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Wo die wilden Geister wohnen

Band 1

Martina Meier (Hrsg.)

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2012 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2012

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

ISBN: 978-3-86196-150-5 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-087-2 - E-Book (neu 2020)

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Inhalt

Der Waschlappen des Reimemanns

Im Halbschlaf

Das Geheimnis des Vaters

Das Nachbarhaus

Geistermathe und Zahlenspuk

Hangover

Plätzchen mit Frau Berling

Langhalssaurier

Der Wächter

Lena und die Hexe von nebenan

Bufonexe

Der Schatten

Jakob und die Pantoffeldiebe

Die Schere

Das Mädchen mit der Kerze

Mia, Matti und die Monster

Die Geister sind los

Der Wasser-Blubber-Bläschen-Geist

Mühlengeheimnisse

Cecilias monsterhafte Entführung

Die Geister in uns

Halloweenparty

Der Spuk im Nachbarhaus

Gefischte Seelen

Hexenbesuch

Der Besuch des Dr. Borovski

Die Geschichte von dem Nachtkrabb

Kapitän Landons Geist

Gespenstisches im Bahntunnel

Nächtlicher Besuch

Halloween in Allerorts

Das Burggespenst

Frau Schmidt auf Abwegen

Ruhestörung der Toten

Süßes oder es gibt Saures!

Eliza rannte

Der Fluch des Moormonsters

Der weiße Nebel

Gefangen

Geistertour durch Edinburgh Castle

Grusel, Grusel

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Autor*innen dieses Buches

Jannik Böker

Jochen Stüsser-Simpson

Carmen Majoleth

Diandra Linnemann

Nicole Janes

Heike Gewi

Ingrid Kaliner

Johannes Tosin

Birgit Otten

Nadine Schiek

M.W. Schwarzbach

Schemajah Schuppmann

Gabriela Bornemann

Michaela Secklehner

Volker Liebelt

Nicole Trieb

Martin Kobylski

Ramona Stolle

Norbert Scheitacker

Carmen Matthes

Stefanie Schmidt

Margit Kröll

Isabella Ebenhofer

Silke Tappen

Jonna Stieghorst

Viktor Nepomuk

Miriam Hurst

Jana Engels

Pia Castegnaro

Norbert J. Wiegelmann

Eva Reichl

Hanna Rein

Susanne Böckle

Cindy Paver

Maria-Christina Fischer

Julia Kraus

Eika Ehme

Dörte Müller

Wilfried G. Beschorner

Britta Voß

Charlie Hagist

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Der Waschlappen des Reimemanns

Frieda war ganz außer sich und bleich wie ein weißes Bettlaken, als sie ihren Bruder endlich erreicht hatte. Nachdem sie kurz nach Luft geschnappt hatte, rief sie mit Tränen in den Augen: „Henri, Henri, ich hab was ganz Schauriges gesehen!“

Henri war Friedas großer Bruder, und Frieda fand, er sei der mutigste Bruder auf der ganzen Welt. Als er sie so aufgeregt auf ihn zulaufen sah, nahm Henri seine kleine Schwester in den Arm und streichelte ihr über das Haar. „Beruhig dich doch erst mal, Frieda, was ist denn passiert?“

Als Frieda sich beruhigt hatte, begann sie zu erzählen, was sie denn nun eigentlich Schauriges gesehen hatte. „Henri, da ist irgendwas, da war so ein Geräusch, ein ganz gruseliges Geräusch.“ Bei dem Gedanken an das gruselige Geräusch bekam Frieda eine Gänsehaut und schauderte.

„Du bist ja ganz durcheinander“, sagte Henri. „Wo kam das Geräusch denn her?“

Frieda musste ein paar Mal tief ein- und ausatmen, bevor sie wieder etwas sagen konnte. „Also ich war im Keller, und es war so dunkel, und da war dieses Geräusch, und es wurde lauter, und dann bin ich hierher gelaufen.“

„Also hast du gar nichts Gruseliges gesehen, sondern nur ein Geräusch gehört?“ Henri musste fast lachen. „Das war ganz bestimmt nichts Gruseliges. Bestimmt nur der alte Reimemann von unten.“

Der alte Reimemann von unten war Friedas und Henris Nachbar, und der war tatsächlich ein wenig gruselig. Er hieß der alte Reimemann, weil er nur in Reimen sprach und, nun ja, er war alt. Der alte Reimemann hatte eine furchtbar lange, krumme Nase und seine Haut war grau wie Asche. Und da er auch noch eine krächzende Stimme hatte, die ein bisschen klang wie von einem Raben, war er ein ziemlich gruseliger alter Reimemann.

