Nur der Sommer zwischen uns

Über Dodie Smith

DODIE SMITH wurde 1896 als Dorothy Gladys Smith in Whitefield geboren. Sie schrieb ihr erstes Theaterstück im Alter von zehn Jahren und studierte Schauspiel an der Royal Academy of Dramatic Art in London. Ihre ersten Stücke verfasste Smith unter männlichen Pseudonymen, doch mit dem Erfolg von Herbstzeitlose wurde ihre Identität bekannt. 1940 wanderte sie mit ihrem Mann in die USA aus und begann Romane zu schreiben. Nur der Sommer zwischen uns wurde 2019 von der BBC zu einem der hundert einflussreichsten englischsprachigen Romane gewählt. Am berühmtesten dürfte jedoch ihr von Disney adaptierter Roman Hundertundein Dalmatiner sein. Dodie Smith starb 1990 in England.

Das Sixpenny-Buch

März

Später. Im Bett.

Ich liege einigermaßen gemütlich, denn ich trage meinen Schulmantel, und ein heißer Ziegelstein wärmt meine Füße. Aber ich wünschte, ich müsste diese Woche nicht in dem kleinen Eisenbett schlafen – Rose und ich wechseln uns mit dem Himmelbett immer ab. Sie sitzt aufrecht darin und liest ein Buch aus der Bibliothek. Als Miss Marcy es brachte, sagte sie, es sei »eine hübsche Geschichte«. Rose meint, es sei grauenhaft, aber lieber lese sie es, als über sich selbst nachzudenken. Arme Rose! Sie trägt ihren alten blauen Morgenmantel aus Flanell und hat den unteren Teil nach oben geklappt und um die Hüfte gelegt, damit es wärmer ist. Sie besitzt diesen Morgenmantel schon so lang, dass sie ihn vermutlich gar nicht mehr bewusst wahrnimmt. Wenn sie ihn für einen Monat weglegen und ihn dann wieder anschauen würde, bekäme sie sicher einen Schreck. Aber ich sollte lieber still sein – schließlich besitze ich seit über zwei Jahren gar keinen Morgenmantel mehr. Die Überreste des letzten sind um meinen heißen Ziegelstein gewickelt.

Unser Zimmer ist sehr groß und auffallend leer. Bis auf das Himmelbett, das in einem äußerst schlechten Zustand ist, haben wir nach und nach alle guten Möbel verkauft und durch die nötigsten Gegenstände aus Trödelläden ersetzt. So besitzen wir einen Kleiderschrank, bei

Besonders gut gefällt mir in unserem Zimmer der geschnitzte Fenstersitz aus Holz – ich bin froh, dass wir den nicht verkaufen können. Er ist in die massive Burgmauer eingebaut, und darüber befindet sich ein großes Fenster mit Mittelpfosten. Auch auf der Gartenseite des Zimmers gibt es Fenster – kleinere mit rautenförmigen Scheiben.

Eine Sache, die mich schon immer fasziniert hat und noch immer fasziniert, ist der runde Turm, der sich an eine Zimmerecke anschließt. Darin gelangt man über eine Wendeltreppe nach oben auf das mit Zinnen besetzte Dach oder nach unten in den Salon. Allerdings sind einige Stufen schon sehr bröckelig.

Vielleicht sollte ich auch Miss Blossom als Möbelstück zählen. Sie ist eine Schneiderpuppe mit einer sehr üppigen Figur und einem Drahtrock um ihr einzelnes Bein. Wir benehmen uns immer ein bisschen albern mit Miss Blossom – wir tun so, als sei sie lebendig. Wir stellen sie uns als Frau von Welt vor, zum Beispiel als eine junge Bardame. Sie sagt Sätze wie »Tja, Schätzchen, so sind die Männer nun mal« oder »Passt bloß auf, dass ihr den Trauschein bekommt«.

Topaz und Vater schlafen in dem großen Zimmer, das auf die Küchentreppe hinausgeht. Zwischen ihrem und unserem Zimmer befindet sich ein kleiner Raum, den wir Pufferstaat nennen. Topaz benutzt ihn als Atelier. Thomas wohnt in dem Zimmer auf der anderen Seite des Treppenabsatzes neben dem Bad.

