Titel

Eva B. Gardener

Lebenshunger

Ein Jana- und Jay-Krimi

Impressum

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Sollte es trotzdem Übereinstimmungen geben,

so würden diese auf jenen Zufällen beruhen,

die das Leben schreibt.

 

 

 

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1. Auflage 2005

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Foto: pixelquelle.de

Gesetzt aus der 9,3/12,5 Punkt GV Garamond

ISBN 978-3-8392-3178-4

 

 

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Prolog

 

Svetlana zitterte ein wenig. Sie fühlte ihr Herz bis zum Halse hinauf schlagen und versuchte ruhiger zu atmen. Sie war aufgeregt, denn gleich sollte sie ihre deutsche Gastfamilie kennen lernen. Sie zog ihren kleinen Taschenspiegel aus der Rocktasche und überprüfte zum zehnten Mal, ob ihre braunen Locken, die sich bis weit über ihre Schultern den Rücken hinab ergossen, auch nicht zu wild aussahen. Dann wartete sie weiter. Sie wagte nicht vom Stuhl aufzustehen, obwohl sie gerne aus dem Fenster geschaut hätte. Aber Roman hatte gesagt, sie solle am Tisch sitzen bleiben, bis er mit der Familie käme, für die sie bestimmt sei; und sie wollte einen guten Eindruck machen.

Roman hatte sie in der Nacht zuvor mit dem Wagen hierher gebracht.

„Wir sind in München«, hatte er gesagt und sie an der Schulter gerüttelt. Sie war eingenickt gewesen, doch der Name der Stadt, die ihr neues Zuhause werden sollte, ließ sie ganz schnell die Müdigkeit nach der langen Autofahrt vergessen. Sie hatte aus dem Fenster geblickt und breite Straßen gesehen. Die Schaufenster waren hell erleuchtet gewesen, obwohl es mitten in der Nacht war und kaum Menschen unterwegs waren. Was sie sah, gefiel ihr, die Stadt wirkte freundlich, hell und irgendwie festlich.

Sie waren weitergefahren, weg vom Zentrum, bis es keine Schaufenster mehr gab und die Häuser dicht gedrängt und dunkel standen. Roman parkte den Wagen in einer Seitenstraße, die Straßenlaterne flackerte trübe, aber verbreitete kein Licht.

Sie stiegen aus dem Wagen; Svetlana streckte ihre langen Jungmädchenglieder, während Roman die Stofftasche mit ihren Sachen aus dem Kofferraum nahm. Dann fasste er sie am Ellbogen und führte sie über einen finsteren Hof zum Hintereingang eines der Häuser.

Die Tür war nicht verschlossen gewesen und sie waren hineingegangen. Roman betätigte einen Schalter und das plötzliche Licht blendete sie. Nach ein paar Sekunden hatte sie sich daran gewöhnt und Svetlana schaute sich um. Sie sah ausgetretene Stufen, und auf dem Boden zertretene Kippen und leere Zigarettenschachteln, es roch nach Urin.

Sie waren die Treppe hinaufgegangen in den dritten Stock und dann den schmuddeligen Flur entlang. Vor einer der Türen waren sie stehen geblieben.

Er hatte aufgesperrt und gesagt, hier könne sie bis zum Morgen, bis die Gastfamilie sie holen käme, schlafen.

Sie war kaum in dem Zimmer, in dem eine nackte Glühbirne die karge Möblierung hart beleuchtete, als sie hinter sich den Schlüssel im Schloss hörte. „Nur zu deiner Sicherheit«, rief Roman von der anderen Seite der Tür auf ihre Nachfrage hin. Sie wunderte sich kurz, sie hatte gehofft, sie hätten alles Gefährliche überstanden, als sie die letzte Grenze und damit die letzte Passkontrolle hinter sich gebracht hatten. Aber Roman würde schon wissen, was er tat, schließlich hatten ihr Vater und seine neue Frau ihm die Verantwortung für sie übertragen.

