SPRECHEN SIE
COACH?
SPRECHEN SIE
COACH?
Wie Sie im Training richtig kommunizieren, um die Leistung Ihrer Athleten nachhaltig zu verbessern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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Wichtige Hinweise
Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle Fitnessberatung oder medizinische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und der Autor haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.
Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
1. Auflage 2021
© 2021 by riva-Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Türkenstraße 89, 80799 München
Tel.: 089 651285-0, Fax: 089 652096
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 bei Human Kinetics unter dem Titel The Language of Coaching. The Art and Science of Teaching Movement. © 2021 by Nicklaas Winkelman. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Carmen Achter
Redaktion: Christoph Hellwig
Umschlaggestaltung: Keri Evans, Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildung: shutterstock/Michal Sanca
Layout: Kelly Hendren
Satz: abavo GmbH, Buchloe
Druck: Florjančič Tisk d.o.o., Slowenien
ISBN Print 978-3-7423-1615-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1310-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1311-6
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
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Für meine Liebste: Du bist meine Wahrheit, meine beste Freundin
und meine wichtigste Inspirationsquelle.
Für Gracie und Madden: Findet etwas, das ihr liebt, und gebt alles.
Für Maddy, Roxy und Keg: Ihr werdet für immer unser Chaos sein.
Vorwort
Einleitung
TEIL 1 LERNEN
1 WIE WIR UNS DINGE ANEIGNEN
Lernen: Eine Einführung
Das Leistungsprofil
Der Prozess
Der Unterschied zwischen Leistung und Lernen
Zusammenfassung
2 WIR BITTEN UM IHRE AUFMERKSAMKEIT!
Aufmerksamkeit: Eine Einführung
Wie Aufmerksamkeit funktioniert
Unfokussiertheit
Sich fokussieren
Im Fokus
Zusammenfassung
3 WISSEN SIE NOCH ...?
Gedächtnis und Erinnerung: Eine Einführung
Was befindet sich in unserem Gedächtnis?
Das Arbeitsgedächtnis
Das Langzeitgedächtnis
Gedächtnisinhalte generieren
Zusammenfassung
TEIL 2 COACHEN
4 DEN FOKUS FINDEN
Cueing: Eine Einführung
Auf der Suche nach dem richtigen Cue
Die dunkle Seite des Cues
Versagen unter Druck
Zusammenfassung
5 CUES ERZEUGEN
Cues konstruieren: Eine Einführung
Das 3-D-Modell für Cues
Internale Cues klären
Part 3: Clarifying Internal Cues
Zusammenfassung
6 MIT ANALOGIEN ARBEITEN
Analogien: Eine Einführung
Kognitive Karten
Das Prinzip der Ähnlichkeit
Das Prinzip der Vertrautheit
Zusammenfassung
TEIL 3 CUEING
7 DER FAHRPLAN
Gewohnheiten: Eine Einführung
Die Macht der Gewohnheit
Cueing-Gewohnheiten
Gewohnheiten ändern in drei Schritten
Auf Cue-Fang
Zusammenfassung
8 CUEING IM KRAFTTRAINING
Oberkörper | Druckübung | horizontal: Kurzhantel-Bankdrücken, beidarmig
Oberkörper | Druckübung | vertikal: Kurzhantel-Schulterdrücken, beidarmig
Oberkörper | Zugübung | horizontal: Kurzhantel-Rudern, einarmig, einbeinig
Oberkörper | Zugübung | vertikal: Klimmzug
Unterkörper | Druckübung | Frontkniebeuge, beidbeinig
Unterkörper | Druckübung | einbeinige Kniebeuge zur Bank
Unterkörper | Druckübung | Split-Kniebeuge mit erhöhtem hinteren Fuß
Unterkörper | Zugübung | Rumänisches Kreuzheben, beidbeinig
Unterkörper | Zugübung | Rumänisches Kreuzheben, einbeinig
9 CUEING UND SCHNELLKRAFT
Strecksprung mit Ausholbewegung, beidbeinig
Mit Ausholbewegung | Horizontalsprung, beidbeinig
Mit Ausholbewegung | Vertikalsprung, einbeinig
Mit Ausholbewegung | Seitsprung mit Beinwechsel
Ohne Ausholbewegung | Wurf aus der Hocke
Ohne Ausholbewegung | vertikaler Schockwurf
Ohne Ausholbewegung | Druckpass
Ohne Ausholbewegung | Drehwurf
10 CUEING UND SCHNELLIGKEIT
Lineare Geschwindigkeit | Dreipunktstart
Lineare Geschwindigkeit | Beschleunigung
Lineare Geschwindigkeit | absolute Geschwindigkeit
Multidirektionale Geschwindigkeit | 45-Grad-Cut (Richtungswechsel)
Multidirektionale Geschwindigkeit | Sidestep-Cut (Seitwärtsbewegung)
Multidirektionale Geschwindigkeit | 180-Grad-Cut
Multidirektionale Geschwindigkeit | Crossover (Übergang) in den Sprint
Multidirektionale Geschwindigkeit | Crossover-Lauf
Multidirektionale Geschwindigkeit | Drop-Step (Rücksetzschritt) in den Sprint
Multidirektionale Geschwindigkeit | Rückwärtslaufen (Backpedal)
ANHANG
Über den Autor
Dank
Quellen
Bildnachweis
Jeder große Moment im Sport geschieht zweimal. Zuerst geschieht er im Moment des Triumphs, in diesem atemberaubenden, spannungsgeladenen Augenblick, in dem ein Sportler ein spielentscheidendes Tor schießt, den Ball spektakulär mit den Fingerspitzen hält oder ein wichtiges Rennen gewinnt. Das sind die sportlichen Höhepunkte, die den meisten von uns in Erinnerung bleiben. Aber es gibt einen anderen Moment, der einige Sekunden später stattfindet, außerhalb vom Scheinwerferlicht. Es ist der persönliche Moment der Freude, in dem Athlet und Coach zusammenkommen. Der Moment, in dem die beiden sich abklatschen, umarmen oder einfach nur breit angrinsen. In diesem Moment sind Worte überflüssig, da ist nichts, was es zu sagen gäbe. Einfach nur die herzerwärmende geteilte Gewissheit: Hey, wir haben es geschafft!
