Pyntarna – vierzig Jahre meines Lebens in schwedischer Wildnis

Alle geschilderten Begebenheiten haben sich tatsächlich so zugetragen, Personennamen wurden geändert.

Die dritte Auflage des Buches wurde um die Jahre bis heute ergänzt und etliche Bilder und kleinere Episoden im bekannten Teil hinzugefügt.

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen

Ihre Christiane E. Peters

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edition pyntarna

© 2017 dritte Auflage Christiane Peters

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Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN

Hardcover illustriert 9 783743 109902

Paperback illustriert 9 783743 115552

E-BOOK 9 783743 125469

Inhalt

Kapitel 1 - Wie alles begann

Ein Leben in Schweden? Das stellte ich mir bislang nur grausig kalt, finster und lebensfeindlich vor. Es bot so gar nichts Anziehendes. Dass gerade ich mein Herz an Schweden verlieren würde, war für mich deshalb unvorstellbar. Doch es gibt Erlebnisse, die festgeformte Vorstellungen auf einen Schlag verändern. Der Besuch eines Indianers vom Stamme der Irokesen gehörte für mich dazu. Schweden und Indianer? Das passte nun wirklich zusammen wie Erdbeeren mit Senf - und empfand ich gleichermaßen fern und fremd. Meine Liebe zu diesem Land begann also unter ausgesprochen seltsamen Vorzeichen. Aber verrückte Erfahrungen prägen oft mehr als die Alltäglichen. Außerdem - was wollte ein Irokese im Jahre 1978 ausgerechnet in einer ehemaligen Windmühle in unserer einförmig platten Norddeutschen Tiefebene? Diese Frage elektrisierte mich und nur zu bereitwillig folgte ich einer Einladung zu einem kulturellen Austausch. Dass dieser Abend in der Windmühle für mich zu einem Wendepunkt in meinem Leben mit unerwarteten Folgen wurde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.

In den siebziger Jahren befand sich die Welt im allgemeinen Aufbruch: an vielen Orten fielen gesellschaftliche Konventionen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Woodstock und die Hippie-Kommunen gehörten bereits zur Geschichte, als verschiedene nordamerikanische Indianerstämme sich auf ihre kulturellen Wurzeln besannen. Sie wollten endlich wieder ihre eigene Kultur leben – und nicht die des weißen Mannes. Deshalb forderten sie nachdrücklich von der amerikanischen Regierung, das ihnen ihrer Meinung nach unrechtmäßig geraubte Land zurück und erklärten kurz entschlossen ihre Unabhängigkeit. Die Irokesen warfen zudem die staatliche Indianerpolizei aus ihrem Reservat heraus. Eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der Bundespolizei schien unausweichlich. Die Indianer appellierten an die Weltöffentlichkeit – auch nach Europa drang ihr Ruf nach politischer Unterstützung. Aber die alte Welt war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu reagieren und in der Öffentlichkeit – zumindest der esoterischen – wurden Indianer erst viele Jahre später wahrgenommen.

Einer der wenigen, die diesen Appell damals vernahmen, war unser Bekannter Erich Haye, der hochaktive Herausgeber der Zeitschrift »Anders Leben«. Erich galt in umweltbewegten Kreisen als Koryphäe. Er war nicht nur Vorreiter im biologischen Gartenbau und Helfer bei Entwicklungsprojekten in der Dritten Welt, sondern arbeitete auch auf seinem Hof, einer ehemaligen Windmühle bei Bremen, mit schwer erziehbaren Jugendlichen, was damals durchaus neu war und von verschiedenen Seiten stark angefeindet wurde.

Wo Erich seine Kontakte zu Indianern geschlossen hatte, blieb unerfindlich, war aber sicherlich Folge seiner Umtriebigkeit. Zunächst bewegte diese Indianer eine ziemlich praktische Absicht: Sie wollten von Erich biologischen Gartenbau lernen, um sich, von nichts weniger als dem wirtschaftlichen System der USA, ökonomisch unabhängig zu machen. Als Gegenleistung boten sie an, uns Europäern eine wichtige Mitteilung für unsere Zukunft und unser Überleben zu bringen. Einer ihrer Vertreter, der Führer »der jungen Männer der Irokesen«, mit dem wohl klingenden Namen: »Der das Gesetz bringt«, schenkte uns einen unvergesslichen Abend in Erichs alter Windmühle,

Das Eintreffen des Irokesen war schon Wochen vorher angekündigt worden und so erwarteten wir ungeduldig und mit Hochspannung seine Ankunft. Wir, das waren zum großen Teil in langjähriger Freundschaft verbundene Männer und Frauen, die ein gemeinsamer Nenner einte: die Liebe zur Natur. »Umweltquerulanten« – Mitbegründer der Grünen Partei, eingeschworene Atomkraftwerksgegner, Ernährungsreformer, Befürworter einer sanften Medizin, kurzum Menschen, die es wagten, das staatliche Systembild von der menschlichen Maschine als inhuman anzugreifen und mit dem gedanklichen Skalpell in der großen Lügenwunde einer auf Gewinnmaximierung fixierten Staats- und Wirtschaftsführung herum zu bohren. Zu ihrer Zeit ungeliebt und verunglimpft, sind sie heute vergessen, da es längst zum guten Ton gehört, sich für Umwelt und Menschlichkeit wenigstens verbal zu engagieren.

Doch damals waren dies noch brandheiße Themen. Der drohenden Vernichtung durch atomare Verseuchung und Umweltzerstörung versuchten wir uns, mit zum Teil recht aggressiven Demonstrationen, weithin erfolglos entgegenzustemmen. Unsere drängendste Frage war eine sehr einfache: Gibt es überhaupt noch eine Zukunft für uns Menschen? Und nun sollte jener Vertreter einer geheimnisumwobenen Kultur zu uns kommen und sich ausgerechnet mit diesem zentralen Punkt unseres Denkens, unserer Zukunft und unseres Überlebens auseinandersetzen?