Es war ein langer Weg gewesen von ihrem kleinen Dorf an der Desna in der Ukraine bis nach München. „Tu alles, was Roman sagt«, hatte die Stiefmutter ihr aufgetragen. „Er hilft dir, dich dort einzuleben.« Svetlana seufzte. Sie hätte gerne noch die zwei Jahre bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag gewartet, bevor sie in die Fremde ging, hätte gerne weiter mit ihrem Hund Sobachyy im Garten gespielt oder der Großmutter beim Backen geholfen. Aber die Stiefmutter hatte sie aus dem Haus gedrängt. Es sei Zeit, dass sie wegginge, hatte sie sie oft angeschrieen, wenn sie mal wieder wütend auf sie war – und das war sie eigentlich ständig.

Dem Vater waren die Tränen in den müden Augen gestanden, als Roman sie abholte. Aber er hatte sie nur kurz an sich gedrückt und sie dann gehen lassen, obwohl sie ihn angefleht hatte, zu Hause bei ihm bleiben zu dürfen. Er hatte ihrem bittenden Blick nicht standgehalten und die Augen niedergeschlagen, aber er hatte nicht für sie gekämpft. Seine neue Frau hatte ihm in den letzten Jahren das Leben zunehmend zur Hölle gemacht und es schien ihm auch für Svetlana besser, wenn die beiden Frauen nicht mehr unter einem Dach wohnten. Je hübscher sich Svetlana entwickelt hatte, desto unleidlicher war seine Frau geworden. Mit Neid hatte sie auf Svetlanas schönes, ebenmäßiges Gesicht mit den großen, dunklen Augen, den vollen Lippen und dem zarten Teint geschielt. Sie hatte sie bei jeder Gelegenheit an ihren Locken gerissen und sie gezwungen die mit der Zeit weiblicher werdenden Formen in grobe, weite Gewänder zu hüllen. Trotzdem war es nicht mehr die Ältere gewesen, nach der die Männer im Dorf sich umdrehten, wenn sie und Svetlana zum Fluss gingen, um das Vieh dort zu tränken, jetzt war Svetlana die Schönste. Der Zorn darüber hatte sich der Stiefmutter wie ein Dolch in die Brust gebohrt und ihre Augen waren mit der Zeit kalt und böse geworden.

Svetlana verdrückte eine Träne. Warum hatte ihr geliebter Vater bloß diese schreckliche, neiderfüllte Frau geheiratet und erlaubt, dass sie die Herrschaft im Haus übernahm.

Doch nun half alles Klagen nicht mehr, die Heimat war weit fort und sie musste sich auf ein neues Leben einstellen. Im Westen liegt das Geld auf der Straße, hatte die Großmutter versucht sie zu trösten, als auch sie keine Möglichkeit mehr sah, ihren Sohn und dessen neue Frau davon abzubringen, Svetlana fortzuschicken. Sie würde genug verdienen, um nach ihrer Rückkehr in ihrem Dorf einen kleinen Laden aufmachen zu können, hatte sie gesagt. So wie Oksana Iwanowana vom Nachbardorf, dachte Svetlana. Sie war eine fleißige Frau mit sehr traurigen Augen. Über ihre Zeit im Westen sprach sie nie, aber es gab Gerüchte, dass sie als Prostituierte gearbeitet hatte. Deshalb wollte kein Mann aus dem Dorf sie heiraten. Doch davon hatte sie der Großmutter nichts gesagt, um deren Gram nicht zu verschlimmern.

Ihr würde das zum Glück nicht passieren, dachte Svetlana. Sie würde in eine Familie kommen und neben der Hausarbeit auf die Kinder aufpassen. Drei und fünf Jahre alt seien sie, hatte Roman gesagt. Sie freute sich darauf, sie kennen zu lernen, denn sie mochte Kinder. Sie hatte die letzten Jahre auf die drei Halbgeschwister aufgepasst, welche die neue Frau ihres Vaters geboren hatte, und häufig auch Kinder aus der Nachbarschaft gehütet. Sie war froh, dass man ihr wenigstens eine Arbeit ausgesucht hatte, die sie mochte. Ja, sie musste das Gute in allem suchen, dann würde sie ein glücklicher Mensch, das hatte ihr die Großmutter beigebracht. Ein bisschen Sorge machte ihr nur, dass sie in letzter Zeit häufig so müde und schlapp war. Sie würde sich zusammenreißen und es würde vergehen.