Der erste Moment des Triumphs ist berauschend – er ist der Grund, warum wir Sport lieben. Mir persönlich bedeutet jedoch dieser zweite Moment mehr, es ist für mich der größere Moment. In ihm ist der komplette gemeinsame Weg enthalten, den der Sportler und der Coach gemeinsam gegangen sind, mit all seinen Verrücktheiten, der Verzweiflung, den Schmerzen, der Inspiration. Und jedes Mal, wenn wir diesen Moment des Glücks erleben dürfen, wirft er dieselbe Frage auf: Wie schaffen wir es, dass er öfter eintritt? Anders gesagt: Was genau zeichnet ein wirklich gutes Coaching aus? Und genau darum geht es in diesem Buch.
Historisch und traditionell betrachtet hat erstklassiges Coaching etwas Magisches. Dieser Auffassung folgend liegt die Magie vor allem in der Person des Coaches: in seinem genauen Blick, seiner Intuition und der Art, wie er mit Menschen umgeht. Daher halten wir Startrainer wie Wooden, Lombardi, Stengel und Popovich für Zauberer. Diese Denkweise hat ihre Berechtigung, aber sie bringt auch einige Probleme mit sich. Erstens ist sie unwissenschaftlich. Wir leben in einer Welt, in der die Kompetenzen von Ärzten, Ingenieuren, Architekten und anderen Experten auf einem Fundament aus evidenzbasierter Forschung und stetig verbesserten Methoden basieren. Die Coaching- und Trainingskultur hingegen hat sich, aus welchem mysteriösen Grund auch immer, als weitgehend immun gegen die Wissenschaft erwiesen, sodass den Coaches nichts anderes bleibt, als anhand der vagen und unzuverlässigen Leitsterne Tradition, Intuition und anekdotenhafte Überlieferung zu navigieren. Manchmal funktioniert das gut. Aber tief im Innersten ist es unklar. Selbst bei den grundlegendsten Fragen schwingt Ungewissheit mit: Wie lässt sich die Praxis am besten gestalten? Was ist die beste Vorgehensweise beim Feedback? Zudem entsteht auf diese Weise eine Welt von Nachahmern. Wenn Sie sehen, dass erfolgreiche Trainer oder Coaches ihre Athleten anbrüllen, dann gehen Sie ganz selbstverständlich davon aus, dass das die beste Art ist, jemanden zu coachen. Wenn Sie beobachten, dass andere erfolgreiche Trainer ihren Athleten etwas zuflüstern, gehen Sie davon aus, dass sie damit richtigliegen. Wenn Sie verfolgen, dass wieder andere ihren Athleten auf einer freundschaftlichen Ebene begegnen, halten Sie das für das richtige Vorgehen. Aber was ist wirklich das Richtige? Glücklicherweise gibt es einen besseren Weg, den uns eine neue Generation von Forschern und Coaches weisen. Sie schlagen eine Brücke zwischen der Welt der Wissenschaft und dem Coaching-Handwerk – und keiner von ihnen tut das auf eine wirkungsvollere Art und Weise als Nick Winkelman.
Ich habe Winkelman 2017 im Tagungsraum eines Hotels in Goodyear, Arizona, kennengelernt. Winkelman war zu einer Besprechung mit den Cleveland Indians angereist, einem US-amerikanischen Baseballteam, für das ich beratend tätig bin. Anders als ihre mächtigen Konkurrenten können es sich die Indians nicht leisten, Talente zu kaufen; wir müssen sie selbst aufbauen, und deshalb sind wir geradezu besessen von allem, was mit dem Verständnis und der Verbesserung der Coaching-Werkzeuge zusammenhängt. An jenem Tag war der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt, darunter Trainer und Coaches, Leute aus dem operativen Management, Mitarbeiter aus der Spielerentwicklung, der General Manager und der Teampräsident – eine Ansammlung von rund 50 Menschen. Die meisten wussten nicht viel über Winkelman. Ihnen war lediglich bekannt, dass er aus dem Rugby kam, einen Hintergrund aus dem Hochleistungsbereich mitbrachte, seinen Doktortitel im motorischen Lernen erworben hatte und einige faszinierende Forschungsarbeiten zu den Themen Aufmerksamkeitsfokus und Cueing durchgeführt hatte. Die Atmosphäre war von gespannter Erwartung und vielleicht auch ein wenig Skepsis erfüllt. Dann begann er zu sprechen.
»Um anpassungsfähige Spieler hervorzubringen, müssen wir als Coaches selbst fähig sein, uns anzupassen«, sagte er. Dann zeigte er uns, wie das gelingen könnte. Zwei Tage lang nahm Winkelman unsere Gruppe mit in die geistige Landschaft zwischen Athlet und Coach und kartierte sie für uns. Er setzte bei den Grundlagen an, beginnend bei Gabriele Wulfs Forschung zu internen und externen Cues – sprich: Hinweisreizen –, und arbeitete sich dann bis zur Kunst der Praxisgestaltung vor. Er lieferte uns einen Werkzeugkasten mit klaren, umsetzbaren Ideen. Seine Ausführungen waren fesselnd, nützlich und haben unseren geistigen Horizont erweitert. Im Anschluss habe ich zu Winkelman gesagt, er solle ein Buch schreiben. Er schmunzelte und antwortete: »Ich bin schon dabei.« Und genau dieses Buch liegt nun vor. Ich will es ihm selbst überlassen, seine Arbeitsweise zu erklären, aber ich möchte Ihnen schnell noch zwei Ratschläge mitgeben. Erstens: Halten Sie beim Lesen einen Bleistift oder Textmarker bereit – Sie werden sich mit Sicherheit Notizen machen wollen. Und zweitens: Erstellen Sie eine Liste mit den Trainern und Coaches, die für Ihre eigene Entwicklung bedeutsam waren – Sie werden ihnen mit Sicherheit ein Exemplar dieses Buches zukommen lassen wollen.
