SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7517-3 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6075-9 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
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Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.
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Lektorat: Rahel Dyck
Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.com
Titelbild: © Shutterstock: Orlov Sergei, Evgeny Subbotsky
Autorenfoto: © Assaf Zeevi
Satz: Kathrin Spiegelberg, www.spika-design.de
Über den Autor
Vorwort
LERNE DAS LAND KENNEN
Was ist überhaupt Israel?
Durchgangsland
Natur und Mensch im Überblick
Viele Wege führen nach Jerusalem
EINE REISE DURCH DIE BIBEL
Auf den Spuren Abrahams, Isaaks und Jakobs
Wer waren die Kanaaniter?
EXKURS:
Zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum
Auf den Spuren von Mose: Die Wüstenwanderung unter der Lupe
EXKURS:
Die Bundesgebote und die Völker
Milch, Honig und Festungen – die Landnahme
Kein König in Israel: Richterzeit
Sauls Aufstieg
EXKURS:
Philister
David war nicht der zweite König Israels
EXKURS:
Das Davidische Reich
Aus einem Reich werden zwei
EXKURS:
Prophetie
Das Leben geht doch weiter: Rückkehr nach Zion
Die Makkabäer – Unabhängigkeit und Streit
Jesus wurde in Herodes’ Königreich geboren
EXKURS:
Jesus war im Rabbinertum verwurzelt
Jesu letzte Woche auf Erden
Bis zum Wochenfest
GEGENWART UND ZUKUNFT
Wir werden es noch sehen
Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist
Danksagung
Endnoten
Bildnachweis
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Berühmt. Von keinem anderen Land kennen Menschen in aller Welt so viele Namen von Orten, Bergen, Bächen, Tälern und selbst Straßen wie von Israel. Spätestens im Alter von fünf Jahren wird so gut wie jedes Kind des Abendlandes die Ortsnamen Nazareth, Bethlehem und Jerusalem gehört haben. Mit 10 Jahren können die meisten mit dem See Genezareth etwas anfangen, mit 15 vielleicht auch mit dem Ölberg und dem Garten Gethsemane. Die Namen der Regionen Galiläa, Samarien und Judäa gehören zur Allgemeinbildung in den christlich geprägten Kulturen, wenn auch nicht jeder sie genau einordnen kann. Dabei gibt es nicht viele Länder dieser Größe, die überhaupt Beachtung finden. Warum ist das so? Die Erklärung ist einfach: Die Bibel hat das Land berühmt gemacht. Das Stückchen Land am südöstlichen Mittelmeer ist durch eine ganz besondere Verheißung zum Hauptschauplatz biblischer Geschichte geworden.
Soweit nichts Neues, für manche sogar selbstverständlich. Trotzdem möchte ich mit diesem Buch Neues erzählen, weil Israel viel mehr ist als eine Kulisse. Das Land ist Teil der biblischen Handlung. Dieses Buch wird dir neue Dimensionen eröffnen, die du bisher noch nicht kanntest. Mithilfe von Natur und Landschaft, Sprache, Kultur und Archäologie werden wir das Land besser verstehen lernen. Denn wer das Land der Bibel versteht, versteht auch die Bibel selbst besser.
Bei jeder Bibel, die du in deiner Sprache lesen kannst, handelt es sich um eine Übersetzung. Jeder, der schon mal etwas übersetzt hat, weiß, dass zur Übersetzung immer auch eine Prise Interpretation gehört. Würden wir jedes einzelne Wort direkt übersetzen, käme dabei kein zusammenhängender Text heraus. Ein Übersetzer muss nicht nur den Wortschatz beherrschen, sondern auch die Welt des Verfassers und des Lesers kennen. Manche unglückliche Übersetzung einer Bibelstelle kann unwichtig sein. Andere aber sind kritisch und sogar schädlich – solche werden wir korrigieren. Oft werden uns rabbinische Schriften helfen, eine aus der Bibel bekannte Diskussion in den damaligen Kontext zu stellen. Auch handfeste Beweise wie archäologische Funde werden uns dabei unterstützen, die Bibel besser zu verstehen. Sehr häufig werden uns solche Funde die Genauigkeit des biblischen Berichts bestätigen und diesen ergänzen. Was im Regelfall ein paar Worte eines Bibelverses sparsam beschreiben, wird so auf einmal ganz konkret, echt, glaubwürdig.
Wie oft hörte ich im Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin: »Die Bibel ist kein Geschichtsbuch.« Dahinter steckt die Annahme, die als historisch dargestellten Geschehnisse in der Bibel seien Mythen. Mit »Mythen« sind in diesem Fall »Märchen« und »Unsinn« gemeint. Wer diese Einstellung vertritt, sagt: Die Israeliten waren nicht in Ägypten. Eine Wüstenwanderung gab es nicht, auch nicht die Landnahme. Das Davidische Reich war eine lokale Stammeserscheinung. Die Königreiche Israel und Juda sind zwar nicht ganz erfunden, aber übertrieben dargestellt. Viele biblische Einzelpersonen sind erfundene literarische Figuren, zumindest solange man sie nicht außerbiblisch nachweisen kann. Mir sagte mal ein katholischer Pfarrer vor seiner Kölner Gemeinde, man könne den Jerusalemer Tempel archäologisch nicht nachweisen. Aus Höflichkeit habe ich ihn nicht gefragt, ob er damit auch sagen möchte, dass die Besuche Jesu in diesem nicht nachgewiesenen Tempel ebenfalls nicht nachzuweisen seien und vielleicht sogar Jesus nur eine literarische Fiktion sei.
Hinter solchen Aussagen kann manchmal auch eine gewisse politische Motivation stecken. Denn wenn die Historizität der Bibel abgetan wird, wird auch Israels Entstehung als Nation zum Märchen erklärt. Viele Menschen hält ihr rationales Denken davon ab, an die Bibel und damit an die besondere Bedeutung Israels zu glauben: Jedes Volk erzählt einen Mythos über seine Entstehung, der Mythos der Juden ist eben die Bibel. Doch wenn man die Historizität der Bibel zum Märchen deklariert, dann hält man auch ihre Botschaft für unglaubwürdig. Wenn sowieso alles erfunden ist, was hat die Bibel dann für einen Wert?
Die Wahrheit der Bibel ist in ihrem Land verwurzelt, so wie ein Baum in der Erde. Wer Israel zu Fuß erlebt und den Forschungsstand kennt, sieht klar und deutlich, wie gut die Verfasser von großen Teilen der Bibel das Land kannten – jeden Berg, jeden Hügel, jede Schlucht, jede Straße und jedes Dorf.