Ob Topaz zu Vater gegangen ist und ihn gebeten hat, ins Bett zu kommen? (Sie ist imstande und stakst in ihrem Nachthemd über die Burgmauern.) Ich hoffe nicht, denn Vater herrscht sie immer so an, wenn sie ihn im Pförtnerhaus überrascht. Schon als Kindern wurde uns beigebracht, nie in seine Nähe zu kommen, solange er uns nicht dazu aufforderte, und er erwartet von Topaz das Gleiche.

Nein – sie ist nicht zu ihm gegangen. Sie ist vor ein paar Minuten zurückgekommen und schien bleiben zu wollen, aber wir haben sie nicht dazu ermutigt. Nun ist sie im Bett und spielt auf ihrer Laute. Eigentlich gefällt mir das Instrument, aber nicht die Töne, die ihm entspringen. Sie ist selten richtig gestimmt und scheint keine Melodie vernünftig wiedergeben zu können.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich Topaz

Ungefähr um acht Uhr kam Miss Marcy mit den Büchern. Sie ist um die vierzig und klein und wirkt irgendwie verbraucht, andererseits aber auch noch sehr jung. Sie zwinkert und kichert oft und sagt dann: »Also wirklich!« Eigentlich stammt sie aus London, lebt aber nun schon seit über fünf Jahren hier im Dorf. Ich halte sie für eine gute Lehrerin. Ihre Spezialgebiete sind Volkslieder, Wildblumen und Naturkunde. Zu Anfang gefiel es ihr hier nicht (sie sagt immer, sie habe »die grellen Lichter vermisst«). Doch sie bemühte sich schon bald, sich für alles Ländliche zu interessieren, und versucht inzwischen, auch das Interesse der Landbewohner dafür zu wecken.

In ihrer Funktion als Bibliothekarin schummelt sie ein bisschen, um uns immer gleich die neuesten Bücher zukommen zu lassen. Sie erhielt heute eine Lieferung und brachte Vater einen Kriminalroman mit, der erst vorletztes Jahr erschienen ist und noch dazu von einem seiner Lieblingsautoren stammt.

Topaz sagte: »Oh, ich muss es sofort Mortmain bringen.« Sie nennt Vater Mortmain – zum einen, weil ihr unser merkwürdiger Nachname gefällt, und zum anderen, um die Illusion aufrechtzuerhalten, er sei noch immer ein berühmter Schriftsteller. Er kam mit ihr zurück, um sich bei Miss Marcy zu bedanken. Ausnahmsweise schien seine Fröhlichkeit echt zu sein.

»Ich lese jeden Krimi, mag er gut, schlecht oder mittelmäßig sein«, erklärte er ihr, »aber man kommt nur selten in den Genuss eines wirklich erstklassigen.«

Dann erfuhr er, dass er das Buch noch vor dem Pfarrer

Sie sagte: »Oh, danke, Mr Mortmain! Das heißt, ich meine – also wirklich!« Und sie errötete und zwinkerte.

Vater warf sich seine Decke wie eine Toga um die Schultern und kehrte ins Pförtnerhaus zurück, wobei er ungewöhnlich gut gelaunt aussah.

Sobald er außer Hörweite war, fragte Miss Marcy mit leiser Stimme: »Wie geht es ihm denn?«, als stünde er an der Schwelle des Todes oder als habe er den Verstand verloren. Rose antwortete, er sei wie immer vollkommen gesund und vollkommen nutzlos. Miss Marcy sah schockiert aus.

»Rose sorgt sich um unsere Finanzen«, erklärte ich.

»Wir dürfen Miss Marcy nicht mit unseren Sorgen langweilen«, warf Topaz schnell ein. Sie wehrt sich gegen alles, was Vater in ein schlechtes Licht setzen könnte.