Svetlana strich ihren Rock zurecht. Bis vor zehn Minuten hatte sie auf der fleckigen Matratze auf der anderen Seite des kahlen Zimmers geschlafen. Dann war Roman gekommen und hatte sie geweckt. Er hatte sie zu einer Toilette am Ende des langen Ganges geführt. Sie hatte zuerst nicht pieseln können, weil sie ihn vor der Tür atmen hörte. Er hatte geflucht und gesagt, sie solle sich nicht so anstellen. Als das nichts half, drehte er den Wasserhahn im Vorraum auf. Anschließend hatte er sie wieder in das Zimmer zurückgeführt.

Roman war ihr ein bisschen unheimlich. Er hatte sie auf der langen Fahrt manchmal so komisch von oben bis unten angeschaut und merkwürdige Sachen gefragt. Ob sie wirklich noch keinen Freund gehabt habe, wollte er wissen. Und ob sie noch niemand da unten, wo es doch manchmal kribbelte, berührt hätte. Nein, hatte sie entsetzt erwidert, in ihrem Dorf machte ein Mädchen so etwas nicht vor der Ehe, sonst findet sie später keinen Ehemann. Sie solle sich nicht so aufregen, hatte er gelacht. Er wolle nur wissen, ob sie noch Jungfrau sei, vielleicht würde er sie ja selbst mal heiraten. Nein, niemals, hatte Svetlana gesagt, sie habe andere Pläne. Und außerdem sei er doch viel zu alt, mindestens dreißig. Achtundzwanzig hatte er gelacht und war sich mit der Hand durch sein kurzes, braunes Haar gefahren. Dann hatte er sie noch mal gefragt, aber sie hatte nicht mehr geantwortet. Sie hatte an Juri gedacht, den Hufschmied-Sohn. Der gefiel ihr, weil er sie immer zum Lachen brachte, wenn sie mit dem Zugpferd zum Beschlagen kam.

Svetlana hörte Schritte draußen im Flur und zog schnell wieder den kleinen Handspiegel, den ihr die Großmutter als Abschiedsgeschenk gegeben hatte, aus der Rocktasche hervor. Ein Blick zeigte ihr, dass ihre Haare noch ordentlich saßen, sie rieb schnell mit den Fingern über die Lippen, damit sie frisch und rot aussahen. Hoffentlich mögen mich die Kinder. Sie zupfte noch einmal ihren Rock zurecht und schaute voller Erwartung auf die Tür. Sie hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und setzte sich noch gerader hin.

Als sich die Tür öffnete, betrat zuerst Roman den Raum, sein weiches Gesicht wirkte angespannt und gleichzeitig ausdruckslos, dann nacheinander drei fremde Männer. Svetlana versuchte an ihnen vorbei zu sehen. Wo war die Frau, wo die Kinder?

Die Männer wirkten groß und breit, vielleicht auch nur, weil Svetlana saß und die Männer standen. Zwei von den Fremden waren Ende zwanzig, sie trugen dunkle Lederjacken. Der Dritte war mindestens fünfzig und sein dicker Bauch drängte sich vorne aus der hellen Anzugsjacke, am rechten Mittelfinger trug er einen Goldring mit einem roten Stein.

Roman ließ die Tür hinter sich zuschnappen und verschloss sie von innen, den Schlüssel steckte er in die Tasche. Die Männer kamen näher. Svetlana schaute zuerst nicht verstehend von einem zum anderen. Erst als der dicke die Hand nach ihr ausstreckte, wechselte Erschrecken in Ungläubigkeit.

„Wo sind die Frau und wo sind die Kinder?«, rief sie.

Dann wurden ihre Augen riesig vor Verstehen, und Angst.

„Wo sind die Frau und die Kinder?«, wiederholte sie und ihre Stimme schnappte über. Sie wollte das nicht glauben. Das musste ein böser Traum sein und sie würde gleich aufwachen. Roman konnte doch nicht. Die Männer konnten doch nicht.

Svetlana sprang auf und rannte ans Fenster. Sie wollte um Hilfe rufen, doch da war nur ein Krächzen, dann war auch schon Romans Hand über ihrem Mund.

„Hier. Schaut sie euch an. Ich habe euch nicht zu viel versprochen«, sagte er zu den Männern.