Wer die biblischen Geschichten verstehen will, muss das Land verstehen lernen. Am besten geht das vor Ort. Deswegen werden wir in diesem Buch gemeinsam eine »gedankliche Reise« nach Israel machen, die uns dabei hilft, in das Land einzutauchen. Und solltest du doch einmal deinen Koffer packen und eine richtige Reise in Angriff nehmen, kann dir dieses Buch als Vor- oder Nachbereitung dienen, denn selbst wenn man im Land ist, braucht man Hilfe, um seinen Blick zu schärfen.
Bei unserer Reise hangeln wir uns chronologisch an den Ereignissen der Bibel entlang. Zunächst reisen wir 3 800 Jahre in die Vergangenheit, in das Zeitalter der Erzväter. Dann ziehen wir mit Mose durch die Wüste. Über Josuas Eroberungen wird uns das Land selbst erzählen. Wir werden in Geschichten aus der Richterzeit eintauchen, bevor wir in die ruhmreiche Zeit der Könige kommen. Unsere letzte Epoche wird die des Zweiten Tempels sein, an deren Ende Jesus wirkte. Zum Schluss werden wir unseren Blick auf die Gegenwart und in die Zukunft richten.
Wieso schreibe ich dieses Buch? Weil ich hoffe, dass andere davon profitieren können. Meine Biografie erklärt einiges. Ich bin mit diesem Land seit meinem ersten Atemzug verbunden. Israel ist meine Heimat. Ich wurde in eine israelisch-jüdische Familie geboren. Der jüdische Jahreskreis war für mich ab dem Kindergarten selbstverständliche Praxis. Hebräisch ist meine Muttersprache.
Die erste Wanderung, die ich bewusst miterlebt habe, war in En-Gedi. Ich war drei Jahre alt und hörte zusammen mit meinen beiden achtjährigen Schwestern meinem Vater zu, wie er uns eine Geschichte erzählte, die sich an diesem Ort zugetragen hatte – wie David hier auf Toilette musste, in eine Höhle ging und Sauls Mantel abschnitt (1. Samuel 24) – und war bezaubert. Die Schönheit dieser tropischen Oase mit den vielen Wasserfällen hat mich so begeistert, dass ich mich geweigert habe, in der Kindertrage auf dem Rücken meines Vaters geschleppt zu werden. Ich wollte selbst laufen. Die Hitze war furchtbar, als wir die Felsenstufen zur Quelle hinabstiegen. Damals war das Geländer aus Eisen und wurde in der Sonne so heiß, dass man es nicht anfassen konnte. Immer wieder fragten mich meine Eltern, ob ich doch nicht wieder in die Trage wolle. An einer besonders steilen Stelle teilte ich meiner Mutter mit: »Mama, wenn ich groß bin, werde ich hier leben.« »Wo hier?«, fragte sie. »In En-Gedi«, gab ich die klare Antwort. »Aber das ist ein Naturreservat«, erklärte sie, »Hier darf man nicht leben. Nur Tiere dürfen das.« Ich dachte einen Moment nach und fasste einen Plan: »Dann werde ich mich hier verstecken.« »Und was wirst du essen?«, hakte sie nach. »Fische. Und trinken kann ich gleich aus den Wasserfällen. Und schlafen kann ich überall. Kleider braucht man in dieser Hitze gar keine. Vielleicht nur eine Unterhose«, antwortete ich überzeugt. Doch die Antwort meiner Mutter war eine bittere Enttäuschung. Sie sagte, es gebe im Reservat Mitarbeiter, die spätestens um 17 Uhr alle Besucher wegschicken. Sie würden mich schnell finden. Ich gab den ersten Plan auf, hatte aber gleich den nächsten: »Ich werde Reservatmitarbeiter.« »Das könnte funktionieren«, lenkte meine Mutter ein. Das machte mir ein wenig Hoffnung. Jahrelang blieb ich diesem Plan treu. Doch im Lauf der Zeit fiel mir auf, wie viele schöne Plätze es überall im Land gibt. Mit 14 kam mir dann die Idee, wie ich möglichst viele dieser Orte besuchen kann: »Ich werde Reiseleiter«. Außerdem hat mich ein Wanderreiseleiter auf einem mehrtägigen Schulausflug durch die Wüste Negev mit seinem Verständnis der Landschaft derart beeindruckt, dass er mir zum Vorbild wurde. Und so bin ich ein lizenzierter Reiseleiter geworden. Vorher habe ich in Deutschland Landschaftsarchitektur studiert, um den Erwartungen meiner Eltern gerecht zu werden. Darauf folgte die Reiseleiterausbildung an der Jerusalemer Zweigstelle der Universität Haifa in den Jahren 2006–2008. Unter den Dozenten und bei späteren Fortbildungen habe ich einige der wichtigsten Akteure in der Forschung kennengelernt, deren Wissen in dieses Buch miteinfließt. Seitdem habe ich mehr als 200 Gruppen durch das Land geführt und gelernt, welche Kenntnisse und Vorstellungen Reisende mitbringen. Meine Ehe mit einer deutschen Frau, unser Leben am Bodensee und meine Tätigkeit für den schweizerischen Reiseveranstalter Surprise Kultour AG mit dem Spezialgebiet biblische und christliche Reisen haben mir gezeigt, aus welchem Blickwinkel Menschen aus dem deutschsprachigen Kulturkreis auf die Bibel und ihr Land schauen. Mit diesen Voraussetzungen wage ich es, dieses Buch zu schreiben und dich auf eine Reise ins Land der Bibel mitzunehmen.
Judäische Wüste, Frühjahr 2020
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Israel ist ein schwammiger Begriff. Heutzutage meint man damit meistens den Staat, den es seit 1948 gibt. Israel ist aber auch ein Volk, eines der ältesten der Welt. Dieses Volk lebte bereits in einem eigenen Königreich auf dem Gebiet des heutigen Staates Israel. Wichtige Kapitel der Geschichte Israels und seines Landes sind in der Bibel verewigt, aber seine früheste schriftliche Erwähnung finden wir in einer außerbiblischen Quelle. Ein gewisser Pharao Merenptah präsentierte seinen Sieg über Israel im 13. Jh. v. Chr. Er war so stolz auf Israels Vernichtung, dass er sie auf einer Granittafel festhalten ließ.