Dieses Buch kommt in einem weiter gefassten Sinn genau zur rechten Zeit, denn die Welt des Sports dreht sich schnell. In den letzten paar Jahren hat die Datenrevolution die Beziehung zwischen Athlet und Coach radikal neu definiert. Wir leben in einer Welt, in der Freizeitgolfer und Hobbyläufer in einem Maß Zugang zu Leistungsdaten haben, von dem Profisportler vor zehn Jahren nicht einmal träumen konnten. Diese Entwicklung hat eine ganze Reihe drängender Fragen aufgeworfen: Welchen Mehrwert können Coaches in einer Welt bieten, in der Athleten Zugriff auf derart genaues Feedback haben? Können Sie sich von künstlicher Intelligenz coachen lassen? Was genau ist Training beziehungsweise Coaching überhaupt? Während einige fürchten, dass die Datenrevolution das Ende des klassischen Trainings und Coachings bedeutet, würde ich genau das Gegenteil behaupten: Trainer und Coaches werden sogar noch wichtiger. Das zeigt uns die Art und Weise, wie sich die Idee des Coachings aus dem Sport immer weiter in die Wirtschaft und andere Lebenszusammenhänge hinein ausbreitet. Es ist durchaus vorstellbar, dass in nicht zu ferner Zukunft jeder einen Coach haben wird, der ihn im Hinblick auf seinen Beruf, seine Beziehungen, seine Fitness, Ernährung oder sein Führungsverhalten – eben in Bezug auf alles, was für ihn wichtig ist – begleitet. Das heißt, dass die Fragen, denen Winkelman in diesem Buch nachgeht, genau diejenigen sind, die auch künftig unsere Leitfragen sein werden: Wie kommuniziert man mit Menschen auf eine Art, die ihre Fähigkeiten freisetzt? Wie identifiziert und überwindet man Widerstände? Diese Fragen spielen nicht nur im Sport eine Rolle, es sind Lebensfragen. Indem wir ihnen auf den Grund gehen, setzen wir unseren Lernprozess in Bezug auf die Lektion, die Winkelman uns auf diesen Seiten erteilt, fort: Die Magie liegt nicht darin, wer der Coach ist, sondern darin, was er tut.
Daniel Coyle
Autor von Erfolg braucht kein Talent
Kommen wir gleich zum Kern der Sache: Sie wollen wissen, worum es in diesem Buch geht und was es Ihnen bringt. Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich mich mit Ihnen über zwei Voraussetzungen abstimmen:
Treffen diese Vorannahmen nicht zu, dann ist dies vermutlich nicht das richtige Buch für Sie. Haben Sie sich dagegen bei einem zustimmenden Nicken ertappt, sollten Sie weiterlesen.
Ich glaube, dass sich das Potenzial dieses Buches am besten erschließt, wenn Sie es aus dem Blickwinkel Ihrer individuellen beruflichen Gegebenheiten betrachten. Stellen Sie sich daher kurz den Zusammenhang vor, in dem Sie die in diesem Buch gesammelten Ideen anzuwenden gedenken. Wenn Sie zum Beispiel Trainier im American Football sind, visualisieren Sie sich selbst beim Trainingseinsatz. Sind Sie Sportlehrer, dann visualisieren Sie sich selbst im Unterricht. Sind Sie Physiotherapeut, dann visualisieren Sie sich selbst bei einer Behandlungssitzung. Nachdem Sie sich Ihren individuellen Kontext bildlich vorgestellt haben, füllen Sie ihn jetzt mit einer tatsächlichen Lehrsituation, mit der Sie in der Vergangenheit konfrontiert waren. Bei unserem Footballtrainer könnte das eine Übungseinheit zur Technik des Tacklings sein, bei unserem Sportlehrer eine Gelegenheit, bei der er Grundschülern das Passen im Fußball beigebracht hat, und bei unserem Physiotherapeuten eine Situation, in der er einen Patienten dabei unterstützt hat, das Bewegungsmuster beim Beugen der Knie wieder zu lernen.
Lassen Sie das Lehrszenario wie einen Film vor Ihrem inneren Auge ablaufen. Nehmen Sie, während Sie zusehen, wahr, wie Sie mit Ihrem Gegenüber kommunizieren. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf die Verbindung zwischen dem, was Sie sagen, und der Art, wie die Trainierenden sich bewegen. Denken Sie über folgende Fragen nach, während Sie sich selbst in Aktion beobachten:
Das Szenario, das Sie sich geistig vor Augen gerufen haben, zeigt einen einmaligen Moment der Vermittlung. Wenngleich jeder dieser Momente für sich genommen unbedeutend scheinen mag, entscheiden sie in der Summe darüber, was ein Mensch lernt. Das Lernen entscheidet darüber, was er mitnimmt. Das Lernen bestimmt über sein Vermögen, die Verbesserungen seiner Bewegungsabläufe zu integrieren. Es bestimmt darüber, zu welchem Grad er fähig ist, diese Veränderungen unabhängig von Ihnen einzusetzen – ohne den Trainer, Coach oder Therapeuten, der ihn unterstützt hat. Dementsprechend steckt in jedem Vermittlungsmoment ein Potenzial für das Lernen. Allerdings gibt es – wie jeder, der Bewegung lehrt, bestätigen wird – keine Garantien. Ob wir mit einem Kunden arbeiten, der zuverlässig alles zu vergessen scheint, sobald er das Fitnessstudio verlässt, oder mit einem Athleten, der mit großem Einsatz daran arbeitet, im Spiel dieselbe Leistung wie im Training zu erbringen – jeder, der sich beruflich mit Bewegung beschäftigt, weiß, wie flüchtig Lerneffekte sein können.
Hier, am Schnittpunkt von Lehren und Lernen, beginnt unsere Geschichte. Bevor ich fortfahre, ist es mir allerdings wichtig, einige Begrifflichkeiten zu klären. Wenn wir über Lehren und Lernen sprechen wollen, müssen wir uns darüber verständigen, wie wir die Person, die lehrt, und die, die lernt, nennen wollen. Diese Paarbildung kann durch vielerlei Bezeichnungen vorgenommen werden: Lehrender – Studierender, Personal Trainer – Kunde, Therapeut – Patient, Elternteil – Kind, Coach – Sportler und so weiter. Dass ich mich in diesem Buch für das Begriffspaar Coach – Sportler (beziehungsweise Athlet) entschieden habe, liegt einzig und allein an meinen beruflichen Wurzeln im Kraft- und Konditionstraining. Ich betone den Grund für diese Wahl, weil es wichtig ist, dass Sie sich in dem Wort »Coach« wiederfinden, und in der Bezeichnung »Sportler« diejenigen, mit denen Sie arbeiten. Wichtig ist mir, dass Sie wissen, dass dieses Buch universell anwendbar ist auf alle Berufe auf dem Gebiet der Bewegung, auch wenn meine Begriffswahl auf die Kombination »Sportler« und »Coach« verweist.
