinem Weggang sehr verletzt habe. Ihm war vor allen Dingen das Ansehen anderer Leute sehr wichtig. Jetzt hatten ihn beide Kinder verlassen. Auch wenn unser Verhältnis so schwierig war, er hat mich dennoch geliebt. Ich ihn auch. Es vergingen ein paar Jahre, bis wir uns versöhnten.

Nachdem meine Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht und später das Sorgerecht bekommen hatte, entspannte ich mich etwas. Es war wie ein Durchatmen. Mein Leben nahm eine 180-Grad-Wende. Meine schulischen Leistungen verbesserten sich schlagartig und ich bekam plötzlich Lust zu lernen. Der ganze emotionale Leistungsdruck von zu Hause war weg. Ich lernte nicht mehr, um meinem Vater gerecht zu werden, sondern weil ich das wollte. Ich schloss die Realschule als Zweitbeste meines Jahrgangs ab und bekam schon nach dem ersten Halbjahr die Empfehlung, weiter auf das Gymnasium zu gehen. Meine Mutter empfahl mir damals den »sicheren« Weg. Im öffentlichen Dienst gab es ein paar freie Ausbildungsplätze. Ich schrieb zwei Bewerbungen, eine an das Gymnasium, eine an den Senat der Stadt Bremen. Die Zusagen kamen zeitgleich.

Noch heute hadere ich ein wenig damit, dass ich kein Abitur gemacht habe, aber hätte ich den Weg aufs Gymnasium gewählt, wäre mein Leben komplett anders verlaufen. Während der Berufsschulzeit habe ich meine Freundin Karin kennengelernt, die mich damals mit in ihre Kirche nahm. Dort habe ich zum Glauben an Jesus gefunden, habe meine Werte verändert, meinen Mann kennengelernt und Freundschaften geschlossen, die bis heute währen.

Für mich ist es eins der größten Wunder, wie ich mich trotz meiner schwierigen Vergangenheit entwickelt habe. Wie ich alte, festgefahrene Erfahrungen, Charakterzüge und Generationsentwicklungen durchbrechen konnte und ein selbstbestimmtes und glückliches Leben führen kann. Die Ehe meiner Eltern war geschieden, die meiner Großeltern auch, auch die Eltern und Großeltern meines Mannes waren getrennt. Ich habe, ohne noch näher ins Detail zu gehen, Dinge gesehen, gehört und erlebt, die ein Kind nicht hätte sehen, hören oder erleben dürfen.

Darum erzähle ich dir meine Geschichte. Es ist definitiv wahr, dass deine Kindheit über deine Persönlichkeitsentwicklung mitentscheidet. Aber das heißt nicht, dass du nicht jederzeit die Möglichkeit hast, deinem Leben eine Wende zu geben. Es gibt Menschen, die aus den schwierigsten Verhältnissen kommen und ein erfolgreiches, selbstbestimmtes Leben führen. Und andere wiederum, bei denen alles nach Plan lief, die ein gutes Elternhaus hatten, Freunde an jeder Hand, umhegt und gepflegt wurden und die dennoch ihr Leben an die Wand fahren.

Mutig zu sein ist eine Entscheidung und Angst zu haben gehört dazu.

Am Ende zählt nicht, woher du kommst, sondern wohin du gehst.

Oder wie C. S. Lewis schrieb: »Du kannst nicht zurück und den Anfang ändern, doch du kannst da beginnen, wo du bist, und das Ende ändern.«

DAS IST MIR WICHTIG

• Auch wenn deine Vergangenheit schwierig war, gab es schöne Momente. Fokussiere dich darauf.

• Du hast die Möglichkeit, festgefahrene Charakterzüge und Generationsentwicklungen zu durchbrechen.

• Gott hat den besten Plan für dein Leben.

• Mutig zu sein ist eine Entscheidung. Angst zu haben gehört dazu.

• Am Ende zählt nicht, woher du kommst, sondern wohin du gehst.

Beates Geschichte

»So eine große Frau und so ein kleines Kind«, scherzte der Arzt bei meiner Geburt. Ich war ein Sandwichkind, das dritte von vier Kindern. Meine älteren Geschwister und ich kamen innerhalb von drei Jahren zur Welt und meine Eltern bauten gerade ein Haus. »Mehr Kraft war da wohl gerade nicht drin«, lächelte meine Mutter, wenn sie von früher erzählte. Aber sie war eine Vollblutmutter, die täglich mit uns in den Wald ging. Im Herbst sammelten wir Eicheln und Kastanien, um mit Streichhölzern daraus zu Hause Tiere zu basteln. Wenn wir aus dem Kindergarten und der Schule kamen, duftete es schon von Weitem nach Mittagessen. Vorher gab es frisch gepressten Obst- oder Möhrensaft.

»Ihr habt uns Kindern eine Steilvorlage fürs Leben gegeben«, ehrte ich meinen Vater in meiner Laudatio anlässlich eines runden Geburtstags. Schwimmen, Sportverein, Musikunterricht und kirchliches Leben gehörten wie selbstverständlich zu unserer Kindheit.