Die heutige Fläche des Staates Israel ist so groß wie die Hälfte der Schweiz, das deutsche Bundesland Hessen oder Niederösterreich. Judäa, Samarien und die Golanhöhen sind in dieser Rechnung nicht enthalten und machen zusammen noch einmal 30 Prozent der Gesamtfläche aus. Im Laufe der Jahrtausende blieben die Landesgrenzen recht konstant. Im Westen war und ist das Mittelmeer. Im Norden erreichten sie meistens Galiläas höhere Lagen unweit der heutigen libanesischen Grenze. Im Osten war es eine Frage der Stärke. War Israel stark, kontrollierte es auch Gebiete östlich des Jordan. War es schwächer, bildete meistens der Jordan die Grenze. Die Geschichte der Südgrenze hat viel mit den klimatischen Bedingungen dort zu tun. Das Dreieck zwischen dem Mittel-, dem Toten und dem Roten Meer war immer eine fast menschenleere Wüste. Die Herrscher interessierten sich wenig für diese karge Landschaft. An der Südspitze dieser Wüste liegt das Rote Meer, das für Handelszwecke interessant sein kann. In Zeiten der Stärke unterhielt Jerusalem dort einen Hafen. Dafür musste es das gesamte Gebiet bis zum Roten Meer kontrollieren. So war es unter König Salomo und ist seit 1949 wieder der Fall.
Die besondere Geschichte dieses kleinen Landes begann mit Abraham. Ausgerechnet an diesen Ort schickte ihn Gott. Abrahams Nachkommen sollten dieses Land bewohnen. Gott hatte mit ihnen zugunsten der gesamten Menschheit einiges vor. Er gab ihnen seinen Segen, seinen besonderen Schutz und zahlreiche Zeichen, aber auch Ge- und Verbote. Vor allem diese sorgten für die Andersartigkeit Israels im Vergleich zu vielen anderen Völkern der Antike. In dieser Kultur entwickelte sich eine eigenartige Denkweise, eine eigene geistliche Welt – die Welt, in der auch Jesus wirkte. Israel ist ein Land, ein Volk und ein Geist. Ein Geflecht. Manchmal ist unklar, wo die Grenzen zwischen Land, Volk und Geist verlaufen. Oft sind sie in ihrer Wechselbeziehung untrennbar.
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Der Mönch Bargil Pixner lebte 33 Jahre in Israel und schrieb in seinem Buch: »Fünf Evangelien schildern das Leben Jesu; vier findest du in Büchern – eines in der Landschaft. Liest du dieses fünfte, eröffnet sich dir die Welt der vier.« 1 Das gilt für die gesamte Bibel. Die Landschaften der Bibel sind ein Teil von ihr. Wenn du sie verstehst, erklären sie dir vieles aus der biblischen Erzählung.
Ein Geheimnis des Landes verraten die Zugvögel. Wer in Westeuropa lebt, denkt intuitiv, die Zugvogelroute nach Afrika führe über Italien oder Gibraltar, aber die große Zugvogelmasse lebt viel weiter östlich, von Skandinavien bis Sibirien. Auf dem Weg nach Afrika umfliegen sie das Mittelmeer, aber auch die großen Wüsten in Asien. Trichterförmig treffen sich ihre Routen über Israel. Das kleine Land ist ein Flaschenhals zwischen Wüste und Meer. Weil weiter südlich das Rote Meer liegt, ist Israel auch die einzige Landbrücke zwischen den drei Kontinenten. Deshalb verläuft die weltweit dichteste Zugvogelstraße über Israel, mit 500 Millionen Zugvögeln zweimal im Jahr.
Bis zur Erfindung des Flugzeugs war diese Landbrücke für Menschen genauso relevant. Nehmen wir gleich ein Beispiel aus der Bibel: Abraham. Abraham stammt aus Ur in Chaldäa im heutigen Irak, 250 km vom Euphrat-Delta entfernt. Von dort geht er ins heutige Israel, damals Kanaan. Genau wie die Zugvögel macht auch Abraham einen Umweg von 1 000 km um die Wüste herum.
Weshalb wird Abraham ausgerechnet in das kleine Land Kanaan geschickt? Als Randgebiet zwischen den Hochzivilisationen im Zweistromland und am Nil war Kanaan nicht wirklich bedeutend. Und gerade dort soll ein Neuanfang gestartet und der Glaube an den einen Gott verkündet werden? Eine wichtige Botschaft an die gesamte Menschheit würden wir heute im Internet verbreiten, damit sie selbst die Menschen in den modernen Metropolen New York oder London erreicht. Das New York von damals lag am Nil, das damalige London am Euphrat. Kanaan war nur ein Gebiet dazwischen, das man durchqueren musste. Ach ja, da gab es noch ein Problem: Es zogen nicht nur Privatpersonen durch Kanaan, sondern auch Armeen. Warst du ein sumerischer König und wolltest Ägypten erobern, musstest du durch Kanaan. Warst du ein Pharao und wolltest Griechenland mit mehr als nur Kriegsschiffen angreifen, musstest du durch Kanaan. Warst du ein Römer und wolltest Nordafrika einnehmen, musstest du zwangsläufig erst Kanaan einnehmen. Wer in Kanaan saß, konnte Europa von Asien und Afrika abtrennen. Es war die A1 der antiken Welt, ohne Umleitungsalternativen. Dieses Fleckchen Er-de hat seine Besitzer so häufig gewechselt wie kaum ein anderes der Welt.
Aber genau da liegt die Erklärung für Abrahams Aussendung: Kanaan war das Durchgangsland schlechthin. Auch in friedlichen Zeiten verlor es nicht an Bedeutung, weil die interkontinentale Straße gut besucht blieb. Du kannst dir vorstellen, wie wichtig dieser Fernweg in einer Welt ohne Telekommunikation war! Und wie entscheidend für die Verbreitung von Nachrichten in einer Welt ohne Internet, Fernsehen, Radio oder Zeitungen. Was hier passierte, wurde schnell in alle Welt getragen.
Zuletzt: Am Nil und im Zweistromland ging es den Menschen im Großen und Ganzen gut. Sie hatten weniger das Bedürfnis nach einem Neuanfang. Ganz anders ging es den Nomaden und Halbnomaden am Rande der Zivilisation, deren einziger Besitz ihre Zelte und Herden waren. Diese Menschen waren offen für Gottes Handeln. Genau dort siedelt Gott Abraham an. Ein präziser Startschuss.
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Jede Kultur ist von der Landschaft geprägt, in der sie sich entwickelt. Daher ist es wichtig, dass wir uns einen Überblick über die Geografie des Landes verschaffen.