Ich habe mich in meiner gesamten beruflichen Laufbahn einem Ziel verschrieben: zu verstehen, wie Menschen lernen, sich zu bewegen. Um genau zu sein, geht es mir um das Verständnis desjenigen Teils des Lernprozesses, auf den Coaches den größten Einfluss haben. Nach Jahren des Studiums, der Anwendung und Reflexion bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass man den Einfluss eines Coaches auf das Lernen am besten versteht, wenn man ihn in zwei Kategorien geteilt betrachtet: auf der einen Seite die Trainingsprogrammgestaltung und -durchführung und auf der anderen das Coaching. Bei der Entwicklung von Trainingsprogrammen geht es um alle physischen Anforderungen, vor die der Sportler im Rahmen eines progressiven Trainings gestellt ist (zum Beispiel Drills, Spiele, Übungen, Bewegungen oder bestimmte Fertigkeiten) – das ist das Was. Coaching umfasst alles, was ein Coach sagt, um Einfluss darauf zu nehmen, wie diese physischen Tätigkeiten ausgeführt werden – das ist das Wie. Ich möchte, dass Sie sich selbst zwei Fragen stellen:
Wenn diese beiden Fragen mir zu einem früheren Zeitpunkt meiner Karriere gestellt worden waren, hätte ich, ohne zu zögern, geantwortet, dass ich wesentlich lieber einen Vortrag über Programmgestaltung halten würde und dass ich täglich selbstverständlich mehr Zeit auf das Coaching verwende. Wenn ich raten müsste, würde ich darauf tippen, dass meine Antworten sich mit denen einer großen Mehrheit derer, die das hier lesen, decken. Auf Grundlage meiner Erfahrung würde ich sogar sagen, dass die meisten Fachleute auf dem Gebiet der Bewegung genauso antworten würden. Verstehen Sie die Ironie, die darin liegt?
Obwohl wir weit mehr Zeit mit Coaching als mit dem Erstellen von Trainingsprogrammen verbringen, fällt es den meisten von uns viel leichter, über Letzteres zu sprechen als über Ersteres. Woran liegt das? Ich denke, dafür gibt es zwei Gründe: Erstens werden Sie, wenn Sie sich die Ausbildung von Bewegungsexperten ansehen, feststellen, dass der Fokus bei den Abschlüssen und Zertifikaten weit stärker auf dem Was als auf dem Wie liegt. Zweitens steht das Was mehr im Vordergrund, weil es konkret und sichtbar ist; zudem ist es das Fundament der Bewegungsberufe. Daher verwundert es nicht, dass die Akteure lieber darüber sprechen, was sie tun, als darüber, wie sie es tun. Nichtsdestotrotz haben wir uns bei der Ausbildung der Bewegungsfachleute eines Versäumnisses schuldig gemacht: Unwissentlich haben wir die Förderung des unsichtbaren Handwerks des Coachings vernachlässigt. Wir haben vergessen, dass das Was ohne das Wie wie ein Auto ohne Fahrer ist. Wir haben die auf dem Gebiet der Bewegung Tätigen mit dem Thema alleingelassen und sie einem nicht angeleiteten Lernprozess aus Versuch und Irrtum überlassen, bei dem eher der Zufall als die bewusste Entscheidung regiert.
Mit dem vorliegenden Buch möchte ich diesen Zustand beenden. Dieses Buch versucht, das Unsichtbare sichtbar zu machen, indem es das Zusammenspiel zwischen den Worten des Coaches und den Bewegungen des Athleten untersucht. Im Prinzip handelt dieses Buch daher von Kommunikation und Beziehung. Es handelt davon, wie die Ideen eines Coaches, vermittelt über seine Worte, zu den Bewegungen eines Athleten werden. Es handelt von der Entdeckung, dass die Kunst des Coachings ein wissenschaftliches Geschwister hat und dass die großen Coaches, bewusst oder nicht, die Kunst und Wissenschaft des Coachings auf eine Art und Weise miteinander verwoben haben, die den Athleten am besten gerecht wird. Wenn Sie ebenfalls der Meinung sind, dass die Art wie Sie coachen ebenso wichtig ist wie das Was, dann möchte ich Sie herzlich einladen, mich auf meiner Mission zu begleiten, Coaches dabei zu unterstützen, allen Menschen zu helfen, sich besser zu bewegen, Wort für Wort. Um das zu erreichen, habe ich ein Buch geschrieben, das darauf ausgelegt ist, Bewegungsspezialisten auf allen fachlichen Ebenen und mit allen Arten von beruflichen Hintergründen dabei zu unterstützen, die nötigen Kompetenzen zu erwerben, um Worte mit derselben Präzision zu handhaben wie ein Chirurg sein Skalpell.
Dieses Buch besteht aus drei Teilen. Die Teile 1 und 2 umfassen jeweils drei, Teil 3 vier Kapitel. Jeder Teil beginnt mit einer kurzen Schilderung meiner eigenen Coaching-Reise und der tiefgreifenden Auswirkungen, die Ihr Engagement für das Wie auf Sie selbst und diejenigen, die Sie betreuen, haben kann. In Teil 1, »Lernen«, befassen wir uns mit der Art und Weise, wie Menschen lernen, sich zu bewegen. Ein besonderer Akzent liegt auf den Faktoren, auf die Coaches den größten Einfluss haben. Die Einführung in das Thema Lernen (»Wie wir uns Dinge aneignen«, ab Seite 17) ist in drei Abschnitte geteilt: Der erste hilft Ihnen, anhand eines Leistungsprofils, des 3P-Performance-Profils, den konkreten Coaching-Bedarf zu identifizieren. Der zweite erklärt Ihnen, wie Lernen vor sich geht. Und der dritte erläutert den Unterschied zwischen kurzzeitigen Leistungsveränderungen und dem nachhaltigen Lernerfolg, den wir erreichen wollen. Mit einem grundlegenden Verständnis dafür, was genau Lernen ist, ausgestattet, gehen wir zur Erkundung der Faktoren über, die das Lernen beeinflussen.