Zunächst jedoch gab es ganz klassisch bürokratische Schwierigkeiten bei der Passkontrolle auf dem Bremer Flughafen wegen des Ausweises, den unser Besucher bei sich trug. » ›Vereinte Nationen der Irokesen‹, liegen die in den USA?«, fragte ihn der Zollbeamte. »Nein«, antwortete unser Besucher selbstbewusst, »die USA liegen in unserem Land!« Kaum bei Erich angekommen, strebte unser Gast mit leuchtenden Augen auf den Gemüsegarten zu, um nach längerem andächtigen Schauen, ja – Erde zu essen! Tatsächlich: Er befühlte die Erde vor aller Augen ausgiebig, sog tief ihren Geruch ein und aß sie schließlich auf! Ein solches Kompliment hatte Erich noch von niemandem erhalten.

Abends saßen wir voller Erwartung in Erichs alter Mühle im Kreis um ein loderndes Kaminfeuer und redeten über das, was uns bewegte. Wir hatten die Einladung gut vorbereitet! Erinnerte der runde Mühlenraum mit seinen Fachwerkbalken nicht ein wenig an ein Indianer-Tipi? Ein wenig selbstzufrieden blickten wir den Irokesen an. Doch der Irokese schwieg. Wir redeten dafür umso mehr. Wir kannten die Welt ja so gut und wollten uns unserem Gast von unserer besten Seite zeigen! Bei einer ähnlichen Gelegenheit habe ich es erlebt, wie der von uns eingeladene Indianer nach etwa einer Stunde still den Raum verließ, ohne dass jemand davon überhaupt etwas bemerkte. Endlich brachte Erich uns zum Schweigen. Doch der Irokese reagierte nicht. Es entstand eine peinliche Stille. Nach einer halben Stunde war es nur noch still – und nicht mehr peinlich. Da fing »Der das Gesetz bringt« leise an zu reden, als führe er das Gespräch nur für sich. Nach fünf Minuten gab es eine kurze Unterbrechung und der Dolmetscher legte Block und Bleistift mit den Worten weg, seine Übersetzung könne die Bedeutung des Gesprochenen nicht richtig treffen.

Wovon redete er nun eigentlich? Von der guten Erde, von der Sonne, vom Mond und den Sternen, die hier doch die gleichen seien, von den vierbeinigen Brüdern, den sechsbeinigen und den geflügelten, vom Wind und den Wolken, von seinem Fluss, dem er oft zuhören würde, von Erichs Gartenerde, die ihm erzählt habe, dass hier nicht nur Freunde, sondern Brüder im »Großen Geist« lebten. Ja, eigentlich redete er von allem, nur nicht von dem, was wir erwartet hatten: Kein Wort über die Probleme der Menschheit, über Kernkraft, Umweltzerstörung, Atomkriegsgefahr, Politik, Krankheit, multinationale Konzerne, Klimaveränderung oder Grundwasserrückgang. Dabei hatten wir unzählige Fragen für ihn aufgeschrieben. Wie lange er redete? Ich weiß es nicht. Irgendwann herrschte wieder Schweigen und schließlich gingen wir ebenso schweigend auseinander: kein Kommentar, keine Frage. Alle hatten ALLES verstanden – selbst diejenigen, die nicht der englischen Sprache mächtig waren. Niemand hatte das Gefühl, überhaupt noch irgendwelche Fragen zu haben. Dieser Abend wurde für einige aus unserem alten Freundeskreis zu einem entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens. Obwohl wir uns schon vorher mit der Natur verbunden gefühlt hatten, empfanden wir nun, dass wir Teil und Wesen eines uns umschließenden, wohlwollenden Universums waren und nicht einsam und allein einer feindseligen Welt gegenüberstanden!

Wir grübelten lange über die uns so fremd erscheinende Weltanschauung der Indianer nach. Alles: Lebendiges oder scheinbar Totes, hatte dort seinen festen Platz und war aus ihrem Bewusstsein nicht fortzudenken. Handlungen mussten stets darauf abgestimmt werden, welche Folgen für alle Mitgeschöpfe durch sie entstehen könnten. Das Land, in dem sie lebten, war ihnen heilig. Darum machten sie sich nie Sorgen um ihre Zukunft oder gar um die ihrer Kinder. Sie nahmen sich, was sie zum Leben brauchten und wenn sie Tiere und Pflanzen töteten, dann in dem Bewusstsein, dass sie selber auch einmal diesen Weg gehen würden. Alles, was sie nicht benötigten, gaben sie der Natur wieder zurück. So sorgte jeder direkt und indirekt für den anderen: die Menschen für sich und für die Natur, die Natur wiederum für alle in ihr lebenden Geschöpfe: für den Baum und das Tier, ja sogar den Stein, den Wind und das Wasser – und natürlich für den Menschen.

Doch wo blieb bei einer derartigen Lebensanschauung die von uns eifrig gehütete persönliche Freiheit? Bedeutete Freiheit nicht, nach Gefühl, Lust und Laune handeln zu dürfen? Wäre nicht alles andere schon wieder Unfreiheit, Einschränkung, sogar Zwang? Oder versuchte man uns etwas zu verkaufen, was es vielleicht gar nicht gab? War das, was wir für Freiheit hielten, in Wirklichkeit nur die Wahl zwischen verschiedenen Zwängen? Ein Indianer sieht den Begriff der Freiheit sehr eingeschränkt, eher überindividuell, denn ohne Sauerstoff, Trinkwasser, Nahrung und Licht ist es mit ihr schnell vorbei – das ist die schlichte Grundlage indianischer Weltsicht und Religion.

