Gabriele
MÜNTER
Ein Leben zwischen Kandinsky
und der Kunst
Romanbiografie
Titel der Originalausgabe: Gabriele Münter
Ein Leben zwischen Kandinsky und der Kunst
Überarbeitete Neuausgabe 2018
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1997, 2014, 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Programmleitung: Fitore Brahimi
Lektorat: Ariane Hug
Umschlagmotiv: Kandinsky, Wassily: »Bildnis Gabriele Münter«, 1905, Öl auf Leinwand,
Städt. Galerie im Lenbachhaus, München © AKG Images
Layout, Umschlaggestaltung, Vor- und Nachsatz: Sabine Kunzmann
Satz: Arnold & Domnick, Leipzig
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-81409-9
ISBN (Buch): 978-3-451-38314-4
Inhalt
ERSTES BUCH –
DIE SCHÜLERIN WIRD ZUR GEFÄHRTIN
ZWEITES BUCH –
MALERKOLONIE ODER EINE NEUE MALRICHTUNG
DRITTES BUCH –
BLAUE REITER
VIERTES BUCH –
ABSCHIEDE UND EIN NEUANFANG
ANHANG –
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
Für A. J. S.
Immer noch ein wenig Kribbeln in den Füßen, wenn der Zug von weither in den Bahnhof einrollt. Und allemal ein hastiger Blick den Bahnsteig entlang, ehe die Türen zufallen. Der Bahnhof, ein Ort, wo Ankunft und Abfahrt, Abschied und Wiedersehen auf die Minute geregelt werden. Auf Bahnhöfen kennt sie sich aus. In München, in Bonn, in Berlin, in Paris, Kopenhagen, Stockholm. Das Bangen, das Hoffen, Verzweifeln, eine traurige Bilanz. Nicht zu vergessen der Bahnhof in Murnau.
Murnau, das wäre ein Anfang. Sie schließt für einen Moment die Augen, sieht ihren neuen Freund, den Kunsthistoriker Johannes Eichner, wie er sie aufmunternd anblickt und ihr vorschlägt, das Haus wieder in Besitz zu nehmen und den viel gerühmten Garten.
Das Haus.
Am 21. August 1909 an sie, Gabriele Münter, ins Grundbuch überschrieben. Ihr Haus in der Kottmüllerallee 33. »Dies soll ein Ruhesitz für unsere alten Tage sein«, hatte Wassily Kandinsky1 damals ausgerufen.
Sie haben sich seit Jahren nicht mehr geschrieben. Sie hat ihn seit jenem Märztag auf dem Bahnsteig von Stockholm niemals mehr gesprochen.
Letzte Station jetzt vor Murnau. Diese Alpenvorlandschaft. Auf die Innenseite ihrer Augenlider war sie eingelassen, ihr Bild für immer in den starken Farben ihrer Palette.
Sie erhebt sich von der Holzbank, nimmt die Reisetasche aus dem Gepäcknetz. Sie muss gleich aussteigen.
Das Haus liegt allein, außerhalb des Ortes. Leute, die zur Ramsachkapelle hinunterwollen, blicken auf eine klar gegliederte Front, ein Haus unter Eichen, ein Mansardenhaus, im Giebel verbrettert, zweistöckig mit Walmdach und offenen Fensterläden im ersten Stockwerk. Solide und geschmackvoll stellt es sich dar, aber niemand kann direkt Einblick nehmen, es verbietet sich von selbst, den großen Wiesenteppich davor zu betreten.
Hier hat sie gezeichnet, gemalt, Glasbilder und Holzschnitte angefertigt. Hier hat sie mit Kandinsky gelebt, dann ohne ihn, ohne die Freunde, ganz und gar allein, zurückgelassen hinter den Mauern des Hauses. Hat gewartet, Briefe geschrieben, viele Briefe, die sich auf den Tischen stapelten, solche, die sie abschickte und solche, die in Kartons zustaubten.
Das Haus steht verlassen, das Haus ist leer. Eines Morgens vor etlichen Jahren hatte sie aus dem Schrank sämtliche Kleidungsstücke von Kandinsky hinausgeworfen, seine Westen, Hemden, Hosen, Jacketts. Verblasste Lavendelsträuße zutage befördert. Nein, von Motten zerfressen war nichts. Als Motte hatten August Macke und seine Frau Lisbeth sie geschimpft, als ob sie, Gabriele, sich in Kandinskys Herz eingeschlichen hätte. Das konnte man ihr niemals vorwerfen, wohl aber, dass sie geglaubt hatte, nicht ohne ihn leben zu können.
Aus dieser Schublade, die nicht mehr ordentlich schloss, hatte sie sein Werkzeug für Holzschnitt und für Radierung, seine Paletten für Öl und Tempera herausgeholt, verpackt und ihm durch seinen Anwalt zugeschickt.
Wäre er zu ihr gekommen, gleich nach seiner Rückkehr aus Russland, um ihr persönlich zu sagen, dass er sich dort mit einer anderen verheiratet hatte, so wäre das für sie ein einmaliger Stoß in die Tiefe gewesen. Aber da sie nun so ganz und gar nicht mehr für ihn existieren sollte, blieb sie, gehalten von einer unbeschreiblichen Kraft, über diesem Abgrund schweben, und sie war lange Zeit unfähig, ihre Persönlichkeit, ihr Talent dagegen einzusetzen.
Weg mit diesem Haus, diesem Besitz. Weg mit dieser Liebe, mit diesem Hass.
Unverkäuflich, sagte der Makler, ein Ferienhaus, nicht für dauernden Aufenthalt geeignet, ohne Zentralheizung, ohne elektrisches Licht, mit einem einzigen Wasseranschluss nur in der Küche.
Welch ein Glück, meinte ihr neuer Freund, ihr kleiner Philosoph, es behalten zu müssen, und wenn ihr unbedingt an seinem Rat gelegen sei, solle sie innerlich einen Anlauf nehmen und alle Erinnerungspapiere bündeln und mit großem Schwung in ihrer Malerei gerade an diesem Ort weitermachen.
Ich habe doch immer einen Anlauf genommen, ich bin wohl ein wenig aus dem Schwung gekommen, hatte sie gedacht. Mein Handicap war jahrelang die Unfähigkeit, ein übles Spiel zu durchschauen. Jetzt kenne ich die Gründe für meine Neurosen. Der Zwiespalt in meinen Gefühlen ist mir klar geworden. Ich leide nicht mehr darunter. Ich habe ihn überwunden.
Sie reißt die Gardinen auseinander. Ein Lichtstrahl zittert über das geschwungene Treppengeländer in der Diele, beleuchtet den Treppenfries: die hellen und dunklen Reiter auf ihren vorwärts stürmenden Pferden zwischen Sonnen und wuchernden Pflanzen, eine Bilderfolge in Öl, mit viel Enthusiasmus von Kandinsky gemalt.