In Kapitel 2, »Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit« (ab Seite 35), geht es um den ersten Schritt in jedem Lernprozess: darum, die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache zu richten. In seinen drei Abschnitten bereisen wir das Gehirn und beobachten den Geist, wenn:
Dabei gehe ich auch auf einige einfache Strategien ein, die Sie nutzen können, um die Aufmerksamkeit des von Ihnen betreuten Sportlers zu wecken und aufrechtzuerhalten.
Kapitel 3, »Wissen Sie noch ...?« (ab Seite 58), behandelt den letzten Schritt jedes Lernvorgangs: sich an das Gelernte zu erinnern. Wiederum in drei Abschnitten gibt das Kapitel zunächst eine Einführung zum Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Nachdem wir uns damit befassen, wo Erinnerungen ihren Platz haben, beschäftigen wir uns mit der Frage, wie Erinnerungen entstehen. Zudem gebe ich Ihnen die Schlüssel dazu an die Hand, ein unvergesslicher Coach zu werden, der einen Lernvorgang mit bleibenden Ergebnissen auslöst.
In Teil 2, »Coachen«, untersuchen wir, wie die Worte eines Coaches den Fokus eines Sportlers beeinflussen, und ergründen die Auswirkungen dieses Fokus auf das Bewegungslernen beziehungsweise die Verbesserung von Bewegungsabläufen. Kapitel 4, »Den Fokus finden« (ab Seite 89), beginnt mit einer Aufschlüsselung der Kommunikationsschleife im Coaching, die skizziert, wann und wie Coaching-Sprache benutzt wird, um ein Bewegungsmuster zu installieren oder weiterzuentwickeln. Nachdem wir ein Verständnis für die unterschiedlichen Kategorien der Coaching-Sprache gewonnen haben, wenden wir uns dem sogenannten Cueing zu. Verbale Cues (»Hinweise«) sind kurze Sätze oder Wendungen, die Coaches benutzen, bevor sich ein Athlet bewegt. Wir widmen diesen Cues so viel Aufmerksamkeit, weil sie, wie Sie sehen werden, den größten Einfluss darauf haben, auf was sich ein Sportler fokussiert und was er in der Folge lernt. Im Weiteren behandelt das dreiteilige Kapitel das Cue-Kontinuum und skizziert in einem fesselnden Forschungsbericht die Arten von Cues, die Coaches benutzen sollten, um Lernen und Leistung zu optimieren.
Kapitel 5, »Cues erzeugen« (ab Seite 124), unterstützt Sie beim Ausbau Ihrer Fähigkeiten zum Schaffen und Anpassen von Cues, die sowohl zur Bewegung als auch zu dem Athleten, der sie ausführt, passen. Um das zu erreichen, lernen Sie das 3-D-Cueing-Modell kennen, ein systematisches Vorgehen zur Schaffung und Handhabung von Cues, die demjenigen, mit dem Sie arbeiten, nutzen. Dabei gebe ich Ihnen eine große Bandbreite an Hinweisen (ich nenne sie gerne »Cue-Tipps«!), die Ihnen helfen werden, Ihre Cues so weiterzuentwickeln, dass sie Ihnen auch in den schwierigsten Coaching-Szenarien von Nutzen sind.
In Kapitel 6, »Mit Analogien arbeiten« (ab Seite 171), konzentrieren wir uns auf einen spezifischen Typ von Cues, bei dem wir Analogien einsetzen, also Vergleiche zwischen etwas, das der Athlet kennt und einem Merkmal der Bewegung, die es zu lernen gilt. Indem Sie mit Analogiebildung arbeiten, erlernen Sie eines der machtvollsten Coaching-Werkzeuge, das mir je untergekommen ist. Wenn Sie in der Lage sind, die Erfahrungen und die Sprache Ihrer Athleten zu den Analogien zu verdichten, die Sie beim Coachen nutzen, beschleunigen Sie den Erkenntnisprozess immens und stärken gleichzeitig Ihre Beziehung zueinander.
In Teil 3, »Cueing«, bauen wir das in Teil 2 eingeführte Cueing-Verhalten weiter aus. Kapitel 7, »Der Fahrplan« (ab Seite 202), habe ich für Sie geschrieben, weil ich weiß, wie schwierig es sein kann, seine Kommunikationsweise zu ändern. Daher entwerfe ich in diesem Kapitel einen Plan, der Ihnen hilft, Ihre eigenen Cueing-Gewohnheit zu entwickeln. Nur indem wir eine Gewohnheit genau in Augenschein nehmen, können wir mit ihr brechen, sie infrage stellen und zu etwas Neuem umbauen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Sie die Inhalte dieses Kapitels verstehen, wenn Sie alles aus den sechs vorhergehenden Kapiteln herausholen und in die Praxis umsetzen wollen.
Die Kapitel 8 »Cueing im Krafttraining« (ab Seite 221), 9 »Cueing und Schnellkraft« (ab Seite 249) und 10 »Cueing und Schnelligkeit« (ab Seite 275) enthalten insgesamt 27 Bewegungssequenzen. Diese Beispiele hauchen den Cueing-Modellen und -Tipps mit wunderbaren Bildern Leben ein, auf denen eingefangen ist, was möglich wird, wenn Sprache und Bewegung passgenau aufeinandertreffen. Sie sollen die in diesem Buch vorgestellten Konzepte veranschaulichen, Sie inspirieren und Ihre Kreativität anregen und Ihnen eine Grundlage geben, auf der Sie Ihre Cueing-Routine aufbauen können.
Ich habe dieses Buch speziell für Sie geschrieben. Warum? – Weil Sie wissen, dass Ihr Einfluss auf Menschen aus mehr besteht als aus Sätzen und Wiederholungen. Sie wissen, dass das, was Sie sagen, Gewicht hat, und Sie wissen, dass der Raum zwischen Ihnen und Ihrem Athleten über Ihren Einfluss entscheidet. Die Frage ist: Womit werden Sie diesen Raum füllen?
Wie eine schnell herannahende Sirene störte der ansteigende Ton meines Weckers meinen Schlaf und wies mich eindringlich darauf hin, dass ein neuer Tag heranbrach. Während ich mich in der Dunkelheit orientierte, spürte ich, wie es plötzlich in meiner Brust zu hämmern begann, ein unbarmherziges Schlagen, das sich nicht ignorieren ließ. Das Gefühl war so heftig, dass ich an jedem anderen Tag den Notarzt gerufen hätte. Allerdings war es kein gewöhnlicher Tag. Nein, es war die Art von Tag, die über die berufliche Laufbahn entscheidet, ein Tag, an dem man den Übergang vom Lehrling zum Meister, vom Schüler zum Lehrer vollzieht. Es war der Tag, an dem ich bei EXOS das Vorbereitungsprogramm für den National Football League (NFL) Combine übernahm.
