Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Copyright: © 2018 Dagmar Stimpfig
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783748160700
Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin
und niemand ginge,
um einmal zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge
Kurt Marti
Wirklich und willentlich etwas in unserem Leben zu ändern fällt uns Menschen im allgemeinen nicht gerade leicht. Daher kommt es auch seltener durch unser eigenes Bestreben zu einer Veränderung. Manchmal sind wir durch Ein-sicht bereit, etwas zu korrigieren, zu verbessern oder zu erneuern – weil uns wirklich etwas bewusst geworden ist. Weitaus öfter führen neue Umstände oder gar erst schicksalshafte Geschehnisse eine Veränderung herbei. Doch wie auch immer ein Wandel zustande gekommen ist, er hält immer neue Aufgaben und neue Möglichkeiten für uns bereit.
Ein Buch über die Veränderung eines Menschen zu schreiben war für mich eine anziehende und zudem spannende Herausforderung.
Leben bedeutet steter Wandel. Der erste Schritt zu einer bewussten Veränderung liegt oft darin, den Widerstand gegen den Fluss des Lebens zu entspannen. Die Voraussetzung, dass sich eine Veränderung durchsetzen und entwickeln kann, liegt allein in uns: wir müssen bereit sein dafür, sie wahrhaftig wollen, ehrlich mit uns selbst und dann beharrlich sein. Die nächsten Schritte unternimmt dann das Leben selbst, indem es uns Gelegenheiten gibt, Türen zeigt und unsere Bereitschaft durch Bestätigung unterstützt.
Gerne möchte ich meine Freude, den spirituellen Weg als den Lebens-Kompass zu erkennen, mit anderen, meinen Mit-Menschen, teilen.
Mögen alle Wesen glücklich sein!
Luisa ist eine Frau, die ein Leben lebt, wie viele andere es auch leben: sie hat eine Arbeit, einen Mann, zwei Töchter und ein Haus. Ihr Leben besteht aus Gewohnheiten und unhinterfragtem Handeln.
Erst mit zweiundvierzig Jahren wird ihr bewusst, dass sie mehr funktioniert als lebt, und dass sie einige Dinge in ihrem Leben verändern will.
Dieses Buch ist eine Beschreibung dieser Veränderung: mit ihren Schwierigkeiten, ihren Lichtblicken, ihren Unsicherheiten und Ängsten, und mit Prüfungen … bis hin zur Verwandlung.
Luisas Geschichte ist eine, wie sie jedem von uns passieren könnte, und das ist hierbei wichtig.
Die Geschichte könnte zum Beispiel ebenso in einem ganz anderem Zeitfenster oder unter völlig anderen Umständen stattfinden ... und natürlich könnte Luisa auch ein Mann sein.
In unserem Inneren haben wir alle es mit den ähnlichen geistigen Mustern, Schwierigkeiten, Zweifeln und Hoffnungen zu tun, wie verschieden unsere Wege sich auch gestalten und wie verschieden wir als Personen auch sein mögen.
Mir geht es um die Darstellung einer inneren Entwicklung, bei der Zeit und Raum in Wirklichkeit äußerst relativ sind.
Zum klareren Verständnis der Hintergrund zweier Wörter:
Person = Maske (von griech. `Persona´): so erscheinen wir in der Welt als identifizierte Menschen.
(Wahres) Selbst = unser wahres Wesen (in-Gott-sein), das wir durch Selbst-Erforschung erfahren und verwirklichen.
Gott = der Ursprung, die Allmacht, das Leben, die Existenz, das Gesetz der Natur (es mag jeder seine eigene Bezeichnung wählen, gemeint ist die allmächtige Urkraft)
Wiedereinmal erwachte Luisa aus einem wirren Traum und wiedereinmal musste sie sich erst ganz langsam zurück orientieren, bevor sie wieder wusste, wo sie war, was heute für ein Tag war und dass das Ganze nur ein Traum gewesen war.
