Für Jimmy Fox

DER ERSTE ANRUF

Das grüne Telefon

an der Wand im Flur

klingelte fast nie.

Jeder, der Mom sprechen wollte, rief auf dem Handy an.

Genau wie bei Angela.

Ich lauschte dem Gebimmel ein paar Sekunden,

bevor ich abnahm.

»Hallo?«

»Joe?« Es war Ed.

Seit Wochen hatte er sich nicht mehr gemeldet.

Und ich mir Sorgen gemacht,

überlegt,

ob er je wieder heimkommen würde.

»Ist Angela da?«, fragte er.

Sein Atem ging schnell,

als ob er vor jemandem wegrennen würde.

Im Hintergrund

schroffe Stimmen,

Türenknallen.

»Angela ist beim Fußballtraining«, sagte ich.

»Und Mom?«

»Keine Ahnung.

Hey, Ed,

ich hab einen Baseballhandschuh im Park gefunden.

Bist du bald wieder da zum Spielen?«

Ed seufzte schwer. »Weiß nich, Joe.«

»Oh.« Ich pulte etwas abgeblätterte Farbe von der Wand.

Mein großer Bruder seufzte noch mal.

»Bin verhaftet worden, Joe.

Die glauben, ich hätte was wirklich Schlimmes getan.«

Ich drückte den Hörer fest

an mein Ohr.

»Was denken die, das du gemacht hast?«

»Sie glauben, ich hätte jemanden verletzt.

Hab ich aber nicht. Hörste?«

»Ja.«

»Ich mein’s ernst. Kapiert?

Weil, die werden dir

’ne Menge Lügen erzählen.

Du musst die Wahrheit kennen.«

Die Haustür ging auf und Mom stürmte

mit einer Tüte Lebensmittel rein,

die meine Schwester in ein Abendessen verwandeln sollte.

»Die Polizei hat Ed!«, rief ich.

Ich hielt ihr das Telefon hin.

Sie riss es an sich,

ließ die Tüte fallen.

Eine Mandarine kullerte über den Vorleger.

Ich hob sie auf,

ihre Schale kalt und rau.

»Ed? Was ist los? ...

Aber wie kann denen so ein Fehler passieren? ...

Schnauz mich nicht an, ich bin nur ...

Nein, ich weiß, aber ...

Ich hab kein Geld für ...

Ed, bleib ruhig ...

Ich ruf Karen an.

Ich sagte, ich ruf Karen an ...

Schrei mich nicht an ...

Ed, um Himmels willen ...

Ich kann einfach nicht ... Ed? Ed?«

Sie hielt den Hörer weg

von ihrem Ohr und starrte ihn an,

als hätte er sie gebissen.

»Die Bullen beschuldigen ihn wegen Mord«, sagte sie.

Ich war sieben.

Ich wusste nicht, was das hieß.

Schuldete er jemandem Geld?

Wir konnten ja nicht mal die Stromrechnung zahlen.

Und meine Turnschuhe waren so klein,

dass meine Zehen weiße Spitzen bekamen.

»Kann ich ihn noch mal anrufen?«, fragte ich.

Die Mandarine lag noch

in meiner Hand.

Ich wollte sie Mom ins Gesicht werfen und ihr wehtun.

»Nein«, meinte sie.

»Und rechne nicht damit, irgendwann überhaupt noch mal mit ihm zu reden.«

Ich glaubte ihr nicht.

Ich dachte, Ed würde anrufen.

Ich dachte, er würde heimkommen.

Tat er aber nicht.

DRECKSLOCHVERMIETER

Tante Karen meinte, ich solle nicht herkommen.

Sie sagte, Ed hätte keine Unterstützung verdient

nach all dem Schmerz, den er unserer Familie zugefügt hatte.

Selbst nach zehn langen Jahren

gibt sie ihm die ganze Schuld.

Sie zeigt auf Ed und sagt:

»Seht, was er uns angetan hat.«

Und vielleicht hat sie recht.

Als Ed weggesperrt wurde,

ist alles den Bach runtergegangen;

nichts hat mehr funktioniert.

Also vielleicht ist das hier eine dumme Idee.