„Das war bestimmt nicht der alte Reimemann, ich kenn doch seine Stimme“, sagte Frieda und machte ein beleidigtes Gesicht. Langsam kullerten ihr wieder Tränen über die Wange und da Henri es nicht mochte, wenn seine kleine Schwester weinte, bot er ihr an, mit ihr in den Keller zu gehen, und nach der Ursache des gruseligen Geräusches zu sehen.

Also gingen sie hinunter und blieben vor der Kellertreppe stehen. Nun wurde Henri doch ein wenig mulmig zumute. Der Keller war immerhin recht dunkel und er konnte nicht aufhören, sich schreckliche Ungeheuer auszumalen, die ein solches Geräusch verursachten, das seine sonst so tapfere kleine Schwester zum Weinen brachte. „Was ist los, hast du etwa doch Angst gekriegt?“, flüsterte Frieda, die hinter ihrem Bruder stand und von einem Fuß auf den anderen trat, als müsste sie mal auf Toilette. „Ich und Angst? Das glaubst du doch selbst nicht! Ich hab vor nichts und niemandem Angst.“

Henri war es natürlich peinlich, vor seiner kleinen Schwester zuzugeben, dass er tatsächlich ein wenig Angst hatte, also ging er mutigen Schrittes voran, die Treppe hinunter in das schummrige Licht des Kellers. Als sie unten angekommen waren, war nirgends etwas Unheimliches zu hören oder zu sehen „Bis auf die Schatten, die sich in den Ecken verkriechen“, meinte Frieda. Sie bestand darauf, dass sie weitergingen – um die Ecke und um die nächste Ecke – also gingen sie, bis sie vor einer verschlossenen Tür standen. Hier war ebenfalls nichts Gruseliges zu entdecken und gerade, als Henri anfangen wollte, sich über seine ängstliche kleine Schwester lustig zu machen, hörte er es.

Dieses Geräusch war das Unheimlichste, was Henri je gehört hatte. Eigentlich war es gar nicht nur ein einzelnes Geräusch, vielmehr mehrere Geräusche gleichzeitig. Es klang ein wenig wie der Atem einer hustenden Kakerlake, wenn man eine hustende Kakerlake würde atmen hören können. Gleichzeitig klang es, als würde jemand mit scharfen Fingernägeln über eine Tafel kratzen und dabei mit einer kleinen Rassel einen unrhythmischen Rhythmus rasseln.

Selbst dem mutigen Henri lief es bei diesem Geräusch kalt den Rücken hinunter. Das Schlimmste war: Es wurde immer lauter und Friedas Schluchzen und Weinen machte alles noch schlimmer. Henri nahm Frieda an der Hand und lief los, lief, um die erste Ecke, um die zweite Ecke, doch plötzlich stolperte Frieda und fiel. Das Geräusch wurde immer lauter, kam immer näher. Henri half seiner kleinen Schwester hoch und schubste sie in Richtung Treppe, als etwas Weiches auf seiner Schulter landete. Haare kitzelten seinen Nacken, aber es waren nicht seine eigenen. Er sah hoch, sah in das furchterfüllte und kreidebleiche Gesicht seiner kleinen Schwester, die auf etwas hinter ihm starrte. Langsam drehte er sich um und sah in ein riesiges Gesicht, das mit bunten Haaren bedeckt war: Er sah blaue Haare, rote, gelbe, grüne, orange und lila Haare. Die Augen des Wesens waren schwarz wie die Nacht und die Lippen weiß wie Friedas Gesicht.

„Eigentlich sieht das gar nicht so Furcht einflößend aus, vielleicht ist es ja harmlos“, dachte Henri, gerade als das Wesen anfing zu brüllen. So laut, dass Frieda und Henri fast die Ohren abfielen. Es zeigte dabei eine Menge furchtbar spitzer, gelber Zähne und ein ekelhafter Gestank wehte Henry in sein Gesicht, sodass ihm übel wurde. Er wollte weglaufen, doch bis seine Beine anfingen, seinen Gedanken zu gehorchen, hielt ihn das Wesen bereits mit seinen Krallen an der Schulter fest.

„LAUF! Lauf, Frieda, hol Hilfe, hol Mama und Papa! Lauf los!“, schrie Henri verzweifelt, doch Frieda bewegte sich nicht, starrte wie hypnotisiert weiter auf das riesige Ungeheuer, das ihren großen Bruder festhielt und einfach nicht loslassen wollte.

