Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Ermittlungen, Nachforschungen und Expeditionen nur dann, wenn ihr der Auftrag moralisch gerechtfertigt erscheint.
§
Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Expeditionen in alle Teile der bewohnten und unbewohnen Erde, soweit deren Ausführung nicht den Gesetzen des betreffenden Landes widerspricht. Sollten aber die Gesetze eines Landes den Gesetzen der Menschlichkeit widersprechen, so wird die Gesellschaft bereit sein, übernommene Aufträge auch dort auszuführen.
§
Die Kosten einer Expedition werden vom Chef-Expeditionsleiter geschätzt. Die eine Hälfte des angesetzten Betrages ist vor dem Aufbruch der Expedition zu zahlen, die andere nach deren Beendigung. Überschreiten die tatsächlichen entstandenen Kosten den veranschlagten Betrag, so werden sie zur Hälfte vom Auftraggeber, zur Hälfte von der Gesellschaft getragen.
§
Betrifft eine Ermittlungs- oder Erforschungsaufgabe Menschen, die in Not sind und niemand haben, der sich ihrer annehmen kann, so übernimmt die Gesellschaft die Kosten der notwendigen Hilfs- oder Rettungsaktion.
§
Die Teilnehmer an einer Expedition haben sich über deren Ziel, Zweck und Ergebnis zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Berichte über Expeditionen werden nur dann veröffentlicht, wenn der Generaldirektor der Gesellschaft und der Auftraggeber damit einverstanden sind. Nichtveröffentlichte Expeditions-berichte werden im Geheimarchiv der Gesellschaft niedergelegt und dort dreißig Jahre lang aufbewahrt.
(ÜBERALL IN DER WELT)
LIMITED COMPANY
GESELLSCHAFT MIT BESCHRÄNKTER HAFTUNG
WWW.UBIQUE-TERRARUM.NET
EXPLORING AND RESEARCHING OF ALL KIND NACHFORSCHUNGEN UND ERMITTLUNGEN JEDER ART
EHREN PRÄSIDENT
LORD HAYSTACK, P.R.A., K.C.I.E.
GENERAL DIREKTOR
ARTHUR MILLER
CHEF EXPEDITIONSLEITER
STEPHAN SLANTON, V.C.
EXPEDITIONS FORSCHER
DR. PHIL. DR. RER. NAT. PETER GEIST
EXPEDITIONSARZT: DOCTEUR EN MÉDECINE
GASTON DE MONTFORT
COMTE DE DARIFANT-CROY
EHRENRITTER DES SOUVERÄNEN MALTESERORDENS
UND IHRE MA NN SCHAFT
PATRICK CROMBY aus Irland
BERTRAM KUNKE aus Deutschland
CYPRIAN BOMBARDON aus Frankreich
Im Stich gelassen
Eine unheimliche Spur
Die Schreckensherrschaft des Ungenannten
Vor den schwarzen Zelten
Kiste Nr. 17
Die Felslöcher
Ins unbekannte Land
„Ihr werdet sterben!“
Neunauge feuert
Nur ein Tröpfchen Blut
Mit 300.000km in der Sekunde
Ins Garn gegangen
Die Rückkehr
Im Schatzhaus
Die unheimliche Nacht
Der Überfall
Eine schwere Entscheidung
Ein gewagter Plan
Gefangen und gefesselt
Auge in Auge mit dem Ungenannten
Der Sahib aus Amerika
Tschandru-Singh bricht zusammen
Telegramm aus London
Wort- und Sacherklärungen
GG wachte auf. Vom Zelteingang her schimmerte Morgenlicht. Er sah auf seine Armbanduhr. Der leuchtende Zeiger stand genau auf der leuchtenden Fünf. Jeden Morgen wachte GG um fünf Uhr auf, weil die Träger lärmten. Jeden Morgen ärgerte er sich darüber, dass sie sich nicht daran gewöhnen konnten, leise zu sein. Aber jetzt vernahm er nichts. Er war aufgewacht, weil es so still war.
Er freute sich, dass sie endlich auf ihn gehört hatten. Es war eben doch gut mit diesen dunkelbraunen Männern der Mahori-Berge auszukommen, die sie in Chitral angeworben hatten. Man musste nur Geduld haben. Es dauerte lange, bis sie begriffen hatten, was die weißen Sahibs wollten, weil ihnen deren Gedanken und Wünsche im Grunde unbegreiflich waren. Warum sollten sie leise sein, wo es doch so herrlich war, beim Wasserholen, beim Feuermachen zu singen, dass es von den Bergen widerhallte?
Aber er hörte ja überhaupt keinen Laut! Jetzt horchte GG angespannt – wahrhaftig, es war totenstill draußen, und mit einem Male überkam es ihn: Gefahr!
Er streifte den Schlafsack ab. Er fuhr in die Sandalen, Buschhemd und kurze Hose hatte er an. Hinaus aus dem Zelt – aber vorher noch rasch den Griff zu seiner Pistole. Er schob sie in die rechte Hosentasche. Jetzt stand er draußen in der Morgendämmerung.
Ein Blick, und er sah, weshalb es so still war: die Träger waren fort. Heimlich hatten sie sich in der Nacht davongemacht. Mitten in den Bergen hatten sie die Sahibs im Stich gelassen.
Er weckte die Kameraden nicht. Er dachte überhaupt nicht daran.
Er fragte sich auch nicht, was denn nun weiter werden solle, wo sie ohne Träger so gut wie hilflos waren. Er hatte nur einen Gedanken. Er stürzte zu den Kisten, in denen ihr Gepäck verstaut war.
Da lagen sie, sorgfältig aufgestapelt, wie die Londoner Firma Fortnum & Mason sie unübertrefflich geliefert hatte, aus gut getrocknetem Holz, sorgfältig zusammengefügt, mit Zink beschlagen, wasser- und luftdicht imprägniert. Einzeln konnten sie als Sitz dienen. Zu vieren in einer Reihe gaben sie eine Bettstelle, drei waren als Stuhl und Tisch verwendbar, und vier, auf kunstvolle Art verbunden, gaben ein Boot, in dem man einen Fluss überqueren konnte. Sie waren als Wasserfass, ja als Badewanne zu verwenden, und keine wog mehr als 25 Seers (23 Kilo), denn das war das höchste Gewicht, das ein Träger schleppte.