Der NFL-Scouting-Combine, erstmals 1982 durchgeführt, ist das wichtigste Ereignis für Football-Nachwuchstalente, in dessen Rahmen sie zeigen, dass sie bereit sind für den Einsatz in der Profiliga NFL. Diese Talentsichtung findet jedes Jahr in den letzten Februarwochen im Lucas Oil Stadium in Indianapolis, Indiana, statt, zwei Monate vor dem Draft, der Auswahl der Nachwuchsspieler durch die NFL-Klubs. Die etwa 330 vielversprechendsten Kandidaten werden eingeladen, um sich an drei aufreibenden Tagen umfassenden körperlichen und mentalen Tests zu unterziehen. Dieses Ereignis wird von ihnen zu Recht als »wichtigstes Vorstellungsgespräch im Leben« bezeichnet, wenn man bedenkt, dass jedes Jahr mehr Menschen in Harvard aufgenommen werden als in die NFL.
In den ersten zwei Tagen erwarten die Spieler von fünf Uhr morgens an diverse medizinische Untersuchungen und intensive Interviews bis in den späten Abend. Doch seine internationale Strahlkraft verdankt der NFL-Combine dem letzten Tag (der Australian Football ist dem Beispiel mit seinem eigenen AFL Draft Combine gefolgt). Die sogenannten Underware Olympics, ein riesiges Spektakel, bei denen die Spieler ihre körperlichen Fähigkeiten präsentieren müssen, werden landesweit im Fernsehen ausgestrahlt. Jeder Spieler muss einen Vertikalsprung und einen Standweitsprung ausführen, einen 37-Meter-Sprint absolvieren, im Pro-Agility-Test und Three-Cone-Drill seine Wendigkeit unter Beweis stellen und sich bei spezifischen Drills auf verschiedenen Positionen testen lassen. Angesichts der wenigen Wiederholungen, die einem zur Verfügung stehen, um unter dem kritischen Blick des künftigen Arbeitsgebers bei jeder Bewegung zu zeigen, was man draufhat, ist es wenig überraschend, dass Spieler und Agenten außerordentlich hohen Wert auf die Vorbereitung für diesen mit extremem Druck einhergehenden Wettbewerb legen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich drei Jahre für EXOS gearbeitet. Bei meinem Einstieg hieß das Unternehmen noch Athletes’ Performance (AP). Im ersten Jahr habe ich bereits einen kleinen Vorgeschmack auf das Vorbereitungsprogramm für den Combine bekommen. Bald war mir klar, dass AP bei den besten Collegespielern die begehrteste Einrichtung war, um sich physisch und mental auf den Combine vorzubereiten – in der Hoffnung, dass eine herausragende Leistung im Februar ihre Chancen für den Draft im April verbessert. Zu sagen, dass ich angefixt war, wäre eine Untertreibung – ich sagte zu mir selbst: »Eines Tages werde ich dieses Programm durchführen.«
AP wurde zu einer echten Pilgerstätte für Profisportler und angehende Profis. Unter der Leitung und dem Weitblick von Gründer und Präsident Mark Verstegen wurde AP zur anerkannt führenden Institution auf dem Gebiet menschlicher Leistungsfähigkeit. Dieses hohe Ansehen war das Resultat von Verstegens Strategie, über alle Bereiche hinweg – von der inneren Einstellung über Ernährung und Bewegung bis zur Regeneration – die klügsten Köpfe und die besten Methoden einzubeziehen, um eine Trainingsumgebung und ein Trainingssystem zu schaffen, das bis heute das Denken über Leistung beeinflusst. In diesem ersten Jahr bei AP hatte ich das Privileg, Combine-Elitecoaches wie Luke Richesson, Darryl Eto und Joe Gomes kennenzulernen. In den darauffolgenden drei Jahren arbeitete ich bei der Betreuung der künftigen NFL-Stars an der Seite dieser Coaches und lernte von ihnen. Ich sah die gewaltige Verantwortung, die jeder Einzelne von ihnen trug, ihr unermüdliches und manchmal auch undankbares Bemühen, das Programm Jahr für Jahr zu verbessern, um dieses Vermächtnis am Leben zu halten und sicherzustellen, dass eine weitere Generation von Sportlern die Möglichkeit bekommt, ihre Leistungsfähigkeit für das wichtigste Vorstellungsgespräch ihres Lebens zu maximieren. Als die Dunkelheit langsam dem Licht wich, durchdrang die Erkenntnis mein Bewusstsein, dass diese Verantwortung jetzt in meinen Händen lag. Konzentration und Entschlossenheit verdrängten jedoch schnell jeden Anflug von Furcht oder Unsicherheit, als ich in die Zufahrt unseres Leistungszentrums in Phoenix, Arizona, einbog.
Luke war mittlerweile bei den Jacksonville Jaguars und hatte damit sein Ziel, in der NFL zu arbeiten, erreicht. Darryl hatte ebenfalls gewechselt und eine Stelle bei den Houston Rockets angenommen. Das bedeutete, dass ich gemeinsam mit Joe Gomes im Rahmen des Combine-Vorbereitungsprogramms für das Coaching im Bereich Schnelligkeit zuständig sein würde, mit der Aussicht, dass ich es irgendwann allein leiten würde. Wie so oft im Leben lief es anders als geplant, und ich erfuhr, dass ich das Programm früher als erwartet ganz übernehmen würde. Nun, da ich selbst am Steuer saß, konzentrierte ich mich darauf, bis zum kleinsten i-Tüpfelchen programmgetreu zu arbeiten. Zu dieser Zeit definierte ich eine erfolgreiche Coaching-Sitzung als eine, in der alle Bewegungen mit absoluter Detailtreue erklärt wurden. Mein Zeitmanagement war von militärischer Genauigkeit, und über jeden Satz und jede Wiederholung wurde Rechenschaft abgelegt. Die Tatsache, dass dieses Programm in jahrelanger Arbeit von einigen der erfolgreichsten Coaches unserer Zeit im Bereich der sportlichen Leistung erschaffen worden war, war nicht an mir vorbeigegangen. Ich würde auf keinen Fall der Coach sein, der dieses Vermächtnis und die Coaches, die es geschaffen hatten, beschmutzen würde. Das war der Grund dafür, dass ich damit weitermachte, mich noch mit den kleinsten Details abzuschinden, und das im Zuge des Trainingsprozesses auch von meinen Athleten verlangte.