Dieser Moment kam Henri wie eine Ewigkeit vor, eine Ewigkeit, die nach einer weiteren Ewigkeit von einem lauten Krächzen unterbrochen wurde. Henri brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass das Krächzen eine Stimme war, eine Stimme von einem Menschen, der in Reimen sprach und die von den Kellerwänden widerhallte:

„Bevor in die dunklen Tiefen

eines Kellers ihr geht,

in denen seit Jahren schon Monster riefen,

und ein schrecklicher Gestank weht –

denn Zahnpasta, die kennen sie nicht,

haben Angst vor den Menschen,

selbst vor dir kleinem Wicht.

Angst vor menschlichen Haaren,

vor jedem menschlichen Schopf.

So solltet ihr euch nur hinunter wagen,

mit einem Waschlappen auf dem Kopf.“

Richtig. Es war der alte Reimemann, der nun langsam die Treppe hinunterging, seine lange, krumme Nase dicht vor Friedas Gesicht hielt und ihr einen nassen Waschlappen auf den Kopf legte. Als er das bei Henri wiederholte und alle einen Waschlappen auf dem Kopf trugen, beruhigte sich das Monster, setzte sich friedlich hin und trommelte mit seiner kleinen Rassel auf den Boden. Es gab dabei freudige Geräusche von sich, die Henri an Frieda erinnerten, als sie noch ein Baby war und einen neuen Schnuller bekommen hatte.

„Helmut, das ist sein Name.

In jedem Keller wohnen solch wundersame

Kellermonster, er ist eins von vielen.

Sie sind nicht gefährlich, wollen einfach nur spielen.“

Also spielten die beiden Geschwister mit Helmut, bis es Abend wurde. Von da an kamen sie jeden Tag hinunter in den Keller, halfen dem alten Reimemann, sich um Helmut zu kümmern, spielten mit ihm, und brachten ihm Zahnpasta, damit sein Atem nicht mehr so stank und seine Zähne nicht verfaulten. Und sie hatten immer einen Waschlappen auf dem Kopf.

Jannik Böker 20 Jahre alt, wohnt in Hannover und studiert Geografie. In seinem persönlichen Horrorerlebnis spielten Tauben eine Rolle.

*

Im Halbschlaf

Ich schrecke hoch. Ist da nicht die Haustür eben ins Schloss gefallen? Dieses Knarren jetzt, ist das die erste Stufe der Treppe? Vielleicht der Wind im Kamin. Kommt Papa leise die Treppe hoch, oder Mama? Um den kleinen Bruder nebenan auf den Topf zu setzen, mach Pipi! Und wenn es nicht klappt, drehen sie den Wasserhahn an, dass es leise rauscht. Klappt immer bei dem kleinen Bruder, warum eigentlich? Kann aber nicht sein, Mama und Papa sind zu einer Feier im Sportverein eingeladen, der kleine Bruder übernachtet heute bei den Großeltern. Also bin ich ganz allein im Haus. Hoffentlich! Ich muss einfach cool bleiben. In der letzten Woche habe ich ja auch gedacht, dass jemand neben meinem Schrank steht. Wenn er wirklich da gestanden hätte, wäre er mit einem Sprung bei meinem Bett gewesen, mit nur einem Sprung. Stimmte aber nicht, es war nur vom Vollmond, glücklicherweise. Der hatte Schatten in meinem Zimmer geworfen, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

Ja, der Vollmond. Heute Nacht ist aber kein Vollmond, als ich ins Bett gegangen bin, hat es geregnet und draußen im Garten war es ganz dunkel, der Himmel wolkenverhangen. Trotzdem knarrt es jetzt schon wieder auf der Treppe. Da muss jemand sein. Mir läuft es kalt den Rücken runter. Soll ich aufstehen, ganz leise zum Lichtschalter schleichen und plötzlich das Licht anschalten? Vielleicht bekommt der Einbrecher einen solchen Schreck, dass er in Ohnmacht fällt. Oder sich umdreht und die Flucht ergreift. Ich stütze schon meinen Ellbogen auf, da fällt mir ein, dass Einbrecher wahrscheinlich nicht so ängstlich sind. Außerdem steht nicht nur er plötzlich im Licht, wenn ich es einschalte, er kann mich dann auch deutlich oben auf der Treppe sehen. Und dann? Ich müsste fliehen und mich verstecken, aber wo? Lieber tue ich gar nichts, oder doch, ich ziehe das Federbett über mich und stecke den Kopf unter das Kopfkissen, damit ich ihn wenigstens nicht höre. Vielleicht übersieht er mich einfach, wenn er ins Zimmer kommt. Von mir will er wahrscheinlich sowieso nichts, er sucht Mamas Ohrringe oder Papas schwarzen Anzug – und geht dann wieder, wenn er sie gestohlen hat. Unter dem Kopfkissen beruhige ich mich wieder und denke mir, es wird schon gut gehen.