Wir machten auch die grundlegende Erfahrung, dass wir mit unserem indianischen Freund fast nie über Umweltprobleme reden konnten. »Es lohnt sich nicht«, erwiderte er auf unseren entsprechenden Vorwurf. »Solange ihr nur als euch allein verantwortliche Individuen lebt, lassen sich eure Probleme nicht lösen und wenn ihr wieder in Generationen denkt, habt ihr diese nicht mehr.« Auch für unseren Einsatz im Naturschutz fanden wir wenig Verständnis: »Wer seid ihr denn, dass ihr glaubt, die Natur schützen zu müssen? Die Natur braucht euch nicht. Seid froh, wenn ihr euch selbst vor der Natur schützen könnt! Oder glaubt ihr etwa, dass Viren, Bakterien und Pilze nicht Natur sind, die euch vernichten, wenn ihr eure Lebensgrundlagen zerstört?« Mit einem Indianer konnte man noch nicht einmal »vernünftig« über ein so globales Problem, wie die Kernkraft reden. Wir haben es dennoch versucht: Es war nur zum Ärgern. Er hielt Atomkraftwerke doch tatsächlich für natürlich und meinte nur: »Es gibt nichts Unnatürliches auf dieser Erde. Ihr baut eben ganz natürlich Kernkraftwerke aus dem was Euch die Natur schenkt, weil ihr nicht, wie es sich für Menschen gehört, ganzheitlich denkt. Euch interessiert nur das Hier und Heute! Weil ihr als reine Individuen lebt, leidet ihr viel und sterbt früh. Das ist nicht unnatürlich.«

Hatte er Recht? Sein Gedankengang war leicht verständlich: Wer sich um seinen Nächsten kümmert, der kümmert sich auch um seine Nachkommen und hinterlässt ihnen keine Plutoniumberge und verwüstete Landschaften. Ohne das Reaktorunglück von Tschernobyl wären in der Ukraine neunzehn von zwanzig Kindern nie an Leukämie erkrankt.

Ebenso wenig, wie wir es je schafften, von indianischer Seite Unterstützung bei der Lösung unserer scheinbar großen Probleme mit der Gesellschaft zu erhalten, gelang es uns, sie für Detaillösungen zu erwärmen. Keiner unserer indianischen Freunde zerbrach sich damals über richtige Ernährung den Kopf. Biologischen Gartenbau wollten sie von uns nicht etwa aus Gesundheitsgründen lernen, sondern aufgrund ihres Strebens nach Autarkie. Sie hielten nur eine Ernährungsregel für wichtig: »Wir sollen das essen, was Mutter Erde auf dem Land, auf dem wir leben, hervorbringt. Ohne unser Land sind wir nichts!«

So war es fast immer. Wir bekamen nie die Antworten, die wir hören wollten oder erwarteten. Als wir uns darüber beklagten, klärte er uns auf, es sei bei ihnen nicht üblich, direkt auf eine Frage zu antworten, sie hielten dies für unhöflich. »Ja, aber wie verhaltet ihr euch dann in einer Krisensituation?«, fragten wir verwundert. »Genauso«, antwortete er, »aber ich verstehe eure Unzufriedenheit nur zu gut: Als wir die Reservats-Polizei aus unserem Gebiet hinausgeworfen hatten, unser Dorf daraufhin von der Bundespolizei belagert wurde und wir uns zuletzt mit entsicherten Waffen gegenüberlagen, gab der Chef der Nationalgarde uns noch eine Nacht Bedenkzeit, uns freiwillig wieder ihren Gesetzen zu fügen. Ich – auch damals schon Führer der jungen Männer – befand mich in großer Not und ging zum Ratsfeuer der Alten. Es war eine Qual für mich, nicht gegen die herrschende Sitte zu verstoßen und erst einmal eine Stunde über das Wetter und andere allgemeine Themen reden zu müssen. Endlich brach es aus mir heraus und ich fragte, wie wir uns verhalten sollten: kämpfen oder uns ergeben? Der Stammesälteste hörte mich ruhig an. Dann begann er, über die Wärme des Sommers, den Sternenhimmel, die Veränderungen des Mondes, die Wintervorbereitungen der Erdhörnchen, ja, eigentlich über alles, nur nicht über mein Problem zu reden. Nach vier Stunden (!) hielt ich es nicht mehr aus und tat etwas, was man bei uns aus Höflichkeit normalerweise niemals tut: Ich unterbrach den alten Mann und bat um Beantwortung meiner Frage. Er sah mich ganz bestürzt an und fragte, ob ich denn gar nicht zugehört hätte. Er habe nun vier Stunden lang meine Frage beantwortet und mein Problem von allen nur denkbaren Seiten beleuchtet. Nun müsse er noch einmal von vorne anfangen, ich solle dieses Mal besser zuhören. Und er redete wieder bis zum Morgengrauen.

Inzwischen war die Sonne aufgegangen und das Ultimatum abgelaufen. Eine direkte Antwort auf meine Frage hatte ich wieder nicht erhalten, aber ich hatte keine Frage mehr. Plötzlich verstand ich, dass wir uns alle nur unserer Art gemäß verhalten können.« – »Ja, aber was hast du dann gemacht?«, fragten wir ihn voller Spannung. »Ich bin ganz ruhig auf den Chef der Nationalgarde zugegangen und als dieser sich erkundigte, wozu wir uns entschlossen hätten, antwortete ich ihm nur, es verhielte sich wohl so, dass er so handeln müsse, wie er meine, dass es richtig sei und wir so, wie wir es verstünden. Wenn er also denke, es sei richtig, uns Indianer zu töten, so müsse er dies tun, es sei wohl seine Aufgabe.« Damit brach der Indianer seine Erzählung ab. »Ja, aber was passierte dann?«, drängten wir ihn, den Faden wieder aufzunehmen. Er erwiderte nur: »Wir haben bis heute keine Indianerpolizei im Reservat.«

An diesem Abend bekamen wir eingebettet in Geschichten die zentrale indianische Botschaft des Irokesen an uns zu hören: »Nur Stämme werden überleben, Stämme auf ihrem Land!« Das war eine sehr schwerwiegende Aussage und wir begannen darüber nachzudenken: Jede mittlere Krise auf Weltebene könnte unser soziales Netz schlagartig zerreißen und uns nackt im Eisregen stehen lassen. Ohne unsere hoch technisierten Hilfsmittel wäre unser Überleben auf einmal stark in Frage gestellt. Die Idee vom autarken Leben auf eigenem Land, zusammen mit einer Gruppe von Gleichgesinnten, kristallisierte sich langsam heraus und begann uns immer stärker zu faszinieren. Waren unsere dörflichen Strukturen früher nicht ähnlich gewesen? Aber das war lange her. Inzwischen sogen die Städte mit ihren bequemeren Lebensmöglichkeiten die ländliche Bevölkerung wie ein Schwamm auf. Menschen, die es vorziehen, als Singles in der anonymen Atmosphäre einer Großstadt zu leben, spiegeln die heutige Wirklichkeit am besten wider.