Wo sind ihre Malgeräte? Sie hat sie neben der Truhe abgestellt. Sie will sich an ihres neuen Freundes Rat halten und sofort anfangen. Sie stellt ihre Staffelei im Garten auf, oben, nahe am Grundstücksende. Hier hat sie vor beinah zwanzig Jahren oft gestanden. Sie dreht eine Tube auf und dreht sie wieder zu, fährt mit trockenem Pinsel ziellos über die Leinwand. Sie schaut sich um. Dahinten dengelt ein Mann die Sense. Sie kann das nicht malen. Ratschläge machen es ihr unmöglich, sich frei und locker von irgendeinem Motiv überhaupt inspirieren zu lassen. Eine leichte Verärgerung steigt in ihr hoch. Mit einundfünfzig Jahren soll man seine Zeit nicht vertun. Sie trägt ihr Malzeug ins Haus zurück.
Jahrelang, weit über ein Jahrzehnt, hat sie, so gut es ging, in allen Räumen gewohnt, nie aber den Wunsch verspürt, den Speicher zu betreten. Jetzt, an diesem Septembertag 1928, nachdem sie vor knapp einem Dreivierteljahr Johannes Eichner kennengelernt hat, geht sie, halb von ihm dazu gedrängt, halb aus innerem Antrieb, daran, die Kartons, die Koffer und die Kisten durchzusehen. Natürlich hat sie zunächst befürchtet, dass Narben aufplatzen könnten, und Eichner hat sie beschworen, nichts zu vernichten, ihm die Dokumente später zu überlassen, hat gemahnt: »Hier zuzugreifen und die gewonnenen Kenntnisse und Einsichten allgemein zugänglich zu machen, ist wissenschaftliche Pflicht!«
Sie greift aus dem Haufen der Briefe einen heraus. Als Briefkopf ein Holzschnitt, »Der Blaue Reiter«, Kandinskys Werk. Und für Gabriele nicht nur ein Handsiegel. Nicht nur ein Buchtitel.
»Der Blaue Reiter« ist für Gabriele untrennbar mit der Person Wassily Kandinskys verbunden. Ohne Schwierigkeiten, sofort, so, als sei es gestern gewesen, findet sie sich wieder in der Malklasse von K. ein.
Sie hörte, dass eine Stimme Ella sagte, Ellchen, und sie wusste, dass dies die Stimme von Kandinsky war, ihrem Lehrer, der wohl zum Bahnhof gekommen war, um ihr noch einmal ausführlich zu erklären, weshalb er seine Schülerin Gabriele Münter fortschickte.
Aber eigentlich wollte sie nicht mehr hören, dass er seine Frau Anja in den nächsten Tagen erwarte, dass es ihm unmöglich sei, mit ihnen beiden unter einem Dach zu wohnen. Und sie drehte sich nicht um.
Sie dachte an die Szene gestern Abend im Biergarten des alten Gasthofs in Kochel. Kandinsky verbeugte sich formvollendet:
»Alles Gute und gute Heimreise.« »Ebenso.« Du liebe Zeit, was hatte sie da erwidert. Die Mitschülerinnen aus ihrer Malgruppe am Nebentisch schauten einander an, sichtlich bemüht, nicht loszuprusten. Abbruch jetzt mitten im Kurs, jetzt, wo das Sommerhoch standhaft war und das Malen draußen erst richtig losging. Verrückt. Ein bisschen schon. Sie hatte verlegen die Schultern gezuckt, den Blick aufs Bierglas und im Kopf ganz andere Bilder. Kleine Szenen, an die sie eigentlich gern dachte, obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, und vielleicht hatten sie auch nichts Weiteres zu bedeuten.
Da gab es die Fahrt zum Walchensee. Schwüler Mittag. Die anderen in einem Wirtshaus. Sie als Einzige zurückgeblieben im Schatten einer Birke. Plötzliches Erschrecken, K. steht hinter ihr mit merkwürdigem Blick, lädt sie ein zu einer Radtour.
Gabriele Münter und Wassily Kandinsky sind die Einzigen im Kurs, die ein Fahrrad besitzen. Und nun fahren sie mit ihren Rädern auf und ab in der Umgebung von Kochel. Sie legen sich in die Kurven, schneiden sie in einem eleganten Bogen, weichen geschickt den Kuhfladen und Heubüscheln aus, die auf die schmalen Wege gefallen sind. Jeden Tag, wenn Kandinsky die Malschülerinnen an ihren verschiedenen Standorten kontrolliert, taucht er bei ihr zuletzt auf. Sie kennt schon den Klang seiner Trillerpfeife.
Dann die Bergtour zu zweit auf den Herzogstand. Wieder herrliches Wetter. Gabrieles Übermut. Sie tanzt, lacht, wirft die Arme hoch, läuft einen Abhang hinunter mit aufgelösten Haaren. Kandinsky unten, verstellt ihr den Weg, nimmt sie in seinen Arm. Sie fühlt sich überrumpelt. Sie widersetzt sich der Annäherung. Ella nennt er sie plötzlich, Ellchen, so wie es nur ihre besten Freundinnen tun, wie sie es seit Kindertagen von zu Hause gewöhnt ist. Und dann hat er sich einen eigenen Namen für sie ausgedacht. Liebes Füchschen. Er streicht ihr übers Haar. Sie muss lachen. Vermutlich ist es nur ein Spaß von ihm. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie sich am Abend im Biergarten an einen anderen Tisch gesetzt und so getan, als sähe sie ihn nicht. Aber er steht schon wartend da und rückt ihr den Stuhl zurecht. Die Malkolleginnen lachen, als sie ihre Verlegenheit sehen.
»Nett von Ihnen, Herr Kandinsky, dass Sie noch einmal gekommen sind.« Gabriele auf dem Bahnsteig von Kochel drehte sich doch zu ihm um. Ja, sie wollte von München aus gleich weiter nach Bonn zu ihren Geschwistern reisen. Noch hätte sie den Fahrschein zurückgeben können. Warum tat sie’s nicht? Kandinsky verabschiedete sie mit einem formvollendeten Handkuss. Benommen stieg sie in den Zug. Es war ihr ein Rätsel, weshalb sie sich so von ihm bedrängen ließ.
Sooft sie sich später dieser Sommerwochen 1902 in Kochel erinnerte – sie leiteten eine Wende in ihrem Leben ein –, war es ihr, als hätten die schlimmen Ereignisse, die später über sie hereinbrachen, schon dort ihre Schatten vorausgeworfen.
Erster Abend in Bonn in der Dechenstraße 5 mit Schwester Emmy, mit Georg Schroeter, Emmys Mann, und mit Bruder Carl. Mary, Carls Frau, war heute daheimgeblieben im Bonner Talweg 16. Ja, wenn man eine berühmte Konzertsängerin heiratet! Mary musste sich erholen vom Gesangsunterricht, den sie den ganzen Nachmittag über erteilt hatte. Emmy hatte die Ankunft ihrer Schwester ohne viel zu fragen hingenommen. Wie üblich. Emmy war es ein Rätsel, was die Kleine am Malen und Zeichnen derart faszinierte, dass sie immer wieder einen neuen Anlauf nahm. Trotzdem schien Gabriele sich nicht besonders wohl zu fühlen. Lief ruhelos durchs Haus, die schmalen Lippen noch schmaler als sonst, scharf zusammengekniffen im runden Gesicht.