Er atmete auf. Da war auch Kiste Nr. 17, seine kostbare Nr. 17, auf die er persönlich oben und unten mit roter Farbe ein dickes Kreuz gemalt hatte. Sie war sein Augapfel. Sie durfte nicht aufgeladen, nicht abgesetzt werden, ohne dass er dabei war. Die Träger waren fort – aber seine Kiste war noch da. Alles weitere würde sich finden.
Er ging in das Zelt Stephen Slantons. Er legte die Hand auf den Schlafenden. Der war sofort wach und sah ihn klar an.
„Chef“, sagte Peter Geist, „die Träger sind auf und davon!“
„Oh“, sagte der Engländer, und das war viel, denn er war ein Mann, der nicht gern viel redete.
Eine halbe Stunde später standen fünf von den sechs Europäern, die der Auftrag der Londoner Company Ubique Terrarum in die Einsamkeit der indisch-afghanischen Grenzgebirge verschlagen hatte, beisammen und erwogen die fatale Lage, in die sie die heimliche Flucht der Träger gebracht hatte. Der Morgen war schön. Zu ihrer Rechten hoben sich die gewaltigen, vereisten Siebentausender des Hindukusch gegen den blauen Himmel, und vor sich sahen sie in das Gewirr der afghanischen Waldtäler. Ihr Lager hatten sie im Windschatten einer Felswand zwischen kahlem Geröll aufgeschlagen.
„Jedenfalls, eins steht fest“, sagte eine empörte Stimme heftig, „ich schleppe nicht eine der elenden Kisten auch nur einen halben Meter! Dazu bin ich nicht verpflichtet, und das kann kein Mensch von mir verlangen!“
„Es hat ja auch niemand von dir verlangt, Neunauge!“
„Aber ich sehe schon, dass es dazu kommen wird!“ Der aufgeregte Mann schrie beinahe. „Ich bin kein Kistenträger. Ich bin gelernter Koch! Ich habe in meinem Kontrakt ausdrücklich stehen, dass ich nur für die Zubereitung der mitgenommenen Nahrungsmittel verantwortlich bin! Kein Wort steht davon da, dass ich sie auch schleppen müsste! Herr Graf, geben Sie sich keine Mühe, mich dazu zu überreden.“
Der sechste Mann kam heran und brachte eine Kanne mit dampfendem Kaffee.
„Du sagst, du wärest Koch“, sagte der Graf, „aber du kochst nicht, sondern hältst Brandreden, und derweil geht Plumpudding hin und kocht Kaffee!“
Man hätte die merkwürdigen Namen Neunauge und Plumpudding vergeblich in den wohlabgestempelten Reisepässen der genannten Männer gesucht. Der aufgeregte Koch, der in Marseille geboren und aufgewachsen war, hieß in Wahrheit Cyprian Bombardon, und Plumpudding war im Geburtsregister seiner irischen Heimatstadt Limerick als Patrick Cromby eingetragen. Seine füllige Körperbeschaffenheit, sein Vollmondgesicht war eine überzeugende Erklärung seines Spitznamens. Es kam indessen hinzu, dass sein stilles Wesen auch an das angenehm Sanfte eines Puddings erinnern konnte. Zu seinen Besonderheiten gehörte, dass er gern ein Lied vor sich hinsummte, vielmehr nur die erste Strophe eines Liedes, oder, wenn wir ganz genau sein wollen, nur die erste Zeile dieser ersten Strophe; immer trat dann irgend etwas dazwischen, das ihn daran hinderte, sie zu vollenden. Dem hageren Südfranzosen aber war zum Verhängnis geworden, dass es der Traum seines Lebens war, eines Tages in Paris ein kleines Bistro (Restaurant) mit dem verlockenden Namen „Zum vergnügten Neunauge“ zu eröffnen. Der Graf freilich wurde mit Recht so genannt, jedoch legte Gaston von Montfort, Graf von Darifant, Ehrenritter des Souveränen Malteserordens, nicht etwa Wert darauf, an seine Herkunft erinnert zu werden. Aber jeder nannte ihn so, weil kein anderer Name seinem ebenso feinen wie liebenswerten Wesen gerecht zu werden schien. Dass Dr. Geist auch im fernen Asien wieder von dem Beinamen nicht loskam, der ihm vor Jahren in seinem Jugendbund feierlich verliehen worden war, das verdankte er seinem alten Schulkameraden Bertram Kunke, den er als seinen Begleiter mit auf die Expedition genommen hatte. Hinter der bequemen Abkürzung GG nämlich verbarg sich die anspruchsvolle Benennung Großer Geist – ein Name, auf den er selbst freilich nicht gekommen war, sondern sein Bund, und worin neben versteckter Anerkennung so viel Spott lag, dass er ihn sich gefallen lassen konnte. Doch hatte das zur Folge, dass Peter Geist auch Kunkes alten Namen wieder aufleben ließ, weshalb er nie anders als Figur gerufen und angeredet wurde. Mit dieser Bezeichnung hatte der erbarmungslose Scharfblick der Jungen einmal den Missklang aufgedeckt, der in seiner Erscheinung zu Tage trat. Auf einem überaus kräftigen und muskulösen Körper saß ein wahres Kindergesicht. Dieses Missverhältnis war ihm geblieben, obwohl das, was er erlebt hatte, dazu ausreichen konnte, ein Greisengesicht durch die Welt zu tragen. Nachdem er aus der Schule vorzeitig ausgebrochen war, hatte er sich in der weiten Welt erst als Schiffsjunge durchgeschlagen, später als Matrose, als Erdölarbeiter in Texas, als Bergarbeiter in Südafrika. Dieser Missklang wurde besonders deutlich, wenn er sich in seinen Kindermund einen Priem steckte, denn beim Kautabak war er seit seiner wüsten Matrosenzeit geblieben. Es schien ihm beschieden zu sein, nicht zu einer vollen Menschengestalt heranzureifen, sondern im Figurenhaften stecken zu bleiben.