Miss Marcy entgegnete, dass sie nichts langweilen könne, was mit unserem Haushalt zu tun habe. Ich weiß, dass sie unser Leben in der Burg für außerordentlich spannend und romantisch hält. Dann fragte sie zögernd, ob sie uns mit einem Rat weiterhelfen dürfe. »Manchmal kann ein Außenstehender …«

Plötzlich dachte ich, dass ich sie sehr gern um Rat fragen würde. Sie ist eine so vernünftige kleine Person. Sie war auch diejenige, die daran dachte, mir das Buch über Schnellschreiben zu besorgen. Mutter hat uns beigebracht, niemals im Dorf über unsere Privatangelegenheiten zu sprechen. Und ich respektiere auch Topaz’ Treue zu Vater. Doch ich war mir sicher, dass Miss Marcy ganz genau wusste, dass wir pleite sind.

»Oder wie man länger damit auskommt. Ich bin sicher, ihr seid alle viel zu sehr künstlerisch veranlagt, um wirklich praktisch zu denken. Wir sollten eine Krisensitzung abhalten!«

Es klang so, als wollte sie Kinder für ein bestimmtes Spiel begeistern. Sie wirkte so eifrig, dass es unhöflich gewesen wäre abzulehnen. Und Rose und Topaz waren wahrscheinlich verzweifelt genug, um alles auszuprobieren.

»Also, Papier und Bleistifte«, rief Miss Marcy und klatschte in die Hände.

Schreibpapier ist in unserem Haus Mangelware, und ich wollte auf gar keinen Fall Seiten aus diesem Buch herausreißen. Es ist ein herrliches Sixpenny-Buch, das der Pfarrer mir geschenkt hat. Schließlich riss Miss Marcy die mittleren Seiten aus ihrem Büchereiverzeichnis, was uns das wunderbare Gefühl gab, den Staat zu bestehlen. Dann setzten wir uns alle an den Tisch und wählten sie zur Vorsitzenden. Sie sagte, sie müsse gleichzeitig auch Schriftführerin sein, um das Protokoll zu führen, und schrieb:

Als Erstes sprachen wir über unsere Ausgaben.

»Erstens: Miete«, verkündete Miss Marcy.

Die Miete beträgt vierzig Pfund im Jahr, was wenig erscheint für eine so große Burg. Aber wir haben nur ein paar Acre Land. Die Landbewohner mögen die Ruine nicht besonders, und außerdem soll es hier spuken – was nicht stimmt. (Oben auf dem Hügel gibt es ein paar unheimliche Wesen, aber sie kommen nie bis ins Haus.) Jedenfalls haben wir seit drei Jahren keine Miete mehr bezahlt. Der Eigentümer der Burg, ein reicher, alter Gentleman, der acht Kilometer von hier in Scoatney Hall wohnte, hatte uns jedes Jahr zu Weihnachten einen Schinken geschickt, ob wir die Miete gezahlt hatten oder nicht. Er starb letzten November, und seitdem haben wir den Schinken sehr vermisst.

»Es heißt, dass in Scoatney Hall wieder jemand einzieht«, sagte Miss Marcy, nachdem wir ihr berichtet hatten, wie es um die Miete stand. »Zwei Jungen aus dem Dorf wurden als zusätzliche Gärtner angestellt. Na ja, wir werden die Miete angeben und ›eventuell‹ dahinterschreiben. Wie steht’s mit dem Essen? Könnt ihr mit fünfzehn Shilling pro Woche und pro Person auskommen? Sagen wir ein Pfund pro Person, einschließlich Kerzen, Lampenöl und Putzzeug?«

Bei der Vorstellung, wir würden es jemals auf sechs Pfund in der Woche bringen, brachen wir alle in schallendes Gelächter aus.

Miss Marcy errötete und erwiderte: »Ich wusste ja, dass die Dinge schlecht stehen. Aber, meine liebe Mrs Mortmain, es muss doch etwas Geld da sein, oder nicht?«

Wir nannten ihr die Fakten. Im Januar und Februar haben wir keinen Penny verdient. Letztes Jahr erhielt Vater vierzig Pfund aus Amerika, wo sich Jakobs Kampf noch immer verkauft. Topaz arbeitete drei Monate lang als Modell in London, legte acht Pfund für uns beiseite und lieh sich fünfzig. Außerdem verkauften wir einem Händler in King’s Crypt eine hohe Kommode für zwanzig Pfund. Von dem Geld für die Kommode leben wir seit Weihnachten.

