Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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© 2019 Elias & Désirée Meier

Korrektorat und Lektorat: Zweite Feder, Sarah Christiansen

Umschlagsgestaltung, Buchsatz, Grafiken: semera GmbH

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-750463578

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Dich!

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Unbeschwert Reisen, den sich ewig wiederholenden Alltag gefüllt mit Zeitplänen, Stress und Verpflichtungen loslassen, wilde und unberührte Natur genießen und dabei selbstbestimmt leben. Das alles wollten und erhofften wir uns, als wir Ende 2014 unsere Jobs an den Nagel hängten und allen, die nicht schnell genug das Weite suchten, tollkühn und mit stolzgeschwellter Brust verkündeten: »Wir gehen nun in Rente.« Elias war zu diesem Zeitpunkt wohlgemerkt 31 Jahre alt und ich, Dési, 28. Wir waren keine Grünschnäbel mehr, aber doch noch einige Jahre von der Pensionierung entfernt. Idealerweise sollte uns ein Segelboot als Transportmittel dienen, denn mit diesem – so dachten wir –, kämen wir überall hin. Sogar einmal um die Welt, wenn wir es denn wollten. Wir wären unabhängig und zudem hätte ein Segelschiff den herausragenden Vorteil, dass das eigene Wohnzimmer immer mit dabei wäre. Was für ein Vorhaben!

Natürlich verlief nicht alles so, wie wir es erwartet hatten und auch eine Weltumseglung wurde es nicht, gesehen haben wir dennoch unglaublich viel. Unsere Reise begann im Mittelmeer. Zuerst besuchten wir die Türkei, dann die wunderschöne griechische Insel Korfu. Von dort aus erkundeten wir die vielen kleinen Inseln des Ionischen Meeres und umrundeten die Peloponnes. Später führte uns unser dreijähriger Trip über Sizilien und Sardinien bis an die französische Festlandküste, wo wir unser Abenteuer glücklich und reich an Erfahrungen beendeten.

Im Fokus unseres simplen Nomadenlebens standen dabei weniger das Abklappern von besonderen Sehenswürdigkeiten, sondern vielmehr die einzigartigen Begegnungen mit ganz normalen Menschen wie du und ich, die uns mit ihrer Art und ihren Lebensgeschichten beeindruckten und veränderten. Genau diesen einzigartigen Menschen ist dieses Buch von Herzen gewidmet. Danke dafür, dass ihr genau so wart, wie ihr wart und damit unsere Sicht auf die Welt für immer verändert habt! Dank euch wurde unsere Segelreise zu einer Reise zum Glauben an das Gute in jedem von uns!

Ein kleiner organisatorischer Hinweis: In unserem Buch werdet ihr, liebe Leser und liebe Leserinnen, auf einige nautische Fachbegriffe aus der Seefahrt sowie andere unbekannte Begriffe, z. B. aus der Geographie, stoßen. Diese haben wir am Ende des Buches in einem kleinen Glossar erklärt.

Einleitung

Wir, Dési und Elias, haben uns auf einer kleinen Parkbank mitten auf dem berühmten, geschichtsträchtigen Jakobsweg getroffen und haben zusammen ein Stück des langen Weges bis Santiago de Compostela zurückgelegt. Knapp 1000 km später standen wir Seite an Seite auf einem grauen Felsen am Leuchtturm auf dem Kap Finisterre, dem sogenannten »Ende der Welt«. Erstaunt darüber waren wir beide. In diesem sekundenschnellen Moment war die Jakobswegepisode bereits schon Teil unserer gemeinsamen Vergangenheit geworden. Was nun begann, war unser Weg. Zunächst führte dieser allerdings erst einmal zurück hinter den Schreibtisch zur nicht immer heiß geliebten Arbeit. Unsere Kassen waren beängstigend leer, doch unsere Seelen dafür so reich gefüllt wie nie zuvor.

Etwas, an das uns der Jakobsweg stets erinnerte, war, dass wir zusammen auch über steinige Wege gehen, in absoluter Einfachheit leben und die facettenreiche Natur genießen können. Wir hatten an der unbezahlbaren Freiheit geschnuppert. Dieses starke Gefühl begann wie ein winziges Samenkorn in uns zu sprießen, wurde immer mächtiger und wuchs zu einer großen, gelben Sonnenblume in unseren Köpfen und Herzen heran. Leben! Dieses Leben roch so verlockend gut!

So lebten wir nach der intensiven Erfahrung »Jakobsweg« ein paar Jahre lang immer mit dem unauslöschlichen Wissen im Hinterkopf, dass wir eines Tages aus dem Hamsterrad ausbrechen würden, um unser Leben so zu leben, wie wir es uns vorstellten. Eines Tages … irgendwann … Das waren keine konkreten Pläne, Zahlen oder Fakten. Sollte dieser Traum, dieses Hirngespinst für immer eine dieser nicht gelebten Fantasien bleiben, die irgendwann in eine Kiste gepackt und in die hinterste Ecke des Kellers geräumt werden, um dort zu verstauben und im Alter dann, mit grauen Haaren, steifen und zittrigen Fingern, traurig und wehmütig wieder hervorgezogen werden? Ach, hätte man doch …!?

Das wollten wir auf keinen Fall und deshalb fällten wir schließlich einen Entschluss: Der 01.01.2015 sollte unser erster Tag im neuen Leben werden. Wir wollten nicht aus- sondern einsteigen! Der Plan war simpel: Wir besaßen einen umgebauten VW-Bus. Dieser sollte unser neues Zuhause sein. Wir wollten reisen und die Welt entdecken. Wir wollten nicht hinter unseren noch so schönen Schreibtischen vergammeln, tagtäglich Stunden zählen, Zeit absitzen, unsere Orangenhaut nach allen Regeln der Kunst pflegen und von der Ferne aus verfolgen, wie andere lebten. Wir wollten endlich »wirklich« leben, beziehungsweise das tun, was wir unter »wirklich« leben verstanden: intensiv, abwechslungsreich, farbenfroh, mit Höhen und Tiefen, mit echten Begegnungen, herausfordernd, bewusst, verantwortungsvoll, naturnah, zeitlos, kreativ, fantasievoll, mutig, die Welt erforschend.

Wir wollten dem Leben direkt in die Augen schauen und nicht schamhaft mit gesenktem Blick an ihm vorübergehen. An unseren ehemaligen Arbeitsplätzen wurden die nicht versiegenden Tagträume häufiger. Dem Internet sei Dank spukten immer neue und verrücktere Ideen in unseren hitzigen Köpfen herum: Vielleicht mit einem Kanu die Donau entlang bis zum Schwarzen Meer paddeln? Einen Langstrecken-Trail in den USA laufen? Mit dem Fahrrad durch Russland radeln? Es gab viele Ideen, bis uns schließlich die eine kam, die am logischsten erschien und bei der wir beide von Beginn an Feuer und Flamme waren: Wir segeln durch die Welt!