Eines musste man dem Indianer lassen: Er hatte eine bemerkenswerte Begabung, unbequem zu sein. Bei einem seiner späteren Besuche gaben wir ihm zu verstehen, dass seine Botschaft uns nicht viel nütze, weil es doch schon seit tausend Jahren keine Stämme mehr in Europa gäbe. Er sah uns daraufhin traurig an und wir fühlten uns recht unbehaglich. Schließlich ist man es nicht gewohnt, von einem Vertreter eines Naturvolkes bemitleidet zu werden. So beeilten wir uns, ihm zu erklären, dass hier ganz andere Voraussetzungen herrschten: Wir könnten darum vieles nicht verwirklichen. Er musterte uns einen Augenblick und schien ernsthaft zu überlegen, warum wir ihm Erklärungen abgaben über all das, was wir angeblich nicht könnten. Er jedenfalls habe noch nie gehört, dass ein Elch sich leichter erlegen ließe, wenn man ihm etwas erklärte, oder dass der Mais aus Mitleid mit hungernden Kindern ohne Wasser wüchse. Als wir daraufhin ratlos fragten, ob sich Stämme neu gründen ließen, schien er ernsthaft an unserem Verstand zu zweifeln. »Das wäre ja wie ein abgefallener Finger, der glaubt, eine Hand bilden zu können oder gleich einen ganzen Menschen!« Er begann laut zu lachen und meinte, der größenwahnsinnige Finger könne ja nicht einmal sich selbst erhalten und wäre höchstens noch als Fischköder beim Angeln zu gebrauchen. Daraufhin unterzog er sorgfältig jeden einzelnen seiner zehn Finger einer genauen Kontrolle hinsichtlich seiner Funktion und stellte anschließend beruhigt fest, sie seien nicht größenwahnsinnig und weiterhin damit zufrieden, ihren Dienst als Finger zu leisten. »Ihr könnt genauso wenig einen Stamm gründen, wie ein abgefallener Finger einen Menschen. Wenn sich aber ein Finger ›fingergemäß‹ verhält, dann ist er Bestandteil einer Hand. Wenn ihr euch ›stammesgemäß‹ verhaltet, seid ihr ein Stamm!« Wir fragten ihn, was »stammesgemäßes« Verhalten sei. »Das wisst ihr selbst. Ihr nennt es – glaube ich – ein Gewissen haben, wir nennen es dem Großen Geist folgen. Wenn ihr nur nicht eine so merkwürdige Religion hättet! Als ich zum ersten Mal in eurer Bibel las, konnte ich nicht fassen, dass dies die Religion des weißen Mannes sein sollte. Ihr benehmt euch doch genau entgegengesetzt! Liebt ihr etwa euren Nächsten? Der weiße Mann liebt nur sich selbst und vielleicht noch seinen Fernsten. Wir machen uns, ehrlich gesagt, nicht viele Gedanken über die nicht Anwesenden. In einer Stammeswelt brauchen wir das nicht, weil ja auch die Fernsten ihre Nächsten haben, die sich um sie kümmern. Fremde interessieren uns deswegen wenig – es sei denn, sie sind als Gäste bei uns. Aber unsere Leute interessieren uns sehr, die lieben wir wirklich.« Wir mussten zugeben, dass er unsere Welt richtiger sah als wir selbst und antworteten ihm, dass wir wohl viel zu materialistisch seien, um Zeit für unsere Leute zu haben. Er begann wieder laut zu lachen. »Ihr und Materialisten?! Ihr, die ihr noch die kleinsten Teile der Materie, die Atome, zertrümmert, die Luft vergiftet, die Lachse ausrottet, die Wälder vernichtet, ja sogar noch den Erdboden wegfliegen lasst? Ihr, die ihr mit euren modernen Waffen drauf und dran seid, diese ganze Erde zum Verschwinden zu bringen? Ausgerechnet ihr nennt euch Materialisten? Wir Indianer sind Materialisten! Wir lieben alles, was Materie ist und sind dankbar dafür. Wir mussten schon immer sehr materialistisch sein, um überleben zu können. Lässt sich etwa erfolgreich jagen, wenn man dabei träumt, Mais anbauen, Lachse fangen oder auch nur den Weg durch den Wald nach Hause finden? Der weiße Mann dagegen träumt. Er baut Häuser in seinem Kopf und dann zieht er in sie ein. Wir jedoch werden schon als Kinder dazu angehalten, nicht zu träumen, sondern sehr genau zu beobachten, damit wir keine Fehler machen. Denn wir können uns nicht viele Fehler leisten. Bei euch ist das kein Problem. Wenn ihr in einem Land so viele Fehler gemacht habt, dass dort alles zerstört ist, zieht ihr in das nächste. Träumt ihr nicht sogar schon von einem Leben auf fernen Planeten? Der weiße Mann erlaubt sich viele Fehler. Er kommt nicht in Not. Er verbraucht einfach die Nahrungsmittel, das Holz, das Wasser, ja sogar das Wetter seiner Kinder und Enkel. Wie kann der weiße Mann seine Kinder lieben, wie kann er sich selber lieben, wenn er nicht die Erde liebt, auf die er lebt? «