»Einkommen im letzten Jahr: hundertundachtzehn Pfund«, sagte Miss Marcy und notierte es. Aber wir machten sie schnell darauf aufmerksam, dass wir in diesem Jahr kein vergleichbares Einkommen erwarten können, da wir keine guten Möbel mehr besitzen, die wir verkaufen könnten, und Topaz keine reichen Leute mehr findet, die ihr etwas leihen würden. Und Vaters Tantiemen werden vermutlich auch geringer ausfallen, denn bis jetzt sind es jedes Jahr weniger geworden.

»Soll ich von der Schule abgehen?«, fragte Thomas. Aber wir erwiderten, dass das dumm wäre, da uns sein Unterricht wegen des Stipendiums nichts kostet und der Pfarrer ihm gerade eine Jahresfahrkarte für den Zug geschenkt hat.

Miss Marcy spielte ein wenig mit ihrem Bleistift herum und sagte dann:

Ich merkte, wie ich rot anlief. Natürlich haben wir Stephen noch nie etwas gezahlt – noch nicht einmal daran gedacht, ihm Geld zu geben. Und ich begriff plötzlich, dass wir das hätten tun sollen. (Was nicht heißt, dass Geld dafür da gewesen wäre, seit er alt genug ist, um etwas verdienen zu können.)

»Ich möchte keinen Lohn«, sagte Stephen leise. »Ich würde kein Geld annehmen. Alles, was ich jemals brauchte, habe ich hier bekommen.«

»Wissen Sie, Stephen gehört quasi zur Familie«, erklärte ich. Miss Marcy sah aus, als wäre sie sich nicht sicher, ob das gut sei, aber Stephens Miene hellte sich für einen Moment auf. Dann wurde er verlegen und meinte, er müsse nachsehen, ob alle Hühner im Stall seien. Als er gegangen war, fragte Miss Marcy:

»Kein Lohn – überhaupt keinen? Nur seinen Unterhalt?«

»Wir zahlen uns selbst schließlich auch keinen Lohn«, verteidigte sich Rose – was leider nur zu wahr ist. Allerdings arbeiten wir auch nicht so hart wie Stephen und schlafen auch nicht in einem düsteren Zimmerchen hinter der Küche. »Und außerdem finde ich es erniedrigend, unsere Armut vor Miss Marcy zu diskutieren«, fuhr Rose wütend fort. »Ich dachte, wir wollten sie nur um Rat fragen, wie wir etwas verdienen können.«

Danach brauchten wir lange, um Roses verletzten Stolz und Miss Marcys verletzte Gefühle zu besänftigen. Schließlich beschäftigten wir uns mit unseren Möglichkeiten, Geld zu verdienen.

»Und außerdem will ich nicht nach London«, fügte sie pathetisch hinzu. »Ich bin es leid, als Modell zu arbeiten. Außerdem würde ich Mortmain schrecklich vermissen. Und er braucht mich hier – ich bin die Einzige, die kochen kann.«

»Das ist wohl kaum von Bedeutung, wenn wir sowieso nichts zu kochen haben«, entgegnete Rose. »Könnte ich nicht als Modell arbeiten?«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Topaz. »Du bist zu hübsch – und dein Körper hat zu wenig Linien. Außerdem wärst du viel zu ungeduldig, um still zu sitzen. Ich fürchte, wenn sich nichts anderes ergibt, muss ich doch nach London fahren. Ich könnte ungefähr zehn Shilling pro Woche nach Hause schicken.«

»Na, das ist doch etwas!«, rief Miss Marcy und schrieb auf: »Mrs James Mortmain: eventuell zehn Shilling pro Woche.«

»Natürlich nicht das ganze Jahr über«, schränkte Topaz sofort ein. »Das könnte ich nicht ertragen, und ich hätte dann auch gar keine Zeit mehr für meine eigene Malerei. Natürlich könnte ich davon etwas verkaufen.«