Den Engländer, den Leiter der Expedition, nannte jeder Chef. Darin lag ohne Frage Zuneigung, denn die Männer hätten ja ebenso gut Mr. Slanton zu ihm sagen können – aber es lag darin auch das willige Zugeständnis, dass sie diesem schweigsamen, zähen Mann mit jenem Respekt gern begegneten, den innere Überlegenheit erweckt.
„Ehe wir erwägen, was wir jetzt tun“, sagte der Graf, „sollten wir herausbekommen, warum uns die Träger verlassen haben. Ich habe auf dem langen und mühseligen Weg über den Darapass, bei diesem entsetzlichen schweren Anstieg auch nicht bei einem Einzigen ein Zeichen von Unwillen gesehen. Wie ist es, GG – Sie sind ja natürlich der einzige, der mit ihnen reden konnte –, was sagen Sie dazu?“
„Dasselbe wie Sie, Graf. Die Männer waren in bester Laune. Wir haben gehört, wie vergnügt sie morgens immer sangen. Dass ich sie bat, erst zu singen, wenn wir aufgestanden wären, kann sie unmöglich so gekränkt haben, dass sie verschwunden sind.“
„Bei den Küchenkisten fehlt nichts“, sagte Neunauge. „Nicht einmal von dem Kandiszucker haben sie was gestohlen, und hinter dem waren sie her wie die Bremsen nach dem Kuhfladen.“
„Sie haben sogar ihr Geld im Stich gelassen“, sagte der Chef, „denn ihre Löhnung sollte doch erst am Ziel ausgezahlt werden.“
„Jedenfalls sitzen wir jetzt schön in der Patsche“, sagte Figur. „Wir können nicht weiter und können nicht zurück. Die ganze Sache ist sozusagen im –“
„Ich habe Ihnen gleich gesagt, Herr Graf!”, sprudelte Neunauge los. „Weshalb sollen wir ausgerechnet nach Kafiristan, der gottverlassensten Stelle von ganz Asien?! Kennen Sie einen einzigen Menschen, der jemals in Kafiristan gewesen wäre? Jetzt können wir hier alles stehen und liegen lassen und froh sein, wenn wir überhaupt lebendig wieder in eine vernünftige Gegend kommen, wo man eine Fahrkarte kaufen kann.“
Der Graf lächelte, aber er wie die andern fanden, dass Neunauge nicht unrecht hatte. Da es für sie ausgeschlossen war, eine offizielle Einreise-Erlaubnis nach Afghanistan zu bekommen, hatten sie den streng bewachten Khaiberpass nicht benutzen können, sondern den weiten Umweg durch die Gebirge im Norden machen müssen, und nun waren sie in diesen menschenleeren Steinöden tatsächlich wie verloren.
„Sieh da“, redete Neunauge höhnisch weiter, „die netten Boten von der hiesigen ‚Pietät’ wollen sich schon um uns bemühen!“
Er zeigte geradeaus, wo Geier aufgetaucht waren. Sie kreisten um eine verdorrte Zeder, die am Rande eines jäh abstürzenden Felsens stand.
Der Chef hatte sich erhoben. Er legte die Hand über die Augen und sah hinüber. Ehe er ein Wort gesagt hatte, hielt ihm Plumpudding schon seinen Feldstecher hin.
„An dem Baum ist ein Mensch angebunden“, sagte er. „Mit dem Kopf nach unten.“
„Äußerst nachteilig für sein Wohlbefinden“, sagte der Graf, „wenn sein Blutkreislauf nicht in Ordnung sein sollte“. „Ich sage ja, – eine reizende Gegend!”, wetterte Neunauge. Der Chef nahm die Winchester-Büchse, die ihm Plumpudding gebracht hatte. Er legte an, zielte. Der Schuss fiel. Einer der Geier stürzte getroffen ins Tal. Die andern schraubten sich höher, dann stießen die ausgehungerten Vögel dem toten Tier nach, um es zu zerfleischen.
„Ich bleibe dabei, eine ganz reizende Gegend!”, grollte Neunauge voller Verachtung.
„Der Chef schießt nie, ohne zu treffen“, sagte Plumpudding stolz.
„Ich treffe auch, wenn ich will“, sagte Neunauge sehr entschieden. „Ich bin zweiter Vorsitzender in unserm Jagdklub Die Briganten.“
„Ich habe gehört“, sagte Plumpudding, „in Marseille schießt man auf ausgestopfte Kaninchen?“
Neunauge antwortete nicht. Er würde diesen Satz Plumpuddings nicht vergessen, und eines Tages würde er ihm die gehörige Antwort geben, nicht mit dem Munde, sondern mit der Waffe in der Hand. Aber nicht jetzt. Er hastete den andern nach. GG, der Chef, der Graf und Figur waren ihm schon weit voraus auf dem Wege zu dem Gefesselten.
„Mein Gott“, sagte GG, „es ist Tschandru-Singh!“
„Tot?“, fragte der Chef.
„Bewusstlos“, sagte der Graf.
Sie hatten ihn losgeschnitten, und der braune Knabe lag regungslos vor ihnen auf dem kahlen Boden. Der Graf band ihm den linken Oberarm ab, dass sich das Blut in der Vene der Ellbogenbeuge staute, er führte die Hohlnadel ein, und das Blut lief aus.
„Gesunder Bursche“, sagte der Graf. „Die Augen sind nicht erheblich vorgequollen. Keine Lähmung infolge Hirnblutung. Ich brauche nicht einmal Traubenzucker einzuspritzen. Er kommt zu sich.“ Der Knabe schlug die Augen auf.
„Horchen Sie ihn aus“, sagte der Chef zu GG.