Als die Geschwister mit der Mutter noch in Koblenz lebten und die zwanzigjährige Ella im Mai 1897 zum Zeichen- und Malstudium nach Düsseldorf ging, sich in der Pension eines norwegischen Malers einquartierte, war es Carl, ihr älterer Bruder, gewesen, der die Schwester unterstützte, endlich eine Sache intensiv zu betreiben. Emmy hatte man seinerzeit nicht bewegen können, sich als Lehrerin ausbilden zu lassen. Nach der Selekta war sie von der Schule abgegangen.
Carl, der Charly, klopfte seiner Schwester Ella auf die Schulter. Er, Fabrikant und Kaufmann, besaß eine Kieselquarzwäscherei mit Dampfbetrieb und eine Kalksandziegelfabrik in Duisdorf bei Bonn. Seine beiden Schwestern hatte er nach dem Tod der Mutter nach Bonn geholt. Emmy war nun verheiratet mit dem Privatdozenten Dr. habil. Georg Schroeter. Aber was macht unsere Ella? Er hob der Kleinen das Kinn hoch, gab seiner Stimme einen wohlwollend herablassenden Ton: Kein Kandidat in Aussicht, kein Bewerber um Ellas Hand? Emmy spöttelte: Ella liebt nur ihre Malerei. Warum nicht?, hätte Ella jetzt erwidern sollen, doch sie schoss los: »Pah, wenn ich den Passenden nicht finde, ich bin so auch sehr zufrieden und glücklich.« Einen Druckschmerz spürte sie hinter der Schläfe. Hielten die großen Geschwister wieder zusammen? Bildeten eine geschlossene Front, in die Ella plötzlich einbrechen und losschießen konnte.
Wie Großvater Friedrich! Alle wussten, wie wütend der Großvater werden konnte und dass er denjenigen kurzerhand rauswarf, der nicht das vertrat, was er für richtig hielt.
War Gabriele so? Viel zu sehr alleingelassen als jüngstes Kind in dieser erwachsenen Familie, war sie nicht redegewandt, manchmal verunsichert. Darauf allerdings, dass sie immer die Wahrheit sagte, konnten die anderen vertrauen. Ella Münter lügt nicht, hieß es. Nur, dass sie dabei unerbittlich war, machte sie unbequem. Wie soll man die Kleine nur aushalten, stöhnte Emmy, wenn Gabriele auf schonungslose Offenheit drang.
ES ZUCKTE MIR IN DEN FINGERN – BILDHAUERN WOLLTE ICH. BALD GING ICH ZUR PHALANXSCHULE
Georg lenkte Gabriele ab. Was hatte die kleine Schwägerin in München erlebt? War nicht das Prinzregententheater gerade eröffnet worden? Ella liebte doch Theater und Opern, und München wollte Richard-Wagner-Stadt werden. Richtig. Und im April feierte ein satirisches Kabarett sein einjähriges Bestehen, »Die Elf Scharfrichter«. Man zahlt keinen Eintritt, nur eine Gebühr für Garderobe. Scharfrichternamen gaben sich die Begründer. Gabriele schwärmte: »Die Plakate mit den Holzschnitten fielen mir sofort auf. Auch die Masken der elf Scharfrichter gefielen mir sehr«. Der Bildhauer Robert Hüsgen, selbst Mitglied im Kabarett, hatte beides, Plakate und Masken, angefertigt. »Es zuckte mir in den Fingern – bildhauern wollte ich. Bald ging ich zur PhalanxSchule und meldete mich bei der Bildhauerklasse Hüsgen an für nachmittag«.
Es war gut, dass eine Kunststudentin aus Düsseldorf Gabriele München schmackhaft gemacht hatte. So war sie im Mai 1901 in München in die Pension Bellevue in die Theresienstraße 30 gezogen. Aber so einfach, wie sich manch einer das vorstellte, war es nicht für eine Frau, etwas lernen zu wollen. Welch ein Glück, dass im Jahr 1882 mutige und finanzkräftige Frauen eine private Damenakademie gegründet hatten, den »Künstlerinnenverein«, wo sich Frauen in Kunst oder Kunstgewerbe ausbilden lassen konnten. Die Lehrer wählte man selbst, malte im Freien oder in Ateliers.
Gabriele musste den Geschwistern ausführlich berichten. Da saß man dann in den Sälen der Malateliers. Jeder Saal mit Fensterwand zur Nordseite, mit eisernem Ofen und Podium für das Modell. Grau die Wände, grau der Fußboden, grau das Licht bei Regenwetter. Mit schwarzer Kohle auf grauem Packpapier zeichnen. Man hockt hinter der Staffelei, man steht auf, streckt den rechten Arm waagerecht aus, hält den Kohlestift senkrecht, um mit dem Daumen die Proportionen des Modells nachzumessen, immer in Tuchfühlung mit emsig strichelnden Malschülerinnen. Wochenlang an derselben lebensgroßen Zeichnung! Millimetergenau! Fleißarbeit! Tatsächlich? Millimetergenau? Fleißarbeit? Emmy wiederholte Ellas letzte Worte, sie genüsslich betonend, lachte ein bisschen ironisch. Wie schön für die kleine Ella, dass sie dort hocken durfte. Nein, solchen Stumpfsinn konnte sie nicht verstehen. Und nicht mal Aktzeichnen! Ja, leider. Das war den Herren in der Herrenakademie vorbehalten.
Wer wirklich Talent hatte, musste bedauern, kein Mann zu sein. Das hatte auch Hedwig Dohm in ihren Artikeln zur Frauenfrage geschrieben. Gabriele konnte ein Zitat der Schriftstellerin wiedergeben, ein Gesetz aus dem alten Ägypten:
Erster Artikel. Die Frau ist berechtigt, zu gehen und zu kommen, wohin sie will. Zweiter Artikel. Ohne Schuhwerk darf sie aber nicht ausgehen. Dritter Artikel. Jedwedem Schuhmacher wird verboten, Schuhwerk an eine Frau zu verkaufen. Hedwig Dohm hatte das Gesetz auf heute angewandt und dann so formuliert: Erster Artikel. Frauen dürfen studieren, was sie wollen und so viel sie wollen. Zweiter Artikel. Die Universitätspedelle aber sind angehalten, sie von den Türen der Universitäten und Akademien fortzujagen. Dritter Artikel. Auf eine ihren Kenntnissen entsprechende Anstellung im Staate haben sie keinen Anspruch. Sie dürfen sich aber in ihren Mußestunden durch Nähen, Frisieren und so weiter die Mittel zu ihrer Existenz verschaffen.