Miss Marcy antwortete sehr höflich: »Ja, das könnten Sie« und wandte sich dann an mich. Ich erklärte ihr, ich hätte mit meinem Schnellschreiben zwar erhebliche Fortschritte gemacht, aber es sei dennoch keine richtige

»Dann müssen wir dein mögliches Einkommen leider auf null beziffern, bis du deine literarische Arbeit in Angriff nimmst«, verkündete Miss Marcy. »Thomas’ Möglichkeiten werden wohl in den nächsten paar Jahren ebenfalls gleich null sein. Rose, meine Liebe?«

Wenn einer in unserer Familie als Null zählen muss, was das Geldverdienen betrifft, dann ist es Rose. Sie spielt zwar ein bisschen Klavier, singt sehr hübsch und ist natürlich eine reizende Person, doch sie hat keine besonderen Talente.

»Vielleicht könnte ich auf kleine Kinder aufpassen«, schlug sie vor.

»O nein!«, antwortete Miss Marcy schnell. »Ich meine, das ist bestimmt nicht das Richtige für dich.«

»Dann gehe ich als Dienstmädchen nach Scoatney Hall«, versuchte es Rose noch einmal und sah aus, als würde sie bereits das Schafott besteigen.

»Dazu muss man ausgebildet sein, meine Liebe«, entgegnete Miss Marcy, »und ich glaube auch nicht, dass dein Vater die Idee gut finden wird. Kannst du nicht etwas Hübsches nähen?«

»Woraus denn?«, fragte Rose. »Aus Säcken?«

Wie auch immer – Rose kann sowieso nicht nähen.

Miss Marcy schaute deprimiert auf ihre Liste. »Ich fürchte, wir müssen auch Roses Einkünfte fürs Erste auf null beziffern«, stellte sie fest. »Dann bleibt nur noch Mr Mortmain übrig.«

Miss Marcy beugte sich nach vorn und sagte mit gedämpfter Stimme: »Meine Lieben, ihr wisst, dass ich euch helfen will. Also, was ist denn nun wirklich mit Mr Mortmain los? Ist es – ist es – der Alkohol?«

Wir lachten so laut, dass Stephen hereinkam und wissen wollte, was wir so lustig fanden.

»Armer, armer Mortmain«, keuchte Topaz, »als hätte das Geld jemals für eine Flasche Bier gereicht! Alkohol kostet Geld, Miss Marcy!«

Miss Marcy nahm an, dass es auch keine Drogen sein konnten. Und damit hat sie recht – er raucht nicht einmal, seit die Weihnachtszigarren vom Pfarrer aufgebraucht sind.

»Ach was«, sagte Rose, »er ist einfach nur faul. Faul und labil. Und ich glaube nicht, dass er jemals gut war. Ich denke, man hat Jakobs Kampf überbewertet.«

Topaz sah einen Moment lang so böse aus, dass ich fürchtete, sie würde Rose schlagen. Stephen kam an den Tisch und stellte sich zwischen die beiden.

»Aber nein, Miss Rose«, sagte er leise, »es ist ein großartiges Buch – das weiß doch jeder. Aber es ist etwas mit Ihrem Vater geschehen, sodass er nicht mehr schreiben kann. Man kann nicht schreiben, nur weil es alle von einem erwarten.«

Ich dachte, Rose würde ihm über den Mund fahren, doch bevor sie ein Wort sagen konnte, wandte er sich an mich und sagte schnell: »Ich habe mir überlegt, dass ich mir Arbeit suchen sollte, Miss Cassandra. Auf der Four Stones Farm würden sie mich nehmen.«

Er antwortete, die Tage würden bald länger werden, und dann würde er eben abends für uns arbeiten.

»Und ich bin doch auch eine Hilfe im Garten, nicht wahr, Stephen?«, fragte Topaz.

»Ja, Ma’am, eine große Hilfe. Wenn Sie allerdings nach London gehen, kann ich natürlich keine Arbeit annehmen – dann bliebe zu viel für Miss Cassandra zu tun.«

Rose ist für Dinge wie Garten- und Hausarbeit nicht besonders gut zu gebrauchen.