„Lassen Sie ihn sich erst verschnaufen“, sagte der Graf und verband ihm die Einstichwunde. „Wir wollen verschwinden, denn erstens verstehen wir doch nicht, was er sagt, und so viele Sahibs um ihn machen ihm nur Angst.“
So war GG ganz allein mit dem Knaben. In Chitral war der Vierzehnjährige zu ihm gekommen, als er die Träger mietete, und hatte demütig seine Dienste angeboten. Er war nicht stark genug, dass er die übliche Last hätte schleppen können, aber das Gestell des Tretsatzes für ihren Funkapparat konnte er tragen, als Wasserholer und zum Zusammensuchen von Dung, mit dem man später feuern musste, war er vielleicht zu gebrauchen. Doch sah GG in dieser Begründung mehr eine Entschuldigung, mit der er vor sich rechtfertigte, dass er diesen Knaben mitnahm. Es lag, fand er, im Blick seiner schwarzen Augen etwas so unsäglich Flehendes, dass er es nicht fertigbrachte, nein zu sagen.
Sie sahen sich an, aber GG schwieg. Er nickte dem Knaben nur freundlich zu und streichelte ihm die Hand, und es dauerte lange, bis er fragte:
„Wie geht es dir, Tschandru-Singh?“
Es schien, als wolle das Gesicht des Knaben aufleuchten. Aber wie von einer unsichtbaren Wolke verdunkelt, erlosch dieser Glanz wieder. Der Knabe hielt sich die Hand vor den Mund, ehe er antwortete.
„Ich lebe, Sahib“, sagte er.
„Wer hat dich hier an den Baum gebunden?“
„Die Träger, Sahib.“
„Warum?“
Tschandru-Singh schwieg.
„Warum haben die Träger uns verlassen?“
Tschandru-Singh schwieg.
„Waren die Wege zu schlecht?“
„Nein, Sahib“, sagte Tschandru-Singh, sichtlich froh, dass das keine Frage war, auf die er nicht antworten konnte.
„War der versprochene Lohn zu gering?“
„Nein, Sahib.“
„Waren wir nicht gut zu den Trägern?“
„Oh Sahib, sie sagten noch, nie hätten sie Sahibs getroffen, die so gut zu ihnen waren!“
„Warum haben sie uns dann verlassen?“
Tschandru-Singh atmete tief. Er rang mit dem, was über seine Lippen sollte und was er doch nicht zu sagen wagte. Er sah den weißen Sahib an, als wäge er bei sich ab, ob er sein Schicksal ein für allemal in die Hände dieses fremden Mannes legen dürfe. Aber vor drei Wochen hatte den Weißen die stumme Klage seiner dunklen Augen angerührt, jetzt gab ihm der klare Blick dieser hellen blauen Augen eine ihm unbegreifliche Zuversicht.
„Es kam eine Botschaft“, sagte er, „wir sollten euch alle verlassen.“
Eine Botschaft? In diese Einöde? Wo sie keiner Karawane, keinem Händler begegnet waren? Aber nur nicht jetzt den Knaben durch einen Zweifel verwirren!
„Wer schickte die Botschaft?“
Tschandru-Singh wusste, er konnte nicht mehr zurück. Er hatte sich schon zu sehr in die Gewalt dieses Sahibs begeben. Aber als er auch diese Frage beantwortete, flüsterte er nur: „Botschaft vom Ungenannten, oh Sahib!“
GG erschrak. Gewiss, von dem Augenblick an, wo die Träger verschwunden waren, sah ihre Lage nicht rosig aus – aber jetzt, da dieser Name gefallen war, stand es ernst, sehr ernst. Doch war das denn am Ende nicht alles nur ein Hirngespinst dieser Eingeborenen, waren sie nicht vielleicht nur das Opfer irgendwelcher Einbildungen?
„Tschandru-Singh“, sagte er, „seit Tagen ziehen wir ganz allein durch die Berge, niemand geht gern über den Darapass, denn er ist verrufen – wie konnte euch da ein Bote des Ungenannten erreichen?“
„Du hast selbst mit ihm gesprochen, Sahib!“
„Ich?!“
„Hast du nicht zu dem Fakir gestern gesagt: ‚Gehe einen guten Weg’?“
Der Fakir! GG sah den schauerlichen Mann wieder vor sich, den sie tatsächlich gestern in der Einöde der Dreitausender getroffen hatten. Seine dunkle Haut war mit Asche bedeckt, die ihr eine gespenstische Färbung gab. Das dichte lange Haar war in viele kleine Zöpfe geflochten, weiß gefärbt, der Bart aber rot. Seine eingesunkenen Augen lagen tief in den Höhlen, Stirn und Wangen waren dick mit weißer Farbe bemalt. Er war kaum bekleidet, um die Lenden trug er nur die Kamarjuri, die Fakirkette, und um den Arm hatte er sich ein messingnes Armband schmieden lassen. Ein Kranz von Holzperlen hing ihm um die Hüften, um den Hals ein Band von geflochtenen Haaren. GG selbst hatte ihm in die bittend erhobene Schale Reis, Hafermehl und roten Pfeffer gelegt und dabei gesehen, dass er die Gabe in die Hirnschale eines Toten schüttete. Dass sie in der völligen Einsamkeit auf dieses wahre Schreckgespenst gestoßen waren, hatte ihn gestern nicht verwundert, denn die Hindu-Asketen suchen gerade menschenleere Öden auf, um sich ungestört ins Nichts versenken zu können – aber dieser Fakir war also der Bote des Ungenannten gewesen…
„Ich verstehe, dass ihr der Botschaft gehorchen musstet“, sagte GG. „Aber ich verstehe nicht, dass dich die Träger an den Baum gebunden haben. Das wäre dein Tod gewesen, wenn dir die Geier nicht geholfen hätten.“
„Die Träger wollten auch meinen Tod, Sahib“, sagte der Knabe. „Aber sie durften mich nicht töten, denn die Bergleute töten nur den, der selbst getötet hat. Deshalb sollte ich von allein sterben oder von den Geiern zerhackt werden.“
„Weshalb solltest du sterben?“
„Ich war ihnen weggelaufen. Ich wollte zurück zu“ – nein, er brachte es nicht über die Lippen, was er hatte sagen wollen, „zurück zu dir“ – deswegen sagte er: „zu den Sahibs.“
„Warum wolltest du zurück zu uns, gegen den Willen des Ungenannten?“
„Oh Sahib, ich hatte dir doch versprochen, Wasser zu holen und Dung für das Feuer und das Ding mit den Eisenstangen zu tragen.“
„Tschandru-Singh“, sagte der Weiße langsam, „du bist uns willkommen. Aber von nun an sollst du mein Diener sein und in meinem Zelt schlafen –“
„Vor deinem Zelt, Sahib, vor deinem Zelt!“, rief der Knabe, hingerissen von dem herrlichen Leben, das sich da vor ihm auftat – aber dann überfiel ihn wieder unendliche Traurigkeit.