Für Frauen gab es keine staatliche Akademie für Kunst, wohl eine Akademie für Musik, an der sie sich zur Konzert- und Opernsängerin ausbilden lassen konnten. Schwägerin Mary Münter-Quint war ein gutes Beispiel. Als Tochter des Tenors Hans Quint von der deutschen und italienischen Oper in New York hatte sie Gesang in Karlsruhe studiert und sofort ein Engagement an der Oper in Köln bekommen. Nach der Verheiratung mit Carl Münter trat sie in Bonn als Konzertsängerin auf, gab Gesangsunterricht.
Immerhin, Gabriele hatte Glück gehabt, das tun zu dürfen, wozu sie die größte Lust hatte, durfte die Damenmalakademie besuchen. Ihr Blick fiel auf das Familienfoto über dem Vertiko. Auf diesem Bild war sie vier Jahre alt, vorne sitzend zwischen den Eltern, die Geschwister stehend dahinter. Als sie 1877 geboren wurde, war ihr Vater 51 Jahre alt, ihre Mutter 42, Bruder August war 12, Charly 11 und Emmy 7. Die Eltern hatten sich in Amerika im Staat Tennessee kennengelernt. Sie kehrten nach Deutschland zurück, der Vater ließ sich als Hofzahnarzt in Berlin nieder.
Hier wurden seine vier Kinder geboren. Gabriele schloss für einen Moment die Augen. Jetzt lebten nur noch sie drei, Gabriele, Charly und Emmy.
Vor vier Jahren war sie mit Emmy in Amerika gewesen, eine lange Geschichte! Gabrieles Reise nach Amerika war ein Abenteuer. Angefangen beim Einschiffen der beiden Schwestern in Rotterdam am 29. September 1898. Erste Sicht auf Manhattan im Nebeldunst des 9. Oktober. Die vielen langen Bahnfahrten von New York durch die Staaten. Ankunft und Abfahrt, Umarmungen, letztes Winken auf den Bahnhöfen: in St. Louis am Mississippi, in Moorfield in Arkansas und aus dem Planwagen heraus in Plainview in Texas. Das erste Vierteljahr in St. Louis im Haus des Onkels, eines Bankiers, die Stadt am Mississippi erleben, Spaziergänge am Quai, Ausflüge mit dem Raddampfer, mit dem Dampfschiff, eine Zweitagesfahrt zu den Niagara-Fällen. Ob Emmy noch daran dachte, wie sie in St. Louis mit ihren Verehrern ausging, während Ella daheim blieb, ein Klavier mietete und sich die Zeit mit Klavierspiel und Komponieren vertrieb? Danach das Landleben in Arkansas bei den Verwandten, die Walzmühlen zur Holzverarbeitung betrieben. Sie hatte damals notiert: »Wir waren da oben in der Einsamkeit. Man ritt durch den Frühlingswald und die Maisfelder (und wahrscheinlich auch Cottonfelder). Ein Baum mit großen weißen Blüten hieß ›Dog wood‹.« Aber den größten Eindruck machte auf sie der äußerste Westen Texas’, nahe der Grenze zu New Mexico. Hier in Plainview lebte Onkel Donohoo, der Viehhändler mit seiner Familie. Sie lebten unter Viehzüchtern und Cowboys. Ob Charly noch wusste, was Gabriele ihm von da aus schrieb: »Keine Eisenbahn, keine Straße; man reitet Stunden über Land, um einen Sack Mehl zu holen.« In Texas feierten sie den Beginn des neuen Jahrhunderts. Auf all diesen Stationen hatte sie ihren Skizzenblock dabei, und dann sah man sie, die Unterlippe vorgeschoben, in die Gesichter der Verwandten vertieft. War kein Block zur Hand, zeichnete sie auf Geschäftspapier, z. B. Onkel Joe Donohoo, der mit Brille und Schirmmütze konzentriert auf eine Abrechnung schaut. Aber wie umständlich. Emmy dachte praktisch. Sie schenkte der Schwester eine Kamera, Kodak Bull’s Eye No. 2. Nun fotografierte Gabriele so meisterhaft, wie sie mit schnellen Skizzen porträtierte.
Jede Menge Fotos, einsame Holzhäuser fern in der Prärie, Pferdetrecks mit zehn Pferden, Pflüger mit Holzpflug, Eisenbahnzüge mit rauchspeienden Dampfloks, Raddampfer und Schiffe auf dem Mississippi, Fotos von amerikanischen Menschen bei ihrer Arbeit, bei ihren Vergnügungen, viele Zeichnungen und Porträts brachte sie aus Amerika mit heim.
Gabriele behielt für sich, dass Amerika sie verändert hatte, dass sie die monumentale Größe New Yorks und die Weite des Landes in sich aufgenommen hatte wie ein Bergsteiger den Berg, der ihn dann nicht mehr loslässt. Tief in ihrem Inneren wurden die Strukturen angelegt, nach denen sie später Bilder malen wird, großzügig, ohne Schnickschnack, am liebsten klar abgegrenzt in den Farben. Selbstsicherer war sie geworden.
Fast auf den Tag genau zwei Jahre, bis zum 8. Oktober 1900, waren die beiden Schwestern in »God’s own country« unterwegs, eingeladen von den Geschwistern der Mutter.
Ja, ja, die Scheubers, sagte Gabriele voller Stolz, wenn sie an die Nachkommen ihrer Großeltern mütterlicherseits dachte. Sie waren 1844 mit einer Schreinerwerkstatt aus Siglingen an der Jagst nach New York ausgewandert. Und wanderten weiter, um Holzhandel in Jackson, Tennessee zu betreiben. Ihre Mutter Minna, das älteste von sechs Kindern, war damals neun Jahre alt und bekam in Amerika noch drei Geschwister.
Zuweilen ertappte sich Gabriele, dass sie Redewendungen gebrauchte, die sie in Amerika gehört hatte, und dann entstand vor ihren Augen wieder die unendliche Flusslandschaft des Mississippi, die Weite der Prärie. Trotz aller Großartigkeit New Yorks und St. Louis’ blieben der Mississippi und die Prärie für sie die schönsten Erlebnisse.
An diesem Septembertag 1902 radelte Gabriele am Rhein auf dem Leinpfad. Sie trat mit Schwung in die Pedale. Diese Freiheit auf ihrem Fahrrad! Sie machte sich nichts daraus, wenn man hinter ihr her pfiff, wenn ältere Frauen die Stirn krausten, wenn es hieß, jungen Frauen sollte man das Velozipedfahren verbieten, sie würden nie Kinder gebären können. Lieber Himmel! Gabriele schüttelte den Kopf.
Ein Windstoß trieb sie voran. Schlepper unter dicken schwarzen Rauchwolken, Schiffe auf dem Rhein stromauf- und stromabwärts, der flache Wiesenstrand bei Rheindorf, leuchtende Wäschestücke zum Bleichen auf dem Grün. Sie holte tief Luft. Ihr Blick war geübt, hinter ihrer Stirn zeichneten sich die Konturen der Frauen ab, die jetzt die Wäsche mit Wasser besprengten. Sie sah das Blatt Papier vor sich, auf dem sie mit ein paar Strichen die Szene festhalten würde. Das Zeichentalent war ihr angeboren. Dies Talent hatte ihr ein Fachmann bestätigt. Wassily Kandinsky.