Israels heutiges Staatsgebiet (einschließlich der palästinensischen Autonomiegebiete) ist 400 km lang und rund 70 km breit. Dieses Gebiet ist in vier Streifen unterteilt.
Ist dir schon aufgefallen, dass die israelische Küste auf Landkarten fast schnurgerade aussieht? Sie ist auch in Wirklichkeit so gerade, und zwar weil sie aus Sand besteht. Den Sand bringt der Nil aus Afrika. Im Mittelmeer angekommen, schwimmt der Sand in der Meeresströmung gegen den Uhrzeigersinn, bis ihn das ins Meer ragende Karmelgebirge stoppt. Dort beginnt die für Südeuropa typische Felsenküste. Zum Baden ist der Sandstrand traumhaft, für die Seefahrt ein Problem. Er bietet keine natürlichen Häfen.
So gab es im Land zwar immer Seefahrt, aber ein richtiges Seefahrervolk entwickelte sich hier nie.
Entlang der Küste erstreckt sich eine 20-30 km breite Ebene. Bis zu ihrer Trockenlegung in den 1920er-Jahren gab es hier mehrere Sümpfe. Dass sich zuvor keine dichte Besiedlung an der Küstenebene entwickelte, ist kein Zufall: Hier gab es Malariaplagegebiete. Doch nach der Trockenlegung entwickelte sich hier rasch der Ballungsraum Tel Aviv. Wenn man heute von Israels »Zentrum« spricht, meint man die Küstenebene, aber zur biblischen Zeit war sie eigentlich ein Randgebiet. Damals war die Bevölkerung der Küstenebene meistens nichtjüdisch.
Parallel zur Küstenebene liegt das Bergvorland, eine 10-15 km breite Kreidehügellandschaft bis 450 m ü. NN mit fruchtbaren Kleintälern. Auf den Hügeln wird heute wie auch früher Obst-, Wein- und Olivenanbau betrieben, in den Tälern Ackerbau. Die weiche Kreide ermöglichte die Anlage Tausender Höhlen und Höhlenwohnungen. Rebellen und Flüchtlinge fanden hier Zuflucht in Zeiten von Krieg und Widerstand. In dieser Übergangszone zwischen Ebene und Bergland begegneten sich in biblischen Zeiten häufig die jüdische und nichtjüdische Bevölkerung, meistens friedlich, aber nicht immer.
Weiter östlich beginnt das Bergland, ein langer Höhenzug aus Kalk, 30-35 km breit und bis 1200 m ü. NN hoch. Der lange Sattel bildet die Landeswasserscheide. Wenn hier Regentropfen fallen, müssen sie sich entscheiden, ob sie ins Mittel- oder lieber ins Tote Meer fließen möchten. Das Bergland unterteilt man in verschiedene Landschaften. Weil das Bergland auch das biblische Kernland ist, kennst du wahrscheinlich die Namen vieler seiner Landschaften.
Die nördlichsten 40 km bezeichnet man als Obergaliläa, eine bewaldete und felsige Großkuppe mit kaum fruchtbaren Böden. Obergaliläa ist schwer passierbar und war daher nie stark besiedelt. Ein Teil Obergaliläas liegt heute im Libanon. In biblischer Zeit war ganz Obergaliläa Teil Phöniziens, für Israeliten also im Ausland. Südlich davon liegt das 30 km lange Untergaliläa. Die Hügel sind hier schon viel kleiner (bis 600 m ü. NN). Zwischen ihnen gibt es fruchtbare Täler. Als bequemer Lebensraum war Untergaliläa immer dicht besiedelt. Wo du in den Evangelien »Galiläa« liest, ist also Untergaliläa gemeint. Der Name Galiläa kommt schon im Buch Josua vor (Josua 20,7) und die Unterscheidung zwischen Ober- und Untergaliläa kennen wir schon aus rabbinischen Diskussionen des 2. Jh. n. Chr. in der Mischna (Mischna Schevi‘it 9,2).
Die Mischna ist eine hebräische Ansammlung rabbinischer Diskussionen aus dem 1. und 2. Jh. n. Chr. Verfasst wurde sie um ca. 200 n. Chr. in Galiläa. Ihr Name bedeutet »Sekundäre«, sie steht nach der Tora und wird auch als »mündliche Tora« bezeichnet. Inhaltlich beschäftigt sich die Mischna vor allem mit der Auslegung von Geboten. Sie ist in sechs »Ordnungen« nach Lebensbereichen unterteilt, die wiederum aus mehreren Traktaten bestehen. In diesem Buch werden wir sie mehrfach als antike jüdische Quelle verwenden. 2
Südlich von Galiläa wird der Höhenzug für 15 km durch die Jesreelebene, heb. Jisra’el, dt. »Gott wird säen«, unterbrochen. Der Name der Ebene ist nicht überraschend: Hier gibt es die fruchtbarsten Böden im ganzen Land. Vorausgesetzt, die Ebene wird entwässert, sonst entstehen auch hier Sümpfe. Jesus kannte diese Gegend gut, weil sie direkt unterhalb von Nazareth liegt. Schon viel früher war sie unter diesem Namen bekannt (Josua 17,16).
Durch die Jesreelebene kann man das Land von Ost nach West bequem durchqueren. Aber nicht komplett, denn vor der Küste ragt das Karmelgebirge empor. Für alpine Verhältnisse ist es mehr Witz als Gebirge, aber dieser kleine, schroffe und bewaldete Höhenzug versperrt den Weg. Hier musste jeder lang, der auf dem Landweg von Damaskus nach Ägypten, von Ägypten ins Zweistromland oder von Alexandria nach Rom wollte. Klar, dass die wenigen Passiermöglichkeiten am Karmel heiß begehrt waren. Vor allem der Zugang durch das schmale Tal Iron, das einen mehr oder weniger bequemen Weg durch den Karmel bietet, war immer wieder blutig umkämpft. An seinem Osteingang lag die »Schranke«. Um diesen Osteingang kämpften die Ägypter, Kanaaniter, Israeliten, Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Makkabäer, Römer, Byzantiner, Araber, Kreuzritter, Mamluken, Mongolen, Osmanen, Deutschen, Briten und Israelis. Wer die Geschichte des Landes kennt, verbindet diese Gegend mit Krieg. Keine Überraschung, dass laut der Offenbarung des Johannes hier die endzeitliche Entscheidungsschlacht stattfinden soll (Offenbarung 16,16). Hier liegt Har Megiddo, dt. »Berg Megiddo«, was in Fremdsprachen zu »Harmageddon« wurde. Megiddo war 4 000 Jahre lang eine der wichtigsten Städte des Landes.