Kapitel 2 - Aufbruch zu neuen Ufern

Die Gespräche mit dem Irokesen gaben uns reichlich Anstoß, unsere bisherigen Gedanken und Handlungen in einem neuen Licht zu sehen. Schon lange hatten wir feststellen müssen, dass sich all unser Einsatz im Naturschutz praktisch als vergeblich erwies. Teilsiege wurden unter enormem Kraftaufwand errungen, aber demgegenüber stand ein immer größeres Ausmaß an Zerstörung. Noch nie wurde so viel über Naturschutz gesprochen und gleichzeitig die Natur in so großem Ausmaße zerstört. Die Krönung dieser Erkenntnis machte Valdemar, ein junger Mann aus unserem Freundeskreis, der gerade sein Studium als Biologe abgeschlossen hatte, als ihm ein hoch bezahlter Forschungsauftrag in der Heide angeboten wurde. Hier sollte wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass Panzerübungen schädlich seien für ein Naturschutzgebiet. Wozu mussten mehrere Jahre und eine beträchtliche Menge an Forschungsgeldern investiert werden, um etwas nachzuweisen, was jedem offensichtlich war?! Sollte das Leben in solchen Scheingefechten verlaufen? Dienten unsere Aktivitäten im Naturschutz etwa nur als Feigenblatt dafür, dass die Situation nicht eskalieren würde, solange es nur aktive Umweltschützer gebe?

Wir wollten in Zukunft probieren, »andere Wege zu gehen« und beschlossen, uns in eine einigermaßen gesunde Gegend zurückzuziehen. Vielleicht war es tatsächlich möglich, wieder in Harmonie mit der Natur zu leben und eine Lebensform zu finden, in der die in ihr lebenden Geschöpfe, eingeschlossen uns Menschen, wieder zu ihrem Recht kämen. Uns schwebte dabei keineswegs ein »zurück in die Steinzeit« vor, das übliche Argument, mit dem Kritiker jeden Denkansatz, der über den geistigen Rahmen der »normalen« Hightech-Fastfood-Gesellschaft hinausgeht, zu blockieren verstehen. Aber könnte ein »zurück zur Zukunft« nicht ebenso eine Lebensalternative sein? Unsere Umwelt schien ja offensichtlich nicht an neuen Erfindungen zu Grunde zu gehen, sondern eher an der völligen Gedankenlosigkeit, mit welcher der entstandene Wohlstand genutzt wurde – und an der alle Grenzen sprengenden Verschwendung des Reichtums, den die Erde uns anbot. Wie viele Kraftfahrzeuge mussten wirklich auf den Straßen fahren, wenn Güter wieder auf kürzestem Wege von ihrer Produktionsstätte zum Verbraucher transportiert würden? Wie viel Strom war wirklich notwendig, wenn es keine Überbeleuchtung der Städte mehr gäbe, welche die Nacht zum Tag machte und uns mit schillernder Leuchtreklame zum Kauf bisher nicht benötigter Konsumgüter animierte? Wie viel noch gut tragbare Kleidung würde nicht in den Müll wandern, wären wir nicht Sklaven der Mode? Wie viele Bäume könnten weiterleben, wäre Papier wieder ein kostbares Gut? Wie viel Gift und Kunstdünger könnte man in der Landwirtschaft sparen, versuchte man nicht ständig, aus immer kleineren Flächen mit immer weniger Menschen einen immer größeren Ertrag zu immer niedrigeren Preisen herauszupressen? Und dies, wo in unseren westlichen Industrieländern weithin Lebensmittelüberproduktion herrschte? Wie viele komplizierte und energieschluckende Recyclingverfahren bräuchte man wirklich, wenn wir uns statt über Recycling einmal Gedanken über die Vermeidung von Müll machten? War denn wenigstens das Ergebnis dieses wahnsinnigen Energieaufwandes so, dass die Menschen damit glücklicher wurden? Rheuma, Krebs, Mord und Selbstmord, tote Kinder im Straßenverkehr, Missbildungen durch Umweltvergiftung, Hochkonjunktur bei Seelenärzten aller Couleur, Hunger und Elend in großen Teilen der übrigen Welt als Konsequenz unseres Energiehungers prägten das Bild unserer Zeitungen.

Die Entwicklung einer Lebensform, die von der heute üblichen abwich, setzte für uns Bewegungsfreiheit, Ruhe und Distanz voraus – und das Fehlen von Anpassungsdruck. Deutschland mit seiner enormen Bevölkerungsdichte schien uns dafür wenig geeignet. Wir gewannen den Eindruck, dass alles, was nicht ausdrücklich erlaubt, von vornherein verboten war. Noch die kleinste Baumaßnahme musste bei den Behörden umständlich und für viel Geld beantragt werden. Beinahe jede praktische Bemühung um Naturschutz stieß auf aggressiven Widerstand. Die Kinder standen unter massivem Anpassungsdruck in der Schule, um nicht als asozial zu gelten. Die Zahl der Vorschriften stieg proportional zu den zwischenmenschlichen Aggressionen und zur Umweltzerstörung. Zu Valdemar gesellte sich mein Bruder Manfred, den ähnliche Gedanken bewegten. Die beiden Männer hatten sich in einer der zahlreichen Umweltorganisationen kennen gelernt. Beide verspürten gleich wenig Lust, sich weiterhin auf Anti-Atomkraft-Demonstrationen von der Polizei, letztlich Vertreter des Volkes, verprügeln zu lassen. War es wirklich das, was das Volk wollte? Ich glaube kaum.

Uns wurde immer bewusster, dass wir einen gewissen Freiraum um uns herum brauchten und die Gedanken wanderten ins Ausland. Damals waren Immobilien vielerorts im Gegensatz zu Deutschland noch relativ günstig zu erwerben. So beschlossen unsere beiden Männer, sich auf die Suche nach einem geeigneten neuen Wohnort zu machen. Skandinavien mit seinen unendlichen Wäldern und einer scheinbar unberührten Natur übte eine große Faszination auf sie aus. Sie hatten in Schweden bereits mehrere Urlaube verbracht. Es handelte sich bei beiden um Liebe auf den ersten Blick: Dort lebten freundliche Menschen, es gab viel Platz, wunderschöne Seen und Wälder, Elche, Biber und viele andere in Deutschland seltene oder ausgestorbene Tiere und Pflanzen. Dazu war das Land wirtschaftlich und politisch stabil. Im Mai 1978 unternahmen Valdemar und Manfred mit einigen Freunden ihre erste Reise, auf der sie bewusst nach einem geeigneten Grundstück suchten. Sie führte durch ganz Mittelschweden, bis auf die Insel Gotland.