In München, in einem Atelierraum der neu gegründeten Phalanx-Malschule war es, in der Hohenzollernstraße 6a im Rückgebäude, April 1902. Bei Lehrer Wilhelm Hüsgen in der Holzschnitt- und Bildhauerklasse war der Ofen ausgegangen, es war kalt. Hüsgen, der fünfundzwanzigjährige Bildhauer aus Barmen, wollte den Unterricht ausfallen lassen. Aber weil die fünf Studenten, Emmy Dresler, Helene Fröhner, Maria Giesler, Gabriele Münter und Carl Palme, der Schwede, nun schon mal da waren, konnten sie eine Etage höher am Unterricht in der Malklasse teilnehmen. Gabriele wusste es noch genau. Sie saß auf einem Hocker, die Arme um die Knie, während die anderen Teilnehmer schon das Zeichenblatt aufspannten, Stifte zurechtlegten, auf den Lehrer warteten. Es war der Russe Wassily Kandinsky. Jetzt schaute er zu, wie sie zu zeichnen anfing, mutwillig in der Art, wie sie das am liebsten tat, schwungvoll und mit festem Umriss, dann wich er einen Schritt zurück. Welche Kreativität in Münters Zeichnung! Er anerkannte laut lobend. Er hatte verstanden, wie Gabriele das Wesentliche des Modells frei heraushob, scharf hinausstellte aus der Masse der Eindrücke. Es war ganz und gar unakademisch. Er gab ihr später, als sie allein waren, zu verstehen, wie befreiend das auf ihn gewirkt hätte, ihm inneren Auftrieb gab. Ihre Art zu zeichnen hätte seiner künstlerischen Arbeit gutgetan. Auch in der nächsten Stunde, als Kandinsky ein Stillleben zur Aufgabe machte, verblüffte sie den Lehrer. Jemand anderes als Gabriele, der genau wie sie noch nie mit Pinsel und Palette gearbeitet hatte, wäre achselzuckend und hilfesuchend zum Lehrer gegangen, wenn er nicht mit den Farben und Formen zurechtkam. Aber so konzentriert und akzentuiert wie den Zeichenstift bewegte Gabriele auch den Pinsel. Dass sie eine besondere Beziehung zu Farben hatte, wurde ihr mit einem Male klar. Und ihr Lehrer? Der war plötzlich sehr aufgeregt. Nahm seine Pfeife aus dem Mund, pustete sich übers Gesicht. Man merkte es ihm an, diese Schülerin interessierte ihn.
War Kandinsky wirklich so anders als die anderen Lehrer? Ein schlanker Mittdreißiger mit einem schmalen Gesicht, einer wohlgeformten Nase, vollen Lippen, mit starker Brille wegen extremer Kurzsichtigkeit. Ein Maler unter Malern, 1866 in Moskau geboren; manchen schien er wie eine Gestalt aus verflossenen Zeiten. Das kam vielleicht daher, dass er sich tadellos kleidete, das lag vielleicht an seinen altmodischen Manieren, an seiner russischen Herkunft, sicher an seiner ungewöhnlichen Laufbahn: ein gut situierter Nationalökonom, Jurist und Ethnograf, der mit dreißig Jahren umsattelte und Maler werden wollte.
Heute, an diesem Septembertag in Bonn, als Gabriele mit dem Rad unterwegs war, überwältigte sie die Angst. Über das Lenkrad gebeugt, sauste sie die Anhöhen hinunter. Keinen Augenblick durfte sie daran denken, dass aus Kandinsky und ihr mehr als ein Lehrer-Schülerin-Verhältnis werden könnte. Im Oktober würde sie nach München zurückfahren und mit aller Energie weiterstudieren. Sie stieg vom Rad.
Und schon wieder Ängste, Unruhe. Ach, Mama, wenn ich jetzt mit dir reden könnte. Wenn Mama noch lebte! Nüchtern, tüchtig, gelassen, so würde Gabriele die Mutter beschreiben, eine gesunde Natur, die sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Die wortkarg war. Aber wenn sie das Kind auch nicht hätschelte, so konnte Gabriele sich neben der breithüftigen, rundgesichtigen Mama doch beschützt fühlen wie ein Küken. Angst, Ellakind? Du fürchtest dich? Wovor? Und das Kind mit den schräg nach unten fallenden Augen, schmächtig, hört wieder die alte Geschichte, wie die Mutter vorm Holzhaus in Tennessee steht mit einem Stock in der Hand und die Klapperschlange erschlägt, die sich unter die Pfähle verzogen hat, während die Diener die Treppe hinauf flüchten.
Und nun war die Mutter schon fast fünf Jahre tot, am 15. November 1897 plötzlich gestorben. Zweiundsechzig Jahre alt war sie geworden.
Gabriele wusste, was ein Schock bedeutet, der dem Unabänderlichen folgt, dem Verlassensein. Sie trug ihr Rad die Haustreppe hoch, stellte es im Flur ab und ging still nach oben. Sie setzte sich auf den kleinen Balkon vorm Wohnzimmer, stellte die Füße auf einen Bogen im eisernen Rankenwerk des Geländers. Elf Jahre lang hatten die Geschwister mit ihrer Mutter in Koblenz gewohnt, nur zwei Jahre mit dem Vater. Er hatte in seiner Vaterstadt Herford alle Zelte abgebrochen und sich in der Garnisonsstadt am Rhein niedergelassen. War dann ganz plötzlich mit sechzig Jahren an einem Gehirnschlag gestorben. Gabriele war gerade neun, da lag der Vater aufgebahrt im Zimmer. Da hieß es in der Todesanzeige der Koblenzer Zeitung vom 13. April 1886:
»Die Einsegnung der Leiche im Sterbehause, Schlossstraße 7, findet am 14. April nachmittags um 1 Uhr statt.« Da stand Gabriele im Weg, wenn die Mutter und die großen Geschwister die Formalitäten des Begräbnisses besprachen.
Ja, wenn das Jülecken nicht gewesen wäre, Cousine Julie Münter aus Herford! Nachdem Vater Friedrich in seiner Heimatstadt Herford beerdigt war, tat die kleine, verschüchterte Ella den Verwandten so leid, dass Julie als Gefährtin nach Koblenz mitfahren durfte. Mit Gabriele ging sie jetzt täglich zum Altlöhrtor in die Evangelische Höhere Mädchenschule, und die beiden Cousinen saßen nebeneinander in der 5. Klasse. Nicht lange. Schon wenige Monate später, im Herbst 1886, wurden beide wieder nach Herford geschickt, weil Mutter Minna sich um den Sohn August kümmern musste, der lungenkrank aus Amerika heimkam. Zwei Jahre zuvor hatte sie ihn dort eine Zeit lang gepflegt.