In der Gluthitze.

hab ich jetzt schon Heimweh nach Staten Island,

nach allem, das nicht Wakeling, Texas, ist.

Ist ja nicht so, dass ich hier sein will,

mir freiwillig eine runtergekommene Bude ansehe.

Aber ich kann mir das Wakeling Motorstop Motel

nicht länger leisten,

nicht für die ganze Zeit, die ich in Texas bin, jedenfalls.

»Sechshundert im Monat«, krächzt der Vermieter,

hustet irgendwas Nasses ab,

und spuckt es in ein Tempo.

Nach den Tellern in der Spüle zu urteilen,

hat hier seit Monaten niemand mehr gewohnt und

er könnte froh sein, zehn Cent für dieses Loch zu kriegen –

Schaben in den Schränken,

Nager in der Küche.

»Ich brauch sie bis Mitte August.

Ich geb Ihnen vierhundert«, sage ich.

Er schnaubt. »Fünfhundert. Cash.«

An der Art, wie er

rückwärts zur Tür geht,

merke ich, dass er nicht weiter runtergehen wird.

Na ja, ich schätze, er ist der, der die Schlüssel hat;

er kann es sich leisten, auf knallhart zu machen.

»Wenn ich mitbekomme, dass du hier Gras vertickst,

schicke ich meine Jungs vorbei.

Die willst du nicht kennenlernen.«

Aber seine Jungs kratzen mich nicht.

Ich hab größere Sorgen,

als von seinen Gorillas

mit einem Baseballschläger verdroschen zu werden.

Ich muss mich um Ed kümmern.

Ed.

Hier bin ich also.

Sitze fest.

Und es wird die schlimmste Zeit meines Lebens werden.

Die schlimmste Zeit unserer aller Leben.

Für die, die leben dürfen.

PLING

Auf dem Parkplatz meines Motels

saufen ein paar Biker Schnaps aus Papiertüten,

höllische Rockmusik dröhnt über den Platz.

Als ich an ihnen vorbeigehe, plingt mein Handy in meiner

Hosentasche.

Ich schaue nicht mal, wer es ist.

Ich weiß, Angela löchert mich:

Wo bist du?

Warst du schon beim Gefängnis?

Hast du Ed gesehen??

Wie geht’s Ed??

Karen ist immer noch echt angepisst.

Eds neuer Anwalt hat gemailt. Scheint was draufzuhaben.

Wo bist du???

Ich muss meine Schwester anrufen.

Mache ich auch.

Später.

Aber jetzt bin ich am Verhungern.

Und ich muss weg von diesem Krach.

BOB’S DINER

Der Diner sieht von außen total heruntergekommen aus,

die Farbe blättert ab,

die Leuchtreklame ist halb kaputt.

Und innen dasselbe:

gesprungene Bodenfliesen,

verblichene, zerfledderte Poster an den Wänden.

Eine Bedienung mittleren Alters in einem

pinken Bowlinghemd lächelt mich an.

Ihr Name – Sue – steht auf

ihre Brusttasche gestickt,

ein schwarzer Faden hat sich daraus gelöst,

schlängelt sich an dem Hemd herab wie eine

kleine Kletterpflanze.

»Alles klar, Herzchen?«, fragt sie

und hebt die Hand an den Mund,

zieht an ihrer Zigarette, genau hier

hinter dem Tresen,

als ob es das Normalste auf der Welt wäre –

eine Bedienung, die in einem Restaurant raucht.

Und das könnte es sein.

Hier in der Gegend.

Ich krame meine restliche Kohle raus und

wedle damit vor ihr rum.

»Was kriege ich für vier Mäuse?«, will ich wissen.

»Ich denke, das reicht für ein Schinkenbrötchen

und einen Kaffee.

Wär das okay, Herzchen?«

»Super«, sage ich und atme einen

Fetzen ihrer Rauchfahne ein.

Sie ruft meine Bestellung durch eine Schwingtür,

dreht sich wieder um, kippt schwungvoll Kaffee in einen ­fleckigen Becher

und schiebt ihn mir über den Tresen zu.