Oh je oh je, was war das nur wieder gewesen? ... und so vieles in diesem Traum schien so wirklich ...! Aber es war alles nur geträumt – während das Hier und Jetzt wartete, ganz nüchtern und unspektakulär.
Eine ganze Weile lang lag Luisa so da und dachte über den Traum nach. Manches Mal schon hatte sie die seltsamsten Dinge geträumt, verwirrende Dinge, und manches Mal schon hatte sie dann gestaunt, was für Projektionen und Ideen aller Art ihr Unbewusstes produzierte, um „Liegengebliebenes“ und allerlei sonst wie „Unverdautes“ zu bearbeiten.
Doch irgendetwas war heute anders, bemerkenswert anders. Sie konnte ihren Traum nicht wie sonst in ihren Intellekt verschieben. Als wäre auf einmal klar, dass sie sich ihrem Traum „stellen“ musste.
Luisa hatte das starke Gefühl, dass ihr Innerstes ihr durch diesen Traum dringend etwas mitteilen wollte.
Im Traum war sie auf irgendeinem festlichen Anlass gewesen, einer Art Gartenparty. Die Leute schienen sich allesamt sehr wohl zu fühlen und das Fest zu genießen. Was sich ausgesprochen bizarr für sie anfühlte, da der Garten, in dem das Fest stattfand, von einer hohen Mauer umgrenzt war, über die außerdem noch ein Stacheldraht gespannt war. Nirgends gab es einen Ausgang. Zweifelsohne waren alle Gefangene, aber da die Gäste schick angezogen waren und Wein und Sekt genossen, fiel ihnen das anscheinend gar nicht auf. Die ganze Atmosphäre schien sehr unwirklich, aber niemand außer ihr schien das alles zu bemerken.
Auf seltsame Art und Weise wurde ihr bewusst, dass sie völlig nackt war und sich, von allen anderen unbemerkt, inmitten des Treibens befand.
Plötzlich entdeckte sie, dass ihr die Arme und auch die Beine fehlten. Sie fühlte sich den Umständen nun endgültig ausgeliefert. In ihrer Hilflosigkeit wandte sie sich an einen Gast, den sie dem Anschein nach kannte.
Zu ihrem Entsetzen interessierte er sich keine bisschen für sie und reagierte einfach überhaupt nicht!
Mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit, der Einsamkeit und des verletzt-Seins war sie aufgewacht.
Was war denn das??
War das die Realität in ihrem Innersten?
Bisher hätte sie einen Traum ähnlicher Natur mit ihrer intelligenten Art, die Dinge zu untersuchen, aufgefangen. Beziehungsweise nur mit ihrem Intellekt besehen. Nach dem Motto: „Natürlich wohnen in jedem von uns allerlei Ängste, viele Verletzungen, Traurigkeit, auch Einsamkeit und so weiter und so weiter ... das ist Teil unseres Unterbewussten ...“
Selbst-verständlich wusste Luisas Verstand um diese Dinge und er ordnete sie normalerweise sicherheitshalber umgehend entsprechend zu.
Durch das Zuordnen passierten zwei Dinge gleichzeitig:
erstens war dadurch der Intellekt vorübergehend befriedigt und zweitens, das war noch besser, konnte sie somit vermeiden, jene innewohnenden „schweren“ Empfindungen an sich heranzulassen.
Manchmal werden am Tage in ganz alltäglichen Situationen solche „schweren“ Emotionen aus den Tiefen berührt, und nachts kommen sie dann mit irgendwelchen Geschichten zu uns, um uns ihre Existenz zu demonstrieren. Denn sie würden sehr gerne wahr-genommen und gesehen werden.
Die Dinge in unseren Köpfen zu verstecken ist schon in gewisser Weise intelligent, denn es kann uns eine ganze Weile vor extrem starken Emotionen bewahren, vor unerwarteten Erschütterungen schützen oder von übersteigerten Reaktionen abhalten.