Gabriele schloss die Augen. Deutlicher als sonst sah sie das zweite Unglück vor sich, das ein Dreivierteljahr nach des Vaters Tod geschah. Ihr Bruder August starb. War erst zweiundzwanzig Jahre alt und schon promovierter Arzt. Stand doch eben noch in Ellas Zimmer, sagte: »Wie schön du zeichnen kannst«, als sie ihre Zeichnungen aus dem Versteck holte. Hatte mit ihr gelacht, hatte mit ihr Spaziergänge gemacht, den Rhein entlang und die Promenade an der Mosel, hatte mit ihr am Deutschen Eck gestanden. War jetzt fort für immer. Der kalte Januartag von 1887, der Tag, als August in Herford begraben wird, rechts neben dem Vater. Die offene Grube mit dem Sarg darin. Gabriele friert im dunklen Mantel. Sie spürt auf einmal eine Hand, welche ihre linke fasst, sie fest drückt. Es ist Julie.
Was gab Sicherheit? Was hatte Bestand? Festhalten können! Das Entsetzen war beinahe zu groß geworden und kreiste wie ein dunkler Vogel durch ihre Träume. Wenn man noch sehr jung ist, meint man, es würde alles Gute, das man erfährt, für immer da sein. Es würde der für immer bei einem sein, der einen versteht. Aber sie musste zu früh begreifen, dass man plötzlich verlassen wird. Begreifen, Dauerhaftes und Vollkommenes gibt es nicht.
In der Zeit nach den Todesfällen war sie oft durcheinander. Lief teilnahmslos umher. Ihre ganze Art zu gehen und zu sprechen war von Panik durchdrungen. Wogegen war man gefeit?
Erst nach Ostern 1887 kommt Gabriele nach Koblenz und in ihre alte Schule zurück. Rektor Dr. Karl Hessel hält es für ratsam, dass sie die 5. Klasse wiederholt. Er reiht sie wieder ein in die Rubrik der Schülerinnen, die aus dem höheren Mittelstand kommen, von denen er in seinem Bericht an die vorgesetzte Schulbehörde schreibt, dass sie meistens von Haus aus an bescheidenes Wesen gewöhnt sind. Und Gabriele saß da, der Lehrstoff rauschte viel zu oft an ihren Ohren vorbei, während sie auf den Heftrand Köpfe zeichnete, im Profil die Gesichter von Agnes Pahl und Emma Frey, die neben ihr saßen. Sie zuckte zusammen und deckte die Zeichnung mit der Hand oder dem Löschblatt ab, wenn die Lehrerin näherkam. Gleichgültig war sie gegenüber den Fragen nach den letzten Dingen des Lebens.
Sie zeichnete weiter in aller Stille. Für die vierzehnjährige Gabriele gehörte dies zu den glücklichsten Momenten ihrer Jugend. Ihr Stift hielt das fest, was sie sich einprägen wollte, nicht mehr loslassen. Immer wieder zeichnete sie Menschen. Das ist ja unser Arzt! Wie naturgetreu! Wie nett! Man nahm ihr das Rezept aus der Hand, auf dessen Rückseite sie schnell und präzise den Herrn Doktor skizziert hatte. Sie zeichnete auf dem Rheindampfer die Ausflügler, in der Sommerfrische die Kurgäste, und die Porträtierten rissen sich um die Bilder. Aber niemand in der Familie kam in jenen Jahren auf die Idee, dieses Talent ausbilden zu lassen. Gabriele blieb sich selbst überlassen. Sie las, was ihr in die Hand fiel. Sie las Ibsen, sie las Bücher über den Okkultismus. Sie beschäftigte sich am liebsten mit naturwissenschaftlichen Werken, schmökerte gern in Brehms Tierleben. Sie sang. Sie spielte Klavier. Übte Opernmelodien aus Richard Wagners Lohengrin, aus Tannhäuser, bearbeitet im »Leichten Richard Wagner Album« von Hermann Wenzel. Manches Mal musste Charly sie regelrecht aufrütteln, wenn er sie nach Bonn mitnehmen wollte – in die neue Wohnung in der Quantiusstraße, von wo aus er seine Geschäfte betrieb –, denn Gabriele saß vor dem Klavier, auf dem sie ein kleines Stück selbst komponierte und dem Takt mit ruckartigen Kopfbewegungen Nachdruck verlieh. Wie viele Wohnungswechsel in Koblenz musste sie nach dem Tod ihres Vaters verkraften. 1889 aus der Schlossstraße 7 in die Klemenstraße 1, dann in die Kurfürstenstraße 4 und 1898 noch einmal unter Emmys Regie in die Kurfürstenstraße 58.
Mit zwanzig weigerte sich Gabriele, die Gepflogenheiten der Koblenzer jungen Damen noch länger mitzumachen, die sich morgens um ihre Garderobe kümmerten, Reitstunden nahmen, nachmittags Verabredungen hatten, sich auf Landpartien amüsierten, Ausritte machten und abends ins Konzert oder zum Ball gingen. Statt bei Tee und Gebäck zu sitzen oder neue Frisuren auszuprobieren, was Gabriele langweilte, fand sie es besser, zeichnen zu lernen. Ist das auch schicklich?, fragte die Mutter besorgt, als sie ihre Jüngste, nach Düsseldorf gehen ließ. Viel vom Werdegang ihrer Tochter erlebte sie nicht mehr.
Nun war es Herbst geworden, Oktober 1902. Am 7. packte Gabriele ihre Koffer, gab das Fahrrad an der Bahn auf. Sie wollte im Wintersemester eifrig in München studieren. Wenn sie im nächsten Jahr um diese Zeit wieder in Bonn ist, werden Schroeters in die Loëstraße 31 umgezogen sein und Emmy und Georg werden eine kleine Tochter haben, Schwägerin Mary und Charly erst im übernächsten Jahr. Dann werden Münters in der Schlossstraße 26 wohnen.