Mir fällt die Geschichte ein, die Leander neulich bei den Pfadfindern flüsternd erzählt hat, nachts im Zelt: Kommt ein Mann die Treppe rauf, eine Stufe, noch eine Stufe und noch eine Stufe – und dabei wurde seine Stimme immer leiser, dass ich ihn am Ende kaum noch verstehen konnte –, drückt ganz leise die Türklinke herunter, öffnet die Tür, und geht zu deinem Bett ...

Und dann brüllte Leander völlig überraschend los: Jetzt hab ich dich! Dabei packte er mich an den Schultern und schüttelte mich in meinem Schlafsack. Mir verging Hören und Sehen, so erschrocken war ich, und nicht vom Schütteln.

Über die Erinnerung habe ich fast den anderen Mann vergessen, der jetzt auf meiner Treppe steht. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich unter dem Kissen nichts hören kann. Ich schiebe es langsam weg von dem Ohr, auf dem ich nicht liege, und höre den Wind im Schornstein pfeifen. Auch wenn es mich manchmal beunruhigt, ist dies eigentlich nichts Ungewöhnliches. Und während ich über den Sturm nachdenke, vergesse ich den Mann auf der Treppe ganz.

Ich bin fast eingeschlafen, als der Einbrecher sein Gewicht verlagert und auf die nächste Stufe tritt. Offenbar kann ich ihm doch nicht entkommen, indem ich an andere Sachen denke. Also konzentriere ich mich mit all meinen Gedanken auf ihn und das scheint zu helfen. Ich höre nichts mehr. Er ist auf der Treppe stehen geblieben.

Liegt das an meinen Gedanken oder macht er eine Pause? Er könnte ja auch ein schlechtes Gewissen bekommen haben, man steigt ja nicht in fremde Häuser ein und geht da die Treppe hoch. Oder er ist nicht ganz gesund, Papa erzählt oft von Leuten aus seiner Praxis, von großen durchtrainierten Männern, denen plötzlich schwindlig wird, weil sie etwas mit dem Kreislauf haben. Wenn das so ist, muss ich ja aufstehen und ihm ein Glas Wasser bringen. Doch wenn er dann wieder zu Kräften kommt ...

Ein erneutes Knarren ist von der Treppe zu hören, und ich bin erleichtert, dass es ihm wieder besser geht. Ich muss mich nicht kümmern, ich kann einfach liegen bleiben. Und während ich überlege, ob er mich umbringt, lässt der Einbrecher sich unheimlich viel Zeit, zu viel Zeit. Ich schlafe ein und träume, dass ich die Mathe-Arbeit nicht mitschreiben muss und auch nicht die Englisch-Arbeit, und dass Einbrecher auf der Treppe auch ihr Gutes haben. Ein schrecklicher Lärm reißt mich aus den Träumen, ich sitze senkrecht im Bett. Und wieder kommt das Geräusch mit voller Lautstärke, sodass ich den Kopf zwischen die Schultern ziehe.

Ein grelles Miauen schrillt durch unser Treppenhaus, begleitet von einem Kratzen und Scharren an meiner Tür. Mir fällt es wieder ein: Wir haben Findus, die Nachbarskatze, für eine Woche zur Pflege aufgenommen, weil die Nachbarn Urlaub machen. Todmüde und doch erleichtert rufe ich, dass es durch das ganze Haus schallt: „Findus!“

Jochen Stüsser-Simpson erzählt gerne Geschichten, die er selbst erlebt oder sich ausgedacht hat. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinem jüngsten Sohn, der auch schon in die Oberstufe kommt, in Hamburg.

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Das Geheimnis des Vaters

Ann-Lin hielt den Atem an. Sollte sie es tun? Unschlüssig strich sie sich über das weiße Nachthemd. Es war kaum von ihrer bleichen Haut zu unterscheiden. Die Farben schienen ineinander zu verschmelzen. Vielleicht lag dies aber auch daran, dass Nacht herrschte. Einzig durch ein großes Fenster, das sich am Ende des Korridors befand, flutete zwischen einem Gardinenspalt das Mondlicht hinein.

