Vorwort

Alle Menschen sind »verpflichtet, die Wahrheit, besonders in dem, was Gott und seine Kirche angeht, zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren«. Zu dieser Pflicht werden die Menschen »durch die eigene Natur gedrängt«.

(KKK 2104)

Auf dem Cover dieses Buches sehe ich mit meinem Pullunder und dem weißen Hemd wie ein Pfarrer aus, oder? Schon eigenartig, wie ein eigentlich weltliches Kleidungsstück zum Erkennungszeichen des Klerikers werden konnte. Bis ich selbst in die Welt der Kleriker kam, hatte ich nie darüber nachgedacht.

Nach acht Jahren in der katholischen Kirche wusste ich, was es mit den Pullunderträgern auf sich hat. Und ich wusste vieles mehr über die Kirche. So viel, dass ich mich entschied, doch kein Priester zu werden. Was ich in diesen acht Jahren in Priesterseminaren und kirchlichen Ausbildungsstätten erlebte, habe ich in diesem Buch aufgeschrieben. Es ist keine Abrechnung mit der katholischen Kirche oder gar mit dem Glauben. Ich bin nach wie vor in vielen Glaubensansichten mit der Kirche einig. Ich glaube und meine zu wissen, dass Christus mich liebt und so annimmt, wie ich bin. Doch viele Auslegungen, Meinungen und Dogmen der Kirche kann ich nicht vertreten.

Ich stehe hinter meiner Überzeugung, meinen Aussagen und der Wahrheit der Erlebnisse, wie ich sie in diesem Buch erzähle. Ich habe keine offene Rechnung mit der Kirche und hätte vonseiten der Kirche aus ohne Probleme Priester werden können. Mein Theologiestudium habe ich mit der Note 1,3 abgeschlossen und ein lupenreines Empfehlungsschreiben für den priesterlichen Dienst erhalten. Es attestiert mir geistige, theologische und menschliche Reife. Die Kirche wollte mich. Aber ich entschied mich gegen die Kirche und für die Wahrhaftigkeit, vor allem mir selbst gegenüber.

Zur Wahrheit gehört in diesem Buch auch, dass ich die Namen und Herkunftsorte meiner Kommilitonen verändert habe. Weil ich selbst immer offen und ehrlich war, sind mir viele Menschen ebenso offen und ehrlich begegnet und haben sich mir im Lauf der Jahre anvertraut. Dieses Vertrauen werde ich nicht missbrauchen, indem ich die echten Namen dieser Menschen verrate. Jeder von diesen Menschen soll selbst entscheiden, was er nach außen trägt und wozu er selbst steht. Jeder von diesen Menschen muss mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren, inwieweit er ehrlich oder unehrlich mit seiner Situation innerhalb der Kirche leben kann.

Bei Problemen und Konflikten, die oft keine sein müssten, gilt in der Kirche das elfte Gebot: Du sollst nicht darüber sprechen. Egal, was das eigene Gewissen sagt, das elfte Gebot dominiert, und mit ihm die Angst, als Kirchenmann von der eigenen Kirche entlassen zu werden.

Ich breche in diesem Buch das elfte Gebot, und das mit gutem Gewissen. Es ist ein Gebot der Menschen und der Kirche, nicht das Gebot Gottes. Das elfte Gebot sollte für niemanden gelten. Denn es trägt dazu bei, dass die Kirche weiterhin über die Angst und die Schuldgefühle der ihr anvertrauten Menschen Macht ausübt. Wie sie dies im Detail tut – auch dies erzähle ich in diesem Buch anhand meiner eigenen Erlebnisse.

Danken möchte ich:

Meinem Mann René für die Möglichkeiten, die er mir bietet, meinen Weg in der Wahrheit und Freiheit des Lebens außerhalb der Kirche zu finden. Danke, dass du mir über den Weg gelaufen und für mich da bist.

Meiner Mutter, die stets voll und ganz hinter mir steht und immer nur eines will: mich glücklich zu sehen. Und was soll ich dir sagen: Heute bin ich es!

Meinem Vater dafür, dass sich alles zum Guten gewendet hat. Ich habe heute erkannt, dass du immer das Beste für mich wolltest und mich vor Enttäuschungen zu bewahren versuchtest.

Meiner ganzen Familie, die mich trägt und unterstützt.

Meinen besten Freundinnen Nicole und Miriam, die mir stets Mut zusprechen.

Felicia Englmann für ihre tatkräftige Unterstützung bei diesem Werk.

Meinen Freunden und Freundinnen von der Fachakademie Neuburg an der Donau. Ihr seid die wahren Helden.

David Berger für sein Engagement.

Allen, die ihren Namen hier nicht finden, aber wissen, dass sie eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen und bei diesem Buch, in welcher Weise auch immer, mitgewirkt haben.

Zweifel

Das ganze Volk erlebte, wie es donnerte und blitzte, wie Hörner erklangen und der Berg rauchte. Da bekam das Volk Angst, es zitterte und hielt sich in der Ferne. Es sagte zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören. Gott soll nicht mit uns reden, sonst sterben wir. Da sagte Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht! Gott ist gekommen, um euch auf die Probe zu stellen. Die Furcht vor ihm soll über euch kommen, damit ihr nicht sündigt.