Er ist stark und bitter, nicht zu vergleichen mit dem,

den man in New York bekommt, aber ich sage nichts.

Ich reiße ein Tütchen Süßstoff auf und

kippe es rein, um den Geschmack zu überdecken.

»Irgendeinen Job zu vergeben?«, frage ich.

»Warte hier, Herzchen.«

Sue verschwindet

durch die

Schwingtür.

Ich schnappe mir einen in Plastik verpackten Muffin aus einem Korb auf dem Tresen und stopfe ihn in meine Tasche,

grade noch, bevor

ein Mann auftaucht.

Ein dicker Schnauzbart verdeckt seinen Mund,

seine Wampe hängt über den Hosenbund.

Er streckt seine Hand über den Tresen aus, schüttelt meine.

»Ich bin Bob. Hab gehört, du suchst nen Job.«

Er spricht mit einem lang gezogenen Akzent, total texanisch.

»Joe Moon«, sage ich.

Er nickt.

»Ich brauche einen Lieferfahrer.

Jemand mit einem Wagen, denn die Rostlaube

da draußen läuft nicht.

Oder jemand, der richtig schnell mit dem Rad ist.

Und ein Rad hat.«

»Ich repariere Autos«, sage ich schnell.

»Wenn ich die Karre zum Laufen kriege,

habe ich dann den Job?«

Sue ist wieder aufgetaucht, eine frische Zigarette hängt schlaff

zwischen ihren dürren Fingern.

Sie spuckt Tabakkrümel auf den Boden.

»Nur dass du’s weißt, Herzchen, mein Freund Lenny kennt sich mit Motoren aus. Nicht mal bei ihm ist dieser Schrotthaufen angesprungen.«

Mit einem sauer riechenden Lappen

wischt sie Kaffeeflecken von der Arbeitsplatte.

»Ich könnt’s versuchen«, erwidere ich

und hoffe, nicht zu verzweifelt zu klingen.

»Okay, versuchen kannst du’s«, meint Bob.

Er greift in den Korb und

reicht mir einen Blaubeermuffin.

»Dessert geht auf mich, mein Junge«, sagt er.

KEINE KÜSTE

Die ganze letzte Woche

hat Reed probiert, mich aufzumuntern.

Während wir in seinem Auto warmes Bier getrunken haben,

hat er versucht, mich glauben zu machen,

Ed würde rauskommen,

dass ich zurück in Arlington sein würde, noch bevor

das Leichtathletikcamp

angefangen hätte.

»Ich gewinne Bronze im Hindernislauf

und du Gold über die fünftausend Meter.

Und dann fahren wir an die Küste

und geben mit unseren Medaillen an.

Im Strandhaus meines Cousins können wir bleiben,

solange wir wollen.

Wir werden braun,

rauchen Gras,

reißen heiße Mädels auf.

So viele heiße Mädels an der Küste.«

»Klingt gut«, habe ich gesagt,

obwohl ich wusste, dass das nie so kommen würde,

obwohl ich wusste, dass ich meinen ganzen

Sommer verpassen würde,

inklusive des New York City

Leichtathletikcamps.

Das war das Einzige, das mich in der Schule über Wasser ­gehalten hat –

zu wissen, dass ich, egal wie schlecht meine Noten wären,

am Ende des Schuljahres

in dem Camp beweisen könnte,

dass ich kein fauler Loser bin.

Aber anstatt zu laufen,

bin ich nach Texas gekommen,

um die Tage

bis zur Hinrichtung meines Bruders

runterzuzählen;

zwecklos

zu versuchen, sich deswegen besser zu fühlen.

DER ZWEITE ANRUF

Damals liebte ich Käsesandwiches mit superviel Ketchup drauf

und hatte einen Teller voll davon auf meinem Schoß.

Ich schaute Spiderman im Fernsehen an,

im Schneidersitz auf dem Teppich,

mit abgewetzten Turnschuhen an den Füßen –

die Schnürsenkel offen, meine Füße klebrig in den Schuhen.

Da war ich acht.

Ein Jahr nach diesem ersten Anruf, der alles auf den

Kopf

gestellt hatte.

Mom brüllte mich an, wie immer.