Natürlich ahnte Gabriele in der ersten Woche des Semesters noch nicht, dass Kandinsky schon auf sie gewartet hatte. Sie erfuhr es in der zweiten, als sie in die Schule kam und er ihr einen Zettel in die Hand drückte. »Donnerstag im Hofgarten gegen 18.30 Uhr. Warte auf mich unter den Arkaden. Ich möchte Dich so gerne ein halbes Stündchen sehen.« Sie hatte mit großer Heiterkeit reagiert, als er ihr eine Privatkorrektur in ihrer Pension vorschlug. Sollte das ein Witz sein? Am nächsten Tag schickte er ihr den zweiten Brief: »Weißt Du, dass Ella italienisch ›sie‹ heißt? Und Du bist ja meine ›sie‹, die mein Herz in ihrer schmalen, zärtlichen Hand hält. Nur mehr Vertrauen zu mir haben. Nicht gleich fragen, ist das Liebe? Wozu sollte ich da lügen? Ich habe ja auch meine Ruhe verloren und mein Gleichgewicht.« Und am selben Abend einen weiteren: »Ich liebe Dich sehr und noch mal und hundertmal sehr. Daran musst Du glauben.«
WENN WIR NICHT VOR ALLER WELT FREUNDE SEIN KÖNNEN, MUSS ICH GANZ DARAUF VERZICHTEN
Der Himmel mochte wissen, wie das weitergehen würde. Verabredungen mit Kandinsky, das waren Treffen dort, wo die elektrischen Straßenlampen nur noch schwach Licht hinwarfen. Das war ein Nebeneinanderhergehen, halblaut Botschaften sagen und jeweils in eine andere Richtung blicken. Das war absurdes Theater, unnatürlich, allenfalls spaßig. Sie hatte notiert: Wenn wir nicht vor aller Welt Freunde sein können, muss ich ganz darauf verzichten – ich will nicht mehr, als ich eingestehen kann, und ich will verantworten können, was ich tue – sonst bin ich unglücklich. Jedenfalls ist mir von jeher jedes Lügen und Heimlichtun so zuwider und verhasst gewesen, dass ich mich um nichts dazu verstehen könnte. – Kandinsky, lass mir meine Ruh! Sie trafen sich manchmal auch unerwartet. Dann kam unweigerlich seine Beschwörung:
»Natürlich dürfen wir beiden uns nicht näher kennen, und weißt du schon, wie du es anstellst, dass Anja nichts merkt?« Warum eigentlich nicht? War K.s Beziehung zu Gabriele denn mehr als bloße Tändelei? »Dass Anja nur nichts merkt!« wiederholte sie. Er fand das gar nicht witzig. Er schluckte ein paarmal. Das durfte er Anja nicht antun. Sie war ja so gütig, so rücksichtsvoll zu ihm. Nein, eine Ehe führten sie schon lange nicht mehr. Aber Anja verließ sich ganz auf ihn in diesem fremden Land.
Im Dezember 1896 war das Ehepaar Kandinsky aus Moskau nach München gekommen, im selben Jahr, als er eine Dozentur an der baltischen Universität zu Dorpat ablehnte, weil er Maler werden wollte. Es war sein dreißigstes Jahr. Ausschlaggebend für seine Entscheidung war eine Kunstausstellung in Moskau von Claude Monets Gemälden gewesen, die ihn faszinierten wie eine Erleuchtung, aber auch Richard Wagners »Lohengrin« im Bolschoi-Theater. Empfindungen malen können und lernen, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, wo Klang, Wort, Bewegung zusammentreffen, das sah er nun als seine Lebensaufgabe an.
Seine Frau Anja hatte sich, so gut es ging, mit seinem Entschluss anfreunden müssen, war mit ihm in diese fremde Stadt zu diesen fremden Menschen gezogen. Von München hieß es, dass es neben Paris nicht nur die meisten Maler hätte, sondern auch die besten und berühmtesten. Kandinsky hatte sich an die Arbeit gemacht, lernwillig, ehrgeizig. Im Kopf Visionen von Farben. Nach vier Jahren dann hatte er aufgrund seiner künstlerischen Entwicklung und seiner Beherrschung des Deutschen in Wort und Schrift mit Wilhelm Hüsgen, dem Bildhauer und Kabarettisten, eine eigene Künstlervereinigung, die »Phalanx«, und eine Malschule gegründet.
Das Zimmer in ihrer Pension war dunkel gewesen, Gabriele hatte Licht angezündet, spielte mit ihrem Stift. Ich werde wieder zu einem Lehrer der Damen-Akademie gehen und Kandinsky nicht wiedersehen, sagte sie sich. Ich werde Modelle abzeichnen wie immer im ersten Semester und nicht weiterkommen. Keine verlockende Aussicht. Irgendetwas musste sie doch unternehmen, und so schrieb sie: »Meine Idee von Glück ist eine Häuslichkeit, so gemütlich und harmonisch, wie ich es eben bereiten könnte. Und ich denke, jetzt auch wieder Freude an der Arbeit zu finden – und wenn Du mir dabei weiterhelfen willst, würde ich mich sehr freuen. Wir nehmen dann das hübsche Lehrer-Freundschaft-Kameradschaftsverhältnis wieder auf und lesen’s zwischen den Zeilen, dass wir uns gern haben und behalten.« Sie steckte den Bogen in einen Umschlag und legte ihn beiseite. Las Kandinskys Brief noch einmal: »Seitdem Du mich in der Theresienstraße verlassen hast, überall, in der Schule und jetzt zu Hause, fühle ich so was Ruhiges und Glückliches in mir. Ich weiß nicht, warum ich so sicher bin, dass ich doch in Deinem Leben nicht die letzte Rolle spiele. Ich habe doch immer das Gefühl, sie hätte sich nicht auch küssen lassen, wenn das ganze für sie nur ein Spaß wäre. Das ist Dir auch nicht ähnlich, Du gutes Herzchen. In der Sache irre ich mich gewöhnlich nicht. Oh, wie Du heute gut sagtest: ›Verzeih mir!‹, wie zärtlich Deine liebe Stimme war. Und wie glücklich Du mich machen kannst. Und wie Du mir wehtun kannst! Und mein Herz hängt an Dir immer mehr und mehr!«
Ja, so war es den ganzen Winter gegangen. Am schwersten war es, seinen traurigen Blick zu ertragen, wenn er sagte: »Einsam fühle ich mich im Leben. Die Jahre gehen schnell, eins nach dem andern, immer mehr weiße Fäden kommen in mein Haar, und öfter wie früher schmerzt mir das Herz. Einsam muss ich bleiben.« Natürlich hatte sie ihm widersprochen. Sie lachte ihn einfach aus, schlug ihm vor, am Abend mit ihr ins Kabarett zu gehen, sie hätten da ein neues Programm bei den Elf Scharfrichtern. Aber er hörte kaum zu. Wedekinds Chanson interessierte ihn nicht; auch nicht, wenn sie ihm die erste Strophe vortrug: »Seltsam sind des Glückes Launen, wie kein Hirn sie noch ersann, dass man oft vor lauter Staunen lachen nicht noch weinen kann.« Er sollte mir eigentlich nicht mehr unter die Augen kommen, murmelte sie vor sich hin. Wie konnte man seine Schülerin so zum Narren halten. Aber, wenn es denn doch wahr wäre, was er ihr in unzähligen Briefen und Briefchen schrieb? Wenn er sich wirklich so viel aus ihr machte? So ein Wirrwarr von Gefühlen und Hoffnungen – und Gabriele liebte doch das Gradlinige, das Unbekümmerte. »Kandinsky, lass mir meine Ruh! Verflucht, wenn ich nur wüsste, was ich tun soll! Der Teufel soll ’s holen.« Sie war in die Amalienstraße gegangen, ins Café Stephanie, hatte sich am Tisch in der Ecke in den roten Plüschsessel fallen lassen und eine Zigarette angezündet.