(Exodus 20,18–20)

Ich glaube an Gott, aber ich glaube nicht mehr an die heilige katholische Kirche. Ich bin kurz davor, zum Diakon geweiht zu werden, und nie war mir die Kirche so fremd. Acht Jahre lang habe ich mich darauf vorbereitet, katholischer Priester zu werden. Jetzt bin ich kurz vor dem Ziel. Und war dem Ziel nie so fern wie heute.

Ich wäre ein ausgezeichneter Priester – das sagen mir meine Kommilitonen, meine Dozenten, mein Heimatpfarrer. Mein Glaube ist stark und meine Liebe zu den Menschen unendlich. Mein Herz sagt mir, dass der Priesterberuf genau der richtige für mich ist. Gott sagt mir, dass es das ist, was ich tun sollte. Gott hat mich berufen, so laut, dass ich es nicht überhören konnte. Hier bin ich nun. Aber meine Seele weint.

In den dunklen Stunden der Nacht wandere ich durch meine einsame Wohnung. Hier bin ich und finde keine Ruhe. Dabei hatte ich gedacht, dass ich das innere Ringen längst gewonnen hätte. Dass ich nach all der Zeit sicher wäre: Das Priesterdasein, das ist mein Leben. Aber jetzt bin ich unsicherer als an dem Tag, an dem ich zum allerersten Mal meine innere Stimme sagen hörte: Werde doch Priester …

Ist es eine Prüfung Gottes, um die große Entscheidung endgültig zu bestätigen – oder ist es eine Warnung vor dem Unglück? Gott verlangt viel von mir. Er hat mich berufen und mir die Liebe zu den Menschen mit auf den Weg gegeben. Er hat mich aber auch als schwulen Mann erschaffen und mir das Bedürfnis nach menschlicher Nähe, Liebe und Sexualität mitgegeben. Wieder und wieder wandere ich in diesen dunkelsten aller nächtlichen Stunden durch die Wohnung und ringe mit mir selbst. Denn diese beiden Wege sind nicht vereinbar. In der katholischen Kirche muss ich mich entscheiden: Berufung oder Beziehung?

Eine schwere Entscheidung. Fast niemand kann sie endgültig treffen. In den vergangenen Jahren habe ich gesehen, wie viele Priester an den Ansprüchen ihrer Kirche scheitern: Diejenigen, die eine Lüge leben und sich für eine heimliche Partnerschaft entscheiden. Diejenigen, die sich an den Zölibat halten und zugleich an ihrer Einsamkeit zerbrechen. Ich kenne nur wenige Geistliche, die völlig mit sich, ihrem Beruf und ihrer Berufung im Einklang sind und so leben, wie es die katholische Kirche verlangt. Dennoch war ich eine Zeit lang davon überzeugt, genau das zu können. Aber je näher der Tag rückt, an dem ich geweiht werden soll, desto dunkler werden meine Nächte. Mein Herz und mein Verstand sind sich uneins.

Immer wieder denke ich an all die Priester und Priesteramtskandidaten, die ihre Sexualität heimlich ausleben und sich deshalb schuldig fühlen. Die ihre Partner oder Partnerinnen mehr oder weniger offen an ihrer Seite haben und damit gegen die Regeln der Kirche verstoßen. Die sich nach außen vergeistigt, ja geradezu heilig geben und im Privatleben »die Sau herauslassen«. In der Kirche glaubte ich, das Gute zu finden, doch was ich fand, war vor allem Scheinheiligkeit, Verlogenheit, Vertuschung, Gleichgültigkeit, Neid, Gemeinheit, Oberflächlichkeit. Ich fand Menschen, die sich ihre eigene Menschlichkeit versagten, die jeden Kontakt zur Alltagswelt verloren haben. Und so sagt mir mein Verstand: Komm zur Besinnung!

Will ich wirklich den Rest meines Lebens mit diesen Menschen verbringen? Ist es diese Kirche wert, einen großen Teil von mir zu opfern? Kann Gott das von mir wollen? Ich denke an all die Erlebnisse der vergangenen Jahre und an die Zeit, als ich tatsächlich der Überzeugung war, das Gute, ja, die reine Güte in der Institution katholische Kirche gefunden zu haben. Und so blutet mein Herz. Ich glaube an Gott. Ich wollte Priester werden­ – bis ich die Kirche richtig kennenlernte.

Glück in einer ­zerbrechlichen Welt

Die Familienbeziehungen bewirken eine besondere gegenseitige Nähe der Gefühle, Neigungen und Interessen, vor allem, wenn ihre Mitglieder einander achten. Die Familie ist eine Gemeinschaft mit besonderen Vorzügen: sie ist berufen, »herzliche Seelengemeinschaft, gemeinsame Beratung der Gatten und sorgfältige Zusammenarbeit der Eltern bei der Erziehung der Kinder« zu verwirklichen.

(KKK 2206)

Kirche? Damit hatte ich die meiste Zeit meines Lebens nichts am Hut. Langweilig – so empfand ich, mit einem Wort gesagt, die Gottesdienste. In der Kirche war es kalt und düster, und in den Bänken saßen nur alte Leute in sich zusammengesunken da. Von der Predigt des greisen Pfarrers verstand ich kein Wort. Die Messe schien ewig zu dauern, und wenn dann endlich das Glöckchen klingelte und der Pfarrer die Hostie hochhielt, atmete ich auf: Nur noch ein paar Minuten, dann würde es vorbei sein.