Die Idee war geboren. Nun galt es nur noch, Taten folgen zu lassen. Wir waren beide nicht am Meer groß geworden. Zwar wussten wir in groben Zügen, wie ein Segelboot aussah, da wir in unserer Kindheit schon einige aus Papier gebastelt hatten, betreten hatten wir zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nie eines. Segeln! Auch diesem für uns elitären Sport hatten wir uns noch nie gewidmet. Da gab es also mächtigen Aufholbedarf. Im nächsten Urlaub ging es deshalb nach Rügen. Ein fabelhaftes und zugleich anstrengendes Programm wartete dort auf uns: Den Motorbootführerschein und natürlich den SKS (Sportküstenschifferschein) absolvieren und die ersten 300 Seemeilen segeln – all das in nur zwei Wochen! Im Nachhinein betrachtet eine blöde Idee, so viel in einem so engen Zeitraum durchzuboxen, wenn man bis auf einen Schnürsenkel-Doppelknoten nichts auf dem Kasten hat!

Gelohnt hat es sich trotzdem. Die ersten Segelerfahrungen waren gemacht und wir konnten voller Euphorie unsere Reise beginnen.

Entlang dieses Weges trafen wir stetig auf wunderbare, offene und beeindruckende Menschen und merkten schnell, dass es nicht nur das Nomadenleben selbst war, das uns erfüllte. Vielmehr waren es die unerwarteten, fantastischen Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen und deren einzigartigen Geschichten, die unser puzzleartiges Reisebild vervollständigten und unvergleichlich machten. Wir lernten anderen zuzuhören und versuchten dabei, nicht über das Gehörte zu urteilen, so sonderbar, abgefahren, unglaubwürdig, lustig oder traurig die Geschichten auch klangen, die meist spannender waren als unsere eigenen. Denn abgesehen davon, dass wir unsere eigenen Geschichten schon kannten, wurde uns klar, dass man nur etwas Neues lernt, wenn man die Klappe hält und einfach die Ohren aufsperrt.

An unseren außergewöhnlichsten Begegnungen wollen wir nun euch, liebe Leser und liebe Leserinnen, teilhaben lassen und unsere eigene Reise soll lediglich als roter Faden dienen. Jedes Kapitel ist einer Begegnung gewidmet und wir wollen mit diesen Geschichten euren Alltag zum Leuchten bringen. Hier und dort Farbkleckse verteilen und mit diesem Buch einen Beitrag leisten, die Welt toleranter und offener zu machen. Denn tolle, herzliche Menschen findet man überall, wenn man nur will. Die richtig blöden übrigens auch – da ist keine Nation besser als die andere und vor allem liegt es immer bei einem selbst, aus welcher Perspektive man die jeweilige Situation betrachtet.

Aber genug der einleitenden Worte, beginnen wir zunächst von vorn …

Beim Start in unser Abenteuer

Erstes Jahr:
Greenhorns in der Türkei und im
Ionischen Meer

Kapitel 1: »Ich überlasse euch
mein Boot«

Stolz und überglücklich wedeln wir mit dem heiß ersehnten Segelschein. »Wahnsinn, Dési! Es hat tatsächlich geklappt! Unser eigenes Segelabenteuer kann starten!«, jubelt Elias. Doch, ähnlich wie bei einem Autoführerschein, kann man mit einem Segelschein noch lange nicht segeln. Skeptisch schaue ich Elias an. »Ein Boot ganz alleine führen? Jetzt? Nie im Leben! Ich will nicht gleich alle Erfahrungen alleine machen müssen.« Elias nickt zustimmend und sagt: »So clever sind wir. Wir wollen von anderen lernen.«

Auf der Internetseite »Hand gegen Koje« stoßen wir auf ein interessantes Angebot: Robert segelt um die Welt und sucht immer wieder Segler oder auch Nichtsegler, die ihn auf seiner Reise begleiten. Wir fühlen uns eindeutig als Nichtsegler mit grünen Ohren und grün verschmierten Mäulern und treten mit ihm in Kontakt. Es klappt und in der Türkei dürfen wir bei ihm zusteigen. Nachts klettern wir nach einer langen Anfahrt müde zu ihm an Bord. Nur ein beherztes Umbuchen keine 24 Stunden vor dem Abflug hat verhindert, dass wir den falschen Ort anfliegen! Ein humpelnder Hüne begrüßt uns herzlich und rau: »Prima, dass ihr da seid. Die Situation hat sich ein wenig geändert. Meine Achillessehne ist gerissen und ich muss operiert werden. Ihr schafft es doch, mein Boot die 300 Seemeilen nach Mersin zu überführen, oder? Das ist im Osten der Türkei, nicht weit entfernt von der syrischen Grenze.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schenkt er uns ein Glas Rotwein ein und wir stoßen an. Elias grinst wie ein Honigkuchenpferd, als hätte er den größten Jackpot der Lottogeschichte geknackt, während mir die Kinnlade nach unten rutscht. Innerlich bin ich stinksauer, denn alleine zu segeln war nicht der Plan. Wie kann Elias sich nur freuen? »Natürlich nur, wenn ich das Gefühl habe, dass ihr mein Zuhause sicher dorthin bringen könnt. Morgen will ich sehen, ob ihr einen Kreis und eine Acht fahren könnt«, nimmt Robert entspannt das Gespräch wieder auf. Wir nicken. Diesmal freue ich mich, denn sicherlich können wir weder einen Kreis noch eine Acht segeln. Elias nickt allerdings ebenso freudig, denn zuversichtlich wie er ist, ist er davon überzeugt, dass wir dieses Manöver locker hinbekommen. In der Koje besprechen wir flüsternd, damit Robert nichts von unserer Unsicherheit mitbekommt, Kommandos und Vorgehen, wobei ich mich nur mit Mühe dafür begeistern kann. »Das Ziel war es nicht, ALLEINE zu segeln!«, fauche ich Elias giftig an. Wie dieses herausfordernde Kunststück wohl enden wird? Robert ist über unsere Segelkenntnisse im Bilde. Wir haben ihm bezüglich Kenntnis- und Erfahrungsstand keine Lügen erzählt. Als alter Seebär muss er doch wissen, wie es um unsere Fähigkeiten bestellt ist, nachdem wir lediglich einen Segelschein gemacht und sonst noch nie einen Fuß auf eine Segelyacht gesetzt haben. Er kann seinen Vorschlag also unmöglich ernst meinen!