Aber diesmal war es anders, Luisa spürte das. Und sie fühlte, dass dies in der Tat sogar ein sehr kostbarer Moment war, und wollte daher diese Gelegenheit auch nicht ignorieren. Sie war bereit, die Botschaft des Traumes zuzulassen. Die Emotionen waren alle noch sehr präsent und sie fühlte sie und wollte sie sich allesamt nach und nach vergegenwärtigen.
Da war noch das Gefühl gewesen, „anders“ zu sein und darin nicht wahrgenommen zu werden. Sie schien in diesem Traum eigentlich ganz grundsätzlich nicht wahrgenommen zu werden!
Und auch diese Unfähigkeit, zu entkommen oder sogar überhaupt zu handeln!
Sie versuchte, zu erfassen, was das für ein Lebensgefühl war. Inwieweit schlummerte dieses Lebensgefühl in ihren Tiefen und wie äußerte es sich in ihrem „realen“ Dasein? Was war das für eine Botschaft ihrer Seele, worauf wollte sie Luisa hinweisen?
Das war wahrscheinlich die wichtigste Frage!
Vor einigen Jahren war sie bei einer Zugfahrt mit einem älteren Mann ins Gespräch gekommen. Er hatte damals zu ihr gesagt, dass alle Erfahrungen und „Lernaufgaben“ immer wieder zu uns kommen, wiederholt und hartnäckig, in allerlei Formen und mit verschiedenen Gesichtern, damit wir die Fingerzeige und Botschaften unserer Seele eines Tages verstehen, um dann unsere Lernschritte zu machen. Zur Not muss es manchmal sogar „donnern“, falls wir uns hartnäckig weigern sollten, eine bestimmte Lektion zu lernen.
Was dieser Unbekannte während der Zugfahrt gesprochen hatte, war für sie bisher ebenso eine theoretische Information gewesen, wie etwa ein Rezept aus einem Kochbuch über die Herstellung von Speiseeis: eigentlich interessant, aber nicht wirklich von Bedeutung. Sie hatte sich im Praktischen bis zum heutigen Tag einfach nicht wirklich damit auseinandergesetzt. „Botschaft der Seele“... das hatte so etwas Abstraktes.
Luisa fragte sich, warum sie diese Mitteilung eigentlich nie an sich herangelassen hatte. Es schien sich immerhin um einen hilfreichen Schlüssel zu handeln, durch den man das Leben und seine so eigenen Wege begreifen lernte.
Dass sie bisher noch kein ernsthaftes Interesse an der Herstellung von Speiseeis gehabt hatte, war natürlich egal. Aber zu hinterfragen – oder noch besser, zu begreifen – warum ihr das eine oder andere Ereignis widerfahren war, beziehungsweise was für eine Botschaft hinter bestimmten Geschehnissen steckte, war definitiv nicht egal, sondern sehr interessant. Wer weiß, wie viele Fingerzeige ihre Seele Luisa schon geschickt hatte, um sie zur Reflexion über die eine oder andere Entscheidung anzuhalten. Vielleicht hätte es dann nicht bis zu ihrem zweiundvierzigsten Lebensjahr gedauert, um zu realisieren, dass ihr etwas fehlte und sie sich in ihrem Inneren so verletzt fühlte ...
Der Mann im Zug hatte außerdem gesagt, dass alle Erfahrungen sich wie Spiralbewegungen verhielten: auch nach Erlernen des jeweiligen Lernschrittes kämen sie erneut, dann aber eine Etage erhöht, bzw.
verfeinerter, nämlich um das Gelernte zu vertiefen.
Vertiefen? Dies hier fühlte sich eher an, als wäre sie am Punkt Null und unfähig zu entkommen – als hätte sie bisher gar nie irgendeinen Schritt getan!
Hatte sie nie irgendetwas gelernt und lag am Urgrund ihrer Seele wirklich so viel Verzweiflung?