„Oh Sahib“, sagte er leise, „ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt!“
„Weshalb wolltest du nicht mit den Trägern gehen? Wolltest du nicht zurück über die Grenze, weil du gestohlen hast?“
„Wenn ich nur gestohlen hätte, Sahib, so wäre ich glücklich. Sahib, ich habe dir einen falschen Namen gesagt. Ich heiße nicht Tschandru-Singh. Ich heiße Nattu.“
„Warum nennst du dich Tschandru-Singh, wenn du Nattu heißt?“
„Sahib, ich wollte ein anderer werden.“
„Warum?“
„Oh Sahib“, stöhnte der Knabe, „ich bin ein Unberührbarer.“ Der Knabe warf sich verzweifelt zu Boden und presste sein Gesicht auf die Erde, als sei es nicht wert, die Sonne zu sehen, und erschüttert sah Peter Geist den Jammer dieses Knaben. Er wusste, was es hieß, zur Kaste der Unberührbaren zu gehören: nur die unsaubersten Arbeiten waren für sie. Begegneten sie den Menschen der anderen Kasten auf der Straße, so hatten sie demütig in den Rinnstein zu treten. Nicht einmal ihr Schatten durfte auf die Begnadeten fallen… Nie durften sie über einen Lohn handeln, sondern mussten nehmen, was ihnen der andere gab, nirgends durften sie anderswo hausen als in den elenden Löchern des Viertels, das ihnen bestimmt war, und wer als Unberührbarer auf diese Welt gekommen war, der sollte es bleiben bis zu seinem Tode.
„Tschandru-Singh, hörst du, was ich dir sage?“
Ohne sich wieder aufzurichten, schüttelte der Knabe den Kopf, das Zeichen für ja.
„Tschandru-Singh“, sagte Peter Geist, „als Buddha, der Erwachte, durch deine indische Heimat zog, sagte er, es solle keine Kasten geben, und als der Sohn des Gottes, an den wir glauben, auf der Erde erschien, lehrte er, vor dem Antlitz Gottes seien alle Menschen gleich.“
Der Knabe richtete sich auf. Es war ihm, als werde das Unwahrscheinlichste wahr, das Unmöglichste möglich. „Bist du ein Christ, Sahib?”, fragte er, und als er das „Ja“ vernommen hatte, stieß er atemlos hervor: „Macht es dir wirklich nichts aus, wenn ein Unberührbarer vor deinem Zelt schläft?“
„Für mich gibt es keinen Menschen, der unberührbar ist, Tschandru-Singh.“
„Und die andern Sahibs?“
„Sie denken wie ich.“
„So sind die Weißen!“, rief der Knabe überwältigt.
„Hast du nie von Mohandas Karamchand Gandhi gehört?“
„Wer spricht denn mit einem Unberührbaren…?“
„Er ist ein Inder wie du, der Sohn eines Ministers, und er hat eine Unberührbare als Tochter angenommen. Du siehst, auch Inder wollen den Unberührbaren helfen!“
„In Lala Gul, wo ich lebte, ohne zu leben, will das niemand!“
„Du brauchst nicht nach Lala Gul zurück. Du wirst bei mir bleiben, Tschandru-Singh.“
„Ich höre deine Worte, Sahib“, sagte der Knabe und verneigte sich kniend.
„Warum hältst du dir die Hand vor den Mund, wenn du mit mir sprichst?“ Peter Geist wusste, warum, aber er wollte dem Knaben diese Stunde unvergesslich machen.
„Damit mein Atem dich nicht beschmutze, Sahib.“
„Tue das nie wieder, Tschandru-Singh, denn wisse: dein Atem ist ebensoviel wert wie meiner!“
„Mir ist, als ob ich träume, Sahib“, sagte der Knabe. „So war es, Sahib: sie feierten in Lala Gul das Fest der Göttin Bhagavati. Vor ihrem Tempel brannten unzählige Lämpchen. Die Tänzer der Göttin tanzten, die Frauen und Mädchen der hohen Kasten schritten in den Tempel, verneigten sich vor dem Altare und opferten Blumen und Reiskörner. Meine Mutter stand weitab im Staub und sah alles, aber sie durfte den Tempel nicht betreten, und ich stand neben ihr. Als das Fest vorüber war, da schwemmten die Priester den Tempel mit Wasser wieder sauber, und aus dem Spülwasser klaubte meine Mutter sich die Reiskörner auf, damit wir zu essen hatten. Meine Mutter ist Witwe, oh Sahib, und eine Witwe ist schlimmer dran als ein räudiger Hund. Da habe ich zu meiner Mutter gesagt: ‚Mutter, ich gehe dahin, wo mich niemand kennt. Ich sehe, wo ich Rupien finde, und wenn ich sie habe, hole ich dich, und wir gehen zusammen dahin, wo uns niemand kennt.’ Sie sagte: ‚Mein Herz geht mit dir’, und ich ging. Ich änderte meinen Namen, und ich fand dich, oh Sahib!“
„Tschandru-Singh“, sagte Peter Geist, „du behältst den Namen, den du dir gegeben hast, und was du mir erzähltest, werde ich nie vergessen.“
Da kam Figur eilig heran. „Komm schnell, Großer Geist!”, rief er schon von weitem. „Es sind drei Kerle aufgetaucht – in schwarzen Ziegenfellen, sie sehen aus wie die Waldteufel. Du musst mit ihnen reden!“ Und als er mit dem ehemaligen Schulkameraden, gefolgt von Tschandru-Singh, ihrem Lager zuschritt, sagte er: „Wenn der Engländer und der Franzose dich nicht hätten, kämen sie überhaupt nicht weiter!“ – „Jeder tut das, was er kann“, erwiderte Peter Geist.