»Also können Sie mich mit fünfundzwanzig Shilling pro Woche auf die Liste setzen, Miss Marcy«, fuhr Stephen fort. »Mr Stebbins hat gesagt, so viel würde er mir für den Anfang zahlen. Und ich könnte auf Four Stones zu Abend essen.«

Das freute mich zu hören, denn so würde er wenigstens eine ordentliche Mahlzeit am Tag bekommen.

Miss Marcy hielt das für eine großartige Idee, obwohl man dafür leider Topaz’ zehn Shilling streichen musste. »Aber wir hatten sie ja sowieso nur als eventuell aufgelistet.« Während sie Stephens fünfundzwanzig Shilling auf die Liste setzte, sagte Rose plötzlich:

»Danke, Stephen.«

Und da sie sich für gewöhnlich nicht mit ihm abgibt, klang es irgendwie sehr bedeutsam. Und sie lächelte so bezaubernd. Die arme Rose ist in letzter Zeit so unglücklich, dass ein Lächeln von ihr wie ein abendlicher Sonnenschein nach einem langen, verregneten Tag wirkt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Rose lächeln sehen kann, ohne sie sofort gern zu haben. Ich dachte, Stephen

Genau in diesem Moment erschien Vater auf der Treppe und blickte auf uns alle herunter.

»Oh, ein Gesellschaftsspiel?«, fragte er. Wahrscheinlich sah es so aus, weil wir alle im Lampenlicht um den Tisch herum saßen. Dann trat er näher und sagte: »Dieses Buch ist großartig. Ich mache jetzt eine kleine Pause und versuche zu erraten, wer der Mörder ist. Ich hätte gern ein Plätzchen.«

Wann immer Vater zwischen den Mahlzeiten der Hunger überkommt – er isst sehr wenig bei Tisch, weniger als wir alle –, fragt er nach einem Plätzchen. Wahrscheinlich hält er es für das Kleinste und Billigste, worum er bitten kann. Natürlich haben wir schon seit Ewigkeiten keine richtigen Plätzchen aus dem Laden mehr zu Hause, aber Topaz backt sehr sättigende Haferplätzchen. Sie bestrich eines für ihn mit Margarine. Ich bemerkte seinen leicht widerwilligen Blick, bevor er sie bat, es mit ein wenig Zucker zu bestreuen.

»So schmeckt es viel besser«, entschuldigte er sich. »Können wir Miss Marcy nicht etwas anbieten? Etwas Tee oder Kakao, Miss Marcy?«

Sie dankte ihm, antwortete aber, sie wolle sich nicht den Appetit fürs Abendessen verderben.

»Nun, dann lasst euch nicht weiter von eurem Spiel abhalten«, sagte Vater. »Worum geht es denn dabei?«

Und bevor mir irgendetwas einfiel, womit ich ihn ablenken konnte, hatte er sich schon über ihre Schulter gebeugt und schaute sich die Liste an. Und da stand Folgendes:

Vaters Gesichtsausdruck veränderte sich beim Lesen nicht. Er lächelte weiter, aber ich merkte, dass sich in seinem Innern etwas veränderte. Rose sagt immer, ich schreibe den Leuten Gefühle zu, die ich selbst in ihrer Situation empfinden würde, aber in diesem Moment hatte ich ohne Zweifel eine plötzliche Eingebung. Auf einmal sah ich sein Gesicht ganz klar, nicht nur so, wie man Menschen sieht, die man immer um sich hat. Ich sah, wie er sich gewandelt hatte, seit ich klein war, und ich dachte an Ralph Hodgsons Zeile über »zahme, schäbige Tiger«. Wie lang man doch braucht, um die Gedanken einer einzigen Minute aufzuschreiben! Ich dachte noch an eine Menge andere Dinge, komplizierte, unnütze und sehr verwirrende Dinge, während Vater die Liste las.