In meiner Familie war bis auf meine Großeltern, vor allem meine Oma, niemand besonders religiös. Ich wuchs in einem kleinen Dorf bei Günzburg auf, im bayerischen Schwabenland. Ein paar Bauernhöfe entlang der Straße, 120 Einwohner. Wir waren eine traditionelle Großfamilie: Mein Vater hatte den Zimmereibetrieb seiner Eltern übernommen, und meine Großeltern lebten mit uns zusammen auf einem Grundstück – ebenso wie mein Onkel, meine Tante und mein zehn Jahre älterer Cousin sowie meine Urgroßmutter, die hier die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte.
Meine Großmutter war der Mittelpunkt der Familie und die Kraft, die uns alle zusammenhielt, trotz ihres eher herben als herzlichen Umgangs, ihrer strengen statt sanften Art. Ihre Küche war unsere Familienzentrale. Pünktlich um 10.30 Uhr gab es Brotzeit, zu der sich dort alle, die in der Werkstatt arbeiteten – darunter auch meine Mutter –, einfanden. Dass meine Oma meinen schwer kranken Opa pflegte, schien mir als Kind ganz normal. Warum sie so streng war und ein geradezu herrisches Regiment führte, wie hart sie mit sich selbst umging und was ihr tiefer Glauben damit zu tun hatte – das verstand ich damals noch nicht.

Großmutter war es sehr wichtig, mir und meinem fünf Jahre älteren Bruder Olli christliche Werte beizubringen und uns an die Kirche heranzuführen, erst recht, da meine Eltern sich so wenig dafür interessierten. Allerdings war unser Dorf so klein, dass wir nicht einmal eine Kirche hatten, sondern nur eine kleine Kapelle. Zum Gottesdienst mussten wir in den Nachbarort Wettenhausen fahren oder über die Felder dorthin laufen.

In Wettenhausen befinden sich ein Dominikanerinnen-Kloster und die für die Gegend zuständige Pfarrkirche, die sich direkt an das Kloster anschmiegt. Mit ihrem weißen Glockenturm und dem Zwiebeldach fällt die Pfarrkirche schon von Weitem ins Auge und ist auch im Innern – mit Stuck verziert und vielen Kunstwerken geschmückt – um einiges prächtiger als die Klosterkirche selbst. Da schon damals Personalmangel herrschte, war für Kloster wie Pfarrei derselbe Pfarrer zuständig.

Meine Großmutter war der Meinung, dass unsere Familie viel zu selten die Messe besuchte, und drängte uns Kinder, sie in die Kirche zu begleiten. Sie meinte es gut. Aber Olli war dazu nicht zu überreden und suchte schon früh seinen ganz eigenen Weg. Ich dagegen ging mit, zumindest manchmal, zusammen mit vielleicht zwei oder drei anderen Kindern, die ebenfalls von zu Hause aus in die Kirche gedrängt wurden. Aber für uns alle war das Schönste am Gottesdienst, wenn er vorbei war.

Als ich sechs Jahre alt war, ließen meine Eltern sich scheiden. Der Vater verließ das Dorf, weil er eine jüngere Frau kennengelernt hatte. Zum Arbeiten kam er aber weiterhin in den Betrieb. Als Kind verstand ich zunächst nicht, was da passierte – ich dachte, es wäre normal, dass ein Vater nicht mehr mit seiner Familie in einem Haus wohnt. In der Grundschule hänselten mich die anderen Kinder zwar dafür, dass meine Eltern geschieden waren, aber ich wusste nicht einmal, was »geschieden« bedeutet – in unserem Dorf kannte ich keine Geschiedenen. Dass auch meine Tante und mein Onkel sich getrennt hatten, war mir damals gar nicht aufgefallen, da nie darüber gesprochen wurde. Also musste ich meine Mutter fragen, was es mit diesem »geschieden sein« auf sich hatte. Erst da verstand ich, dass bei uns auf dem Land eine Scheidung wie ein Brandzeichen war: Meine Mutter war das schwarze Schaf im Dorf und durfte in der Messe nicht mehr zur Kommunion gehen – ein zusätzlicher Grund für sie, mit der Kirche zu brechen.

Nach knapp vier Jahren schloss der Vater den Zimmereibetrieb. Um unser Haus auch weiterhin erhalten zu können, arbeitete meine Mutter daraufhin in einer Fabrik für Elektrokleingeräte. Da sie einen Teil des Hauses allein abbezahlen und uns Kinder durchbringen musste, litt sie unter ständiger Existenzangst. Die sogenannte Hausfrauenschicht, zu der meine Mutter in der Fabrik eingeteilt war, ging von 17 bis 22 Uhr und war sehr anstrengend. Daher übernahmen meine Oma und meine Großeltern in Krumbach einen gewichtigen Teil meiner Erziehung und der meines Bruders. Wenn wir unter der Woche aus der Schule kamen, gab es in Omas Küche das Mittagessen. Wenn meine Mutter abends weg war, brachte Oma uns ins Bett. Die Wochenenden verbrachten wir dann meistens in Krumbach bei meinen anderen Großeltern, die meine Mutter dadurch entlasteten.

Mein Bruder war sehr wütend, fast hasserfüllt, und warf dem Vater vor, uns im Stich zu lassen. Überhaupt begehrte er in dieser Zeit ständig auf und tat, was er wollte. So sah er auch aus: lange Haare, AC/DC-­
T­-­Shirt, Lederjacke, Springerstiefel. Ich verstand mich nicht mit ihm, und es gab viel Streit. Ausgehen und Partymachen war alles, was ihn interessierte. Und so knatterte er jedes Wochenende auf seinem Moped davon. Niemand kam mehr an ihn heran, erst recht nicht der Vater, dem er stets mit dem Vorwurf konterte, er habe ihm nichts mehr zu sagen, weil er uns verlassen hatte.