„Was hat der Bengel gesagt? Weshalb sind sie getürmt? Und warum haben sie ihn angebunden?“
„Es ist nicht leicht, aus ihm klug zu werden“, war die ausweichende Antwort. Peter Geist hatte selbst dafür gesorgt, dass sein alter Schulkamerad mit auf die Expedition kam; er wusste, Figur war ein überaus brauchbarer Mann – aber er ließ ihn doch nicht ohne weiteres in alles hineinsehen. Seitdem der Ungenannte mit im Spiel war, galt es, auf der Hut zu sein, damit keiner die Nerven verlor.
Vor dem Zelte des Chefs saßen die weißen Männer, und vor ihnen standen drei tiefbraune unheimliche Gesellen. Sie waren in zerlumpte schwarze Schaffelle gehüllt, ihre wilden Bärte waren brandrot gefärbt, die Augen bei dem einen tiefblau untermalt, bei den andern schwarz.
„Jetzt, GG“, sagte der Chef, „zeigen Sie Ihre Gaben. Fragen Sie, wer sie sind und ob sie mit ihrer werten Verwandtschaft nicht geneigt wären, als Träger mitzukommen.“
GG redete sie auf Hindustani an, doch sie blieben stumm. Aber als er sie auf Puschtu, in der Sprache der afghanischen und persischen Hochlandsherren, fragte, ging eine Bewegung über ihre fremdartigen Gesichter, und sie verloren etwas den Ausdruck des scheuen und lauernden Tieres, der sie bis dahin zu beherrschen schien.
GG erklärte seinen Freunden, was er aus den dunkelhäutigen Männern herausbekam. Sie waren Schinwari, gehörten also einem der unzähligen Stämme von Hochland-Afghanen an, die, untereinander alle verfeindet, unter dem Fluch der Blutrache leben. Ihr Dorf lag weit unten im Tal. Sie hatten es im Frühjahr verlassen und hausten jetzt den Sommer über mit ihren Herden in den Bergen und zogen von Hochweide zu Hochweide.
„Und wie ist es?”, fragte der Chef. „Sind sie Männer genug, dass sie uns Träger geben können?“
Als GG ihnen das übersetzte, sahen sie sich an, aber schwiegen. Schließlich meinte der, dessen Augen blau untermalt waren, das könne nur die Versammlung vor den schwarzen Zelten entscheiden.
„Wie weit ist es bis zu ihrem Lager?“
GG übersetzte – zwei Stunden, meinte er, würden sie bis zu den schwarzen Zelten brauchen.
„Neunauge“, sagte der Chef, „geben Sie den Männern zu essen. Wenn sie satt sind, sollen sie uns zu ihren Leuten bringen. Und was ist mit dem Jungen?“
„Kommen Sie“, sagte GG, und während die andern die Bewirtung der sonderbaren Gäste übernahmen, ging er mit dem Chef und dem Grafen so weit fort, dass niemand ihr Gespräch hören konnte. „Nicht uninteressant“, sagte der Chef, als GG berichtet hatte. „Verzeihung“, sagte der Graf, „wer ist der Ungenannte? Ich muss gestehen, dass ich noch nicht das Vergnügen hatte, von ihm zu hören.“
„Räuberhauptmann a. D. Müsste längst baumeln“, sagte der Chef und hielt das für eine ausreichende Auskunft. Aber GG fand doch, der Graf müsse etwas mehr erfahren. „Sein eigentlicher Name ist Ali Bardur Khan“, sagte er. „Es gab Leute, die ihn auch den blutigen Bardur nannten, aber wer das tat, kam gewöhnlich am Morgen danach nicht mehr zum Frühstück, sondern wurde von seinen nächsten Angehörigen mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Daher gewöhnten sich die Leute daran, seinen Namen überhaupt nicht mehr auszusprechen. Sie reden seitdem lieber vom Ungenannten. Er beherrschte hier im nordwestlichen Grenzland ein weites Gebiet, und die Sache war gut organisiert. Von jedem Transport per Lastwagen oder Karawane erhoben seine Leute an der Straße einen bestimmten Teil als Tribut. Wer zum Beispiel zehn Zentner Reis zu liefern hatte, der gab den Fahrern gleich zwölf mit, und die zusätzlichen zwei waren eben für die Leute des Ungenannten bestimmt. Eines Tages bekam der Britische Agent von Chitral eine komplette Badeeinrichtung und einen großen Kühlschrank geliefert. Die Leute des Ungenannten hielten wie üblich den Transport an und fanden zu ihrer Empörung, dass für sie nichts Geeignetes beigepackt worden war, denn weder für die Badeeinrichtung noch den Kühlschrank hatten sie Verwendung. Um ihrer Enttäuschung deutlichen Ausdruck zu geben, schlugen sie sowohl das eine wie das andere kurz und klein, verbrannten das Lastauto und verprügelten Chauffeur und Beifahrer so sachgemäß, dass die beiden sich zwar gerade noch bis Chitral schleppen konnten, im übrigen jedoch längere Zeit gebrauchsunfähig waren. Aber damit hatte der Treffliche sich doch etwas übernommen. Jetzt wurde durchgegriffen. Verschiedene seiner Kumpane verschwanden für lange Zeit in den Gefängnissen, und er verschwand daraufhin völlig. Das heißt – er lebt hier nach wie vor, aber keiner weiß wo. Er ist auch nach wie vor tätig – aber sozusagen lautlos. Er wendet jetzt die Methoden der Gangster an, die sich in Hongkong und den Großstädten der Vereinigten Staaten so sehr bewährt haben. Bei einem Juwelier oder einem anderen wohlhabenden Herrn erscheinen plötzlich ein paar harmlos aussehende Männer und machen ihn ebenso höflich wie bestimmt darauf aufmerksam, es sei an der Zeit, dass er sein mitleidiges Herz entdecke und einen erheblichen Beitrag für die Ärmsten der Armen stifte –“