Südlich der Jesreelebene setzt sich das Gebirge fort und heißt in den kommenden 60 km Samarien. Im Königreich Israel hieß es »Gebirge Ephraim«. Zur Zeit Jesu lebten hier die Samariter. Samarien ist ein zerklüftetes Bergland bis 1 000 m ü. NN. Die Täler sind fruchtbar, an den Hängen ist Terrassenlandwirtschaft mit vielen Oliven verbreitet. Viele Wasserquellen ermöglichten hier eine dichte Besiedlung.
20 km nördlich von Jerusalem endet Samarien. Hier beginnt Judäa, 75 km lang und ebenfalls bis 1 000 m ü. NN. Judäa ist eine Art breite »Bergbühne« mit wenigen Tälern. Die Höhen sind für Wein-, Obst- und Olivenanbau geeignet. Im Osten und Süden regnet es zu wenig für Plantagen, aber für Weideland reicht es noch. Den Namen bekam die Region vom Stammesgebiet Juda, das hier lag. Später hieß das hiesige Königreich so und anschließend das gesamte Land. Die Bevölkerung Judäas nannte man nach ihrem Land, so entstand die Bezeichnung »Juden«.
Im zentralen Gebirge von Judäa, Samarien und Galiläa liegen die meisten wichtigen Orte der Bibel. Weil die Landschaften eine gute Lebensgrundlage für Menschen boten und recht dicht besiedelt waren, wurde hier in der Moderne kaum Land an jüdische Pioniere verkauft. Bis heute ist die Mehrheit der Bevölkerung in Judäa, Samarien und Galiläa arabisch.
Im Süden Judäas nehmen die Niederschläge stark ab, es beginnt die Wüste Negev. Der Wortstamm bedeutet »trocken«, in deutschen Bibeln als »Südland« übersetzt. Geologisch ähnelt die zentrale Wüste Negev den nördlicheren Bergregionen. Auch sie besteht aus einem Kalk- und Kreidegebirge. Die Trockenheit sorgt aber für eine völlig andere Landschaft, in der sich eine völlig andere Kultur als in den fruchtbaren Regionen entwickelte, das Nomadentum. Je weiter man sich Richtung Süden bewegt, desto weniger trifft man auf Menschen, heute ebenso wie früher.
Östlich des zentralen Gebirges erstreckt sich ein Graben. In diesem Graben liegen der Jordan, der See Genezareth, das Tote und das Rote Meer. Sein tiefster Punkt ist das Tote Meer, der gleichzeitig der tiefste Punkt der Erde ist. Die Tieflage sorgt für ein trocken-heißes Klima. Zwischen dem Toten und dem Roten Meer befindet sich das Tal Arava, dt. »Steppe«. Ab der Mitte des Jordantals (zwischen dem See Genezareth und dem Toten Meer) bis zum Roten Meer gibt es mit Ausnahme der Oasenstadt Jericho kaum historische Ortschaften. Die Böden und das Grundwasser sind salzhaltig, an Hängen gibt es keinen Mutterboden, weil ihn keine Wurzeln halten. Nur moderne Infrastrukturen ermöglichen hier heute das Leben.
Östlich des Grabens liegt ein langes Hochplateau. Dieses Gebiet liegt heute mehrheitlich in Jordanien. Je nach politischer Stärke gehörte das Hochplateau oder Teile davon dem antiken Israel. Markante Schluchten unterteilen es in verschiedene Regionen. Im Norden, im heute überwiegend von Israel kontrollierten Gebiet, liegt der Golan. Der biblische Name des Basalt-Hochplateaus ist Baschan. Der Prophet Amos bezeichnet die Frauen der Oberschicht im antiken Israel als »Kühe Baschans« (Amos 4,1) – eine originelle Mischung von Kompliment und Beschimpfung unter Menschen, die die gute Rindfleischqualität der Golanhöhen kannten. Weiter südlich beginnt die Landschaft Gileads, ein mediterranes, fruchtbares Hochplateau. Das südlichere Moab ist trockeneres Weideland und das südlichste Edom ist eine richtige Wüste. Zur Zeit Jesu gehörte ein Gebiet unterhalb Gileads und Moabs zu Judäa und hieß Peräa. Jesus zog auch durch Peräa. Auf dem Hochplateau über Peräa lag damals das heidnische Zehn-Städte-Gebiet und weiter südlich das Königreich der Nabatäer.
Oft hört man, Israel habe kaum Wasser. Das stimmt so nicht. In Obergaliläa regnet es jährlich mehr als in Frankfurt oder Schaffhausen. Es kommt auf die Verteilung der Regelfälle an. Während es in Frankfurt und Schaffhausen in allen Monaten regnen kann, bleibt der Himmel in Israel zwischen Mai und Oktober verschlossen. Nur in den anderen Monaten können Kaltluftfronten Regen bringen. Dann gibt es fast immer Platzregen, wie bei Sommergewittern in Europa. Allerdings dringen die Kaltluftfronten nur selten in Israels Süden ein. Deswegen ist dort eine Wüste.
Das kleine Land liegt im Schnittpunkt dreier Klimazonen: mediterran, Wüste und Steppe. An besonderen Stellen gibt es zudem noch Einflüsse aus den Tropen, der Savanne und dem Hochgebirge. Diese Lage sorgt für eine riesige Naturvielfalt. Insgesamt kommen in Israel 2 600 Wildpflanzenarten vor. Im fast 13-fach größeren Deutschland sind es 3 000.
Auch die Tierwelt ist von diesem Schnittpunkt geprägt. Neben Wölfen, Schakalen, Wildschweinen und Rehen leben hier auch Leoparden, Steinböcke, Gazellen, Stachelschweine, Klippschliefer und Hyänen. Die meisten dieser Tierarten werden auch in der Bibel erwähnt. Durch den starken menschlichen Einfluss sind viele Tierarten ausgestorben, zum Beispiel das Nilpferd. Zur Zeit Davids konnte man noch an einigen Flussmündungen mit einer Nilpferdbegegnung rechnen. Im Talmud wird der Löwe als »König der Tiere« (Bab. Talmud Hagiga 13,2) genannt.