Trotz meiner nächtlichen Bedenken starten wir am nächsten Morgen gut gelaunt. Robert wird uns die ersten zwei bis drei Tage begleiten, bevor er uns (vielleicht) verlässt. Nervös sitzen wir vor den bevorstehenden Manövern im Cockpit der Ariadne. Das Ganze fällt jedoch weitaus harmloser aus als gedacht: Lediglich unter Motor sollen wir Kreise und Achter fahren. Mensch, das hätte Robert auch früher sagen und uns damit die schlaflose Nacht ersparen können! Großzügig verteilt Robert Lobe und um Elias‘ Mundwinkel zuckt kaum merklich ein zuversichtliches Schmunzeln. Ich weiß nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Zusammen ankern wir in einer verlassenen Bucht. Wir sind das einzige Boot weit und breit. Das Herbstwetter zeigt sich gnädig, aber es wird uns bewusst, dass auch in der orientalischen Türkei der November kein Segelmonat für Anfänger ist. Als die Sonne untergeht tuckern wir mit dem Plastikbeiboot zum nahen. Strand.

Unterwegs zur einzigen Kneipe im Dorf erzählt uns Robert von seinem letzten Besuch hier vor einer Woche: »Ich bin nervös«, meint er ernsthaft. Erst können wir uns nicht vorstellen, dass dem Kerl, der vor uns steht, jemals die Knie schlottern könnten. Doch er spricht sehr offen über seine Ängste und auch über die Liebe. Denn Robert ist ein rauer Kerl mit samtweichem Kern. »Meinen Traum, auf einem Segelboot zu leben, würde ich eigentlich am liebsten mit jemandem teilen«, seufzt er. Er ist frisch verliebt in seine letzte Mitseglerin, die das Boot erst vor wenigen Tagen verlassen hat. Wehmütig lächelt er: »Die Liebe! Das hört wohl im Alter nicht auf. Ich bin der Typ Kerl, der sich sehr gerne verliebt und nun bin ich Anfang 60 und ich verliebe mich immer wieder neu unsterblich. Ich glaube, das hört bei mir nie auf. Lieben kann man immer.«

Inzwischen sind wir mit dem Beiboot am weißen Sandstrand angekommen. »Wie heute bin ich letzte Woche mit dem Beiboot hier angelandet und wollte spätabends wieder auf meine Yacht zurück. In der Zwischenzeit ist die einlaufende Dünung allerdings derart stark geworden, dass ich nicht mehr in der Lage war, mein Beiboot in der Brandung zu halten und gleichzeitig hineinzuklettern. Nach zwei glücklosen Versuchen sind schließlich die Kneipenbesitzer zu Hilfe geeilt«, erzählt Robert. »Zu zweit sind sie bis zur Hüfte ins Wasser gestiegen, um mein Beiboot in Balance zu halten.« Er lacht. »Klitschnass bin ich irgendwie in mein Dinghi gekommen und dann losgedampft. Mit der Ariadne musste ich die Bucht sofort verlassen, solange es noch möglich war.« Während wir nun Richtung Kneipe marschieren, meint Robert nachdenklich: »Ich bin immer unglaublich berührt darüber, dass diese fremden Menschen derart hilfsbereit sind. Ich war für sie ein Fremder, der vermutlich nie wieder einen Fuß an diesen Strand setzen würde. Trotzdem waren diese Leute bereit, ihre ganze Kleidung nass zu machen und in der dunklen, ungemütlichen, kalten Nacht für mich im Salzwasser fast zu schwimmen. Heute möchte ich nochmals in dieselbe Kneipe. Ich habe den Helfern etwas mitgebracht, um mich zu bedanken. Ist das in Ordnung für euch?« Klar ist es das für uns und wir sind gespannt, welchen Helden wir begegnen werden.

Dort angekommen werden wir herzlich begrüßt. Alle erkennen den im Schlauchboot fast gekenterten Seemann wieder. Die bärtigen Männer sind einfach gekleidet, fast schmutzig und ihr Haar ist wild. Eine ältere, korpulente Frau bringt uns Tee. Betrachtet man das Auftreten und Gebaren der Männer, könnte man sich fast in einen Wild-West-Film versetzt fühlen. Doch hier hört eine mögliche Ähnlichkeit bereits auf. Denn der Raum, in dem wir uns befinden, ist weiß gestrichen und davon abgesehen sehr kahl. In der Mitte steht ein alter und verrußter Holzofen, der die Menschen wärmt, die auf wenigen, halb kaputten Plastikstühlen an wackligen Tischen sitzen. Die dünnen Fensterscheiben sind dreckig und der Wind zieht durch den ganzen Raum. Das Zimmer hat bestenfalls den Charme einer Waschküche. Wir sind noch nicht so lange unterwegs und wirken in unserer strahlenden Funktionskleidung ziemlich fehl am Platz. Robert, unser abgeklärter Seefahrer, passt da schon viel besser ins Bild, mit seiner verwaschenen Kleidung, die auch nicht mehr überall sauber ist. Wir fühlen uns trotzdem wohl in dieser einfachen Umgebung, in der sich wahrhafte Menschen begegnen, die genau wie wir ein wenig unsicher sind, wie man denn mit den Fremden nun umgehen soll. Alle sind sympathisch und ehrlich, nichts wirkt aufgesetzt. Es ist auch nichts da, um etwas vormachen zu können oder zu wollen. Wir werden lediglich nach Getränken gefragt, denn zum Essen gibt es sowieso nur ein einziges Gericht. Es ist wie zu Hause – entweder hat man Hunger oder nicht! Während wir auf das Essen warten, nutzt Robert die Gelegenheit und kramt einen Beutel hervor. Für jeden Helfer hat er ein Schweizer Taschenmesser dabei und übergibt dieses mit herzlichem Dank in einem holprigen Türkisch. Doch die Geste ist unmissverständlich. Wir spüren, wie wichtig sie für Robert ist und wie dankbar die Helfer dieses Geschenk annehmen. Freudig spielen die gestandenen Männer mit den hochwertigen Messern und zeigen sich gegenseitig die vielen Möglichkeiten, die in dem so geschickt gefertigten Schweizer Traditionsstück stecken. Eine kleine, simple Aufmerksamkeit, die sie sehr gut gebrauchen können. Anerkennend klopfen sie dem leicht errötenden Robert kräftig auf die breiten Schultern, sodass dieser beinahe vornüber kippt, lachen und nicken dabei. Robert blüht durch die geglückte Aktion sichtlich auf und lässt es sich nicht nehmen, weitere türkische Phrasen unter das strahlende Männervolk zu werfen. Das letzte Eis ist gebrochen. Kurzerhand werden die ramponierten Klapptische zusammengestellt und dem gemeinsamen Mahl steht nichts mehr im Wege.