Wie war das denn nur möglich?
Die Gegenwart lies es nicht zu, dass Luisa noch länger in den eigenen Tiefen tauchte.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war und wie lange sie dagelegen hatte seit dem Aufwachen, als sie sich plötzlich in die Gegenwart zurückversetzt fühlte.
Draußen im Flur näherten sich Stimmen und auch die deutlich hörbaren Geräusche von Schritten drangen zu ihr ins Zimmer, bis sie vor ihrer Türe anhielten.
Ihre Tochter Toni rief: „Mama, wo steckst Du denn? Wir wollten doch um neun zusammen frühstücken!“
Hiermit war die Intensität des Moments gebrochen und Luisa beschloss deshalb, sich auf jeden Fall später am Tag genügend Zeit zu nehmen, um sich noch einmal und ganz in Ruhe mit diesem Thema zu beschäftigen.
Der Alltag scheint die Angewohnheit zu haben, uns komplett zu übernehmen. Das macht er so perfekt, dass wir völlig absorbiert sind davon – wir sind dermaßen beschäftigt damit, zu funktionieren, dass ein Aufblitzen aus unserem Inneren uns ähnlich schockierend treffen kann, wie der überraschende Besuch einer bösen Schwiegermutter.
Eigentlich hatte Luisa geglaubt, dass sie glücklich in ihrem Leben war. Und dass sie alles hatte, was sie sich immer gewünscht hatte. Dass alles gut war, so wie es war. Doch war es das?
Tatsächlich, manchmal fühlte sie unterschwellig eine gewisse Unzufriedenheit, hatte sie ein vages Gefühl von Mangel. Es nagte an ihr eine unbestimmte Sehnsucht.
War denn ihr Leben eine Lüge?
Den ganzen Tag konnte sie an nichts anderes denken.
Zu massiv war am Morgen der Einbruch in ihr Leben, ja in ihre Realität gewesen.
Oder war es vielmehr umgekehrt, nämlich ein Einbruch der Realität hinein in ihr Leben?
Es war Sonntag. Der „Alltag“ zuhause forderte Luisa glücklicherweise nicht so unnachsichtig wie der an Wochentagen, wenn sie zur Arbeit gehen musste. So war ihr unkonzentriert-Sein nicht so folgenschwer und nur ab und zu sagte jemand zu ihr „Luisa, wo bist Du denn?“, oder „was ist denn heute mit Dir los, Mama?“.
Ihr Mann Marc war längst von einer Wanderung mit Freunden zurückgekehrt. Er saß am Esstisch und trank ein Glas Wasser. Er sah sie belustigt an, als sie beim Tischdecken geistesabwesend jedem zwei Messer neben den Teller legte. Sie machte nur eine Geste, die humorvoll andeutete, dass sie wohl ein bisschen verwirrt im Kopf sei, aber sie war sofort wieder in Gedanken.
Beim Mittagessen hatte sie kaum Hunger. Marc sah sie fragend und etwas besorgt an.
Auch an der eifrigen Konversation über die Sinnhaftigkeit beziehungsweise über die Sinnlosigkeit, an Gründonnerstag und Karfreitag kein Fleisch zu essen, wollte sie sich nicht beteiligen. Sonst hätte sie gerne mitgeredet und hätte fröhlich über diesen Selbstbetrug mitgelacht. Aber heute war sie kaum aus ihrer Abwesenheit herauszubewegen.
Luisa beschloss, sich baldmöglichst zurückzuziehen und sich noch einmal auf dieses so intensive Erlebnis nach dem Aufwachen einzulassen, das sie ohnehin andauernd beschäftigte und auch aufwühlte.
Sie meldete sich ab mit den Worten: „Ich brauche mal etwas Zeit für mich heute, bitte stört mich nicht, ich gehe rauf ins Schlafzimmer.“
Sie machte sich nur noch einen Kräutertee, der passte jetzt gut auf den etwas unlustigen Magen. Die wohltuend beruhigende Wirkung des Tees war jetzt genau das Richtige, auch für Luisas ruhelosen Geist.