Der Talmud ist eine Ansammlung von rabbinischen Kommentaren zur Mischna. Sein Aufbau basiert auf der Mischna, wobei die Kommentare unsystematisch wechseln. Es entstanden zwei Talmude, einer im 4. Jh. v. Chr. in Galiläa und einer rund 100 Jahre später in Babylonien. Vieles ist in beiden Talmuden ähnlich, aber es gibt auch etliche Unterschiede. Der Talmud ist in aramäischer gemischt mit hebräischer Sprache geschrieben und bis heute die wichtigste rabbinische Grundlage. In diesem Buch werden wir ihn oft als Quelle nutzen. 3
Diese Rabbiner kannten den Löwen nicht nur als National-Geographic-Shootingstar. Der letzte Löwe lebte im 14. Jh. n. Chr. im Land. Als Jesus am Jordan unterwegs war, musste er nicht nur nach Pharisäern Ausschau halten, sondern auch nach 70 kg schweren Persischen Leoparden.
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Aus der Geografie ergibt sich ein Wegenetz, das uns auch aus der Bibel bekannt ist. Im Großen und Ganzen ist es heute immer noch dasselbe wie damals.
Die Via Maris, in der Bibel »Straße am Meer« (Jesaja 8,23) oder auch »Weg durch das Land der Philister« (Exodus 13,17) genannt, war immer der wichtigste Fernweg im Land. Er verband Ägypten mit Syrien. An ihr entlang konnte man viele Sprachen hören. Im Norden verlief sie nah an Nazareth und Kapernaum vorbei. Ein Arm der Meeresstraße führte ins benachbarte Gebiet der Phönizier, die Sidonstraße.
Neben der Via Maris gab es einen zweiten internationalen Fernweg, die Königsstraße (Numeri 20,17). Auch dieser verband Syrien mit Ägypten, jedoch über die Hochplateaus im heutigen Jordanien und dem Sinai.
Der nationale Fernverkehr innerhalb des biblischen Kernlandes brauchte die beiden internationalen Straßen nicht. Für diesen gab es ein entwickeltes Wegenetz in Form einer »Wirbelsäule« mit »Rippen«. Dieses Muster ergibt sich aus der Topografie. Auf dem Gebirgssattel, fast immer auf der Wasserscheide, verlief die »Wirbelsäule«, die Bergstraße, und verband fast alle wichtigen Städte des Landes zu biblischer Zeit miteinander. Im Norden schloss sie sich an die Via Maris an, im Süden führte auch sie weiter nach Ägypten. Sie ist die wichtigste Straße in der gesamten biblischen Erzählung. Leichter als die Frage, welche biblischen Personen auf der Bergstraße gelaufen sind, ist die Frage, wer es nicht tat. Von Abraham bis Jesus – alle waren hauptsächlich auf der Bergstraße unterwegs. Das werden wir an vielen Stellen in diesem Buch noch sehen.
Die »Rippen« waren Regionalstraßen, die an beiden Gebirgsseiten abwärtsführten. Im Süden mündete die Bergstraße in die Stätten-Straße (Numeri 21,1), eine Querverbindung von Ägypten zur Königsstraße über Kadesch Barnea, Beerscheba, Arad und das Tote Meer. Falls in deiner Bibel ein anderer Name steht, ist es eine Frage der Übersetzung. Die Lachischstraße verband Südjudäa mit der Via Maris. Wer von Jerusalem zur Via Maris wollte, konnte sich entweder für den Beth-Horon- (1. Samuel 13,18) oder für den Ayalonsteig entscheiden. Nach Osten führte von Jerusalem der Adumimsteig. Adumim bedeutet »rot« und geht auf die rötlichen Farbtöne der Bitumenvorkommen in dieser Gegend zurück. Der Adumimsteig hieß auch Jerichoer Straße. Diesen Weg nahm Jesus für den Einzug in Jerusalem und auf ihn bezieht sich das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Nach Jericho führte die Straße über den Jordan weiter bis zur Königsstraße in Rabbat Ammon, heute Amman. Der Afeksteig verband Sichem, die zentrale Stadt Samariens, mit der Via Maris und den Weg gegen Sonnenuntergang (Deuteronomium 11,30) mit der Königsstraße.
Auf diesem Weg kam Abraham ins Land. Unsere Reise durch die Bibel beginnt auf seinen Spuren und führt über den gleichen Weg. Wir machen uns auf. Bist du bereit?
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Nach der traditionellen jüdischen Chronologie (Seder Olam Rabba 1) wurde Abraham im Jahr 1948 nach der Weltschöpfung geboren, umgerechnet 1812 v. Chr. Sara ist zehn Jahre jünger.
Die allgemeine jüdische Zeitrechnung ist anders als die christliche. Sie basiert auf Zeitangaben in der Bibel und beginnt im zurückgerechneten Jahr der Weltschöpfung. Seder Olam Rabba, dt. »Große Weltchronik«, ist die wichtigste Grundlage für die Datierung biblischer Ereignisse im Judentum.
Abraham und Sara lebten als Nomaden. Was hinterlässt schon jemand, der sein ganzes Leben im Zelt wohnt? Dennoch haben sie, wie die anderen biblischen Erzväter und -mütter auch, tiefe Spuren hinterlassen, die heute noch da sind. Sie sind nur nicht immer physisch vorhanden, sondern in unseren Herzen.
Für uns Juden sind sie nicht die »biblischen Erzväter«, sondern die eigenen Stammväter und -mütter. Juden nennen Abraham immer Avraham Avinu. Wie viele Kinder war auch ich in meinen ersten Lebensjahren sicher, Avinu sei Abrahams Nachname. Avinu heißt »unser Vater«. Sara bezeichnen wir auf gleiche Art als »unsere Mutter«. Die gleichen Bezeichnungen bekommen auch Isaak, Rebekka, Jakob, Lea und Rahel.
Beim Umzug nach Kanaan ist Abraham 75 Jahre alt, Sara ist 65. Sie sind kinderlos, aber nicht allein. Es begleiten sie Verwandte und Knechte, man könnte sagen eine mobile Wohngemeinschaft. Ihren Besitz nehmen sie mit, hauptsächlich Haushaltstiere der Region: Schafe, Ziegen, Kamele und Rinder. Ihre Häuser nehmen sie auch mit. Keine große Sache, es sind Zelte.
Lass uns in Abrahams Schuhe schlüpfen und ihn ins Land begleiten. An vielen Stellen lassen sich die Verse wie ein Reiseführer lesen. Wir starten in Haran (Genesis 12) und wollen nach Sichem im Herzen Kanaans, wohin Gott uns führt. Wir nehmen die Königsstraße über Damaskus nach Süden. 60 km südlich der heutigen syrisch-jordanischen Grenze kommt die Abzweigung zum Jordan. Im Jordantal ist es trocken, heiß und baumfrei. Die Sonnenuntergangsstraße wird uns 35 km durch die Schlucht Tirza führen, 1 000 Höhenmeter bergauf haben wir vor uns.