Zu später Stunde fährt uns Robert mit seinem Dinghi zurück an Bord, dieses Mal ohne Zwischenfall. Ein zufriedenes Schmunzeln umspielt seine Lippen. Als wir bei einem Schlummertrunk gemütlich an Bord zusammensitzen, seufzt unser Skipper gelassen: »Wisst ihr, ich war lange ziemlich weit oben in der Versicherungsbranche und hab ohne Ende Kohle gemacht. Aber ich habe mich früh pensionieren lassen. Nur wenige haben mich damals verstanden. Aber ich merke, dass es mir guttut. Ich stand zu der Zeit kurz vor dem Burnout und mein Herz raste. Das tut es noch immer manchmal. Außerdem habe ich Bluthochdruck. Seitdem ich unterwegs bin, wird langsam alles besser. Nach und nach brauche ich weniger Medikamente. Stück für Stück finde ich immer mehr zu mir selbst zurück. Neulich überlegte ich, welches die glücklichsten Jahre in meinem Leben waren. Die Antwort fiel mir recht leicht: Es war die Zeit, als ich ein Haus mit meinen eigenen Händen erbaut habe und es ist die Zeit, die ich eben jetzt erlebe.« Robert atmet durch nach diesem langen Monolog. Doch er ist noch nicht zu Ende: »Schaut mir mal zu. Gleich habt ihr etwas zu lachen: Hier habe ich eine neue Rolle Küchenpapier. Dort drüben hängt eine Vorrichtung, die ich selbst gebastelt habe, um das Küchenpapier aufzuhängen. Das witzige Problem an der fragwürdigen Konstruktion ist nun für die meisten, die mich an Bord besuchen, dass man die neue Küchenrolle von der ursprünglichen Rolle herunterrollen muss, um sie danach fein säuberlich wieder auf meine selbst gebastelte Vorrichtung aufzurollen. Viele stöhnen und murren: ›Warum machst du es dir da nicht einfacher?‹ Und sie haben vollkommen Recht. Ohne großen Aufwand könnte ich mir etwas bauen, mit dem es viel schneller ginge. Aber ich will das nicht. In meinem ganzen Leben ging es darum, möglichst alles effizient und noch effizienter, schnell und noch schneller zu machen. Und ich war richtig gut darin, doch glücklich machte es mich nicht. Ich genieße es darum heute, etwas absolut nicht effizient zu machen. Das macht mich glücklich.« Robert prustet lauthals los und rollt gemächlich seine Küchenrolle auf. Wir lachen begeistert mit, als ob jemand einen urkomischen Witz gemacht hätte. Als platter Witz war es von Robert jedoch nicht gemeint, es ist ihm vielmehr sehr ernst damit.

Am nächsten Tag fahren wir weiter und erreichen den Ausstiegsort für Robert. Beim Anlegemanöver will ich mein Glück versuchen. Das missglückt, denn ich treffe die große Lücke an der Pier gleich dreimal hintereinander nicht und der erfahrene Skipper muss das Ruder übernehmen. Einen kurzen Moment hoffe ich, dass Robert dies zum Anlass nimmt, uns doch nicht sein Boot zu überlassen. Aber er nimmt das misslungene Manöver nicht so ernst. »Nicht so schlimm«, winkt er ab. Nach zwei Tagen verlässt uns der gutmütige Robert gut gelaunt und uneingeschränkt optimistisch, dass wir es schaffen, sein Boot 300 sm (ca. 500 km) weit sicher nach Mersin zu segeln. »Was für ein Wahnsinn«, denke ich ununterbrochen. Robert kennt uns erst seit zwei Tagen. Woher weiß er, dass auf uns Verlass ist? Was für ein Vertrauensbeweis! Die Liebe und Gelassenheit, die Robert ausstrahlt, sind beeindruckend. Mit seiner entspannten Art findet er sich in jeder fremden Umgebung problemlos zurecht. Ohne Vorurteile geht er offen auf seine Mitmenschen zu. Er versucht stets, die Sprache der Einheimischen zu sprechen, auch wenn er dadurch die Lachnummer jedes Lokals wird und behandelt jeden mit Respekt. Wir erkennen: Mit Freundlichkeit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit kann man überall klarkommen. WOW! Wir sind völlig beeindruckt von so viel Abgeklärtheit und Zuversicht. Schließlich sind wir mit seinem Boot, der Ariadne, unterwegs – seinem gesamten Hab und Gut! Übersteigt das nicht unsere Fertigkeiten und Fähigkeiten als frisch geborene Segelnovizen? Fragen, über die wir uns in diesem Moment nicht allzu viel den Kopf zerbrechen können, denn unser erstes gemeinsames Segelabenteuer steht bevor. Zwei Greenhorns allein im November im Levantischen Meer. Irgendwie werden wir das schon hinkriegen. Mit einer herzlichen Umarmung verlässt uns Robert in Kalkan. Und wir machen uns bereit, loszuziehen.

Unersetzlich: Das Dinghi und mein Mann

Kapitel 2: Wir haben einen
Hund

Wir verabschieden uns nicht nur von Robert, sondern auch von den sonnigen Tagen. Schlechtwetterfronten hindern uns am Auslaufen aus Kalkan. Ungeplant freunden wir uns in dieser Zeit mit einem speziellen kleinen Gefährten an. »Guck mal Elias!«, rufe ich am Morgen, als mein Blick auf die Pier fällt. »Der ist süß.« Elias schiebt seinen Kopf an mir vorbei, um zu sehen, was mich so in Begeisterung versetzt. »Hm«, ist seine Reaktion, »ein Hund.« »Jetzt schau doch mal richtig hin!«, widerspreche ich vehement. »Das glänzende schwarze Fell, die großen lieben Augen und dieser lange, wedelnde Schwanz. Der Hund ist total goldig.« »Hm«, meint Elias wieder und verschwindet desinteressiert im Bootsinneren. Aber den treuen Weggefährten interessiert es nicht, dass Elias ihn nicht beachtet. Er sitzt hartnäckig vor der Ariadne und wenn wir unser Boot verlassen, wedelt er begeistert und freudig mit seinem Schwanz. Wenn wir zurückkehren, sitzt er noch an gleicher Stelle. Er hat unser Schiff zuverlässig bewacht!

Auch wenn ich von dem Vierbeiner hingerissen bin, so mischen sich in diese Begeisterung auch viel Respekt und ein wenig Angst. Ebenso ergeht es Elias. Wir versuchen, ihn zu ignorieren. Hier springen viele herrenlose Hunde herum, auch dieser wird wieder davonspringen! Die Gassen Kalkans sind in dieser vorwinterlichen Zeit gefüllt mit Streunern. Auf den holprigen Straßen wimmelt es mehr von Hunden, die in ganzen Rudeln zwischen den engen Häuserfronten hindurchjagen, als von Menschen. Aber wir irren uns, denn der schwarze Hund verschwindet nicht: Tagtäglich, Stunde für Stunde sitzt er da und freut sich, wenn wir an ihm vorbeilaufen. Fast grimmig schiebt Elias ihm am zweiten Tag eine Scheibe Salami über die Gangway. »Hast du ihm eine Scheibe Salami gegeben?«, frage ich belustigt. »Bevor sie im Müll landet«, rechtfertigt sich Elias und ich grinse.