Wie findet man nun aber seinen Hof? Wenn die Wikinger vor tausend Jahren auf Landsuche gingen, warfen sie einfach den wichtigsten Balken ihres alten Hauses ins Wasser – wo dieser an Land getrieben wurde, ließen sie sich nieder. Anstelle eines Balkens mussten sich unsere Späher allerdings mit einem Auto behelfen. Auf gut Glück wechselten sie von Norwegen aus über die schwedische Grenze in den nördlichen Teil der Provinz Värmland über. Alle Seen

Bald sah es klimatisch schon viel besser aus.

waren dick vereist – und das Mitte Mai! Also weiter Richtung Süden! Nach kilometerlanger Fahrt auf einsamen Straßen waren gleich hinter einem See einen Moment lang Dächer im Wald zu erkennen. »Wenn an der nächsten Abzweigung kein Briefkasten steht, fahren wir dorthin!« Ein Briefkasten war nicht zu entdecken, es wohnte also keiner mehr dort! Sie bogen ab, aber - oh weh! Der Weg hatte garantiert jahrzehntelang kein Fahrzeug mehr gesehen, er war völlig zugewachsen und gepflastert mit großen Felssteinen, die noch nicht einmal daran dachten, einem Auto die Durchfahrt zu gewähren. Ungeduldig lief Valdemar dem Auto zu Fuß voraus und sah bereits freudestrahlend aus einem der Fenster, als die übrigen Mitreisenden endlich am Haus ankamen. »Das ist unser Hof!!!« So einfach war das! Trotzdem glaubten beide, nachdem sie den Hof mit dem wohlklingenden Namen - Pyntarna gefunden hatten, nicht an Wunder und untersuchten noch etwa hundertfünfzig weitere Anwesen. Manche besaßen durchaus ihre Vorzüge, aber kein Hof gefiel ihnen so gut wie Pyntarna!

Später konnten wir einwandfrei feststellen, dass die Dächer des Hofes von der Landstraße aus unter keinen Umständen zu sehen gewesen sein konnten. Hatte es sich um eine Eingebung gehandelt? Ich hege deshalb den Verdacht, dass nicht wir uns für den Hof, sondern er sich für uns entschieden hatte. Neben seiner wunderschönen Lage und der geradezu magischen Atmosphäre, die er um sich wob, gab es außer zu erwartender Knochenarbeit nur wenig, was einen Menschen dazu hätte verlocken können, ausgerechnet hier sein Lebenswerk zu beginnen. Heil war auf diesem Hof buchstäblich nichts mehr; seit beinahe fünfzehn Jahren unbewohnt, war alles, was auch nur irgendwie brauchbar erschien, abtransportiert worden: Möbel, Öfen, die Holzvertäfelung der Wände und Decken, das Dachmaterial, ja zum Teil ganze Gebäude. Die Scheunen und Ställe, seit langer Zeit zerfallen, lagen manchmal nur noch in Form verrotteter Balken herum. Der Wald hatte sich sein altes Revier resolut bis auf wenige Meter ans Haus zurückerobert. So war zunächst noch nicht einmal an einen Garten zu denken.

Viele unserer Bekannten erklärten uns für verrückt, als wir ihnen eröffneten, dass wir ausgerechnet hier unsere Zelte aufzuschlagen gedächten und einer von ihnen meinte grinsend: »Mut ist manchmal auch Mangel an Fantasie!« Jedenfalls diente der Zustand des Hofes nicht gerade dazu, unseren Mut zu heben. Doch was sollten wir tun? Wir besaßen zwar nicht viel Geld, dafür aber umso mehr Träume. Der Makler, der beim Abschluss des Kaufvertrages helfen sollte, schlug nur die Hände über dem Kopf zusammen und stöhnte, ein so schlechtes Objekt habe er in seinem ganzen Leben noch nicht verkauft. Seine Reaktion verwunderte uns nicht weiter, schließlich war er zu uns gekommen wie die Kuh zum Kalb. Zu unserem alten Freundeskreis gehörte über mehrere Ecken auch ein wohlhabender Industrieller, der seit vielen Jahren geschäftliche Beziehungen nach Schweden unterhielt und sich der geringen Mühe unterzog, seinem dortigen Makler um einen kleinen privaten Gefallen zu bitten. Dass sich für diesen Mann hieraus eine langjährige Mühsal entwickeln würde, sah damals keiner voraus und in mehr als nur einer Hinsicht haben wir es diesem Makler zu verdanken, dass wir einen Teil unserer Ideen durchsetzen konnten. Immer, wenn wir ihn fragten: »Was bekommst du von uns?« Antwortete er etwas gequält: »Ihr könnt mich sowieso schon lange nicht mehr bezahlen!« Dabei ist es bis heute geblieben.

Ein Jahr später wurde dann der Kaufvertrag unterschrieben und im Herbst 1979 begannen wir mit den ersten Renovierungsarbeiten. Wir: das waren Manfred, Valdemar und ich, sowie Björn, der aus unserem alten Freundeskreis zu uns gestoßen war. Er stärkte uns in den ersten Jahren von Deutschland aus sowohl moralisch als auch materiell den Rücken wenn die Situation wieder einmal verfahren schien.