Ich war eine leidenschaftliche Wasserratte, am liebsten unter Wasser, und zwar so lange, bis ich vor Kälte bibberte. Das bescherte mir regelmäßig Mittelohrentzündungen, die schließlich chronisch wurden. Meine erste Frage bei den Ohrenarztbesuchen: »Wann darf ich wieder schwimmen?« Bis ich 22 war, hatte ich jedes Jahr mehrmals Mittelohrentzündungen. Die letzte verschwand, als ich eines Abends mit Freunden zusammensaß und sie mit mir dafür beteten. Seitdem glaube ich an Wunder.

Meine älteren Geschwister waren Leichtathleten, ich ging zum Turnen und liebte Ballett. Monatelang übte ich Spagat und Flickflack, weil meine Mutter mir versprochen hatte, wenn ich eine bestimmte Position beherrschte, bekäme ich ein Tutu, das typische Tanzkleid der Balletteusen. Obwohl ich die Position irgendwann konnte, habe ich das Tutu nicht gekriegt. Ich hab’s verschmerzt, aber vergessen habe ich es nicht.

Mit meiner Rechenschwäche brachte ich meine Mutter schon in der Grundschule zur Verzweiflung, sodass sie einen Mitschüler für die Nachhilfe engagierte.

Mein Vater war ehrenamtlicher Organist und spielte jeden Sontag in der katholischen Kirche die Orgel. Außerdem leitete er den Kirchenchor und den Männergesangsverein. Musik gehörte bei uns zum Alltag.

Meine Mutter konnte wunderschön singen und ich bewunderte sie sehr. An eine Situation kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich bin mit meiner Mutter in der Kirche und strahle sie an: »Mama, es gibt keine Frau, die so schön singt wie du.« »Ach«, wehrte Mutter verschämt ab, »das stimmt doch gar nicht.« Als kleines Mädchen konnte ich nicht verstehen, warum sie mein kindliches Lob abwehrte.

Scham will dir einreden, du bist nicht schön genug, schlau genug, schlank genug – und du singst nicht schön genug. Ist Scham vererbbar?

Eine weitere Erinnerung taucht auf, da war ich schon 20: Wir sitzen mit Freunden zusammen und machen Musik. Der Gitarrist spielt mein Lieblingslied, ich freue mich und singe laut mit, bis ich merke, dass ich die Einzige bin, die den Text kennt und jetzt noch mitsingt. Die anderen hören zu. Plötzlich kommen die Fragen hoch: Singe ich schön genug? Soll ich weitersingen? Ist das nicht peinlich? Ich bringe das Lied zu Ende, alle klatschen, aber in mir bleibt das Gefühl, mich verletzbar gemacht zu haben.

Scham will dir einreden, dass du besser unsichtbar sein solltest, den Mund nicht aufmachen solltest, weil andere dann vielleicht sehen, dass du nicht perfekt bist – und du es gar nicht wert bist, dasss man dich beachtet.

Ich habe gelernt, dass Verletzbarkeit annehmen heil werden bedeutet. Dass ich perfekt bin, auch wenn ich Unperfektheit zeige. Dass ich es wert bin, den Applaus zu bekommen. Dass ich es wert bin, beachtet zu werden. Aber es war ein Prozess. Wie viele »Ichtraumichnichts« wohl auf Scham beruhen? Vielleicht helfen dir unsere Beispiele, falsche Scham abzulegen und unverschämt mutig zu werden.

Meine Mutter war eine attraktive Frau. Ich liebte es, wenn sie sich für besondere Gelegenheiten schön machte, die Haare sorgfältig frisierte, Lippenstift auflegte und eines ihre wunderschönen Kleider trug. Einige Kleidungsstücke habe ich noch in lebhafter Erinnerung, die wollte ich auf jeden Fall haben, wenn ich erwachsen bin. Was mich als Mädchen oft wunderte: dass sie sich nicht jeden Tag so schön machte. Mutter war Hausfrau, viel im Garten, viel im legeren Freizeitlook gekleidet. Immer ordentlich, aber ich liebte den Glamourfaktor, der sie umgab, wenn der Anlass es verlangte. Meine Vorliebe für schöne Kleider begann also schon in der Kindheit. Im Gegensatz zu meiner Mutter trage ich sie täglich – und Lippenstift benutze ich auch.

Wie heute erinnere mich an einen Eklat im Flötenunterricht. Das war der Tag, an dem meine Lehrerin herausfand, dass ich die mit der Gruppe geübten Stücke zwar einwandfrei beherrschte, aber keine Noten lesen konnte. Da hatte ich mich erfolgreich durchgeschummelt. Meine Lehrerin war empört.

Als Kind las ich und las und las. Ich liebte die Romane von Enid Blyton. »Hanni und Nanni«. »Fünf Freunde«. Einmal bekam ich mehrere »Dolly«-Bände zu Weihnachten geschenkt und versank schon am Heiligabend so tief in meine Lektüre, dass das erste Buch ausgelesen war, als meine Eltern und Geschwister aus der Christmette kamen. Besuche in der Schulbücherei waren mein Highlight. Natürlich bin ich später eine Lesemutter geworden, die ihren Kindern stundenlang vorlas. Und wenn sie eingeschlafen waren, las ich weiter. Auch heute ist meine Leselust ungebremst. Ich besitze nach wie vor einen Büchereiausweis und es ist ein Feiertag, wenn ich ein paar Stunden in einer großen Buchhandlung schmökern kann.