Fröstelnd rieb sich Ann-Lin die Arme. In der Villa herrschte trotz des Sommer eine nahezu winterliche Kälte. Das alte Gebäude war wohl beim Bau vor mehreren Jahrhunderten nicht darauf ausgelegt worden, Wärme zu speichern. Vielleicht war es zu jener Zeit noch so warm gewesen, dass man das gar nicht gebraucht hatte? In letzter Zeit wurde in der Zeitung viel über das Wetter geschrieben. Die nahende Kälteperiode, so nannte man die Zukunft. Alle wussten, dass die Menschheit vor langer Zeit eine zweite Eiszeit heraufbeschworen hatte. Sie waren nun deren Kinder, die die Folgen zu tragen hatten.

Kopfschüttelnd brach Ann-Lin ihre Gedankenspinnerei ab. Sie war aus einem anderen Grund hier. Der Gedanke daran genügte, um ihr Herz rasen zu lassen. Sie wusste genau, dass sie es nicht tun durfte. Vorsichtig streckte sie ihre Hand nach dem Messingknauf aus. Er war unerwartet kalt, als würde man einen Schneeklumpen anfassen.

„Unsinn“, flüsterte sie. Das redete sie sich nur ein, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas tat, das verboten war. Aber sie musste es tun! Es war ihr eingeschärft worden, niemals den Gang zu beschreiten, der zum Arbeitszimmer ihres Vaters führte. Nun wollte sie endlich wissen, was ihr Vater vor ihrer Mutter und ihr selbst verbarg. Nicht mal dem Hauspersonal war es gestattet, den Raum zu betreten. Er musste etwas Besonderes beinhalten!

Entschlossen drehte sie den Knauf.

Abgeschlossen.

So, wie sie es geahnt hatte.

Ein Grinsen umspielte ihre Lippen. In Gedanken lobte sie sich selbst für ihre Gerissenheit. Ann-Lin griff unter ihr Hemd und holte eine Kette hervor, an der ein messingfarbener Schlüssel hing. Es war sehr gefährlich gewesen, diesen von ihrem Vater zu stehlen. Er bewahrte ihn immer in seinem Schlafzimmer auf. Nur der pure Zufall hatte es ihr ermöglicht, ihn zu entwenden.

Ein leises Klacken ertönte, als sie die Tür aufschloss. Das Mädchen musste ihr ganzes Körpergewicht einsetzen, um die Türflügel zu öffnen.

Die muffige Luft umhüllte sie wie faulender Atem. Das Licht hier drinnen war noch spärlicher als auf den Korridor. Zwar gab es zu ihrer Linken mehrere große Fenster, die die gesamte Wand beherrschten, doch diese waren allesamt mit schmucken Gardinen bedeckt. Schemenhafte Umrisse waren das Einzige, was das Mädchen erkennen konnte. Wie lauernde Schatten waren sie. Groß, Angst einflößend und unbeständig.

Ann-Lin stieß gegen eine Kommode, als sie einen Schritt zur Seite tat. Ihre Hände ertasteten eine Öllampe, daneben Streichhölzer. Welch ein Glück! Sie zündete die Lampe an und hielt sie hoch über ihren Kopf. Das Licht vertrieb die Schatten nur teilweise.

Staunend drehte sie sich im Kreis, bewunderte die seltsamen Dinge, die ihr die Helligkeit offenbarte. Da waren kuriose Instrumente, deren Sinn und Zweck sie nicht kannte. Überall waren Bücher und Schriftrollen. Selbst am Boden lag das Zeug. Es gab kaum ein Fleck, der nicht von etwas besetzt war. Und dann diese bizarren Zeichnungen, die an den Wänden hingen.

Ann-Lin trat näher an eine heran. Sie wusste zwar, dass es sich hierbei um Mathematik handelte, doch dabei blieb es auch schon. Das Papier war gespickt von Notizen, Berechnungen und Skizzen. Das wirre Durcheinander ergab für sie einfach keinen Sinn. Was ihr Vater wohl damit bezwecken wollte?

Sie drehte sich um und verharrte im selben Augenblick, als das Licht ihrer Lampe einen seltsamen Gegenstand streifte. Nein, es war ein Tuch, das etwas verbarg. Die Kälte ignorierend, die durch ihr Nachthemd drang, trat sie neugierig näher. Langsam hob sie das Tuch an, riss es dann aber mit einem Ruck weg. Vor Schreck stieß sie einen heiseren Schrei aus und stolperte zurück. Zwei gelb glimmende Augen starrten sie an. Zitternd hob Ann-Lin die Lampe hoch. Das Licht offenbarte ihr eine Kreatur, deren Aussehen sie nicht mal in ihren Albträumen zu kreieren vermocht hätte.