Elias ist überhaupt nicht davon angetan, dass dieser Köter uns als neue Besitzer auserkoren hat. Doch der Hund interessiert sich nicht für seine Meinung. Er mag Elias, das ist nicht zu übersehen. Er kämpft mit allen, einem Hund zur Verfügung stehenden Mitteln um seine Sympathie: treuer Hundeblick, unablässiges Schwanzwedeln, zuverlässige Bewachung des Bootes. Der bedrängte Elias hat keine Wahl, als ihn zu mögen und ich schmunzle weiter in mich hinein. Bei unserem nächsten Einkauf passiert dann das Unvermeidliche: »Er kommt mit uns mit«, stelle ich erstaunt fest. »Auch das noch«, brummelt Elias und der Schwarze trottet gemächlich ganz nah neben ihm her. »Gefragt, ob wir seine Begleitung schätzen, hat er definitiv nicht. Meine Antwort wäre auch ›nein‹ gewesen«, murmelt Elias missmutig. »Aber warum sollte er fragen? Hier geht es nicht nach uns. Die Schlechtwetterfronten machen, was sie wollen genauso wie kleine schwarze Hunde. Solange er brav ist, können wir ihn handeln.« An einem hübschen Café machen wir Halt und gönnen uns einen Kaffee. Der Schwarze macht es sich vor dem Café bequem und wartet. Abends suchen wir ein kleines Restaurant auf. Unser neuer Begleiter hat wohl das Gefühl, Teil unserer Herde zu sein und legt sich unter unseren Tisch. »Das gibt’s ja nicht!«, ruft Elias und schüttelt den Kopf. »Da hat sich jemand uns als Waiseneltern auserkoren. Und mich hat niemand gefragt.« Ich lache. Die Portionen, die uns serviert werden, sind riesig und glücklich reicht Elias die Reste an seinen neuen Kollegen ein Stockwerk tiefer weiter. Dieser verschlingt alles gierig.

Auf dem Heimweg begegnen uns viele weitere Hunde. Unsere Fellnase erwacht jedes Mal aus seinem Trott, wenn einer seiner Artgenossen auftaucht und verteidigt uns. »Der hat nicht vor, uns zu teilen«, sagt Elias und weist kritisch auf unseren, plötzlich aggressiven, neuen Freund. »Auch gut so«, fährt er fort, »ein Hund reicht mir vollkommen.« Leider belässt es unser Freund nicht dabei, uns ausschließlich vor seinen eigenen Kollegen zu beschützen. Auch vorbeilaufende Spaziergänger bellt er laut an. »SCHHHH!«, weist ihn Elias scharf zurecht. Wenn er zu unserem Rudel gehören will, dann darf er nicht alle anderen fremden Menschen zu Tode erschrecken! Wir befinden uns schließlich nicht im Kampf oder Krieg. Da wir beide nie einen Hund hatten, sind wir überrascht, wie schnell er lernt und unseren »Schhhssss« Folge leistet. Ohne unsere Autorität infrage zu stellen, kehrt er zu uns zurück und keine weiteren Menschen werden mehr angebellt. Doch der liebe, loyale Kerl hat eine tiefe Abneigung gegen alles, was auch nur entfernt einem Motorrad ähnelt. Wie besessen jagt er jeder Vespa und jedem Fahrradfahrer hinterher, kläfft, bellt und schnappt zu. »Sobald sich ein solches Fahrzeug in der Nähe befindet, brennt bei unserem Freund eine Sicherung durch«, stellt Elias richtig fest. »Ich habe das Gefühl, dass er traumatisiert ist«, füge ich nachdenklich hinzu.

Wir erfahren die Hintergründe seiner aggressiven Attacken natürlich nie. »Schade, dass er nicht sprechen oder sein Verhalten reflektieren kann«, sinnieren wir weiter. Eine Umerziehung durch uns ist in dieser kurzen Zeit nicht möglich. Damit wären wir wohl sowieso überfordert. Immer wieder kommt uns ein weiser Spruch in den Sinn: »Die Vergangenheit ist irrelevant, solange sie unser aktuelles Verhalten nicht prägt.« Und deutlicher könnten wir dies nicht am Verhalten unseres schwarzen Freundes erkennen. Zum einen berührt er uns mit seinem uneingeschränkten Vertrauen und seiner Liebe, beides Gefühle, die er uns vom ersten Moment an entgegenbrachte, ohne dass er uns kannte. Zum anderen erschreckt uns sein Verhalten Motorrädern und Ähnlichem gegenüber. Diese verwandeln ihn in eine rasende, gefährliche Bestie, ein Muster, aus dem er nicht in der Lage ist, auszubrechen. Am Tag unserer unausweichlichen Abfahrt sitzt er, wie üblich, vor der Ariadne. »Guck mal, wie traurig er schaut!«, sage ich und zeige auf den kleinen schwarzen Hund mit den hängenden Ohren, »ich glaube, er merkt, dass wir nun abfahren.« Wir schauen unglücklich zu unserem neuen Freund. Die Abschiedsstimmung erreicht das kleine Hundeherz. Zum ersten Mal versucht er, eine Pfote auf die wackelige Gangway zu setzen, wie als Zeichen für uns, dass er bereit wäre, mitzukommen. Wir haben natürlich eine extra Portion Futter bereit und sind peinlich berührt über die Gefühle, die bei uns durch dieses Tier geweckt wurden. Lächerlich?

Im Winter wird Kalkan von Hunden bevölkert.

Kapitel 3: Als Fremde auf einer
türkischen Hochzeit

Da es spät in der Saison ist, sind wir die einzigen Gastanleger in Kalkan. Der Hafenmeister Karim mitsamt seinen Kollegen freundet sich während unserer Zeit im Hafen mit uns an. Wir sprechen also nicht ausschließlich mit Hunden. Bereits nach wenigen Tagen sitzen wir oft mit einem türkischen Tee in der Hand auf einem der Boote der freundlichen Einheimischen. Wir haben sogar so viele Termine mit neuen Bekannten, dass wir einige aufgrund von Doppelbelegungen absagen müssen. Wie schnell wir Kontakte knüpfen. Wahnsinn! Wäre das in unserer Heimat ebenfalls so?

Doch dann ist der Moment des Aufbruchs da. Noch mit Abschiedsschmerz im Herzen heißt es an einem Novembermorgen: »Leinen los!« Voller Spannung motoren wir langsam aus dem Hafen und setzen die Segel. Fragen wie: »Setzt man zuerst das Groß oder die Genua? Welche Schoten gehören zu welchem Segel? Welche Winsch muss ich jetzt bedienen? Wie geht der Motor aus? Muss der Rückwärtsgang beim Segeln eingelegt werden?«, schießen wild durch unsere Köpfe.