»Mach die verdammte Glotze leiser!«

Sie hielt ihr Handy ans Ohr,

kniff die Augen zusammen,

als ob sie versuchen würde zu verstehen,

was auch immer ihr da gesagt wurde.

Und dann,

wie ein Fels in einen Fluss,

fiel sie

und begann zu heulen.

Es war nicht, wie man es aus Filmen kennt,

wenn jemand zusammenbricht, auf so schöne

und

tragische Weise.

Sie war wie besessen,

brach in Stücke,

und ich hatte Angst, ihr zu nahe zu kommen.

»Nein!«, schrie sie.

Ich wusste sofort, welche Worte sie gehört hatte.

Da wäre jeder drauf gekommen.

Wir hatten es irgendwie erwartet.

Und es überhaupt nicht erwartet.

Tante Karen war an einigen Verhandlungstagen des kurzen Prozesses dabei gewesen,

war nach Hause gekommen und

hatte uns gesagt, es liefe nicht gut für Ed –

zunächst mal sein Geständnis

am Tag, nachdem er verhaftet worden war.

Sie sagte, wäre sie eine der Geschworenen,

würde sie ihn einsperren lassen und

eigenhändig den Schlüssel wegwerfen.

»Er hat nichts getan«, hat Angela ihr erklärt.

»Ich weiß es nicht mehr«, hatte Tante Karen geantwortet.

»Auf mich wirkte er ziemlich schuldig.«

Und an dem Tag, an dem der zweite Anruf kam,

war ich der einzige andere Mensch

zu Hause,

wieder allein mit Mom

und

ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Ich meine,

Mom flippte ständig aus, aber nicht so:

wie ein Tier in einer Schlinge gefangen.

Ich ging zu ihr,

versuchte, sie zum Aufstehen zu bewegen,

aber

sie wollte nicht.

Sie konnte nicht.

Mom blieb

am Boden für eine

wirklich

lange

Zeit.

TANTE KAREN

Drei Stunden später

kam unsere Tante Karen und blieb.

»Ich bin alles, was ihr habt«, erklärte sie uns.

Sie starrte die Ketchupflecken auf meinem weißen T-Shirt an,

als seien sie der lebende Beweis, dass unsere Familie

nicht allein klarkam.

Ich wischte meine Nase an meinem Handrücken ab

und sie zuckte zusammen.

»Wir haben keinen Platz«, meinte Angela.

Tante Karen kratzte sich mit ihrem Daumennagel

die Nase.

»Ich nehme dein Zimmer. Du kannst dir eine Zeit lang

eins mit Joe teilen.

Eds altes Bett steht ja noch da.«

Angela baute sich so groß wie möglich auf.

»Ich brauche meine Privatsphäre«, sagte sie.

»Ja, klar«, murmelte Mom in ihren Gin.

»Aber ich hab Abschlussprüfungen«,

versuchte Angela es noch mal.

»Das weiß ich«, erwiderte Tante Karen.

»Und du wirst sie bestehen. Dich lasse ich nicht so enden

wie Ed.«

Es war egal, wie wütend wir mit den Füßen aufstampften,

Tante Karen hatte eine Entscheidung getroffen,

und Mom war nicht in der Verfassung, mit ihr zu diskutieren:

Tante Karen würde bleiben und

wir würden anfangen, in die Kirche zu gehen,

und zwar nicht nur sonntags, sondern auch nach der Schule.

Fernsehen war

out

und Bibellektüre

in.

Karen wusste, wie sie unsere Seelen davor bewahren konnte,

in dieselben dunklen Abgründe zu stürzen,

die unseren Bruder verschlungen hatten,

und der wichtigste Teil ihres Plans war,

Ed nie wieder zu erwähnen.

WIE MOM DAMIT UMGEGANGEN IST

Mom ging nicht mehr raus.

Sie müllte das Haus mit leeren Pillendosen voll.

Sie schaute Dauerwerbesendungen,

bestellte nur noch übers Fernsehen,

meinte, dass sie warten würde,

bis die Leute vergessen hätten,

dass sie sich zusammenreißen und wieder

zur Arbeit gehen würde,

sobald das Schlimmste überstanden wäre.