Kapitel 3 - Meine erste Schwedenreise

»Hallo Schwesterchen! Hast du Lust, mit nach Schweden zu kommen? Wir können noch gut jemanden gebrauchen, der putzt und kocht!« Mit diesen Worten platzte mein drei Jahre älterer Bruder Manfred in mein Zimmer, als ich gerade über Hausaufgaben brütete. Entrüstet drehte ich mich um. Das war doch wohl die Höhe und wieder typisch für ihn! Schon seit langer Zeit war geplant, während der Herbstferien mit der Renovierung der verfallenen Ruine Pyntarna zu beginnen. Ich stellte mir die Ferien dort total spannend vor: Ganz allein, mitten im tiefsten Wald lag ein verträumter alter Hof – wie gemacht für uns. Der nächste Nachbar wohnte sechs Kilometer weiter südlich. Es führte noch nicht einmal eine Straße hinauf, so dass man den letzten Kilometer zu Fuß laufen musste. Dafür gab es aber einen großen See. Elche kamen angeblich bis ans Haus, selbst Kraniche, Biber, Auerhähne, ja sogar Luchse, Bären und Wölfe sollten dort leben. Und nun fragte mich mein Bruder, dreist auf meine Entschlussfreudigkeit spekulierend, nur wenige Stunden vor der Abreise, ob ich mitfahren wollte!

Dabei hatte ich die Herbstferien längst für öde Schulreferate und ähnliche unabwendbare Dinge verplant. Außerdem war ein schadenfrohes Grinsen nicht zu übersehen, als er hinzufügte, ich könne ja »ein wenig« putzen. Na gut, nach mehrmaligem Schlucken und unter Überwindung meines doch recht hartnäckigen Stolzes willigte ich ein. Ich war damals erst siebzehn, aber glücklicherweise mit Eltern gesegnet, die sich noch gut an ihre eigene Jugend erinnern konnten. So bekam ich nach einigem pflichtschuldigen Gebrummel meines Vaters im nächtlichen Schlafzimmer die Einwilligung meiner Eltern relativ schnell. Vielleicht hatte mein Bruder auch schon, gerissen wie er war, Vorarbeit geleistet? Tatsache war, dass die ursprünglich eingeplante weibliche Begleitung im letzten Moment abgesagt hatte. Vielleicht war ihr die Reise doch als zu gewagt erschienen? In Windeseile stopfte ich meine wenigen Habseligkeiten in den Rucksack, denn bereits vier Stunden später, um fünf Uhr in der Früh, sollte es losgehen. Valdemar fuhr in einem alten Ford Transit vor, der bis in den äußersten Winkel mit allen nur erdenklichen Gerätschaften voll beladen worden war. Da sollten wir noch reinpassen? Doch wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Eingezwängt zwischen Paketen ging es schließlich los. Mit schlechtem Gewissen näherten wir uns der schwedischen Grenze. Hoffentlich gab es keinen Ärger. Und richtig: Als wir mit schuldbewussten Gesichtsausdruck mit unserer Fuhre durch die Zollabfertigung schleichen wollten, wurden wir prompt aus der Reihe herausgewinkt und von einem Zöllner, der überaus neugierig auf den Inhalt unseres Gefährtes war, erst einmal in eine große Garage gelotst. Alles, aber wirklich alles, mussten wir auspacken. Amüsiert musterten die Grenzer das sich vor ihnen auftürmende Chaos aus alten Federbetten, Tellern, Töpfen und eingekochtem Obst meiner Mutter. Mühsam versuchten wir das Durcheinander an Werkzeug, Plastikfolien, Kartoffeln, Nägeln und Stühlen zu übersichtlichen Haufen zu ordneten. Zum Schluss lag fast ein kompletter Hausstand vor ihren Füßen. Mit diesem kunterbunten Sammelsurium ließ sich wirklich kein Staat machen. Wir durften alles wieder zusammenpacken. Das war natürlich leichter gesagt als getan. Einmal ausgepackte Dinge besitzen die unangenehme Eigenart, beim Wiedereinpacken an Volumen zuzunehmen und als wir wieder im Auto saßen, landete den Beifahrern ein Paket nach dem anderen auf dem Schoß. Ich bekam schon ernsthafte Bedenken, dass ich mich für den Rest der Fahrt mit dem Anblick auf Pappschachtel-Barrikaden begnügen müsse, doch schließlich war alles wieder verstaut.

Wir fuhren bis spät in die Nacht hinein, ehe wir rasteten, um etwas Schlaf zu bekommen. Mit maliziösem Grinsen bot mir mein Bruder an: »Du kannst gerne im Auto schlafen, damit die Kartoffeln nicht erfrieren, die sind schließlich wichtig!« Mit Schaudern sah ich mich eine schlaflose Nacht als Sardine in der Ford-Transit-Konservenbüchse verbringen. Valdemar grinste beifällig, doch dann räumte er gemeinsam mit Manfred das halbe Auto aus, sodass ich ein warmes und weiches Lager auf den vielen Federbetten erhielt. Die Männer dagegen verbrachten bei acht Grad minus eine recht unangenehme Nacht draußen im Wald. Trotz ihres rauen Gebarens waren meine beiden Begleiter doch Kavaliere! Mit steifen Gliedern zwängten sie sich morgens in das Auto hinein und bald ging es wieder endlos über holprige Schotterwege einem ungewissen Ziel entgegen. Die letzte menschliche Behausung lag schon weit hinter uns, als Manfred mitten im tiefsten Wald das Auto anhielt und freudestrahlend verkündete: »Wir sind da!« – »Was, hier?« Ungläubig starrte ich auf die dichte, schweigende Waldkulisse. Die Männer sprangen aus dem Auto. Belustigt über meinen verblüfften Gesichtsausdruck, winkte mich mein Bruder heran: »Komm, wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns.« Auf was hatte ich mich nur eingelassen!? Den letzten Kilometer zum Hof trabte ich argwöhnisch hinter den Männern her. Uff! Ich holte erst einmal tief Luft, als ich die Bescherung vor mir sah. Man musste schon dreimal hinschauen, um aus dem Gewirr von Balken und in sich zusammengestürzten Gebäudeteilen ehemalige Ställe und Scheunen eines bäuerlichen Anwesens erkennen zu können. Das nannte man in Schweden also einen renovierungsbedürftigen Hof? Dass hier überhaupt so etwas wie ein Wohnhaus stand, musste einem auch erst gesagt werden. »Das Glas der Fenster ist ja völlig zerschlagen«, stellte ich deprimiert fest. »Zerschossen«, konstatierte Manfred. Allein in einem einzigen Zimmer zählte ich später über zweihundert Treffer an Wänden und Decke. Die Türen hingen zum Teil nur noch schief in den Angeln. Halb verrottete, aus dem Boden herausgerissene Dielenbretter lagen überall herum, Wandverkleidungen fehlten fast vollständig; selbst die Holzdecken waren nur in wenigen Zimmern unversehrt geblieben. In einem der Räume wuchsen sogar kleine Bäume aus der Erde. Von Möbeln oder gar dem Luxus eines Ofens war außer einem verrosteten und in seine Bestandteile zerfallenen Küchenherd keine Spur zu sehen. »Hmm, hmmm…« Ich räusperte mich vernehmlich, als mein Bruder grinsend an meiner Seite auftauchte, sich klugerweise jedoch jede Bemerkung verkniff. Zu viel der Ehre als Putzfrau! Angesichts des Chaos, das vor mir lag, musste ich doch etwas gequält auflachen.