Während Olli mit unserer Familie, dem Vater und dem Dorf am liebsten nichts mehr zu tun haben wollte, gab es für mich nichts Schöneres als meine Heimat und ein harmonisches Zusammenleben. Ich schaffte mir meine eigene kleine, heile Welt, indem ich mich viel mit Tieren beschäftigte. Einen richtigen kleinen Zoo baute ich mir auf. Zu den Stallhasen, die meine Großmutter schon immer gehalten hatte, bekam ich einen Zwerghasen dazu, im Haus hatten wir einen Wellensittich, und auf dem Hof tummelten sich Katzen. Ich liebte es, mit meiner Spielkameradin von nebenan in den Stall zu gehen und mit den Hofhunden herumzutollen. Ich nahm Reitstunden, und später baute ich mir noch eine große Voliere in den Garten, in der ich Wachteln und Fasane hielt. Im Gegensatz zu allen unseren Nachbarn hatten wir selbst zwar keinen Bauernhof, aber ich war trotzdem ein richtiges Landkind.

Deshalb war klar, dass ich mir zur Erstkommunion nichts sehnlichster wünschte als – einen eigenen Hund! Überhaupt ging es mir bei der Kommunion nur um die Geschenke und den schulfreien Tag, an dem der Kommunionausflug stattfand. Religion? War mir egal. Und die Kirche in Gestalt des alten Gemeindepfarrers tat auch reichlich wenig, um dies zu ändern. Der Pfarrer konnte mit uns Grundschulkindern nichts anfangen und hatte weder Geduld noch Gespür für uns. Mit seinen fast 80 Jahren – seine Priesterweihe war im Jahr 1931 gewesen – war er damit einfach überfordert. Daher gab es natürlich auch keine Kindergottesdienste in der Gemeinde. Zur Vorbereitung auf die Erstkommunion marschierte eine Gruppe von 25 Kindern ein Mal pro Woche in die düstere kalte Kirche, wo uns der Pfarrer dann – gerne mit erhobenem Zeigefinger – erklärte, was auf uns zukommen würde. Die Frage, ob jemand zur Kommunion geht oder nicht, stellte sich erst gar nicht. Es war ein völlig unumstößliches Ereignis, ein absolutes Muss.

Wir Kinder hatten eher Angst, als dass wir uns auf dieses Ereignis freuten, dort in der dunklen Kirchenbank vor dem Pfarrer, der uns gewaltigen Respekt einflößte. Vor einem Pfarrer muss man Ehrfurcht haben, das hatte man uns Kindern eingebläut, in der Gegenwart des Herrn Pfarrer darf man nichts Falsches sagen und sich nicht danebenbenehmen. Der Pfarrer war eine absolute Autoritätsperson. Gemocht haben wir ihn trotzdem nicht. Oder vielleicht gerade deswegen.

Den Religionsunterricht in der Schule fand ich dagegen großartig. Er war anders als die anderen Stunden, und ich mochte vor allem die biblischen Geschichten, die uns die Lehrerin erzählte. Während der Kommunionvorbereitung erklärte sie uns selbstverständlich auch, was die Hostie ist und die Gemeinschaft mit Christus bedeutet, aber das waren leere Worte für mich. Ich war bei der ganzen Sache dabei, weil alle anderen auch dabei waren – und wegen der Geschenke.

Fast hätte mein Bruder mir meinen Festtag verdorben. Wie immer gab es Streit zwischen ihm und dem Vater, und das schon am Morgen, als wir zur Kirche gehen wollten. Olli weigerte sich nämlich, mitzukommen. Er schrie und stieß wilde Drohungen aus, was sich fest in meine Erinnerung eingebrannt hat. Kirche und Glaube bedeuteten mir in jener Zeit ­zwar kaum etwas – meine Familie und unser harmonisches Miteinander dafür alles. Wie würde mein großer Tag wohl weitergehen, wenn schon zu Beginn der Haussegen schief hing? Allerdings wurde es dann doch ein schönes Fest. Für die Feier nach dem Gottesdienst hatten meine Eltern sogar einen Tisch in einem Wirtshaus reserviert – ein seltenes und deshalb ganz besonderes Erlebnis. Zu Hause wartete eine üppige Kaffeetafel auf uns, bis es am Spätnachmittag in die Dankandacht ging. Und dankbar war ich tatsächlich: Dafür, dass wir an diesem Tag alle beisammen waren, dafür, dass ich einmal im Mittelpunkt stehen durfte – und natürlich für meine Kommuniongeschenke.

An diesem Tag fühlte ich mich unendlich reich. Es war so üblich, dass ein Kommunionkind von jeder Familie im Dorf einen Umschlag mit Glückwunschkarte und Geld zugesteckt bekam. Beim Öffnen der Kuverts notierte man dann mit Bleistift auf der Karte, wie viel die jeweilige Familie gegeben hatte, damit man bei nächster Gelegenheit – wie einer anderen Kommunion oder Firmung – ein gleichwertiges Gegengeschenk machen konnte. Zwischen 5 und 20 Mark steckten in jedem Umschlag, sodass ich zusammen mit den Geschenken von meinen Verwandten insgesamt 860 Mark bekommen hatte.