Aber

sie ist nie wieder zur Arbeit gegangen und

als sie sich schließlich wieder rausgetraut hat,

ist sie nicht mehr zurückgekommen.

AUTOWERKSTATT

Als ich Reeds Onkel letzte Woche in der Werkstatt sagte,

dass ich den ganzen Sommer in Texas sein würde,

hat er es auch nicht gut aufgenommen.

»Ich weiß nicht, ob ich dir deinen Job freihalten kann, Joe«, meinte er.

»Hier stehen die Jungs Schlange, um bei mir zu lernen,

und du nimmst dir frei?«

Ich hatte niemandem außer Reed verraten,

warum ich weg sein würde.

Ich schämte mich, und Reed muss das gespürt haben.

»Lass ihn mal, Onkel Sammy.

Joe hat ne Ische geschwängert

und muss weg aus Arlington,

bevor ihre Brüder ihn in die Finger kriegen«, sagte er.

Sammy wischte sich die öligen Finger an

seinem blauen Overall ab und runzelte die Stirn.

»Du lügst.«

»Er lügt«, stimmte ich zu.

»Weg muss ich trotzdem.

Aber ich komme zurück.«

Sammy seufzte. »Okay, okay.

Du bist

jedenfalls

unter einer Motorhaube

tausendmal besser zu gebrauchen als Reed,

das muss ich dir lassen.«

Reed schnaubte und griff nach einem Schraubenschlüssel.

»Ich mach mich lieber auf andere Art dreckig.«

Sammy sah mich an.

»Du stehst ja immer noch da, Joe.

Was willst du?«

Ich wollte nicht fragen.

Es fühlte sich an wie betteln.

»Du schuldest mir noch zwei Wochenenden.«

Reed kicherte.

Sammy rollte mit den Augen, griff in seine

Tasche und zog eine Rolle

mit Zwanzigern hervor.

»Wie viel?«, wollte er wissen.

FALSCHES TEAM

Zurück im Motel rufe ich Angela an.

Ihre Stimme klingt schrill und

irgendwas brummt im Hintergrund.

»Ich versteh dich nicht, Angie!«, rufe ich.

Das Brummen erstirbt.

»Ich bin in der Bar und mache Mojitos«, erklärt sie.

»Alles klar bei dir?«

Ich würde ihr am liebsten die Wahrheit sagen, nämlich:

Nein, bei mir ist nichts klar.

Es ist heiß.

Ich hab keine Kohle mehr für was zu essen.

Ich zieh das hier ganz allein durch,

und das sollte so nicht sein.

Ich bin erst siebzehn, verdammt noch mal.

Warum bist du nicht hier?

Warum nicht Tante Karen? Mom?

»Ich hab ne Bude gefunden«, sage ich,

das Ungeziefer

erwähne ich lieber nicht.

»Ist die Kohle schon auf meinem Konto?«

Sie hustet ins Telefon.

»Sollte sie eigentlich«, sagt sie.

»Aber es ist so:

Der Chef gibt mir keinen Vorschuss,

also hab ich vor nächstem Monat

kein Geld, um runterzukommen.«

»Tante Karen?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Vergiss es! Sie ist total angepisst.

Sie hat noch mehr von ihrem Kram geholt,

meinte, sie würde nicht wieder einziehen.

Ich hab keine Ahnung, wie wir die Miete bezahlen sollen,

wenn sie es sich nicht noch mal überlegt.

Und wie zum Teufel willst du an was zu essen kommen?«

»Ich such mir einen Job.«

»Ich wünschte, ich könnte mehr verdienen, Joe.«

Ich muss fast lachen.

Wie das?

Fremde um Almosen bitten?

Damit würden wir nie durchkommen –

um Kredit betteln, damit wir bei unserem Bruder sein können.

Denn wir sind nicht die Leute, mit denen

irgendjemand Mitleid hat.

Es interessiert niemanden, ob wir am Ende

bei Ed sein können oder nicht,

wie arm oder hungrig wir sind.

Aber die Witwe des Bullen?