Dieser letzte Punkt und die Auswirkungen, die diese Art von Coaching auf das Bewegungslernen haben kann, haben mir die Augen für den Weg zu diesem Buch geöffnet. Es begann an einem Montagmorgen Anfang Januar. Wir waren auf der Laufbahn und gingen im Rahmen der Vorbereitung auf die folgende Sprinteinheit eine Abfolge von Drills durch. Ich erinnere mich, dass ich vor, während und nachdem jede Gruppe an der Reihe war, sehr detaillierte Anweisungen gegeben hatte, mit Worten um mich geworfen und jede Bewegung mit chirurgischer Präzision korrigiert hatte. Wenn das, was ich sagte, sich gut anhörte und Substanz hatte, war ich zufrieden – fertig. Aber genau hier fing alles erst an, weil ich bald merkte, dass meine Worte, nur weil sie sinnvoll waren, noch lange keine Veränderung nach sich zogen. Ich bin mir nicht sicher, warum mir diese eine Sitzung so im Gedächtnis geblieben ist, aber ich bin dankbar dafür, dass es so war, da die darauffolgende Reflexion mich dazu gebracht hat, die Art, wie ich coache, zu hinterfragen, was eine ganze Reihe ernüchternder Wahrheiten zutage gefördert hat. Erstens hatte ich den Athleten so viele Informationen gegeben, dass es unfair wäre zu erwarten, dass sie sich alles, was ich gesagt hatte, merkten und es anwendeten. Obwohl meine Erfahrung und mein in der Ausbildung erworbenes Wissen mir sagten, dass Aufmerksamkeit und Gedächtnis begrenzte Ressourcen waren, ignorierte ich diese Tatsache beim Coaching komplett. Trotz bester Absichten war ich, wie so viele Coaches, ein chronischer Vielredner. Zweitens war ich mir aufgrund dieses Kommunikationsstils nicht bewusst, auf was sich meine Athleten fokussieren. Ich habe ihnen so viele Hinweise gegeben, dass es unmöglich war festzustellen, welche bei ihnen angekommen waren – ganz zu schweigen davon, welche hilfreich und welche hinderlich waren. In Anbetracht dieser Beobachtungen stellte ich mir eine Reihe schonungsloser Fragen: Welchen Effekt haben die Qualität und Quantität von Cues auf die Lern- und Entwicklungsfähigkeiten meiner Athleten? Zu welchen Erfolgen könnte ich meine Athleten antreiben, indem ich ihnen die Fokussierung beim Training erst erleichtere und sie dann optimiere? Gibt es eine Wissenschaft des Coachings, die das, was so oft als Kunst betrachtet wird, mit Wissen unterfüttern kann?
Diese Geschichte, eine wahrheitsgetreue Schilderung meiner Anfangsjahre als Coach, bildet die Grundlage für den ersten Teil dieses Buches. Das erste Jahr hat mich vor allem eines gelehrt: Dass es nicht ausreicht, sich als Coach um das Programm zu kümmern – man muss auch die Person selbst coachen. Wir müssen alle Faktoren, die Einfluss darauf haben, wie ein Mensch lernt, berücksichtigen, insbesondere die Bedeutung der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses. Wenn wir verstehen, wie Aufmerksamkeit Erinnerung formt und, in der Folge, wie das Gedächtnis Lerninhalte speichert, werden wir befähigt sein, eine Coaching-Sprache zu verwenden, die bleibende Veränderungen hervorruft.
Als wir Ende Februar aus dem Flugzeug ausstiegen, schien die frische Luft in Indianapolis unsere Sinne zu schärfen und Coaches und Athleten auf die unbarmherzigen Bedingungen des NFL-Combine vorzubereiten. Da ich das erste Mal dabei war, wusste ich nicht, was mich angesichts all der Geschichten, die ich darüber gehört hatte, erwarten würde. Eine Sache war allerdings sicher: Das laute Pochen in meiner Brust war wieder da, und dieses Mal war die Ursache klar: In nur drei Tagen würden meine Athleten vor den Augen der ganzen Welt gegen die besten auf ihren Positionen antreten. Die Effektivität unseres Acht-Wochen-Programms würde erst am letzten Tag des Combine auf den Prüfstand gestellt werden, vorher mussten die Athleten zwei Tage mit sehr anstrengenden Interviews und medizinischen Untersuchungen durchstehen. Zwischen Dopingtests bei Tagesanbruch und Meetings um Mitternacht standen Persönlichkeitstests, das Abfragen von Wissen und Gesundheits-screenings an. Um unnötigen Stress und Ängste zu vermeiden, hatten wir uns auf alle Einzelheiten vorbereitet und alles, was kontrollierbar war, geregelt. Vom Lunchpaket bei der Gepäckausgabe bis zu einem provisorischen Leistungszentrum im Festsaal eines Hotels hat unser EXOS-Team fern vom wirklichen Zuhause ein Zuhause geschaffen.