Seltsamerweise ist das Zählen des Geldes derjenige Moment meines Erstkommuniontages, der mir am deutlichsten im Gedächtnis geblieben ist. Wahrscheinlich weil wir sonst an allem sparen mussten und sehr bescheiden lebten. Mit dem kleinen Vermögen erfüllte ich mir dann meinen größten Wunsch: Ich durfte Rambo, einen Bearded-Collie-Mischling, aus dem Tierheim holen. Ein Luxus, den meine Mutter mir nie hätte ermöglichen können.

Da meine Mutter arbeitete, mein Bruder keinen Finger rührte und Oma mit dem Haushalt und der Pflege ihres Mannes sehr eingespannt war, übernahm ich schon als Zehnjähriger viele Aufgaben im Haus – und damit auch einen Teil der Verantwortung für die Familie. Ich putzte, ich saugte Staub, ich kümmerte mich um das Abendessen – kochen hatte ich bei Oma gelernt –, und ich tat es gerne, vor allem, um meiner Mutter eine Freude zu machen. Wir waren keine heile Familie. Auch keine gut katholische. Aber ich war glücklich.

Was ist eigentlich »die Kirche«?

Die »Kirche« ist das Volk, das Gott in der ganzen Welt versammelt. Sie besteht in den Ortsgemeinden und verwirklicht sich als liturgische, vor allem eucharistische Versammlung. Sie lebt aus dem Wort und dem Leib Christi und wird dadurch selbst Leib Christi.

(KKK 752)

Wie mir dürfte es vielen Kindern ergangen sein: Über die Familie, die Schule, die Heimatgemeinde wächst man in Kirche und Glauben hinein, ganz natürlich, ohne viel darüber nachzudenken oder zu wissen, worum es wirklich geht. Diese »Glaubenserziehung« heißt Katechese, und die Inhalte des Glaubens sind im Katechismus der katholischen Kirche niedergeschrieben – kurz KKK –, dem offiziellen Glaubenshandbuch. Als Kommunionkind hatte ich mit dem Katechismus noch nichts zu tun, und die Katechese war eher schlicht. Aber es gab sie, vor allem durch meine Großmutter.

Aber was etwa bedeutet das Wort »katholisch« eigentlich genau? »Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche …« Selbst für diejenigen, die das apostolische Glaubensbekenntnis schon häufig gesprochen haben, ist diese Frage gar nicht so leicht zu beantworten.

Das Wort »katholisch« kommt aus dem Griechischen (katholikós) und bedeutet »um des Ganzen willen« oder »das Ganze betreffend«. Die katholische Kirche erhebt also einen Allgemeingültigkeitsanspruch als die einzige, die wahre Kirche. Tatsächlich ist die »römisch-katholische Kirche« – neben der es noch die griechisch-katholische, die syrisch-maronitische oder die altkatholische Kirche gibt – die größte unter den christlichen Kirchen. An ihrer Spitze steht der in Rom residierende Papst, daher auch der Zusatz »römisch«. Letzteres dürfte wohl zum Allgemeinwissen zählen – aber andererseits: Gehört Religiöses heute überhaupt noch zum Allgemeinwissen?

Glaubenserziehung ist hierzulande längst keine Selbstverständlichkeit mehr, egal ob im katholischen oder evangelischen Glauben. Religion gehört nicht mehr zu den Pflichtfächern. Praktizierende Katholiken kennen zwar den Katechismus, werden aber nicht unbedingt eine Ausgabe zu Hause haben. Was auch nicht zwingend nötig ist, handelt es sich doch um eine Art Gebrauchsanweisung des Glaubens. Im Gegensatz zur Bibel, dem Wort Gottes, hat sich der Katechismus im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder stark verändert und ist als solcher sogar erst zu Beginn der Neuzeit erfunden worden. Die Bibel ist in ihrer Zusammensetzung und ihrem Inhalt seit etwa 1600 Jahren unverändert geblieben – wenn auch nicht in ihrem exakten Wortlaut, der durch Übersetzungen und Neu-Übersetzungen stets den Zeiten angepasst wurde.

Die jeweils aktuelle, für die katholische Kirche »gültige« Fassung der Bibel ist die Vulgata in lateinischer Sprache. Latein ist die Sprache der Kirche, und so werden alle wichtigen und gültigen Dokumente des Vatikans bis heute zuallererst in Latein verfasst und dann in die jeweiligen Landessprachen übersetzt. Die jüngste Vulgata stammt aus dem Jahr 1979. Die sogenannte Einheitsübersetzung der Bibel ins Deutsche, aus der heute in allen katholischen Kirchen während des Gottesdienstes gelesen wird, wurde erst im Jahr 1980 fertig.

Dieser Ausflug in die Theorie ist wichtig, um das Selbstverständnis der Kirche zu begreifen. Bei vielen Themen beruft sich die Kirche immer wieder auf ihre 2000-jährige Geschichte und pocht auf die Unveränderbarkeit vieler Regeln, Glaubenssätze und Dogmen. Ein Dogma ist übrigens ein Glaubenssatz, der verbindlich, verbindend und unverrückbar ist, da er mit der Bibel und ihrer Aussage übereinstimmt und in der kirchlichen Tradition steht. Kein Priester, Bischof oder Papst kann einfach von sich aus ein Dogma verkünden oder gar im Alleingang beschließen. Das viel zitierte »Unfehlbarkeitsdogma« allerdings besagt, dass der Papst als Lehrer aller Christen stets unfehlbar ist, wenn er eine Glaubens- oder Sittenfrage als entschieden verkündet – und es stammt nicht etwa aus der Antike, sondern aus dem Jahr 1870.