Als er fertig war, fragte er relativ gelassen: »Und stellt Stephen uns seinen Lohn zur Verfügung?«

»Ich sollte für mein Bett und das Essen bezahlen, Mr Mortmain, Sir«, antwortete Stephen, »und für – für alles, was Sie früher für mich getan haben. All die Bücher, die Sie mir geliehen haben …«

»Du wirst sicher ein gutes Familienoberhaupt

Sie rief ihm nach: »Setz dich doch ein wenig ans Feuer, Mortmain.«

Aber er entgegnete, er wolle sein Buch weiterlesen. Dann dankte er Miss Marcy noch einmal dafür, dass sie ihm so ein gutes Buch mitgebracht habe, und wünschte ihr sehr höflich einen guten Abend. Während er durch die Schlafzimmer zum Pförtnerhaus ging, hörten wir ihn summen.

Miss Marcy sagte nichts zu diesem Vorfall, was beweist, was für ein taktvoller Mensch sie ist. Aber sie sah beschämt aus und meinte, sie müsse nun langsam gehen. Stephen zündete eine Laterne an und bot an, Miss Marcy bis zur Straße zu begleiten. Sie hatte ihr Fahrrad dort stehen lassen, weil unsere Einfahrt wegen des Schlammes kaum passierbar ist. Ich ging mit nach draußen, um sie zu verabschieden. Als wir den Hof durchquerten, blickte sie zum Fenster des Pförtnerhauses hinauf und fragte, ob es Vater wohl kränken würde, wenn sie ihm eine kleine Plätzchendose für dort oben schenkte. Ich antwortete, dass sich vermutlich niemand in unserem Haus durch etwas Essbares gekränkt fühlen würde, und sie sagte: »Du meine Güte!« Dann betrachtete sie die Ruine und stellte fest, wie schön sie sei, aber ich hätte mich wahrscheinlich mittlerweile an sie gewöhnt. Ich wollte schnell ans Feuer zurück, deshalb antwortete ich einfach nur mit Ja, aber das stimmte nicht. Ich kann mich einfach nie an die Schönheit der Burg gewöhnen. Und nachdem Miss Marcy und Stephen gegangen waren, bemerkte ich, dass sie in dieser wundersamen Nacht besonders bezaubernd

»Sie sollten nicht ohne Mantel draußen bleiben, Miss Cassandra«, sagte er. Aber ich hatte die Kälte völlig vergessen und fror nicht mehr.

Auf dem Rückweg zum Haus fragte er mich, ob ich glaubte, dass La Belle Dame Sans Merci in einem Turm wie Belmotte Tower gelebt hätte. Ich antwortete, das könne gut sein, obwohl ich mir über ihr Familienleben eigentlich nie Gedanken gemacht hatte.

Dann beschlossen wir alle, zu Bett zu gehen, damit wir den Ofen nicht noch einmal anheizen mussten. Also nahmen wir unsere heißen Ziegelsteine aus dem Ofen und begaben uns in unsere Zimmer. Leider brauchen wir die Kerzen schneller auf, wenn wir früh zu Bett gehen. Ich schätzte, dass meine noch zwei Stunden lang brennen würde, doch dann fiel ein Stückchen Docht in das Wachs, und nun ist alles geschmolzen. (Ich frage mich, wie Alfred der Große in einem solchen Fall mit seinen Kerzenuhren zurechtgekommen ist.) Ich wollte mir Thomas’ Kerze ausleihen, aber er sitzt noch an seinen Hausaufgaben. Also muss ich hinunter in die Küche – dort halte ich ein paar Kerzenstummel versteckt. Und ich werde

… Ich bin zurück. Etwas Merkwürdiges ist passiert. Als ich in die Küche kam, wachte Heloïse auf und bellte. Stephen erschien an seiner Tür, um nachzusehen, was los war. Ich rief ihm zu, dass ich es sei, und er verschwand wieder in seinem Zimmer. Ich holte meinen Kerzenstummel und hatte mich gerade neben Heloïses Korb gekniet, um ein wenig mit ihr zu reden (sie hatte schon geschlafen und duftete besonders gut nach warmem, sauberem Hund), als er wieder herauskam und einen Mantel über dem Nachthemd trug.

»Es ist alles in Ordnung«, rief ich. »Ich habe gefunden, was ich gesucht habe.«