Mit jedem Schritt wird die Landschaft mediterraner und grüner, die Luft kühler und klarer. Je höher wir kommen, desto mehr Dörfer gibt es, mit mehr Landwirtschaft. Links begleiten uns immer die Hänge des Berges Kabir. Der Bach fließt ganzjährig und schnell. Immer wieder kommen wir an Quellen vorbei, die den Bach speisen. An den Quellen haben Menschen Becken und Tränken gebaut. Auch in 3 800 Jahren werden Hirten ihre Herden noch zu diesen Wasserstellen bringen. Das Tal ist fruchtbar. In Tieflagen werden Datteln angebaut, höher sind es Feigen, Oliven und vor allem Granatäpfel. In 1 900 Jahren werden Rabbiner die Granatäpfel und Nüsse aus diesem Tal als Beispiel für besonders kostbare Waren nennen, die nicht nach Gewicht, sondern einzeln verkauft werden (Mischna’ Orla 3,8). In den Dörfern werden neben Lebensmitteln Geschirr, Gefäße, Werkzeuge und Stoffe angeboten. Sobald wir oben sind, öffnet sich ein Tal, dahinter erheben sich zwei runde Berge, Ebal und Garizim. Unten, wo sie sich fast berühren, liegt Sichem, unser Ziel.
Die Ortsangabe ist sehr genau: »… bis zur Stätte von Sichem, bis zur Terebinthe More« (Genesis 12,6). Im hebräischen Text ist die Terebinthe eine Eiche. Sichems ältesten Teil nennen die Araber Tel Balata, wahrscheinlich abgeleitet von Balut, dt. »Eiche«.
Tel ist der archäologische Begriff für einen antiken Ansiedlungshügel. Das Wort bedeutet auf Hebräisch und Arabisch so etwas wie »Ruinenhügel«. Normalerweise besteht ein Tel aus mehreren Schichten, wobei die oberen neueren Datums sind als die unteren. Diese Siedlungsform entstand dadurch, dass Menschen Städte nach ihrer Zerstörung auf den Trümmern wiederaufbauten. Bis zum 4. Jh. v. Chr. war das die typische Stadtform. Rund 200 Tels gibt es in Israel heute.
Hier stand früher wohl ein bekannter, heiliger Baum direkt an der Stadt. Heilige Bäume gibt es in der einheimisch-arabischen Kultur auch heute noch, fast immer sind es Eichen oder Terebinthen. An diesem Baum informiert Gott Abraham, dass er am Ziel angekommen ist (Genesis 12,7). Hier baut Abraham seinen ersten Altar im verheißenen Land. 45 km südlich an der Bergstraße schlägt er sein Zelt zwischen Bethel und Ai auf (Genesis 12,8). Man geht davon aus, dass Bethel in dem heutigen palästinensischen Dorf Beitin und Ai am Dorfrand von Deir Dibwan liegt.
Auf der 2 km langen Strecke zwischen den Orten liegt ein Hügel, 860 m ü. NN, oben felsig, unten mit Oliven bepflanzt. Hier weht meistens der Wind und selbst im Hochsommer braucht man hier abends manchmal eine Strickjacke und Socken. Im Winter kann hier Schnee fallen und es ist nie besonders gemütlich. Aber man kann weite Teile des Landes sehen: im Westen das Mittelmeer, im Osten den Jordangraben und das Gebirge Moab, im Norden die Hügel Samariens und mit Glück den Hermon, im Süden die Höhen Judäas. Abraham hat sich einen Hügel am Nabel des Landes als Zeltplatz ausgesucht, baut einen Altar und ruft den Namen Gottes aus. Er verkündet Gott an dieser Stelle, wo er viel vom Land sieht und wo ihn viele Bewohner des Landes sehen können.
Anschließend geht es auf der Bergstraße weiter Richtung Süden. Die Landschaft bleibt ähnlich – Olivenhaine und Weinberge in Terrassen, undurchdringliche mediterrane Buschwälder mit immergrünen Eichen. Nach 20 km kommt er an Jerusalem vorbei. Der Bibeltext geht nicht darauf ein, aber wir wissen, dass die Stadt schon existierte. Abraham ahnt noch nicht, dass er unweit von hier seinen künftigen Sohn wird opfern wollen. Noch 8 km und er kommt an Bethlehem vorbei, ohne sich vorstellen zu können, dass dort 730 Jahre später der wichtigste König des Volkes, das aus seinem Samen entstehen wird, geboren werden wird. Aus den Hochlagen kann er das Tote Meer in der Wüste unten sehen. 25 km weiter südlich kommt er in Hebron an. Hebrons zweiter Name erzählt etwas über die Landschaft, Alonei Mamre, dt. »Mamre-Eichen«. Heute umgeben viele Weinberge die Stadt, ursprünglich gab es hier einen Taboreichenwald mit großen Abständen zwischen den Bäumen. Taboreichen sind den Korkeichen, die du vielleicht eher aus Südeuropa kennst, sehr ähnlich.
Südlich von Hebron verändert sich die Landschaft. Es gibt immer weniger Bäume und immer mehr Felsen. Die Landschaft wird gelblich und trocken. Quellen gibt es praktisch keine mehr, dafür mehr Zisternen, die das Leben hier ermöglichen. Statt in Dörfern leben hier viele als Nomaden. Bis heute leben in diesem Gebiet Menschen in Höhlenwohnungen mit kleinen, steinigen Äckern davor. 25 km hinter Hebron fällt das Gelände steil ab. Es öffnet sich ein weiter Blick auf die Beerscheba-Ebene in der Wüste. Vor dem Abstieg bleiben Abraham und Sara bestimmt kurz stehen und müssen die Augen mit der Hand abschirmen, um von der Sonne im Süden nicht geblendet zu werden. Am Nachmittag weht der Westwind und bringt Haare und Kopfbedeckungen in Bewegung. 17 km vor ihnen liegt Beerscheba, das zu einer ihrer zentralen Wohnstätten werden wird. Von dort führt der Weg weiter nach Ägypten. Wegen einer Hungersnot werden sie bald selbst auf diesem Weg reisen.
Die Durchquerung des Negev und des Sinai auf dem Weg zum Nil ist logistisch eine echte Herausforderung. Heiß, kaum Bäume, kaum Menschen und das Schlimmste – kaum Wasser. Man ist auf Hilfe angewiesen. Von Beerscheba bis zum Nil sind es 420 km, für die man ohne Pausentage gute zwei Wochen braucht. Aber wenn die Alternative das Verhungern ist, lohnt sich der Aufwand.