Die Kirche diskutiert durchaus über Dogmen, wie zuletzt im Zweiten Vatikanischen Konzil, das von 1962 bis 1965 dauerte. Es sollte sich vor allem um »eine klare Darlegung der Kraft und Schönheit der Glaubenslehre bemühen«, wie Papst Johannes Paul II. später im Vorwort des Katechismus schrieb. Unter den deutschen Teilnehmern dieses Konzils waren die Tübinger Theologen Joseph Ratzinger und Hans Küng – beide Hochschullehrer, beide geweihte Priester, und beide erwarteten sich viel vom Konzil, allerdings in unterschiedlicher Richtung. Schon damals vertrat Küng eine liberale, Ratzinger eine konservative Position. Diese beiden Strömungen sind bis heute in der katholischen Kirche zu finden.

Die Ergebnisse dieses Konzils sind vielfältig. Manche davon sind nur für Theologen interessant, andere prägen das religiöse Leben der Gläubigen bis heute. Wie etwa der Beschluss, die Liturgie – also die Art und Weise, wie die heilige Messe gefeiert wird – zu modernisieren und die Messe nicht mehr wie bis dahin üblich ausschließlich in lateinischer Sprache, sondern in den jeweiligen Landessprachen zu feiern, um sie den Menschen näher zu bringen. Zudem beschloss das Konzil, dass Predigten und Fürbitten einen festen Bestandteil der Messe bilden, sodass Laien aktiv bei der Gottesdienstgestaltung mitwirken dürfen. Die Messe in ihrer heutigen Form ist also noch keine 100 Jahre alt. Die Urkirche der Antike besaß noch nicht einmal eine fertige Bibel, geschweige denn feste Rituale, und war noch eine jüdische Gemeinde oder – historisch korrekter formuliert – Sekte. Erst um 135 nach Christus trennte sich die Urkirche endgültig vom Judentum.

Die Urkirche hatte auch keinen Papst, wenngleich sich schon damals die ersten kirchlichen Ämter herausbildeten, vor allem um die Arbeit in den Gemeinden zu strukturieren und zu organisieren: So wachte der Bischof (abgeleitet vom griechischen Wort episkopos für Hüter, Beschützer) darüber, dass die Botschaft Christi in ihrer ursprünglichen Form weitergegeben wurde. Laut katholischer Überlieferung sind die Bischöfe die Nachfolger der Apostel. Sie übernahmen eine spirituelle Führungsrolle ebenso wie die Presbyter (vom griechischen Wort presbyteros für Ältester, woraus später das Wort Priester entstand). Neben Bischöfen und Presbytern gab es in der Urkirche auch schon die Diakone (vom griechischen Wort diakonos, Diener Gottes).

Der Papst steht laut katholischer Überlieferung in der direkten Nachfolge des Apostels Petrus, des ersten Bischofs von Rom, der damaligen Hauptstadt der antiken Welt. Gemeindegründer Petrus wurde von Kaiser Nero im Kolosseum am Kreuz hingerichtet und auf dem Vatikanischen Hügel begraben. Etwa ab dem Jahr 200 nach Christus verehrten die römischen Christen auf dem Vatikan eine Stelle, die das Grab Petri sein sollte. Dort steht nun der Petersdom inmitten der Vatikanstadt, Hauptstadt des kleinsten anerkannten, unabhängigen Staats der Welt. Oberhaupt von Kirche, Vatikanstadt und Kirchenstaat ist seit der Antike der Papst (vom griechischen Wort pappas, Vater oder Bischof), Lateinisch papa oder auch – ab dem 6. Jahrhundert – pontifex maximus (oberster Priester). Von dieser lateinischen Bezeichnung leitet sich der Begriff für die Amtszeit eines Papstes ab: Pontifikat. Jeder Papst ist zugleich auch Bischof der Diözese Rom.

Die Urkirche kannte also weder Papst noch Bibel. Und dennoch wurde die katholische Kirche durch die Übersetzung der Heiligen Schrift vom Lateinischen in die Muttersprachen der Gläubigen – derjenigen, die sie lesen, verstehen und ihre Botschaft in den Herzen tragen sollen – bis auf die Grundfesten erschüttert. Es war der Reformator, Theologe und ehemalige Mönch Martin Luther, der die Bibel im 16. Jahrhundert als erster in die deutsche Sprache übersetzte, und dies nicht einmal auf Grundlage der bis dahin gültigen lateinischen Vulgata. Stattdessen studierte Luther noch ältere, griechische Texte, um in seiner deutschen Fassung möglichst nah an den ältesten bekannten Bibelabschriften zu bleiben. Als er die sogenannte Lutherbibel 1534 fertigstellte, war er bereits aus der katholische Kirche exkommuniziert, also ausgeschlossen worden, und die Reformation war in vollem Gange. Die Kirche und die Glaubenspraxis an die Lebenswelt der Menschen anzupassen war eines der reformatorischen Ziele Luthers und seiner Zeitgenossen. Und führte schließlich zur Kirchenspaltung.