Simple Fragen, die selbst einem wenig routinierten Segler lächerlich vorkommen müssen. Doch das Anfängerglück scheint auf unserer Seite zu sein. Die Segel stehen und wir kommen vorwärts. Bei genauerer Betrachtung wird uns jedoch klar, dass wir in die falsche Richtung fahren! Das erkennen selbst wir Greenhorns zweifelsfrei. Der Wind bläst genau von vorne und die ungemütliche See ist von den Unwettern der letzten Tagen aufgewühlt. Eine lange Strecke liegt vor uns, denn bis Mersin ist es weit. Aufgrund des schlechten Wetters, das wir im Hafen abgesessen haben, ist bereits viel Zeit verloren gegangen. Wir wollen darum besonnen handeln und entschließen uns, den Motor anzuschmeißen, damit wir unserem Ziel wenigsten ein paar wenige Meilen näher kommen. Gesagt, getan. Die Segel sind wieder verstaut, der Motor röhrt und wir kommen gut voran. Doch kurze Zeit später folgt der Schock: »Dési, überprüf doch mal, ob Kühlwasser kommt!«, meint Elias beiläufig zu mir. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht einmal, dass der Motor mit Seewasser gekühlt werden muss. Deshalb rufe ich unbekümmert, ohne mir darüber bewusst zu sein, was diese Aussage für eine fatale Auswirkung haben würde, meinem Elias zu: »Nein, da kommt nichts!« Dieser reagiert umgehend richtig: »Stell den Motor aus! Schnell! Der überhitzt sonst!« Widerwillig drehe ich sofort am Zündschloss. »Mist«, denke ich, »ist das wirklich nötig? Wie sollen wir jemals irgendwo ankommen?« Ungeduldig warte ich auf weitere Anweisungen aus der Navigationsecke. Ich erfasse in keiner Weise die Brisanz der Situation. Es folgt eine weitere energische und bereits weniger freundliche Aufforderung: »Mach den Motor endlich aus!« Ich schüttele irritiert den Kopf. Denkt Elias, ich sei zu bescheuert, um einen Motor auszuschalten? Einfach den Zündschlüssel umdrehen – dazu braucht man wirklich nicht besonders viel Motorenkenntnis. Das kann ich! »Ich hab den Motor ausgeschaltet!«, gebe ich verärgert und zickig in den Motorraum weiter. Harsch ertönt die gestresste Rückmeldung: »Motor aus! Sofort! Du hörst doch selber, dass er noch läuft!« »Ja, höre ich, du Blödmann!«, blaffe ich Elias an. Wir waren schon mal zuvorkommender zueinander. Gleichzeitig wedele ich entnervt und vorwurfsvoll mit dem Zündschlüssel in der Hand. »Siehst du? Ich habe ihn ausgemacht!« Oh nein! Schlagartig wird uns bewusst, dass der brummende Motor nicht nur ein Problem mit der fehlenden Kühlung hat, sondern offenbar auch gerne Überstunden schiebt.

»Mist, wie kriegt man diese Bestie aus?«, frage ich panisch und ratlos. Meine Fantasie geht bereits mit mir durch und ich sehe den Bootsmotor schon in Flammen stehen und uns kurz danach in die Luft fliegen. »Ich glaube, so ein Antrieb hat auch immer einen Not-Aus-Knopf direkt beim Motor!«, ruft Elias angespannt. Tatsächlich hat der liebe Robert uns in weiser Voraussicht vorsichtshalber auf ein Ringheft mit der Aufschrift »Boat-Manual« aufmerksam gemacht. Mit Schweißperlen auf der Stirn verkriecht sich Elias hektisch ins Schiffsinnere auf der Suche nach dem rettenden Manual und begutachtet dabei nervös den immer heißer werdenden Motor. »Wo zum Teufel ist dieser vermaledeite Hebel?«, schimpft er wütend fluchend vor sich hin.

Wie auf glühenden Kohlen bleibe ich währenddessen hilflos hinter dem Steuer sitzen, halte Ausguck und versuche, das treibende Boot durch bloßes Zureden von der drohenden Kollision mit der sich nähernden Felsküste abzuhalten. Was für eine bescheuerte Idee, alleine zu segeln! Ich verfluche Elias, weil er mich dazu verführt hat und ich verfluche mich, weil ich mich nicht energisch genug gegen diese wahnwitzige Idee gewehrt habe. »Nie wieder gehe ich segeln«, schwöre ich mir. Alles Ärgern, Fluchen und Bereuen hilft nun allerdings nichts.

Zu unserer großen Erleichterung ist die Seite im Betriebshandbuch mit der Notmotorausschaltprozedur vorhanden. Der gesuchte Hebel befindet sich, wie könnte es anders sein, an der unzugänglichsten Stelle des vibrierenden, tobenden und hitzigen Ungeheuers. Doch Elias schafft es! Die Bestie verstummt. Durchatmen! Ein Moment der Ruhe, bevor wieder Hektik ausbricht. Die Bootsbewegungen im Schiffskörper in Kombination mit dem stinkenden Motor der manövrierunfähigen Yacht fordern dem Jungmechaniker einen Tribut ab. In schnellen Schritten taumelt Elias bleich an Deck. Ehe er sich an der Reling festhalten kann, ertönt ein unüberhörbarer Würgereiz. Ein sensationeller Start ins gemeinsame Segelleben! Das kann ja heiter werden!

Die Situation wird zusehends brenzliger: Zwei hilflose Segelnovizen befinden sich auf einer, auf eine Steilküste zutreibenden Yacht ohne funktionierenden Motor. Tolle Ausgangslage! Das wild schaukelnde Pferd muss gebändigt und in einen sicheren Stall gebracht werden. In Windeseile wird ein Plan zur Rettung der Ariadne und unseres eigenen Lebens entworfen: Mit der Genua allein wollen wir versuchen, zu unserem Ausgangshafen zurückzufinden. Denn dem Großsegel und dem Umgang damit sind wir noch nicht gewachsen. Erst bei der Hafeneinfahrt wollen wir den Motor nochmals starten und hoffen, dass er bis zu unserem Anlieger durchhält. Nach ein paar Fehlversuchen, ausgerauschten Schoten und einer tiefen Schnittwunde steht das Segel schließlich wieder. Tatsächlich schaffen wir es auch, Stunden später und mit äußerst strapazierten Nerven in den Hafen einzulaufen. Der Motor hält durch und all unsere zuvor verabschiedeten Freunde im Hafen müssen mit anpacken, um unser Boot in die Lücke zu befördern. Was für ein Auftritt! Nicht nur unsere Freunde freuen sich, uns so schnell wiederzusehen. Auch unser Rudel ist wieder komplett. Gefeiert wird das mit einer Extraportion Essensresten für den Schwarzen.