In etwas desolaten Zustand fanden wir unser Traumhaus vor

Als ich über all das Gerümpel in die Küche stolperte, vernahm ich gerade noch den Warnruf von Valdemar: »Passt auf, dort ist ein großes Loch im Fußboden!« Aber nanu, wo war denn Manfred geblieben? Zunächst etwas besorgt, nachdem er so plötzlich verschwunden war, konnte ich dann meine Schadenfreude nicht verbergen, als ich ihn wie aus weiter Ferne unter mir ausrufen hörte: »Verdammte Sch…! Was ist denn das hier für eine Schweinesuhle?! « Tatsächlich war er in einen etwa mannshohen Küchenkeller geplumpst, dessen knietiefer Matsch aus den »Hochzeiten« verflossener Küchenkultur seinen tiefen Fall weich abgefedert hatte. Valdemar, als Mann der Tat, war inzwischen über das Gerümpel hinweg geturnt, um bis zu dem Küchenherd vorzudringen, ihn kritisch unter die Lupe zu nehmen und trocken festzustellen: »Der brennt wohl auch nicht mehr so schnell, aber irgendwie müssen wir die Bude ja warm kriegen!« Manfred und ich plagten uns da lieber mit weniger geistreichen Verrichtungen: dem Auspacken der wichtigsten Dinge, um sie zum Haus hoch zu schleppen. Wie viele Male sollte ich mich später als menschlicher Packesel den Berg hinauf plagen! Kein Wunder, dass sich Pioniere früher reich vorkamen, wenn sie erst ein Pferd besaßen.

Meine Aufgabe als Putzteufel erwies sich wider Erwarten als recht spaßig. Was war in dem gammligen Gerümpel nicht alles zu finden! Von zerfledderten Socken, dem letzten Schrei der Kleidermode von anno dazumal und einer in schwer bestimmbare Puzzleteile zerlegten Milchzentrifuge über Berge von Schnapsflaschen bis hin zu Unmengen leerer Patronenhülsen, die darauf schließen ließen, dass es sich der Vorbesitzer des Hauses mit der Jagd bequem gemacht hatte. Später erfuhren wir, dass hier zuletzt ein alter Mann, wohl ein ziemliches Original, gewohnt hatte. Pyntarna war zu seiner Zeit bis in die weitere Umgebung für seine feuchtfröhlichen Feste, seinen garantiert nicht blind machenden, selbst gebrannten Schnaps und zahllose Wilddiebereien mehr berüchtigt als berühmt. Noch heute suchen eingeweihte Nachbarn nach etwa fünfzig Flaschen gut abgelagertem Schnaps, der nach dem Brennen in aller Eile verborgen werden musste, als unvermutet die Polizei auftauchte. Leider hatten die Hersteller des Schnapses selbst zu viel von ihrer brisanten Mischung probiert, sodass sie sich beim besten Willen nicht an ihr Versteck erinnern konnten. Einige Jahre später fanden wir in einem Dickicht unweit des Hauses ein fast funktionsfähiges Gewehr, das der besagte alte Kauz dreißig Jahre zuvor ebenfalls schnell hatte loswerden müssen. Den Elch dazu wird er damals wohl wiedergefunden haben, als die Luft wieder rein war. Lange Zeit rätselten wir auch über die zahllosen Einschusslöcher im ehemaligen Schlafzimmer, bis wir erfuhren, dass es seine Art war, Jagd auf die Mäuse, in der Zwischendecke, zu machen.

Beim Saubermachen konnte ich also getrost noch geraume Zeit auf Feinwerkzeug wie Staubtücher verzichten und schüttete den anfallenden Kehricht in große Säcke, die kaum gefüllt, schon aus dem Fenster flogen, um draußen ein lustiges Feuerchen zu unterhalten. Valdemar beschäftigte sich inzwischen mit Herd und Schornstein. Doch außer zu wenigen kümmerlichen Rauchsignalen war der Ofen zu keiner vernünftigen Tätigkeit zu bewegen. Wir wurden zwar von den die Küche durchwabernden Rauchschwaden sehr gut konserviert, aber alles andere als erwärmt. Auch in der folgenden Woche stieg die Temperatur nie über acht Grad. Hatten wir es doch endlich geschafft, die Küche warm zu bekommen, drohten wir an Rauchvergiftung einzugehen und flüchteten uns lieber nach draußen in die eisige Luft. Einen großen Kampf gab es immer um das wenige warme Wasser, das wir mühsam auf dem Herd erhitzten. Ein unbewachter Moment genügte und schon wurde es, statt als Tee im Bauch zu landen, zum Auftauen klammer Hände entwendet – ein unter bedürftigen Teetrinkern als unfreundlich geltender Akt, der, selbst wenn als »Händewaschen« deklariert, sofort durchschaut wurde.