Wenn die einen Crowdfunding-Aufruf startet,

um sich ein schwarzes Kleid

und einen passenden Hut zu kaufen,

würden die Leute

massig

Geld spenden.

Die Witwe eines Ermordeten?

Nehmen Sie auch Mastercard?

Aber wir sind nicht sie – wir sind hier nicht die Opfer.

»Hast du Ed gesehen?«, wispert Angela.

Ich gehe ins Bad,

drehe die Dusche kalt auf.

»Nein«, gebe ich zu.

Ich hab’s nicht mal versucht.

FEIGLING

Ed hat mir letzten Monat geschrieben und

um Hilfe gebeten.

Er dachte, auf mich könnte er sich verlassen.

Er hat sich wahrscheinlich ausgemalt, dass sein kleiner Bruder

ein Mann

geworden sei.

Aber ich bin schon zu feige,

überhaupt im Knast anzurufen

und um einen Besuch zu bitten,

ganz zu schwiegen davon,

meinen jämmerlichen Arsch

bis vor das Tor zu schleppen

und zu versuchen reinzukommen.

BRIEF VON ED

Hey, Joe,

wie geht’s dir, Mann?

Du solltest besser fleißig am lernen sein, oder du kriegst es

mit mir zu tun!

Nee, ich mach nur Spaß.

Die Sache ist die,

ich hab Angela diese Woche nicht geschrieben.

Sag ihr, es tut mir leid,

aber

du musst ihr was für mich beibringen.

Ich hab meinen Termin bekommen.

Die Jungs hier sagen mir zwar,

ich soll deswegen keine Panik kriegen.

Ist nur ein Datum.

Aber wenn ich ehrlich bin,

klappere ich mit den Zähnen wie ein altes Skelett,

denn das heißt,

sie haben sich entschieden

und wollen mich abmurksen.

Und für was?

Für nichts.

Für etwas, das ich nie getan habe.

Sie haben den 18. August festgelegt, Joe,

aber ich kann vor dem State Court noch einmal

Berufung einlegen

bis dahin

und

noch ein paarmal vor dem Federal Court,

glaube ich.

Außerdem kann der Gouverneur das Ganze noch stoppen

(oder der Präsident!),

nur – mit dem 18. August planen sie jetzt.

Aber wenn ich sie von der Wahrheit überzeugen kann,

könnte dieser Tag kommen und gehen

und ich wäre trotzdem noch senkrecht, weißt du.

Die Sache ist die,

ich hab keinen Anwalt, der mich berät

und mir erklärt, wie das alles läuft,

der Staat zahlt schließlich nicht

auf ewig

für Pflichtverteidiger, nicht wahr?

Auf jeden Fall erledigt der Gefängnispfarrer

ein bisschen Detektivarbeit

und findet raus, wo es für mich langgeht.

Die Sache ist die,

ich hab mich gefragt, ob du mich besuchen kommen ­könntest.

Pater Matthew sagt, obwohl

du noch nicht achtzehn bist,

könnten sie dich zu mir lassen, wenn Angela nicht kann,

auf besonderen Wunsch.

Ich hab dem Gefängnisdirektor geschrieben

und warte auf Antwort.

In den neun Jahren, in denen ich schon in Wakeling

­eingesperrt bin,

hab ich ihn nur ein paarmal im Todestrakt gesehen.

Niemand kommt hier runter, um nach uns

Galgenvögeln zu sehen, wenn es nicht unbedingt sein muss,

schätze ich.

Aber

er scheint ein ganz anständiger Kerl zu sein.

Einen Versuch ist es wert.

Jedenfalls,

schicke ich das hier jetzt weg und schreibe dir wieder,

wenn ich mehr weiß.

Flipp nicht aus, ja?

Lass mich Blut und Wasser schwitzen.

Ich hab dafür mehr als genug Zeit.

Bleib cool, kleiner Bruder,

Ed x

WAS ER BEDEUTETE

Ich bekam diesen Brief vor zwei Wochen,

las ihn,

dann

schmiss ich ihn auf den Boden.

Ich konnte ihn nicht anfassen.

Diese Worte.

Was sie bedeuteten.

Was ich dachte, dass sie bedeuten,

denn nicht mal Ed schien sich so sicher zu sein.