Zwei lange, gebogene Zähne ragten aus der spitzen Schnauze. Auf dem Kopf zuckten zwei pinselartige Ohren und drehten sich in ihre Richtung, als sie die Luft scharf zwischen ihren Zähnen einsaugte. Auf dem Rücken der Kreatur thronten zwei eng angelegte, fledermausähnliche Schwingen. Die drahtigen Beine gingen in Furcht einflößende Klauen über.

Ann-Lin erholte sich vor dem Schreck. Sie befand sich in keinerlei Gefahr. Das Monster saß nämlich in einem Käfig, dessen Tür mit einem Schloss abgeschlossen war.

„Nenne mir deinen Namen!“

„Was?“ Das Mädchen horchte auf. „Wer spricht da?“

„Ich.“

Sie blickte die Kreatur im Käfig an. „Du?“

Das Wesen regte sich und schwenkte den Kopf in ihre Richtung. „Nenne mir deinen Namen“, wiederholte es.

„Ich heiße Ann-Lin, und du?“ Ihr war gar nicht wohl dabei, sich mit diesem Ungeheuer zu unterhalten. Warum zum Teufel hielt ihr Vater ein solches … Tier in seinem Arbeitszimmer gefangen?

„Ich habe keinen Namen.“ Die Kreatur knurrte leise.

„Was bist du überhaupt?“ Ann-Lin trat einen Schritt zurück. Sie hatte Angst.

„Ein Gargoyle.“

„Kenne ich nicht.“ Das Mädchen wich noch weiter zurück. Sie wollte nur noch hier raus. Das war kein Ort, der für sie bestimmt war.

„Bleib hier.“ Der Gargoyle fixierte sie mit seinem scharfen Blick. „Du musst mich befreien.“

„Nein!“ Ann-Lin hob abwehrend die Hände vor sich. Das Licht ihrer Lampe flackerte.

„Dein Vater hat mich gefangen genommen. Nun will er mich für seine Experimente missbrauchen.“

„Welche Experimente?“ Das Mädchen blieb tatsächlich stehen und lauschte den Worten der fremdartigen Kreatur.

„Grausame Dinge, die er mir antun will“, wich der Gargoyle der Frage aus.

„Mein Vater würde so was nie tun“, widersprach Ann-Lin trotzig. „Er ist ein guter Mensch.“

„Aber nicht zu mir.“ Der Gargoyle reckte sich in seinem kleinen Käfig, doch der Platz reichte nicht aus, damit er sich erheben konnte. „Lass mich frei. Ich bin nicht das, wonach dein Vater sucht.“

„Was sucht er denn?“ Ann-Lin verstand die Welt nicht mehr. Ihr Vater war wahrhaftig ein seltsamer Mann, aber böse war er ganz bestimmt nicht.

„Wenn du mich freilässt, werde ich es dir sagen.“

Das Mädchen meinte, ein Grinsen auf dem Antlitz der Kreatur zu sehen. Ann-Lin überlegte eine Weile, ehe sie nickte. „Versprochen.“

Rasch eilte sie zum Fenster und riss die Vorhänge beiseite. Weil sie viel zu klein war, musste sie auf einen Stuhl stehen, um das Fenster zu öffnen.

„Gut.“ Die Stimme des Gargoyle klang befriedigt, als sie das Schloss mit demselben Schlüssel öffnete, mit dem sie ins Zimmer gelangt war. Die Käfigtür schwang mit einem knarrenden Geräusch auf und die Kreatur stürzte sich durch die Luke. Mit einem Fauchen entfaltete sie ihre Flügel und rauschte zum Fenster.

„He! Du hältst dein Versprechen nicht!“, rief Ann-Lin ihr hinterher und rannte zum Fenster. Kalter Wind blies ihr ins Gesicht, als sie auf die Stadt niederschaute, die vor sich hin schlummerte.

„Dein Vater“, der Gargoyle saß oberhalb des Fensters auf dem Dachgiebel und blickte höhnisch auf sie hinab, „wollte ein Mittel gegen die nahende Kälteperiode finden. Ich hätte sie verhindern können, doch nun bin ich frei und ihr werdet eurem Schicksal ausgeliefert sein!“ Mit diesen Worten schwang sich die Kreatur in die Luft und schwand aus Ann-Lins Blickfeld in die kalte Abendluft.