Mein Vater wachte mit Strenge über die schulischen Leistungen meiner älteren Geschwister und die Schimpfe beim Lateinabhören und Klavierüben ließ mich schon früh nach Auswegen suchen, um Ärger zu vermeiden. Statt Klavier lernte ich Gitarre und ging auf die Realschule, mit Wahlfach Französisch. Das konnte Papa beides nicht. Durchgeschummelt oder einfach kreativ? Auf jeden Fall beschäftigte ich mich lieber mit Lösungen als mit Problemen.

Meine Realschulzeit verlief reibungslos. Ich hatte Freundinnen und kam gut mit. Das Dramatischste war mein Jahr Magersucht mit 14. Darüber erzähle ich dir im Kapitel »Trau dich, verletzbar zu sein« mehr. Meine Eltern haben sich zu Recht Sorgen gemacht, denn am Schluss war ich klapperdürr. Es kam aber nicht so weit, dass ich ärztliche Hilfe gebraucht hätte, denn nach ziemlich genau einem Jahr kam die Wende: Wir hatten Besuch. Es gab leckeres Essen und meine Cousine kam mit frisch belegten Laugenstangen auf mich zu und bot mir eine an. »Warum eigentlich nicht«, dachte ich und fing wieder an zu essen. Gott sei Dank. Meist gehen solche Erkrankungen nämlich nicht von alleine weg, sondern erfordern psychologische und medizinische Hilfe.

Ganz sicher hat dieses einschneidende Jahr dazu beigetragen, dass ich später meinen Wunschberuf als Diätassistentin ergriffen habe.

Aus meiner Realschulzeit fallen mir kleine Mutanfälle wie die Sache mit der Stinkbombe ein. Stolz bin ich nicht darauf, aber sie zeigt etwas von meinem Charakter, spannende Sachen einfach mal auszuprobieren, statt lange zu zaudern. In der Pause hatten wir Schüler uns darauf geeinigt, eine Stinkbombe zu zertreten. Ich glaube, wir wollten die letzten beiden Stunden frei bekommen. Und da lag die Stinkbombe in einem Glasröhrchen auf dem Boden des Klassenzimmers und keiner traute sich draufzutreten. Diese Unentschlossenheit ging mir so gegen den Strich, dass ich den Job übernahm. Die ganze Klasse bekam eine Strafarbeit und ich einen Brief an die Eltern.

Motivationscoach Mel Robbins hat die »5-Sekunden-Regel« erfunden.2 Wenn eine Entscheidung ansteht, sagt sie, gibt unser Gehirn uns fünf Sekunden, um sofort zu handeln. Zaudern wir länger, stellt sich unser Gehirn in den Weg. Um schneller und vor allem öfter ins Handeln zu kommen, empfiehlt sie, schlicht runterzuzählen: 5-4-3-2-1 und Action.

Ohne diese Regel gekannt zu haben, traf ich Entscheidungen schon als Kind intuitiv und schnell.

Kirchliches Engagement war für uns selbstverständlich. Jahrelang leitete ich eine Kindergruppe, ich war im Kirchenchor und in der katholischen Jugend. Ebenso jobbte ich in den Schulferien. Von dem ersparten Geld kaufte ich mir eine bessere Gitarre und später eine rote Vespa.

Die erste Spritztour unternahm ich mit meiner Schwester Dorothee. Ohne uns von den Eltern zu verabschieden, brachen wir zu einem Spontanbesuch bei den 170 Kilometer entfernten Verwandten auf. 1976 gab es weder Handys noch Navis. Ziemlich stolz riefen wir abends zu Hause an.

Mit meiner Vespa konnte ich zur weiterführenden Schule in der Nachbarstadt fahren. Mit ihr fuhr ich nachmittags zur Theater-AG und abends zum Tanzen. Ich liebte die Feste auf den Dörfern und blieb so lange weg, wie ich durfte. Meine Eltern wussten, sie konnten sich auf mich verlassen.

Nur einmal wollten sie mich abends nicht fortlassen. Da musste ich kreativ werden. Als alle schliefen, schlich ich mich aus dem Haus und ließ den Motor des Rollers erst in sicherer Entfernung an. Als ich nachts in mein Zimmer schlich, saß im Sessel ein Gespenst. Nein, meine Mutter.

Die rote Vespa wurde mein Markenzeichen und ich hab sie geliebt. Erst acht Jahre später, als ich mit unserer ältesten Tochter schwanger war, habe ich sie weitergegeben.

Mit 18 Jahren kam die große Wende. Ich erlebte den Unterschied zwischen »christlich« und Christ. Ich hatte Gott ja nie angezweifelt und war gut in unsere katholische Kirchengemeinde integriert. Aber mein Glaube war ein Kopfding und hatte nichts mit meinem Herzen zu tun.