Dann ging sie ins Schlafzimmer. Sie legte sich auf das Bett. Nach einer gewissen Zeit hatte sie sich neu eingestimmt auf den Traum und den Gemütszustand, den er erzeugt hatte. Sie hatte auch wieder die ganze Situation vor Augen und fühlte auch all die Gefühle.
Die Unfähigkeit zu entkommen, die Fremdheit, die Einsamkeit und dazu das verletzt-Sein.
Und sie spürte jetzt noch klarer, dass all diese Gefühle wirklich noch sehr lebendig in ihr wohnten, tief drinnen und unerlöst, von einem Leben im Alltag unterdrückt.
Tatsächlich war ihre Arbeit als Bürokauffrau nicht gerade eine Erfüllung. Aber wer konnte das schon von seiner Arbeit behaupten?
Die wenigen Gesegneten, die täglich mit großer Freude ihre Arbeit machten, ständig weiter an ihrer Arbeit wuchsen, die ihre Arbeit echt liebten – also sie wusste gar nicht, ob sie überhaupt jemanden kannte, der ihr hierzu als Beispiel einfallen würde.
Man musste ja schließlich von etwas leben und Büro und Schreibarbeit waren nun mal das, was sie gelernt hatte. Jedoch ... das hatte sie damals ja nur gelernt, weil ihr Vater darauf bestanden hatte ...
„Wenn Du schon kein Abitur machst, dann lerne wenigstens etwas Gescheites!“, waren seine Worte gewesen, und „... aber keinen solchen Hungerleider-Beruf!“
Das war ihm wichtig gewesen, das waren seine Meinung und seine Entscheidung gewesen. Auf gar keinen Fall durfte sie zum Beispiel Schauspielerin, Künstlerin oder Musikerin werden.
„Alles brotlos!“
Ihre Leidenschaften waren das Theaterspiel und das Tanzen gewesen. Sie hatte bei der örtlichen Theatergruppe bei mehreren Stücken mitgewirkt und immer davon geträumt, eines Tages auf bekannten Bühnen großer Städte zu spielen. Doch dieser Traum war der Vernunft gewichen und mit aller Kraft und ganz schnell war er in die Vergangenheit gedrängt worden.
Wenn sie damals nur ... oder wenn sie später ...
Oh nein, ihr war doch klar, dass sie die Zeit nicht zurückdrehen konnte.
Aber was hätte Luisa tun sollen, als ihr Vater von ihr verlangte, dass sie entweder auf der Schule blieb oder eine Ausbildung seiner Wahl anstrebte? Sie hatte die Schule so satt und sie hatte doch gehofft, mit einer Ausbildung schneller unabhängig zu sein.
Und später … ja später war es dann irgendwie zu spät gewesen.
Das Leben schien ihr wie eine Aneinanderreihung von Herausforderungen – Entscheidungen – denen sie sich manchmal gar nicht gewachsen gefühlt hatte ... und oft hatte sie unbewusst ignoriert, wenn es sich bei einer Entscheidung um eine Prüfung gehandelt hatte.
Das Leben ist ja so: da ist man auf dem Weg, läuft vor sich hin und auf einmal ist da eine Gabelung. Nun, da fällt eben eine Entscheidung. Es ist nicht so, dass man dabei mit Weitsicht alle Konsequenzen begreift oder sie gar in seine Entscheidungen einbezieht. Oder dass man mit Klarheit spürt, welche die „richtige“ Wahl ist. Und leider sind es oftmals auch Zwänge, die Entscheidungen für uns zu fällen scheinen. Und wenn dann einmal die Wahl getroffen wurde, sind Zweifel das Allerletzte, was man brauchen kann.