Für Abraham und Sara hat es sich mehr als gelohnt. Vor Ägypten waren sie reich, nach Ägypten sehr reich (Genesis 13,2). Und gleich beginnen die Wohlstandsprobleme. Abraham und sein Neffe Lot entscheiden sich für eine Trennung. Die Entscheidung fällen sie auf dem Hügel zwischen Bethel und Ai, wo sie schon einmal lagerten und einen Überblick über Kanaan hatten. 30 km südöstlich und 1 250 m tiefer sieht Lot den Jordankreis mit den Städten Jericho und Sodom.
Dort will Lot hin. Warum? In der Senke tritt Grundwasser durch geologische Risse auf und sorgt für ganzjährig sprudelnde Quellen. Diese Quellen schaffen Oasen, eine von ihnen ist Jericho. Bis heute nutzen hier Menschen das Wasser und bauen Datteln, Bananen, Papayas, Zitrusfrüchte, Melonen und Auberginen an. Wärme und Wasser zusammen schaffen paradiesische Zustände.
Der »Jordankreis«, in Bibelübersetzungen mit »Ebene«, »Land«, »Umgegend« oder »Landschaft« wiedergegeben, ist der letzte Abschnitt des Jordantals vor der Mündung ins Tote Meer. Hier öffnet sich der Jordangraben kreisförmig von sonst 10 auf 25 km. Mutmaßungen darüber, dass Sodom am südlichen Toten Meer gelegen haben könnte, sind nicht überzeugend. Zum einen wird der Jordankreis in der Bibel immer in Verbindung mit Jericho oder dem Jordan erwähnt. Am südlichen Toten Meer fließt der Jordan nicht. Außerdem hätte Lot von Bethel aus das südliche Tote Meer nicht sehen können, den Jordankreis schon. Die Forschung vermutet Sodom in Tel el-Hammam, 12 km östlich des Jordan, gegenüber von Jericho. Der Tel ist 5- bis 10-fach größer als andere aus der gleichen Epoche. An dieser Stelle existierte eine Stadt bis zu ihrem abrupten Ende durch außergewöhnlich hohe Temperaturen wie auf der Sonne, stellten Archäologen fest. Sie vermuten eine Meteoritenexplosion in der Luft über dem Gebiet. Das würde den biblischen Bericht über Sodoms Ende unterstützen.
Und Abraham? Er geht drei Tage auf der Bergstraße zurück nach Süden, unter Hebrons Eichen. Mit diesem Ort fühlt er sich besonders verbunden – hier wird er auch Sara begraben. Wieder baut er einen Altar. Die Bibel berichtet nun über einen Krieg zwischen mehreren Königen.
Unser Königsbild stammt aus dem Mittelalter Europas – ein König, der über ein ganzes Königreich regiert, wie England, Schweden oder Dänemark. Wenn wir uns einen biblischen König vorstellen, haben wir meistens David und Salomo im Sinn. Zwischen Abraham und David liegen 730 Jahre. Sie lebten in sehr unterschiedlichen Gesellschaften. Falls du noch nie vom Königreich »Zebojim«, »Bela« oder »Adama« aus der Geschichte Abrahams gehört hast, kannst mit gutem Gewissen und ohne zu googeln weiterlesen. Es waren nur Städte. Etwas größere Königreiche und sogar Imperien gab es damals schon, aber ein König war im 18. Jh. v. Chr. nicht viel mehr als ein Bürgermeister eines ausgewachsenen Dorfes, eine Art Stammesführer. Klein, aber oho, denn damit wurde er den Göttern gleichgestellt. Er hatte eine eigene Streitmacht und konnte über Krieg und Frieden, Leben und Tod entscheiden und keiner hat ihn gebremst. Er hatte mehr Macht als ein Regierungschef in einer heutigen Demokratie.
Nachdem Lot im Krieg entführt wird, kommt ihm Abraham zu Hilfe, der inzwischen genug Männer um sich hat. Sie jagen den Königen nach bis Dan.
Die antike Stadt ist uns heute noch bekannt. Durch mehrfaches Glück ist das Stadttor erhalten geblieben. Es ist das älteste vollständige Stadttor aus dieser Zeit, das jemals gefunden wurde. Falls Abraham in die Stadt ging, lief auch er durch dieses Tor. 15,45 m lang, 13,50 m breit und 7 m hoch mit einem Bogen in der Mitte, gibt uns dieses Tor eine Vorstellung über die Baufähigkeiten in Kanaan zu Erzväterzeiten. Bis das Tor 1979 gefunden wurde, nahmen die Wissenschaftler an, die Menschheit hätte zu der Zeit noch keine Bogen gebaut.
Zu diesem Zeitpunkt hat Gott etwas Besonderes mit Abraham vor. Er schließt einen Bund mit ihm (Genesis 15). Die jüdische Tradition lokalisiert den Ort des Bundesschlusses am Berg Btarim, dem westlichen Auslauf des Hermon. Btarim bedeutet »Fleischstücke«, aber der Berg bekam diesen Namen durch die traditionelle Lokalisierung und nicht umgekehrt. Überliefert ist diese Tradition erst seit dem 16. Jh. n. Chr., sie kann aber auch deutlich älter sein. Auch die Araber kennen sie und nennen den Ort Maschhad a-Teir, dt. »Zeugnis des Vogels« oder auch Makam Ibrahim el-Khalil, dt. »der heilige Ort Abrahams des Geliebten«. Wegen der Heiligkeit des Ortes blieb hier eine große Eiche verschont. Heute ist sie zwischen 600 und 1 000 Jahre alt und mit über 5 m Stammumfang die größte Eiche in Israel. Die jüdische Tradition bringt Pilger jährlich hierher. Sie ziehen aus Safed in Galiläa zum Berg, um das Torakapitel über den Bundesschluss Gottes mit Abraham zu lesen, die Parascha.
Die Tora, das heißt die fünf Bücher Mose, unterteilen Juden in 54 Abschnitte. Jeder Abschnitt ist eine Parascha und wird einer Kalenderwoche zugeteilt, sodass die gesamte Tora im Jahresrhythmus gelesen wird. Normale hebräische Jahre haben 50,5 Wochen. Manchmal gibt es Schaltjahre mit vier Wochen mehr, darum 54 Abschnitte. Der Abschnitt über Abrahams Bund beginnt in 1. Mose 12,1, endet mit 1. Mose 17,27 und wird immer in der dritten hebräischen Kalenderwoche gelesen, d. h. im September/Oktober.