Die Spaltung der Kirche ist unter anderem der Grund für die skeptische, zumeist ablehnende Haltung, die der konservative Flügel der katholischen Kirche gegenüber allem Neuen an den Tag legt. Jedem Trend hinterherzulaufen und jede Zuckung des Zeitgeists aufzunehmen war und ist freilich nicht die Aufgabe der Kirche, die dauerhafte Werte vermitteln und auch in stürmischen Zeiten Orientierung bieten will. Die Kirche sollte ein zuverlässiger Referenzpunkt sein, ein unerschütterlicher Fels in der Brandung, der Halt und Schutz bietet, wenn alles andere in der Gesellschaft, in der Welt sich aufzulösen scheint oder zumindest verhandelbar wird. Glaube und Kirche sind nicht verhandelbar, so die Meinung der Konservativen, die dabei allerdings so weit gehen, dass sie die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils ablehnen. Die Beschlüsse des Konzils sind in ihren Augen nichts weiter als eine Anbiederung an den Zeitgeist und höhlen den – vermeintlich – wahren katholischen Glauben aus.

Die 1979 erschienene Neufassung der Vulgata, der lateinischen Bibel, war ebenfalls ein Ergebnis des Konzils. Die Theologen waren übereingekommen, die lateinische Fassung auf Basis des Studiums von Quellentexten zu überarbeiten und nachweisbare Übersetzungsfehler zu tilgen. Übrigens derselbe Anspruch, mit dem sich fast 500 Jahre zuvor bereits Martin Luther an seine Fassung der Bibel gemacht hatte.

Neben Papst und Bibel war der Urkirche auch der Zölibat fremd. Zumindest gibt es keinen Beleg für seine Existenz. Der Zölibat bedeutet Ehelosigkeit und völlige sexuelle Enthaltsamkeit und ist die Voraussetzung dafür, dass ein Mann zum Geistlichen geweiht werden kann. Er gilt allerdings auch für andere Menschen, die ein »gottgeweihtes Leben« führen möchten, wie Ordensleute, Einsiedler und alle, die sich bewusst »um des Himmelsreiches willen«, wie es im Matthäus-Evangelium steht, dafür entscheiden. Genau das ist der Zölibat also laut Bibel: eine Entscheidung, keine Verpflichtung, selbst wenn ihn Apostel Paulus an manchen Stellen in seinen Briefen empfiehlt. An anderen Stellen empfiehlt er aber auch die Ehe.

Bis zum Mittelalter durften verheiratete Männer Priester werden bzw. sein, wenngleich ihnen der Geschlechtsverkehr mit ihren Partnerinnen untersagt war. Doch erst im Jahr 1139 führte die römisch-katholische Kirche auch den Ehelosigkeitszölibat ein. Betrachtet man also die ganze Zeitspanne von der Entstehung der Kirche bis heute, hat es über die Hälfte dieser Zeit gar keinen Ehelosigkeitszölibat gegeben. Dennoch bekräftigte ihn das Zweite Vatikanische Konzil 1965 explizit.

Heute ist die Kirche rückwärtsgewandter denn je. Der innerkirchliche Trend geht sogar in die Zeit vor dem Zweiten Vatikanum zurück. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, und im Vergleich zum vergangenen werden wieder deutlich mehr Messen in lateinischer Sprache gelesen. Nicht zuletzt Papst Benedikt XVI., damals als Joseph Ratzinger selbst Konzilstheologe, hat diesem Rückschritt Tür und Tor geöffnet, indem er Gruppen im Schoß der Kirche willkommen geheißen hat, welche die Konzilsbeschlüsse nach wie vor ausdrücklich ablehnen und einst genau deshalb von der Kirche abgespalten worden waren. Was mich jedoch am meisten erschreckt, ist die Tatsache, dass es nicht etwa nur die Alten sind, die solche erzkonservativen Meinungen vertreten, sondern vor allem auch junge Gläubige. Und das sollte ich früher, als es mir lieb war, am eigenen Leib erfahren.

Heilige Nacht

Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. (…) Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede, bei den Menschen seiner Gnade.

(Lk 2,9–14)

An Heiligabend war in meiner Familie alles so, wie es sein sollte. Heiligabend war für mich als Kind der schönste Abend des Jahres, erfüllt von einer einzigartigen Energie. Überhaupt haben die intensivsten Erinnerungen an meine Kindheit mit Weihnachten zu tun. Der Advent war für mich nicht nur eine Zeit der Vorfreude, sondern schon damals eine Zeit des Zur-Ruhe-Kommens, des Nachdenkens. Die Adventszeit hat mich tief bewegt, gerade wegen ihrer Stille, die bei uns auf dem Land auch noch tatsächlich still war. Die Arbeit auf den Bauernhöfen war getan, die Dunkelheit hüllte das Dorf ein, die Kälte kroch um die Häuser. Alles war ruhig, und wenn Schnee lag, kam es mir vor, als würde die Natur unter einer weißen Decke schlafen. Die Geräusche der wenigen Autos draußen auf der Dorfstraße waren gedämpft. Drinnen hörten wir bei Kerzenlicht die Geschichten und Erzählungen von Christi Geburt und bastelten Kränze und Weihnachtsschmuck aus Zweigen und Stroh.