Erst hatte sie noch Geld sparen wollen, um die Ausbildung auf der Schauspielschule finanzieren und nachholen zu können. Währenddessen hatte sie Marc kennengelernt. Diese neue Situation hatte eine Eigendynamik entwickelt und es war bald und unausgesprochen klar gewesen, dass Marc und sie eine gemeinsame Zukunft anstrebten. Dazu gehörte auch, dass sie irgendwann zusammen Kinder haben wollten und dazu gehörte auch ein gewisses Bestreben nach Sicherheit.
Zurückzugehen hätte in gewisser Weise alles auf den Kopf gestellt und somit hatte sie auf ihrem Weg eine etwaige Abzweigung – wie viele dieser Art es auch gegeben haben mochte – nicht einmal wahrgenommen.
Und sie liebte Marc und sie liebte ihre Kinder!
Und sie liebte doch ihr Haus und ... nun ja, ihr Haus liebte sie genau genommen nicht. Sie hatten es sich gemütlich und hübsch eingerichtet, aber im Grunde war es viel zu groß und machte viel zu viel Arbeit. Und diese vielen Räume, die gar nicht alle wirklich genutzt wurden! Warum hatten sie kein kleineres Haus gekauft?
Und warum hatte sie nur so viel überflüssiges Zeug angeschafft? Diese ganze Materie, die anscheinend nur dazu herumstand, dass sie ab und zu abgestaubt wurde? Wie war das nochmal ...?
„Je mehr Dinge man hat, umso mehr haben einen die Dinge“ ... ja, diese Dinge bedeuteten in Wirklichkeit nur Verpflichtungen und damit Last.
Luisa bemerkte, dass sie eigentlich über mehr Umstände in ihrem Leben unzufrieden war, als sie sich normalerweise eingestand.
Ob denn eine Idee von Wohlstand und eine vermeintliche Sicherheit wett machen konnten, dass sie ihren großen Traum aufgegeben hatte?
Was von dem, was sie hatte, war ihr denn tatsächlich wichtig? Was von dem Leben, welches sie gewählt hatte, liebte sie wirklich?
Sie war in ihrem zweiundvierzigsten Lebensjahr, weit mehr als doppelt so alt, seit damals die Würfel gefallen waren. Sie konnte doch nicht auf einmal ihr ganzes Leben umkrempeln oder nach Indien zu einem Guru reisen ... oder als Trostpflaster Hobby-mäßig an der örtlichen Laien-Theatergruppe teilnehmen – diesen Gedanken fand sie so ironisch, dass sie heute vielleicht zum ersten Mal schmunzeln musste.
Eines war ihr an diesem Tag jedenfalls klar geworden:
sie hatte sich in eine Lebenssituation hinein manövriert – oder sich hinein-entschieden – die verdeckte Gefühle beheimatete, die sie zutiefst frustrierten.
Als sie sich am Abend zum Schlafen legte, war sie noch immer in sehr gedämpfter Stimmung. Aber sie beschloss, dass sie auf jeden Fall herausfinden wollte – musste – wie sie wieder zu „Armen und Beinen“ kommen konnte. Und wie sie es anstellen würde, über diese Mauer zu kommen.
Am nächsten Morgen war Montag, wie immer der Beginn einer neuen Arbeitswoche. Freilich gab es nicht die Möglichkeit, eventuellen Träumen hinterher zu spüren. Die Zeit war frühmorgens so knapp bemessen, dass Luisa spätestens im Bad vergessen hatte, ob sie überhaupt etwas geträumt hatte.
Unter der Woche war Marc schon eine Stunde früher auf und hatte das Haus bereits verlassen, wenn seine drei Frauen ihren Tag begannen. Die beiden Töchter Tina und Toni waren sechzehn und dreizehn Jahre alt und längst selbstständig genug, alleine aufzustehen, sich das Frühstück zuzubereiten und alles was sonst noch dazu gehört zu erledigen, um in den Tag zu starten. Alles funktionierte reibungslos, aber jeder spürte unterschwellig immer einen gewissen Stress und es blieb nicht die geringste Zeit für ein entspanntes Miteinander, bis schließlich alle gut gerüstet aus dem Haus kamen.