Am Abend lecken wir unsere Wunden in der Hafenkneipe. Karim gesellt sich zu uns, muntert uns auf und erzählt von einer bevorstehenden Hochzeit in seiner großen Familie. Später kommen weitere Familienmitglieder hinzu und kurzerhand werden auch wir zur türkischen Hochzeit eingeladen. Wir freuen uns! Genau das Richtige, um uns von unserem desolaten Start ins Segelleben abzulenken. Angestrengt wühlen wir in unseren unförmigen Segelsäcken auf der Suche nach den schönsten Outfits. Wie kleidet man sich auf einer traditionellen türkischen Hochzeit?

Da hupt es auch schon. Es bleibt keine Zeit mehr, um sich über das richtige Outfit Gedanken zu machen. Karim steht mit seinem verstaubten Flitzer parat, um uns abzuholen. Wir fahren klappernd ein paar Meter, halten dann für ein Getränk und einen ausgiebigen Schwatz. Wir kommen kaum von der Stelle, denn die Prozedur wiederholt sich unzählige Male. Immer mehr, wenig feierlich gekleidete Gäste quetschen sich zu uns ins schäbige Fahrzeug. Die anfangs halbwegs geteerte Straße weicht bald einem holprigen, mit Schlaglöcher versehenen Waldweg. Wo um Himmels Willen soll in dieser gottverlassenen Gegend eine Hochzeit stattfinden? Gibt es überhaupt eine Hochzeit? Wohin fahren uns diese wildfremden Menschen? Schon als kleines Kind bekommt man eingebläut, nicht zu Fremden ins Auto zu steigen. Was machen wir hier nur? In uns macht sich ein mulmiges Gefühl breit und unsicher blicken wir uns an. Auf was wir uns da nur eingelassen haben? Ändern können wir es nicht mehr. Aussteigen auch nicht. Wir sitzen eingeklemmt zwischen grölenden Burschen und fahren – hoffentlich – zu einer Hochzeit, die wohl im Nichts stattfinden wird.

Abrupt stoppt der abgenutzte Wagen. Wir sind da! Vor uns erstrecken sich riesige Felder, ein Marktstand ist aufgebaut und Hunderte von Plastikstühlen sind im Halbkreis aufgestellt worden. Orientalische Musik trällert über die Wiese. Vor einem kleinen Plastikzelt wuseln verschleierte Frauen eilig hin und her. Nur ausgewählte Personen dürfen das Zelt betreten. Nach und nach kommen immer mehr Autos angefahren und parken wild durcheinander in den Wiesen, im Schlamm und zwischen den Bäumen. Erleichtert atmen wir auf: Es handelt sich also doch nicht um eine Entführung. Gleichzeitig wundern wir uns: Hier soll tatsächlich eine Hochzeit stattfinden? Schnell machen sich unsere knurrenden Mägen unmissverständlich bemerkbar. Wir sind es gewohnt, bei Hochzeiten hungrig und vor allem durstig anzukommen, da man stets bestens mit allerlei Köstlichkeiten verpflegt wird. Nicht so am ersten Abend einer türkischen Hochzeit! Vergebens suchen wir das reichhaltige Buffet und auch ein Kellner mit Tablett und Sektgläsern ist nirgends zu sehen. Unsere Mägen bleiben leer und dabei haben wir extra nichts gegessen, um bei den traditionellen türkischen Gerichten richtig zuschlagen zu können! Dafür mangelt es nicht an feierlustigen Gästen. 200 bis 300 Menschen, wenig elegant gekleidet, dafür in einfacher Bauerntracht, verteilen sich auf den Stühlen. Munter wird getratscht und wir werden neugierig beäugt. Als einzige Ausländer fallen wir auf wie bunte Hunde, was uns überhaupt nicht behagt. Ein Kopftuch auf meinem Haupt wäre auch nicht fehl am Platz gewesen. Zum Glück habe ich mich in weiser Voraussicht davon abgehalten, einen kurzen Rock anzuziehen. Vom Brautpaar ist derweil keine Spur zu sehen, alle warten.

Ein Herr kommt schließlich auf uns zu und fragt, ob wir hungrig seien. Mit knurrenden Mägen können wir dies nicht verneinen. Wie aus Zauberhand wird daraufhin ein kleiner Tisch extra für uns aufgebaut. Auch verschiedene Esswaren werden aus dem Nichts hervorgezaubert. Wir sind die einzigen, die etwas essen und die Menschenmassen schauen uns neugierig und belustigt zu. Das Essen schmeckt vorzüglich. Wir kommen uns allerdings wie auf einem lauten Bazar vor bei dem wir die Hauptattraktion sind. Wir sind froh, etwas in unsere Mägen zu bekommen und unsere Neugierde darauf, was uns an diesem Abend alles erwarten wird, wächst.

Endlich werden die einander schon lange versprochenen Brautleute angefahren. Wir schauen uns an: Braut und Bräutigam, beide kaum zwanzig Jahre alt, wirken wie Kinder auf uns. Die außergewöhnliche Party kann steigen. Für unsere deutsch-schweizerischen Ohren eigenartig klingende orientalische Klänge werden angestimmt. Der rituelle Ablauf der traditionellen Hochzeit ist genauestens vorherbestimmt und folgt einer Ordnung, die wir nicht verstehen. So stehen zum Beispiel, auf ein Zeichen hin, lediglich die Männer auf und tanzen. Sie hüpfen dabei im Takt und schnippen rhythmisch mit den Fingern. Beim nächsten Lied sind die Frauen, die fast alle verschleiert sind, an der Reihe. Sie beginnen, sich im Takt der Trommeln zu wiegen und ihre anmutigen Kreise zu drehen. Als Nächstes sind verheiratete Paare an der Reihe und Karim schubst uns auf die grasige Tanzfläche. Elias ist wenig begeistert, doch ich bin hocherfreut über den unerwarteten Tanzgenuss. Mit sturer Genauigkeit wird Tanz für Tanz absolviert. Keiner tanzt aus der Reihe und mit feierlicher Stimmung wird, in wenig vornehmer Kleidung, jeder Tanz zelebriert. Wir versuchen, einen Sinn oder einen roten Faden bei der Zeremonie zu finden, scheitern aber kläglich. Mit Fragen kommen wir ebenfalls nicht weiter. Denn Deutsch oder Englisch spricht niemand und wir sprechen leider auch kein Türkisch. Der Fehler liegt auf unserer Seite. Mit Lächeln, Nicken und Gesten verständigen wir uns den Abend hindurch. Während unsere eigene Hochzeit nur wenigen speziellen Traditionen und Abläufen entsprochen hat, so wird uns plötzlich schnell mehr als deutlich, wie wichtig es hier ist, sich den gesellschaftlichen Regeln und Bräuchen anzupassen:

Wieder wird traditionelle Musik gespielt und Männer und Frauen tanzen in zwei streng nach Geschlechtern getrennten Kreisen. Ich bemerke dies jedoch nicht. Da im Männerkreis wilder getanzt, gehüpft und geschnippt wird, wechsele ich kurzerhand und ohne nachzudenken meinen Tanzkreis, denn es erscheint mir spaßiger, zu hüpfen und wild zu springen, als gemächlich, Runde um Runde anmutig im Kreis zu wandeln. Ein fataler Fehler! Kaum habe ich den ersten Hüpfer vollbracht, eilt eine aufgebrachte Brautführerin herbei und zieht mich vehement und bestimmt in den Kreis der Frauen zurück. Getuschel ist von allen Seiten zu vernehmen. Verdattert ziehe ich mich komplett aus dem Kreis der Tanzenden zurück.