„Und er stiftet?“
„Was soll er anders tun? Er hängt am Leben! Und die harmlos aussehenden Herren haben die fatale Angewohnheit, einen Hartherzigen zu entführen und seine Fußsohlen mit glühendem Holz zu behandeln. Für dieses unzarte Verfahren haben sie den teuflischen Ausdruck, dass sie ihm nur das Singen beibringen wollen. Ehe er singt, zahlt er lieber. Er wagt nicht einmal, sich der Polizei anzuvertrauen, nachdem er gezahlt hat – denn vor dem unsichtbaren Ungenannten zittert alles.“
„Warum aber interessiert er sich jetzt für uns? Warum nimmt er uns die Träger?“
„Der Inhalt unsrer Kisten interessiert ihn offenbar nicht, denn sonst lägen sie nicht mehr da.“
„Sie wären auch nur eine Enttäuschung für ihn“, sagte GG. „Lebensmittel hat er selbst genug, und über unsern kostbarsten Besitz, die Kiste Nr. 17, und dann die drei mit der Funkanlage, würde er so enttäuscht sein wie seinerzeit über die Badeeinrichtung und den Kühlschrank!“
„Kann der Mann gehört haben“, sagte der Chef, „was wir eigentlich vorhaben, und will er uns etwa daran hindern?“
Die Frage war an GG gerichtet, und der überlegte. „Über das Ziel unserer Expedition habe ich zu niemand gesprochen“, sagte er dann.
„Haben wir vielleicht gerade dadurch seine Aufmerksamkeit erregt?”, fragte der Graf.
Sie dachten hin und her, aber sie kamen zu keinem Schluss. „Die Sache ist nicht klar“, sagte der Chef. „Wir werden den Finger am Abzug halten. Palaver ist zu Ende.“ Er erhob sich von dem Stein, auf dem er gesessen hatte.
„Einverstanden, Chef, dass Tschandru-Singh als mein Diener mitgeht?”, fragte GG.
„Engagierter Junge“, sagte der Chef. „Garantieren Sie, dass er kein Spion des Ungenannten ist?“
GG war so verblüfft, dass er nichts sagen konnte.
„Aber Chef!”, rief der Graf. „Denken Sie doch an die Geier! Das war doch verdammt echt!“
„Nicht schlecht gemacht“, sagte der Chef, „gebe ich zu“.
„Nein, Chef, nein!”, sagte Peter Geist voller Überzeugung. Er dachte daran, wie der Knabe zu ihm gesprochen hatte – diese seelische Not konnte nicht gespielt sein… „Ich verbürge mich für den Jungen, Chef.“
„Großes Wort“, sagte der Chef. „Erledigt. Ihre Sache!“ Aber als sie zu den andern gingen, kam er noch einmal darauf zurück.
„Nehmen Sie ihn mit, wenn wir mit den Männern gehen“, sagte er.
„Gut“, sagte GG und dachte: „Er traut ihm nicht. Er will den Jungen unter Augen haben!“
„Nehmen wir Waffen mit, Chef?”, fragte der Graf.
„Pistolen“, antwortete der Chef.
Da sie bergab zu gehen hatten, brauchten sie nicht einmal ganz zwei Stunden, bis sie die schwarzen Zelte sahen, die auf einer almartigen Hochfläche aufgeschlagen waren. Wütendes Hundegekläff wurde laut und verstummte plötzlich wieder. Die Zelte waren in einem Halbkreis aufgestellt und umgaben einen großen freien Raum, in dem viele Männer standen, die sich in nichts von denen unterschieden, die sie zuerst getroffen hatten.
Der Chef überflog die Menge mit einem scharfen Blick und stellte bei sich fest: Fünfzig bis sechzig. Keine Frauen. Keine Kinder. Beunruhigend. Waffen nicht zu sehen. Dann blieb er in der Mitte des freien Raums stehen und zündete sich seine kurze Pfeife an.
Der Graf war mit GG vor einem schweren Mann stehen geblieben, der wie ein Koloss im Grase hockte und idiotisch vor sich hinlallte. „Siehe da“, sagte der Graf, „sie haben ihren Dorftrottel mit in die Sommerfrische genommen. Könnte ein schöner Fall von dementia apathica sein – abgestumpfter Blödsinn. Die geistige Kraft ist auf ein Minimum beschränkt, kein Gedächtnis mehr, keine Sprechfähigkeit – nur beim Anblick von Essen wird der dicke Herr noch ein bisschen munter. Es könnte natürlich auch dementia senilis sein, Greisenblödsinn – aber so alt scheint dieser Riese im Gras nicht zu sein.“
Die Schinwari-Männer standen stumm und unbeweglich. Alle hatten sie die farbig untermalten Augen und rotgefärbten Bärte. Die drei, mit denen die Sahibs gekommen waren, waren zu den andern getreten, und es wäre den Europäern unmöglich gewesen, sie aus der Menge wieder herauszufinden. Wie böse Masken starrten die dämonischen Gesichter sie an.
„Friede sei mit euch!”, rief GG ihnen zu, aber keine Lippe bewegte sich, keine Antwort kam.
„Ich finde es hier sehr nett, aber etwas ungemütlich“, bemerkte der Graf.