ICH LIEBTE DICH SO – UND TUE DAS NOCH – UND WERDE ES IMMER TUN
»Lieber K.! (So unterschreibst Du Dich nämlich, u. wie soll ich Dich schließlich anders nennen) Nun lass mich versuchen, Dir etwas von meinen Gedanken zu sagen. Ich glaube, es steht so mit mir, wie ich Dir schon in Kochel sagte – nämlich, dass ich – Herrjeh! – (dass ich sowas so schwer sagen kann!) seit ich Dich als Lehrer kannte, Dich immer famoser und verehrungswürdiger fand. Du interessiertest mich dann auch persönlich und ich liebte Dich so – und tue das noch – und werde es immer tun – wie Dich sicher die meisten der Menschen lieben, die Dich so kennen lernen, wie ich es tat – u. dann liegt das, was dann noch kam, an Dir und an meinem etwas schwächlichen Charakter und vielleicht auch dem für mich überraschenden u. unvorhergesehenen – ich wusste mir nicht zu helfen u. weiß es auch jetzt noch nicht recht.« Sie schrieb dies abends ins Tagebuch und dazu: Schreiben kann ich Dir dies nicht – vielleicht lass ich’s Dich mal lesen.
War es nicht besser, sich eine Weile nicht mehr heimlich zu treffen? Er meinte: »Ja. Wir sind eine Zeit lang nur gute Freunde, treiben nichts Geheimes, wenn ich Dich besuche. Kein Wort rede ich von der Liebe! Und da zeigt uns beiden die Zeit, wie es mit uns steht. Das tu ich aber aus Liebe zu Dir, das musst Du wissen!«
Heute, an diesem herrlichen Maimorgen, fühlte sich Gabriele wieder sehr jung und lebenshungrig, neugierig auf die Welt.
Was für eine Leichtigkeit, was für ein Vergnügen! So hatte Gabriele es jedenfalls empfunden, seitdem sie zum ersten Mal aus der Haustür ihrer Pension in die Theresienstraße hinausgetreten war und die frische Luft Münchens geschnuppert hatte. Wie prickelnd die Luft hier war, irgendwie fröhlich. Sie reckte sich, während sie Ausschau hielt nach einem aus ihrer Malschule, ihrem Lehrer Wilhelm Hüsgen vielleicht oder Ernst Neumann, dem Grafiker aus Kassel, 1871 geboren. Sie gehörten zu den »Elf Scharfrichtern«, die im »Künstlerbrett« auftraten, in der Gaststätte »Zum Goldenen Hirschen«, Türkenstraße 28. Wenn sie dort am Abend Wilhelm Hüsgen trifft oder Ernst Neumann, den künstlerischen Leiter, dann spielt Wilhelm, der Bildhauer, den »Till Blut« und der Ernst den »Caspar Beil«. Sie tragen rote Kapuzenmäntel mit Gesichtsmasken. Sie umstehen ein Podest, auf dem bissige Chansons vorgetragen werden.
Vorgestern, in der Nacht zum 1. Mai 1903, wurde ein zweites Kabarett in die Türkenstraße geholt, der »Simplicissismus«. Buchstäblich mit eigener Hand, sagte Ernst Neumann, als er mit Gabriele, Maria Giesler und Helene Fröhner in das Haus mit dem abblätternden Verputz eintrat. Sie sollten sich doch mal den Umzug vorstellen: die Wirtin Kathi Kobus, wie üblich mit silbernem Halsband um den Kropf, mit Ketten und Münzen am Mieder, die Gäste hinterdrein. Zuerst Frank Wedekind mit seiner Gitarre, dahinter sie, die Elf Scharfrichter, dann Olaf Gulbransson und Joachim Ringelnatz. Mit der einen Hand zogen sie die Karren mit dem Mobiliar, in der anderen hielten sie eine brennende Kerze. Den langen, schmalen Eingang hätten sie sofort den »Darm« getauft, sagte Neumann, als sie an einem Monstrum von gusseisernem Ofen vorbeikamen, den Gastraum tauften sie den »Magen«. Gabriele schaute sich um. Am Klavier auf dem Podium neben einem Pfeiler saß Joachim Ringelnatz mit seiner riesigen Nase, der Liedersänger aus Wurzen in Sachsen, der, 1883 geboren, eigentlich Hans Böttcher hieß. Er intonierte gerade die Melodie zu »Strömt herbei ihr Völkerscharen«, alle sangen darauf den Text des Simplicissimus-Liedes: »Mitternacht ist’s. Längst im Bette / Liegt der Spießer steif und tot, / Ja, dann winkt das traulich nette / Simpl-Gasglüh-Morgenrot«. Das war Gabriele bekannt und auch diese Geschichte: Im letzten Augenblick, was keiner erwartet hatte, und mit einer Beiläufigkeit, die schon nobel war, erlaubte Albert Langen, der Herausgeber des »Simplicissimus«, der Kathi Kobus, den Namen seiner satirischen Zeitschrift für ihr Lokal zu übernehmen.
Vom Karikaturisten des »Simplicissimus«, von Olaf Gulbransson, hieß es, seine Karikaturen wären den Menschen ähnlicher als die Menschen sich selbst. Gabriele fühlte es, ihre Darstellungsweise war seiner verwandt. Sie ging an seiner Wohnung am Gohrenschlössl vorbei, fand ihn wieder draußen im Baum auf seinem Hochsitz, zeichnend, und wie üblich nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Die Idee, sich einmal zeichnerisch mit dem 1873 in Oslo geborenen Grafiker zu messen, kam ihr nicht. Niemals würde sie daran denken, ihre Porträtskizzen Albert Langen für den Simplicissimus anzubieten.
Sie überquerte jetzt die Ludwigstraße. In den Augen der Passanten das Heitere dieses Maimorgens, in dem Gehüpfe der Kinder auf dem Gehsteig, selbst in dem Klingeln der Radfahrer. Denn es war Frühling und »Dult«, Maikirmes, neun Tage lang. War es nicht eine Lust zu leben? Gabriele dachte ans Radeln mit den Freunden, an durchtanzte Nächte auf dem Münchener Fasching, an Schlittenpartien im letzten Winter. Und wie schön war das Eislaufen gewesen auf dem zugefrorenen Kleinhesseloher See im Englischen Garten. So guter Laune war sie heute, dass sie auf offener Straße einen Hüpfer einlegte.
Jetzt war sie in der Kaulbachstraße angelangt. Hier der vollendete Jugendstil. Mietshäuser mit Stuckdekor. Auf den schmalen Dächern über den Obergeschossen Friese, die mit Ornamenten verziert waren, unterbrochen von Fenstern und vieleckigen Erkern. Typisch die Masken in den Giebelfeldern. Das Allerneueste waren die Farben. Gabriele blieb einen Moment stehen, nahm sie in sich auf, ließ die Augen wandern übers dunkelolive Erdgeschoss zum blaugrünen Obergeschoss. Ockergelb waren die glatten Putzflächen, während der Untergrund des Kranzgesimses rotbraun gestrichen war. Sie verfolgte die Schlingpflanzen, die Lianenmuster, gekurvte Linien, die sie an Wellen, Flammen, wehende Haare erinnerten.