Carmen Majoleth ist 19 Jahre alt und wohnt in der Schweiz. Sie hat bereits einige Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht und arbeitet zurzeit an ihrem ersten Fantasyroman. Ihr persönliches Spukerlebnis: Als kleines Kind ging sie im Dunkeln in den Keller und meinte, ein Geräusch hinter sich gehört zu haben. Sie ist sich bis heute noch nicht sicher, ob es nicht ein Gargoyle gewesen war.

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Das Nachbarhaus

Entspannte schaukelte Timo im Kirschbaum und beobachtete das Haus der Nachbarn. Oder vielmehr das Haus, denn Nachbarn gab es nicht. Schon seit einer ganzen Weile. Immer wieder zogen Leute nebenan ein, und jedes Mal verschwanden sie bereits nach kürzester Zeit wieder. Er konnte die Umzugswagen schon gar nicht mehr zählen.

Timos Eltern behaupteten, da drüben gebe es nichts zu sehen. Aber er wusste es besser. Bestimmt spukte es dort! Abends in seinem Zimmer hielt er die Vorhänge stets fest verschlossen, denn von seinem Fenster aus konnte er genau auf das leer stehende Haus sehen. Aber tagsüber fühlte er sich sicher, schließlich spukte es nur nachts, richtig?

Die Ferien waren öde. Alle seine Freunde waren in Urlaub gefahren – in die Berge oder ans Meer oder ins Zeltlager. Nur Timo war alleine zuhause geblieben. Seine Eltern arbeiteten beide den ganzen Tag und machten sich trotzdem immer Sorgen. Um Erwachsenendinge. Damit Timo tagsüber keinen Unsinn anstellte, war die Oma gekommen, um auf ihn aufzupassen, aber die schlief nach ihrem Frühstückstee jeden Tag auf dem Sofa ein und wachte erst wieder auf, wenn es Zeit fürs Abendbrot wurde. Also hatte Timo viel Zeit.

Er dachte an all die spannenden Sachen, die seine Freunde nach den Sommerferien in der Schule erzählen würden. Und an die Grimassen, wenn er davon erzählte, dass sie einen ganzen Garten voller Marienkäfer und Nacktschnecken hatten, und dass er sich beim Klettern zwei Hosen zerrissen hatte.

Außerdem stand nebenan das verlassene Haus, das garantiert voll wilder Abenteuer war, und nur darauf wartete, von ihm erforscht zu werden! Damit stand Timos Plan fest: Er würde auf eine Expedition gehen! Vorsichtig schwang er sich aus dem Kirschbaum auf den Rasen, den er heute Morgen erst gemäht hatte, um sich das Taschengeld aufzubessern. Ein Blick durch die Terrassentür – Oma schlief noch.

Er huschte auf Socken an ihr vorbei in die Küche, denn für eine ordentliche Expedition brauchte er auch Proviant. Schnell belegte er sich zwei Scheiben Brot mit Käse und nahm einen Schokoriegel aus dem Regal. Die Katze strich hungrig schnurrend um seine Beine. „Du hast heute schon Frühstück gehabt!“, schimpfte Timo leise, „du gieriges Geschöpf!“ Bis zum Abendessen wäre er bestimmt wieder da.

Das Tor in der Mauer, die das Nachbargrundstück umgab, war nicht verschlossen. Timo sah sich um, öffnete es einen winzigen Spalt und huschte hindurch, ehe der Postbote oder der neugierige Mann von der anderen Straßenseite ihn aufhalten konnte. Das Tor knarzte ein wenig und schloss sich hinter ihm mit einem leisen metallischen Geräusch.

Obwohl es heller Tag war, wirkte das Grundstück unheimlich. Eine Hälfte des Gartens hatten die letzten Bewohner noch frisch hergerichtet, ehe es ihnen zu viel geworden war. Die andere Hälfte war ein dichter Dschungel, in dem sich Schmetterlinge und Ameisen tummelten. In der hintersten Ecke gab es einen schlammigen Tümpel, über dem Libellen kreisten. Timo konnte Frösche quaken hören.

Er sah sich erst einmal in Ruhe um. Es gab weder Skelette noch halb vergrabene Schatztruhen. Nur eine Harke mit ausgeblichenem Holzgriff lag auf einem der Beete. Die ungeputzten Fenster des Hauses schienen ihn zu beobachten. Timos Herz klopfte schneller. Wenn er sich jetzt umdrehte und einfach nach nebenan zurückkehrte … aber dann hätte er kein einziges Abenteuer zu erzählen!