„Glaubt ihr, dass die Sahibs gewohnt sind, zu stehen?”, rief Tschandru-Singh in seinem Hindustani, in seiner Empörung ganz unbekümmert, ob die Schinwari ihn auch verstanden. Er ging zu dem Eingang eines Zeltes, wo Schaffelle lagen, nahm drei, legte sie vor den Europäern nieder und sagte: „Entschuldigt bitte, aber diese Wilden wissen nicht, was sich gehört!“
Die Sahibs setzten sich, wobei sie die Waffen spürten, die sie in den Revolvertaschen ihrer kurzen Hosen trugen, was ihnen keine ganz unwillkommene Erinnerung war.
„Männer der Schinwari“, sagte GG feierlich, „ihr seid unter den Bergvölkern berühmt als hervorragende Hirten. Keiner kennt die guten Weidegründe wie ihr, und kein Bergwolf hat euch je ein Kalb davongetragen. Aber euer Leben ist hart, und wenn ihr auf meine Worte hört, werdet ihr reicher sein, als ihr jemals wart!“
Alle die wild untermalten Augen starrten den Sprecher an. Hinter ihm stand Tschandru-Singh unbeweglich, als sei er aus Erz gegossen. Er wusste nicht, was das alles hier sollte; er wusste nur eins: wenn sich diese Wilden etwa auf die Sahibs stürzen würden, dann würde er sich dazwischen werfen, um mit diesem herrlichen Manne zu sterben, der ihn von der Unberührbarkeit erlöste und so klug war, dass er die Sprachen aller Völker der Erde sprach.
„Die Sahibs kommen weit aus Feringistan“, so fuhr GG in seiner Rede fort, „sie wollen in das Land der Kafiri. Sie wissen, dass es nicht weiter sein kann als drei Tagesmärsche, bis sie zu den Kafiri kommen. Ihre Träger aber wandelte die Furcht an, und sie liefen fort. Wenn ihr, Männer der Schinwari, Mut habt, und wir wissen, dass ihr mutig seid – wenn ihr mit uns geht und unsere Lasten bis zu den Kafiri tragt, dann werden wir jedem von euch dreimal zehn Silberrupien geben –!“
Er hob seine beiden Hände, spreizte die Finger auseinander und schlug dreimal in die Luft.
Keiner der Männer rührte sich. Aber einer, der älter schien als die anderen, fing an zu reden, mit einer sonderbar gurgelnden Stimme.
„Die Kafiri“, sagte er, „sind falsch und grausam. Sie werden sprechen ‚Im Namen Allahs’ und euch die Kehlen aufschneiden!“
„Die Farbe der Feringi ändert sich nicht in der Stunde der Gefahr!”, antwortete GG.
Ein Raunen schien über die Männer zu gehen wie eine dunkle Welle. Sie verebbte wieder, und die gurgelnde Stimme erhob sich von neuem.
„Du sprichst von Silberrupien, die du uns geben willst, aber wir sehen sie nicht.“
„Was sagt er?”, fragte der Graf, GG erklärte es ihm.
Der Graf erhob sich. Er ging langsam auf die Menschenmauer zu. Das Buschhemd, das er trug, hatte lange Ärmel, während die der andern beiden kurzärmlig waren. GG wusste, was jetzt kommen würde.
„Seht, ihr Männer der Schinwari, wie reich wir sind!”, sagte er. „Wenn wir Rupien brauchen, so nehmen wir sie uns aus der Luft!“ Der Graf griff mit seiner rechten Hand in die Luft, drehte sie blitzschnell um und hielt sie den Männern hin: auf seiner flachen Hand lagen Silberrupien! Er schloss die Finger zur Faust, er schüttelte sie hin und her, er öffnete sie wieder – und auf seiner flachen Hand lagen doppelt so viel Silberstücke wie vorher.
Der Knabe war nicht mehr hinter GG geblieben. Er war vorgelaufen, um besser zu sehen, und der Mund stand ihm offen, so staunte er.
Die Männer hatten ihre Augen aufgerissen, dass man auf einmal das Weiße sah, in dem ihre Augäpfel lagen. Sie waren wie vom Donner gerührt. Aber der Graf ließ ihnen keine Zeit, mit seiner Zauberkunst überrumpelte er sie völlig. Er fuhr dem einen mit der Hand über die Stirn – und in seiner Hand lagen Silberrupien, die er aus dieser Stirn geholt hatte. Er zog den andern Silberrupien aus der Nase, aus den Ohren, und dann trat er zurück. Er stand jetzt drei Schritt vor den ganz verzauberten Männern und hielt ihnen seine beiden Hände hin, die wie eine Schale mit Silberrupien gefüllt zu sein schienen.
„Sagen Sie einem hochverehrten Publikum“, rief der Graf, „die Herrschaften möchten sich so viel Silberrupien nehmen, wie sie wollten. Da ich sie ihnen aus ihren Nasen und Ohren gezogen hätte, wären sie sozusagen beinahe ihr Eigentum!“
„Nehmt euch die Silberrupien, wenn ihr wollt!”, rief GG.
Mit einem Aufschrei, als ob sie aus einem quälenden Traum erwachten, stürzten die Männer auf die ausgestreckten Hände des Grafen zu. In dem Augenblick aber, wo sie zugreifen wollten, drehte der Graf die Hände um. Die Silberrupien waren verschwunden. Die Männer warfen sich auf die Erde, sie suchten auf dem Boden – aber keine Rupie war zu finden.
„Sagen Sie den Herren, sie bekämen die Rupien, wenn sie uns unsere Kisten hübsch dahin schleppten, wohin wir sie haben wollen“, sagte der Graf und setzte sich so gleichmütig auf sein Schaffell, als hätte er sich eben nur einmal die Nase geputzt.
„Wieder ausgezeichnet gemacht“, sagte GG.
„Es ist dankenswert, dass eine so alte Nummer in Innerasien noch nicht bekannt ist“, sagte der Graf.
Der starre Widerstand der Männer war gebrochen. Dass die folgenden Verhandlungen noch drei Stunden dauerten, war nur normal und den Landessitten angemessen. Jedenfalls war das