Ich war in meinem Zimmer und als ich aufsah,

stand Angela im Türrahmen,

die Handtasche unterm Arm.

Sie zeigte auf den Teppich,

den Brief, der dort lag,

die Schriftseite nach oben,

ganz in Eds Sauklaue.

»Wie geht’s ihm?«, fragte sie.

Ich wollte ihr alles sagen,

aber bekam nicht zusammen, was ich wusste.

»Er hat viel zu tun«, sagte ich,

was Schwachsinn war – er saß im Knast,

wie stressig konnte das sein?

»Hat ihm meine Karte gefallen?«

Sie grinste,

kratzte sich am Bauch.

»Hat er nicht erwähnt.«

Aber er hat das Hinrichtungsdatum erwähnt.

Er meinte, ich solle mir keine Sorgen machen.

Aber zum ersten Mal in zehn Jahren

hat Ed darum gebeten, mich zu sehen,

hat quasi gesagt, dass er mich braucht,

was er noch nie zuvor getan hat –

er hat Karens Bedingungen immer gekannt,

wollte es Angela und mir

in Arlington nicht versauen.

»Lebt ihr euer Leben weiter«,

hatte er in einem seiner Briefe geschrieben.

Also haben wir es versucht.

Wir haben ernsthaft versucht so zu tun, als ob es Ed gut ginge –

dass sein Todesurteil nicht echt war

und nie wirklich vollstreckt werden würde.

Ich machte die Augen zu. Rieb mir das Gesicht.

»Wann bist du letzte Nacht heimgekommen?«,

wollte Angela wissen.

»Gegen eins«, fauchte Karen hinter ihr.

»Wenn du nächstes Jahr

deinen Abschluss machen willst, Joe,

musst du lernen.

Wo bist du gewesen?«

»Das Schuljahr ist fast rum, Karen«, sagte ich zu ihr.

Ich hatte nicht vor zuzugeben, dass ich bei Reed gewesen war,

wir Gras geraucht

und uns überlegt hatten, wie wir am nächsten Tag

beim Spanischtest spicken könnten,

anstatt einfach dafür zu lernen.

Ich machte beiden die Tür vor der Nase zu und

hob den Brief auf.

Las ihn noch mal, nur um sicher zu sein.

Und das war ich.

Es war wahr:

Mein einziger Bruder würde in zwei Monaten tot sein

und ich konnte

nichts

sagen oder

tun,

um es zu verhindern.

EINE ENTSCHEIDUNG

Als ich es Angela schließlich erzählte,

zitterte und zuckte sie,

wollte nichts von dem Rührei essen, das ich gemacht hatte.

Sie meinte, sie würde wegen eines Kredits zur Bank gehen,

ihm einen Anwalt besorgen,

sagte, sie wolle runter nach Wakeling fahren,

um ihm zu helfen.

Aber dann kam Tante Karen nach Hause

von ihrer Nachtschicht im Krankenhaus

und versuchte, meine Schwester zur Vernunft zu bringen.

»Du kannst nichts dagegen ausrichten

und ich werde nicht zulassen, dass du

dein Geld oder dein Leben darauf verschwendest,

für jemanden zu kämpfen,

der nicht einmal Reue zeigt.«

»Aber ohne Anwalt hat er keine Chance«, wandte Angela ein.

»Das ist nicht unsere Schuld«, fauchte Tante Karen zurück.

»Er ist mein Bruder

»Aber kein guter.«

Ich stand zwischen den beiden.

»Ich fahre nach Wakeling«, verkündete ich,

bevor ich auch nur wusste,

was ich sagte,

oder ob ich Ed wirklich sehen wollte oder nicht.

Aber irgendwer musste dorthin.

Angela arbeitet Vollzeit,

Tante Karen hasst ihn

und keiner von uns weiß, wo zum Teufel Mom steckt.

Das war vor zwei Wochen

und seitdem hat sich daran nur eines geändert:

Jetzt hat Ed sogar noch weniger Lebenszeit über.

VERBRECHERFOTO

Der einzige Fernsehkanal im Motel,

der nicht bloß Testbild zeigt,