Die Spannung schnürte uns gelegentlich die Kehle zu, während wir darauf warteten, dass unsere Athleten am letzten Tag ihre Tests absolvierten. Uns war zwar klar, dass die Reihenfolge im Draft nicht nur vom Combine abhing, aber wir wussten auch, dass eine überraschend schnelle Zeit beim 37-Meter-Sprint die Teams veranlassen konnte, sich einen Spieler noch mal anzusehen. Deshalb saßen wir schweigend um ein Fernsehgerät gedrängt in unserem Hotel-Festsaal, und jeder Coach wartete darauf, dass sein Schützling drankam. Wenn dann der von dir betreute Athlet endlich auf dem Bildschirm auftaucht, scheint die Zeit plötzlich langsamer zu vergehen, während dein Herz rast. In einem Augenblick stoßen sie sich von der Startlinie ab, und keine fünf Sekunden später wird die Zeit angezeigt und besiegelt das 37-Meter-Schicksal deines Schützlings. Als ich meinen Sportlern in diesem ersten Jahr zusah, kontrollierte ich ihre Zeiten, verglich sie mit den Ergebnissen in unseren Probeläufen und schaute mir den Mitschnitt noch einmal an, um die Entfaltung ihrer Sprinttechnik vom Start bis zur Ziellinie auszuwerten. Mein Ziel war zu verstehen, an welchen Punkten sich – wenn überhaupt – Veränderungen ergeben haben. Liefen meine Athleten schneller, weil sie stärker geworden und in der Lage waren, mehr Kraft zu entwickeln, eine Qualität, die bekanntermaßen die Sprintgeschwindigkeit beeinflusst,1 oder liefen Sie aufgrund von Veränderungen in der Koordination schneller, die die Kraftrichtung optimierten, ein kennzeichnendes Merkmal von Top-Sprintern?2, 3 In Wahrheit kann jede beliebige Kombination dieser Faktoren die Sprintleistung verbessern, aber in meinem Fall schien sich ein Faktor herauszuheben.
Obwohl die Sportler auf 37 Metern schneller liefen, sagte mir mein Coach-Blick, dass das mehr mit dem Upgrade des Wagens (das heißt der Kraft und der Größe der Kraft) als mit dem Geschick des Fahrers (das heißt der Koordination und der Kraftrichtung) zu tun hatte. Während ich mir jeden 37-Meter-Sprint noch einmal ansah, sah ich einen Bewegungsfehler nach dem anderen, von dem ich dachte, dass wir ihn im Zuge des Vorbereitungsprozesses korrigiert hätten. Zum Beispiel beugten sich Athleten, die in der Lage waren, mit geradem Rücken aus der Ausgangshaltung zu kommen, nun nach vorn, und schienen auf dem Weg zur Ziellinie fast vornüberzustürzen. Andere, denen wir eingebläut hatten, wie wichtig es war, die Knie kraftvoll nach vorn zu stoßen, fielen jetzt zurück in alte Bewegungsmuster und machten die kurzen, abgehackten Schritte, die man von einem Zweijährigen, der einen Wutanfall hat, erwarten würde. Die unausweichliche Wahrheit war, dass zwischen dem Zeitpunkt, an dem meine Athleten unsere Trainingseinrichtung in Phoenix verlassen hatten, und dem, an dem Sie den 37-Meter-Sprint in Indianapolis absolvierten, irgendetwas passiert war. Während sich die Leistung meiner Sportler verändert hatte, war die Technik, die sie nutzten, um sie zu erreichen, dieselbe geblieben. Aus dieser Beobachtung heraus stellte sich eine einfache Frage: Warum waren meine Athleten in der Lage, im Training ihre Sprinttechnik und ihre Zeiten zu verbessern, konnten aber beim Combine nicht auf demselben Niveau laufen? Wie lässt sich der Unterschied – egal ob zum Besseren oder zum Schlechteren – zwischen der Leistung im Training und der in einem künftigen Training oder einem Wettbewerb erklären? Die Antwort auf diese Frage enthält mit Sicherheit eine grundlegende Wahrheit über die Art, wie Menschen Bewegung lernen, und damit auch darüber, wie wir sie coachen sollen.
Wenn wir über die – sowohl positiven als auch negativen – Veränderungen zwischen zwei Trainingseinheiten oder zwischen dem Training und dem Wettkampf sprechen, müssen wir uns zuerst darüber verständigen, auf welche Veränderungen wir uns beziehen. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, jede mögliche Anpassung, die der Körper mit der Zeit vollzieht, zu diskutieren. Stattdessen kümmern wir uns hauptsächlich um die Adaptationsprozesse im Zusammenhang mit der Verbesserung der Bewegungsfähigkeit, der Koordination und der Möglichkeit, eine Fertigkeit zum Ausdruck zu bringen – einen Prozess, den wir als motorisches Lernen bezeichnen. Um besser zu verstehen, was genau motorisches Lernen ist, ist es hilfreich, kurz zu erörtern, was es nicht ist. Nehmen wir dazu eine bekannte Analogie zu Hilfe. Sehen Sie sich den folgenden Vergleich an und füllen Sie das freie Feld aus:
Haben Sie Ihre Antwort notiert? Das Wort, das Ihnen wahrscheinlich sofort in den Sinn gekommen ist, ist das Gehirn. Genau wie unser Körper hat das Auto das Potenzial für Bewegung. Aber ohne den Fahrer, genauer gesagt ohne das Gehirn des Fahrers, wäre die Bewegung nicht möglich. Selbst bei autonom fahrenden Autos muss irgendwo im Betriebssystem ein Fahrer installiert sein. Daher gibt uns diese Analogie ein nützliches Rahmenkonzept, um die morphologische Adaption (die Anpassung auf körperlicher beziehungsweise muskulärer Ebene, verkörpert durch das Auto) und ihr Verhältnis zur neuronalen Adaption (der Anpassung auf der Ebene des [zentralen] Nervensystems, verkörpert durch den Fahrer) in Bezug auf das motorische Lernen zu erörtern.
Zum Einstieg ist es hilfreich, sich den Ursprung dieser Analogie anzusehen, um zu diskutieren, inwiefern sie ein brauchbares gedankliches Modell ist, das Coaches hilft, Bewegungsprobleme, die sie beheben möchten, zu priorisieren. Während der Jahre, in denen ich Athleten für den NFL-Combine und den Sport generell vorbereitet habe, konnte ich eines ganz klar beobachten: Jeder Athlet muss einen anderen Weg nehmen, um sein Potenzial zu entfalten. Um das zu veranschaulichen, nehmen wir an, dass wir drei Defensive Backs (DBs) haben, die sich auf den NFL-Combine vorbereiten. Bei ihrer Ankunft durchlaufen unsere DBs eine Reihe von Tests und Untersuchungen, um von ihnen ein individuelles sportliches Profil zu erstellen. Dieses Profil wird dann genutzt, um die jeweiligen sportlichen Qualitäten zu priorisieren, die es zu verbessern gilt, um den DBs zu helfen, ihre Ambitionen zu Fähigkeiten auszubauen. Für die Erstellung des Profils nutzen wir ein von mir entwickeltes Leistungsprofil, das sogenannte 3P-Performance-Profil*positionpowerpattern