Wir betrachten nun lieber aus der Ferne das immer leidenschaftlicher tanzende Volk. Unsere Augen werden bereits müde, als auf einmal ein Knall ertönt. »Was war das?«, frage ich erschreckt. Elias meint zögerlich: »War das ein Schuss?«, und beantwortet im selben Moment diese höchst unwahrscheinliche Vermutung. »Wohl kaum, wir sind doch hier auf einer Hochzeit. Das war bestimmt ein Knaller vom Marktstand dort drüben.« Weit gefehlt! Es folgen weitere Schüsse. Vor uns auf dem matschigen Boden liegen schlagartig leere Patronenhülsen. Wir haben zwar beide noch nie mit einer Pistole geschossen, aber dies könnten tatsächlich Knalle von einem Revolver sein. Kaum haben wir diesen Gedanken zu Ende gedacht, zeigt Elias auf einen Kerl, wenige Meter von uns entfernt: »Schau! Das ist wie im Wilden Westen. Der Bursche hat an seinem Gürtel einen Revolver stecken und ballert wie ein Verrückter in die Luft.« Ich zeige in die andere Richtung: »Er ist nicht der einzige! Der Kleine dort drüben zieht gerade ein noch viel größeres Gewehr hervor und feuert sein ganzes Magazin ab.« Wir bleiben wie versteinert stehen und unsere gut gebräunten Gesichter werden wieder so bleich wie vor unserem Abenteuerurlaub. Die Leute um uns herum beginnen zu klatschen und die tapferen Schützen anzufeuern. Weitere greifen sich in die Hosentaschen und ziehen immer beeindruckendere Revolver und Gewehre hervor. Das Schauspiel wiederholt sich und die Gäste jubeln ohrenbetäubend. Wir verstehen, dass Pistolenschüsse hier nicht unbedingt oder zumindest nicht immer etwas Böses sind und etwas Farbe kehrt in unsere leichenblassen Gesichter zurück. Der Kloß im Hals aber bleibt. Das Fest wird immer zügelloser, bunter und auch unsere Freunde, mit denen wir gemeinsam hergefahren sind, knallen nun in der Gegend herum. Jeder, der will, darf mal eine oder mehrere Salven in den Sternenhimmel jagen. Irgendwie wird es uns nun wieder unheimlich. Später erzählt uns jemand, dass es in der Türkei eine Statistik gibt, in der festgehalten wird, wie viele Menschen jährlich in Folge von Freudenschüssen oder deren Querschlägern ums Leben kommen. Es ist manchmal durchaus von Vorteil, wenn man nicht alles im Voraus weiß. Gott sei Dank erlöst uns Karim schließlich mit der Frage, ob wir langsam zurückfahren wollen. »Das wollen wir! Nur weg von hier!«, schießt es uns durch den Kopf. Andere Länder, andere Sitten. Was für ein abgefahrenes Erlebnis!

Müde fallen wir in unsere Kojen, können aber lange nicht einschlafen. Früh am nächsten Morgen, wir haben uns kaum wieder aus den Kojen gequält, wird der Motor von einem Mechaniker überprüft. Die Ursache für unsere defekte Kühlung ist schnell gefunden: Ein Plastiksack wurde aus dem Meer angesaugt und hat unseren Kühlkreislauf verstopft.

Uns fällt ein Stein vom Herzen, da wir bereits schlimmere Probleme vermutet hatten. Der Mechaniker verschafft uns mit seiner Aussage jedoch gleich den nächsten: »Der Motor funktioniert nun wieder, klingen tut er aber nicht gut. Irgendwas läuft da nicht rund.« Mit den Pistolen im Rücken macht uns der halb kaputte Motor jedoch wenig Angst. Wir wollen weitersegeln! Weg von diesem traditionsreichen Ort, an dem wir vieles nicht verstehen und wir uns fremd vorkommen, obwohl wir mehr als herzlich und großzügig empfangen wurden. Fort von einem Ort, an dem unsere erlernten und anerzogenen Regeln keine Bedeutung haben. Wir haben viel Fremdes und für uns nicht Verständliches erlebt, in einem Land, von dem wir dachten, dass es unserer Kultur näher sei! Doch wir genießen das Fremdartige, das Orientalische und all das andere auch. Denn es ist aufregend und die ungewohnten Bräuche regen unsere alten Gehirnwindungen an, sich auch in andere Richtungen zu strecken. Wir überdenken eigene Rituale, hinterfragen vorgegebene Abläufe unserer Religion oder Kultur und beschließen öfters mal, nicht das zu tun, was von uns erwartet wird. Nun gilt es jedoch, sich auf den zweiten Segelversuch zu konzentrieren. Ob der dieses Mal besser gelingt?

Ankerplatz in der Türkei

Das türkische Hohchzeitspaar mit uns

Türkische Fischer mit mir

Kapitel 4: Türkische Fischer mit
denen wir Tee tranken

Mit vielen verschiedenen Eindrücken im Kopf und etwas aufgedreht, versuchen wir einen Tag später noch einmal Kalkan zu verlassen. Und tatsächlich: Dieses Mal murrt der Motor nicht und auch das Segelsetzen läuft ganz ohne Verletzungen ab. Wir sind stolz auf unsere schnellen Fortschritte und genießen die Flitterwochen auf See. Wir ankern an herrlichen, naturbelassenen Ankerplätzen und können selbst im November problemlos das erfrischende Meerwasser genießen. Zu zweit auf See fühlen wir uns sehr wohl. So habe ich es mir vorgestellt und auch das Segeln scheint nicht mehr schwierig zu sein. Wir wagen sogar eine Nachtfahrt und beobachten staunend stundenlang und ohne zu ermatten den klaren, sternenbekleckerten Himmel. Müde werden wir in dieser Nacht wohl auch deshalb nicht, weil wir dieser ersten Nachtfahrt mit kindlicher Neugier entgegengefiebert haben.