Die Nacht vor dem 24. konnte ich immer kaum schlafen, so aufgeregt war ich wegen des bevorstehenden Festes. Ich wusste, was auf mich zukam. An Heiligabend war der Vater immer den ganzen Tag lang bei uns. Den Vormittag über mussten wir Kinder uns noch selbst beschäftigen. Oder wir gingen zu unserem Opa. Der hatte eigentlich immer Zeit für uns, denn wegen seiner Behinderung konnte er nur mit großer Mühe sein Zimmer verlassen. Wir redeten mit Opa oder spielten mit ihm, während meine Oma in der Küche noch die letzten Plätzchen buk. Da roch es dann schon im ganzen Haus nach Weihnachten. Wir Kinder waren furchtbar aufgedreht, liefen von Opa zu Oma und weiter zu meiner Tante, die den Weihnachtsbaum schmückte, und zurück zu Oma, die den Plätzchenteller auffüllte. Ich ging der gesamten Verwandtschaft auf die Nerven mit meiner Vorfreude. Mein Bruder zog sich eher zurück, aber die Festvorbereitungen ließen ihn nicht einmal in den schlimmsten Flegeljahren völlig ungerührt.

Zum Mittagessen trafen sich alle in der Küche meiner Oma. Wo sonst. Auch an Weihnachten war sie es, die uns zusammenhielt und zusammenbrachte. Es gab dann ein kleines Essen, und dann kam Ruhe in die Familie. Die Arbeit war getan. Mein Vater sammelte uns Jungs und seine drei Schäferhunde, manchmal auch einen Cousin, zusammen, und wir gingen raus in die Natur. Wenn Schnee lag, nahmen wir den Schlitten mit, und als wir noch ganz klein waren, spannten wir die Hunde davor und ließen uns ziehen. Zwei, drei Stunden waren wir gemeinsam draußen; so viel Zeit hatten wir sonst nie zusammen. An diesen Nachmittagen spürte ich, dass auch die Natur an Heiligabend anders ist. Dass eine Grundstimmung in der Luft liegt wie an sonst keinem anderen Tag. So viel Ruhe und Frieden.

Erst in der Dämmerung kamen wir wieder nach Hause, und dann trafen sich wieder alle zum Kaffee bei Oma in der Küche. Um 17.30 Uhr gab es dann schon Brotzeit, nur eine Kleinigkeit, und dann warteten wir auf die Bescherung. Wir Kinder kratzten dann schon unten an der Wohnzimmertür und versuchten, durch das Schlüsselloch zu gucken und das Christkind zu erspähen. Wir wussten: Irgendwann verschwindet jetzt unsere Mutter, dann läutet das Glöckchen, und dann wird da dieser strahlende Lichterbaum stehen. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich an den Moment denke. Meine Mutter vor dem Baum mit den echten Kerzen, auf dem Plattenspieler läuft »Stille Nacht, heilige Nacht«, wir alle kommen herein, sind als Familie zusammen. Es ist der eine Moment im Jahr, in dem alles heil ist.

Das Gefühl in diesem Moment meiner Kinderzeit war reine Geborgenheit. Der eine Moment ohne Ängste und Sorgen. Jeder war auf seine Art und Weise glücklich und im Einklang mit sich selbst, und dieses Glück erfüllte den ganzen Raum. Es war auch der eine Moment, in dem wir alle zusammen waren. All die Menschen, die ich gern hatte. Ich wünschte mir immer, das Gefühl dieses Abends mitzunehmen, denn das, was ich an Weihnachten erlebte, war genau das, was ich mir unter Familie vorstellte. Einfach nur zusammen sein. Aber es war nur an Heiligabend so. An allen anderen Tagen des Jahres war alles zerrissen.

Wir sangen keine Weihnachtslieder, aßen keinen großen Braten, und die Geschenke waren auch nicht allzu üppig. Wir saßen einfach beisammen, die Kinder spielten mit den Geschenken, es gab Glühwein und Tee, wir hörten Musik und unterhielten uns. Nachts um zehn gingen meine Großeltern in die Christmette, und wir anderen blieben einfach sitzen und feierten weiter. Wenn der Abend vorüber war, war ich schon als Kind todtraurig, weil ich wusste, es würde jetzt wieder ein ganzes Jahr – also eine Ewigkeit – dauern, bis ich dieses Gefühl das nächste Mal spüren dürfte. Am ersten Weihnachtsfeiertag war es schon wieder vorbei, denn dann fuhr der Vater weg, und meine Mutter reiste mit uns Buben zu ihren Eltern.

Und eines Tages sollte ich es zum allerletzten Mal spüren. Als ich 14 Jahre alt war, heiratete der Vater erneut, bekam eine Tochter und hatte von da an eine andere Familie, mit der er Heiligabend verbrachte. Auch mein Bruder hatte inzwischen eine eigene kleine Familie, mit der er zurückgezogen in der Einliegerwohnung unseres Elternhauses lebte. Und meine Mutter, der die Schichtarbeit in der Fabrik immer mehr zusetzte, schaffte es kaum mehr, einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Um den Baum habe dann ich mich gekümmert, aber es war nicht mehr dasselbe. Die Familie war jetzt selbst an Weihnachten zerrissen.

Die Sehnsucht nach diesem Weihnachtsgefühl von damals trage ich bis heute in mir. Die Sorglosigkeit von damals gibt es für mich nicht mehr. Jeder einzelne Heiligabend meiner Kindheit ist mir in Erinnerung geblieben, weil jeder etwas ganz Besonderes war. Diesen Geist der Weihnacht trage ich in meinem Herzen. Nichts kann ihn mir nehmen. Weihnachten wird für mich immer das wichtigste und schönste Fest des Jahres bleiben. Aber an Weihnachten zu denken macht mich auch traurig. Denn dieses Gefühl von damals ist für immer verloren.