Und auch ansonsten verlief das tägliche Programm von Montag bis Freitag durchwegs routiniert und reichlich ähnlich. Luisa und Marc waren in der Arbeit, Tina und Toni waren in der Schule. An den Nachmittagen hatten die beiden Töchter etliche Freizeitprogramme und erst am Abend traf man zum Abendessen zusammen.
Luisas Arbeit drehte sich hauptsächlich um die schriftliche Kommunikation mit Kunden der Firma, außer es gab speziellere Anweisungen ihrer Chefin.
Die Mittagspausen verflogen meist recht schnell:
Mittagessen, Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, ein bisschen chatten am Handy, und schon war die Pause vorbei.
Danach ging es in die zweite Runde bis zum Feierabend um siebzehn Uhr. Schnell noch ein paar Einkäufe machen, nach Hause fahren, sich um den Haushalt kümmern, Abendbrot vorbereiten.
Dann kam Marc, und beim gemeinsamen Abendessen erzählten alle, was sie am Tag erlebt hatten und was sie für den kommenden Tag geplant hatten. Oder was demnächst anstand oder was jemand gerne machen würde. Alles, was vier Personen zu allerlei Themen zu berichten und zu fragen und zu diskutieren hatten, versuchte man beim Abendessen unterzubringen – so gut es ging. Mehr gemeinschaftliche Zeit hatten sie ja unter der Woche nicht miteinander.
Manchmal passte es nach dem Abendessen, sodass sie weiter ein wenig zusammen saßen und erzählten oder zusammen lachten oder sonst wie zusammen blieben.
Meistens allerdings gingen die Mädchen auf ihre Zimmer und hatten noch Dinge für die Schule vorzubereiten oder gingen eben ihren eigenen Interessen nach. Dann räumte Luisa erst noch auf, bereitete das eine oder andere für den nächsten Tag vor und dann … ging es endlich aufs Sofa. Endlich, denn das bedeutete Nichtstun. Entweder sie und Marc redeten dann ein wenig zu zweit oder sie schalteten gleich den Fernseher ein. Meist schlief einer von beiden dabei ein, aber spätestens um Mitternacht schleppten sie sich hinauf ins Schlafzimmer.
Heute dachte Luisa über all das nach.
Und natürlich, es war ganz normal, dass es so ablief – so oder so ähnlich lief es mit Sicherheit in den meisten anderen Familien auch.
Was bleibt einem in der heutigen Zeit denn auch anderes übrig? Es ist nicht mehr wie früher, dass das Leben gemütlich so vor sich hin geschieht – obwohl Luisa sich nicht im Klaren war, wie lange dieses „Früher“ wohl her sein musste oder ob es nicht auch früher auf alle möglichen Umstände angekommen war.
Jedenfalls haben wir durch die moderne Entwicklung einen viel höheren Lebensstandard, unsere Kinder haben gute Schul- und Ausbildungen, wir haben gut gebaute Häuser, wir besitzen Autos und können in den Urlaub fahren. Das gab es früher alles nicht.
Die Ansprüche sind hoch, entsprechend sind es eben die Anforderungen. Um denen gerecht zu werden, brauchen wir Rationalisierung und eine gewisse Resistenz gegenüber Stress. Alles hat seinen Preis.
Das Leben in der heutigen Gesellschaft, geprägt von Leistung und Gewinnmaximierung, fordert von uns, dass wir immer Schritt halten und dass wir uns einfügen in diese Art von System. Alles muss funktionieren.
Geschwindigkeit, ständige Erneuerung und Anpassung sowie Konkurrenzdenken geben den Ton an.
Wer dabei sein will und dazu gehören will, muss aufspringen, hineinspringen ... ins vermaledeite Hamsterrad.
scheinen –