Die Haustür bestand aus dickem Holz, von dem rostbraune Farbe abblätterte. Es gab eine Klinke, die sich ohne jeglichen Widerstand herunterdrücken ließ. Die Tür schwang lautlos auf. Das war noch gruseliger, als wenn sie geknarrt hätte. Im Inneren war es dunkel, aber auch kühl. Timo stand in einem kahlen Flur, die Sonne im Rücken. Es roch nach Staub und ausgelaufenem Putzmittel. „Eigentlich gar nicht so schlimm“, beschloss Timo, und schloss die Tür hinter sich. Dann begann er mit seiner Erkundung.

Im Erdgeschoss fand er vier Räume, darunter eine Küche mit einer halb demontierten Küchenzeile und ein Bad mit kotzgrünen Kacheln. In einem der Küchenschränke, von dem die Türen fehlten, stand ein Kochtopf, der dringend mal wieder poliert werden musste. Auf der Anrichte lag ein Silberlöffel, den steckte Timo als Trophäe ein. In den anderen Räumen gab es abblätternde Tapeten mit verblichenen Mustern und einen eingerollten Perserteppich, in dem Timo, als er ihn abrollte, allerdings nur Mäuseköttel fand.

Vorsichtig stieg er die Treppe hinauf in den ersten Stock.

„Willst du mit mir Murmeln spielen?“ Da war ein anderes Kind! Es trug ein langes Kleid und war sehr blass, fast schon grünlich.

„Hast du mich aber erschreckt!“, stöhnte Timo.

„Ich bin Alia. Willst du mit mir Murmeln spielen? Ich habe eine ganz große!“ Ohne auf Antwort zu warten, drehte das Mädchen sich um und ging in ein Zimmer. Es hatte lange, dunkle Haare mit einem grünlichen Schimmer.

Timo folgte Alia. „Was machst du hier?“

„Ich wohne hier.“

„Lügnerin!“ Timo stemmte die Fäuste in die Hüften. „Hier wohnt niemand! Ich hab die Leute doch erst letzte Woche ausziehen sehen!“

Alia sah ihn aus großen dunklen Augen an. „Ach, die Leute! Keine Ahnung, wer die waren. Die haben hier all ihre Sachen aufgestellt, aber spielen wollten sie nicht mit mir.“

Timo nickte. „Ja, das kenn ich. Erwachsene haben nie Zeit.“

„Aber die hatten eine Katze, die war richtig lieb zu mir! Hier – versprich mir, dass du nichts verrätst!“

„Indianer-Ehrenwort.“

Alia legte den Kopf schief, als müsse sie erst darüber nachdenken. Dann kniete sie vor dem Wandschrank, öffnete die Tür und schob eines der Bodenbretter beiseite. Sie holte ein kleines Beutelchen hervor, in dem es klackte. „Die habe ich alle gefunden. Wenn du willst, gebe ich dir welche ab.“ Sie öffnete den Beutel und holte ein paar bunte Kugeln hervor, die sie Timo in die ausgestreckte Hand legte. Ihre Finger waren eiskalt.

„Sag mal … bist du ein Geist?“

Wieder legte Alia den Kopf schief, dieses Mal zur anderen Seite. „Ich glaube nicht.“

„Was bist du dann?“

„Keine Ahnung.“ Sie zuckte die Schultern. „Eines Tages bin ich hier aufgewacht. Wie ich hergekommen bin oder was ich hier soll, hat mir keiner gesagt. Meistens beobachte ich die Leute.“

„Ich auch!“, rief Timo.

Alias Murmeln waren wirklich hübsch, sie schienen von innen heraus zu leuchten. „Lass uns spielen!“

„Nicht hier“, widersprach Alia und schüttelte den Kopf, dass ihre dunklen Locken nur so flogen. „Hier oben machen wir zu viel Lärm! Lass uns in den Keller gehen.“

geboren am 06.11.1982, studierte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Japanisch und Arabisch. Sie arbeitet als diplomierte Übersetzerin im Bereich Medizin in Bonn. In ihrer Freizeit schreibt sie Kurzgeschichten in englischer und deutscher Sprache und arbeitet an ihrem ersten Roman. Außerdem ist sie eine leidenschaftliche Köchin, geht gerne joggen und kümmert sich um ihre beiden Katzen. Sie hat den braunen Daumen – gruselig!